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   Kapitel  5  -  Glauben und Leben im Anthropozän: Biblische Ressourcen für die Nach-Moderne   

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5.1 - Kirchen ohne Prophetie

  Das fehlende Wort  

176-186

Wenn die globale ökologische und soziale Katastrophe - im Licht der biblischen Theologie betrachtet - eine himmelschreiende Sünde darstellt, die in ein geschichtliches Gericht führt, und wenn sich die Christen selbst - jedenfalls die der »Ersten Welt« - im Mittelpunkt dieses Geschehens entdecken müssen, dann könnte man auch von den Erben der biblischen Prophetie erwarten, dass sie eben dieses Gericht zu ihrem dringlichsten Thema machen.

Wer sonst könnte die Analyse der Gegenwart auf diese Ebene heben? Diese Erben sind in den westlichen Industrieländern - den ersten Adressaten der Gerichtsansage - die christlichen Kirchen.

Kollektiv im Erbe biblischer Prophetie steht zwar an sich zuerst das Judentum als primärer Träger dieser Prophetie. Und wirkungsgeschichtlich im Raum biblischen Denkens steht auch der Islam. Aber weil es keine stand­punkt­lose Hermeneutik gibt, ist diese Kritik aus der Sicht eines katholischen Christen in Deutschland formuliert, und ich werde nicht die Prophetie von Juden und Muslimen beurteilen. Die Verwicklung ihrer Religionen in das katastrophale Gefälle der europäischen Zivilisation wäre außerdem jeweils anders und besonders darzustellen.   wikipedia  Hermeneutik

Für die christlichen Kirchen jedenfalls dürfte das Thema des Gerichts kein beliebiges sein, keines, das man ansprechen oder auch in den Hintergrund rücken oder verschweigen könnte, je nach Sach- oder Gesprächslage oder persönlichem Erkenntnisinteresse. Die himmelschreiende Sünde ist eine unbedingte Erkenntnis. Sie entspringt der biblischen Einsicht, dass »Gerechtigkeit und Gericht unabdingbar aufeinander bezogen sind«.(1)

Der Graben zwischen dem Willen Gottes und dem Weg der Menschheit - gerade derer, die sich mehrheitlich noch christlich nennt - ist unüberbrückbar. Man kann nicht über ihn hinweg von Gott sprechen. Man kann nicht von unserer Situation absehen und eine zeitlose Predigt über Gott halten. »Die Kirche ist diese Erkenntnis und Aussage den Politikern schuldig« - und nicht nur denen. Aber tatsächlich schweigen die christlichen Kirchen darüber ganz überwiegend. Sie verleugnen damit die bestehende Situation in ihrem Verhältnis zu Gott.

»Die weitgehende Sprachlosigkeit der christlichen Kirchen gegenüber dem offenkundigen Irrationalismus der heutigen Situation zeigt, dass sie ihrer Aufgabe, die Botschaft des Lebens gegen die Mächte des Todes zu verkünden, nicht mehr gerecht werden.«(2)

Deshalb können ihre Worte von Gott keine wirkliche Kraft mehr haben - und dies merken die Menschen auch, selbst wenn sie es nicht reflektieren. Die Predigt der Kirchen gleicht häufig jenen religiösen Reden über die Wirklichkeit hinweg, die schon die biblischen Propheten den Priestern und Falschpropheten vorgeworfen haben (etwa in Amos 4 und Jeremia 7).

Die Unbedingtheit des Einspruchs in die Moderne hinein aus der Unbedingtheit des eigentlichen Willens Gottes erkannte schon Immanuel Kant in philosophischer Reflexion. Er ist damit ein echter Prophet unserer Situation - und belegt, dass Prophetie keineswegs eine anachronistische oder irrationale Sprache führen muss. In direkter Übersetzung der Rede vom Willen Gottes in eine philosophische Ethik formuliert Kant die Maxime: »Trachtet allererst nach dem Reiche der reinen praktischen Vernunft und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch euer Zweck... von selbst zufallen.«(3)

Ich habe eine langwierige Analyse in den zwei ersten Kapiteln dieses Buches auf den Nachweis verwendet, dass unser ökologisches und soziales globales Handeln der reinen praktischen Vernunft zutiefst wider­spricht, weil es im Gegensatz zu Kants Maxime überwiegend versucht, seine Zwecke zu erreichen, indem es Vernunft und Gerechtigkeit hintanstellt. Den üblichen Fluchtweg in die Eigengesetzlichkeit politischen und ökonomischen Handelns lässt Kant dabei nicht gelten, wenn er für das Verhältnis von Politik und Moral formuliert: Wenn die »Moral ... Inbegriff von unbedingt gebietenden Gesetzen, nach denen wir handeln sollen«, ist, und wenn »man diesem Pflichtbegriff seine Autorität zugestanden hat«, dann stellt es eine »offenbare Ungereimtheit« dar, in der Konkretion »noch sagen zu wollen, dass man es doch nicht könnte«(4)

Was Kant hier ankreidet, ist bis heute geradezu das Rückgrat einer angeblich realistischen politischen Ethik: Was eigentlich unbedingt gilt, gilt hier dann doch nicht mehr, weil es den Sachzwängen oder den berechtigten Eigen­interessen nicht entspricht. Dass unbedingtes Sollen durch angebliches Nicht-Können außer Kraft gesetzt wird, gilt solcher politischen Ethik geradezu als Programm, von dem aus Kants Ethik heute als unpraktikable Gesinnungs­ethik belächelt würde - so als sei die unbedingte praktische Vernunft gar keine Vernunft, weil man Vernunft nur noch als »wert«-neutrales Kalkül kennt.

Kants Protest gegen diese Teilung und Abspaltung von praktischer Vernunft und zweckdienlicher Ratio - die ihrerseits nur die herrschende Zerteilung der Welt in Macht und Natur, Macht und Ohnmacht widerspiegelt - rekurriert dagegen auf die Kategorie der »Heiligkeit«, die exakt den Grund dafür darstellt, dass ihre eklatante Verletzung himmelschreiende, das Gericht heraufbeschwörende Sünde sein muss.

»Das Recht des Menschen muss heiliggehalten werden, der herrschenden Gewalt mag es noch so große Aufopferung kosten. Man kann hier nicht halbieren und das Mittelding eines pragmatisch-bedingten Rechts (zwischen Recht und Nutzen) aussinnen, sondern alle Politik muss ihre Knie vor dem ersteren beugen.«(5)

Wer könnte dieses Unbedingte heute der Politik sagen, wenn nicht die Kirchen? Aber genau solche klaren Worte hört man von ihnen kaum.

Man konnte in jüngerer Zeit dieses Versagen gerade im Blick auf das Thema beobachten, dem auch die zitierte Schrift Kants gewidmet ist: dem Frieden. Dass angesichts der ökologischen und sozialen Weltkrise »der größte Teil von Geist und Geld (Fachleute rechnen 40 bis 60 Prozent) in die Tötungswissenschaft und in die Tötungsindustrie gesteckt wird«, kann man nur als »himmelschreiende Sünde der Menschheit« werten, aber dazu verhalten sich die »Kirchen viel zu zögerlich-kasuistisch«.(6)

In den Jahren des Kalten Krieges zwischen Ost und West - demgegenüber heute weder die militärischen Ausgaben noch die militärische Orientierung der Welt-Macht-Politik abgenommen hat - lieferten die katholischen Kirchen ein Schauspiel des taktischen Lavierens, indem Bischofskonferenzen aus NATO-Staaten sogar die Verbreitung kritischer Dokumente des Vatikans behinderten - ein sonst gegenüber römischen Verlautbarungen gerade in Deutschland kaum vorstellbarer Vorgang. Insbesondere im Frontstaat Bundesrepublik lavierten die Bischöfe immer wieder um Stellungnahmen herum, und selbst deren Worte wurden vom politiknahen »Zentral­komitee der deutschen Katholiken« weiter verwässert.(7)

Die ethische Weisung versteckte sich so lange hinter der Komplexität militärisch-sicherheitspolitischer Sachfragen, dass die Weisung schließlich selbst so komplex wurde, dass sie nur noch Fachleute interessierte. Warum kennt die katholische Kirche Eindeutigkeit nur bei Themen wie Abtreibung oder Wiederverheiratung Geschiedener, nicht aber bei Krieg? Sie hat damit lange nach der Auflösung ihrer vormodernen Verquickung mit dem Staat immer noch nicht die Klarheit Kants eingeholt, der schon Ende des 18. Jahrhunderts nach dem Ende eines Krieges einen großen Bußtag forderte und die Sieges- und Dankfeiern als Frevel empfand.(8)

Dass die Kirchen grundsätzlich immer noch ihre Rolle in den herrschenden Verhältnissen spielen wie zu Kants Zeiten und keine prophetische freie Kraft diesen Verhältnissen gegenüber darstellen, hängt natürlich an der politischen und ökonomischen Einbindung der Kirchen, welche »die alten Strategien der >unheiligen Allianz von Thron und Altar< auch heute in Gang«(9) halten.

Gerade darin stellt die Situation in Deutschland ein besonders herausgehobenes Beispiel dar: Das hiesige Staats-Kirchenrecht mit Steuerprivileg, laufender Abzahlung der Säkularisierung und der systematischen Einbindung der Kirchen in die bürgerliche Gesellschaft - von Schulausschüssen bis zu Rundfunkräten -, sowie ihre Rolle als einer der größten Dienstleister und Arbeitgeber der Republik erzieht eine Führungs- und Funktionärs­schicht, deren Angehörige »ängstlich die Kirche verwalten, die über Geld und ererbte Formen wachen und vor allem ein gutes Einvernehmen mit den Mächtigen mehr lieben als den prophetischen Einsatz«.(10)

Die Sicherung der eigenen Privilegien ist einer solchen Kirche ein weit existenzielleres Anliegen als die Erhaltung oder Wiedergewinnung* ihrer Fähigkeit zum freien, vollmächtigen Wort.

*Widergewinnung im ebook; hier korrigiert von detopia-2022

»Die Kirchen haben ihre Werte denen der Konkurrenz-Religion nicht vollständig, aber weitgehend angepasst.«(11) Sie schwimmen mit im System des Wachstums.

Ausgerechnet die als besonders konservativ geltenden Kirchenführer pflegen zwar das Image einer Gegenstellung zum Zeitgeist - jedoch nur bezogen auf den angeblichen religiösen Kernbereich und auf die individual-ethische Normbewahrung, wobei hier meist noch ein tradiertes Gesellschafts- und Familienbild einfach mit dem biblischen Gebot identifiziert wird.

Ansonsten versteht diese Kirche ihre Praxis als die einer »Reparaturwerkstätte für Bürger, die Opfer des gesellschaftlich üblichen Lebensstils werden«.(12) Wo sich in diesen Reparaturwerkstätten - den kirchlichen Wohl­fahrts- und Sozialorganisationen - die prophetische Kritik an den Verhältnissen regt, wird sie selten von der Kirche insgesamt aufgegriffen, sondern bleibt die vereinzelte Stellungnahme kritischer Fachleute, so wie sie es außerhalb der Kirche auch gibt. Kult, Moral und Caritas versteht diese Kirche als ihr eigentliches Amt, Prophetie jedoch nicht. Ihre Predigt ist deshalb Lehre, die angeblich zeitlose Gehalte aktualisiert, nicht aber Verkündigung im biblischen Sinn, die Gottes Willen in die Aktualität hinein über-setzt.

Wie die Gesellschaft auf eine tatsächlich prophetisch wirkende Kirche reagieren würde, die der gegenwärtigen Welt ein Wort über ihre Situation sagt, dass sonst niemand so sagen könnte, lässt sich nicht abschätzen, denn es wurde nicht wirklich erprobt. Vielleicht wäre, wie es die biblischen Propheten überwiegend erlebten, Ablehnung und Verweigerung die Antwort. Aber derzeit ist nicht »die Verweigerung der Prophetie gegenüber«, sondern die Verweigerung der Prophetie selbst durch die, deren Amt sie wäre, »als Verachtung der Gegenwart und Wirksamkeit des Geistes Gottes« zu konstatieren.(13)

Denn diese Geistesgegenwart ist keineswegs als ein mystisches Erlebnis oder ein enthusiastisches Erweckungswunder zu verstehen, auf das man meist vergeblich wartet. Sie besteht darin, dass uns alle Ressourcen der Offenbarung Gottes gegeben sind und dass wir in ihrem Licht sehr wohl sehen und wissen können, wie die Dinge stehen und wie sie im Angesicht des Gottes des biblischen Zeugnisses zu benennen wären. Das aber hieße: »Der Gehalt des christlichen Glaubens müsste sich ... im präzisen Widerspruch zum Vorfindlichen entfalten, um Bedeutung zu erlangen.«(14) Dies sehen zu können, aber nicht sehen zu wollen ist dagegen genau das Verhalten, das die biblische Tradition Menschen in der Situation des Gerichts immer wieder zugeschrieben hat. Sie nennt es »Verstockung«.

Symptomatisch für die Kirche ohne Prophetie ist ihre weitgehende Weigerung, die eigene Verstrickung in die himmelschreiende Sünde der Menschheits­situation anzuerkennen. »Das Schuldbekenntnis der Kirche gehört zu den seltenen und zudem noch umstrittenen Erscheinungen.«(15) Und dann zeichnen sich kirchliche Schuldbekenntnisse meist durch erschreckende Harmlosigkeit und gedrechselte Ausflüchte aus.

Aber wie soll die Christenheit ein freimütiges Verhältnis zur Krise der Menschheit finden, wenn sie nicht radikal ihre eigene Rolle insbesondere bei der Zerteilung der Welt benennt und sich zu einer Geschichte bekennt, die nach ihren eigenen Maßstäben Verrat des eigenen Auftrags, also Bundesbruch bedeutet und deshalb das Gericht erwirkt?

Das wäre eine echte Aktualisierung der biblischen Geschichtserkenntnis, der biblischen Art, die Geschichte des Bundesvolkes zu analysieren und daraus den Willen Gottes für die Zukunft zu erkennen. Frei werden von der geradezu pathologischen Angst um sich selbst könnte nur eine Christenheit, die dies offen vor der Welt als ihre Situation anerkennen und aus dieser Freiheit heraus die Kraft zum Glauben an den gnädigen Gott und den Mut zum Handeln finden würde.

Paradigmatisch war auch hier die Situation in Deutschland nach 1945: Es gab kirchliche Schuldbekenntnisse, die aber eigenartig blass, unkonkret, weihevoll-unpolitisch blieben, so dass man in der Konfrontation mit der eigenen Mittäter-Geschichte im Nationalsozialismus wieder in eine überwiegend defensive Haltung zurückfiel.(16)

Was für die deutsche Situation nach dem Zweiten Weltkrieg gilt, zeigt sich in analoger Weise auch im Umgang der Kirchen mit der ökologischen und sozialen Katastrophe: Man ist schnell dabei, die eigenen Reserven für das Thema zu mobilisieren, also zu zeigen, dass gerade das Christentum Ressourcen bereit hält, um die Krise zu überwinden. So greift etwa A. Auers Umweltethik auf die Tradition der Askese zurück(17) - die allerdings im kirchlichen Alltag kaum wirklich gelebt wird. Solch eine Rückbesinnung ist natürlich nicht falsch, aber es wirkt seltsam banal, wenn die radikale - an die Wurzeln gehende - Reflexion der eigenen Rolle in der Krise ebenso fehlt wie die radikale Analyse der Zeichen der Zeit und die Verkündigung des Ergebnisses solcher Analyse als notwendiges Wort an die Welt.

»Mir ist übrigens keine einzige, über feierliche Trivialitäten hinausgehende Stellungnahme religiöser Organisationen bekannt«, schreibt Günter Anders(18) 1980 im Blick auf die ökologische Zivilisationskrise.

Ich fürchte, er würde heute zu keinem wesentlich anderen Schluss kommen, obwohl die Kirchen daraufhin empört auf eine Fülle von Öko-Verlautbarungen verweisen könnten - die aber kein prophetischer Einspruch sind: »Diese Dokumente lösen keine Irritationen aus, da sie nur verdoppeln, was ohnehin gesagt wird.«(19)

Wahrscheinlich ist den in den Kirchen Verantwortlichen kaum bewusst, welche andere Qualität von Erkenntnis und Verkündigung von ihnen erwartet wird - und zwar von jenen, die oft außerhalb der Kirchen noch etwas von ihnen erwarten. So wie das Thema der Apokalyptik, so lebt offenbar auch die Erinnerung an das prophetische Amt eher außerhalb der kirchlichen Organisationen.

Die »Katastrophen-Erfahrungen unseres Jahrhunderts haben ... kaum etwas an der Zurückhaltung der Kirchen gegenüber ihren apokalyptischen Traditionen geändert«, und diese Abstinenz samt der Dauer-Koalition mit der herrschenden Mitte der Gesellschaft hat auch die Prophetie-Vergessenheit noch wachsen lassen.

»Man verlangt Aufbauendes von uns (und fördert uns öffentlich dafür). Vor allem mit Apokalyptischem sollen wir die Menschen verschonen: Weltuntergangs- und Weltwendeaussichten - denn sie bedrücken nur noch mehr und schüren Unruhe, statt aushalten zu helfen.«(20)

Solche Erwartungen hören und bedienen die Kirchen, nicht jedoch den Hunger nach schmerzhafter und befreiender Wahrheit.

 

   Sich einstellen auf das Gericht?  

»Hoffen heißt nicht Optimismus verbreiten, sondern auf Zukunft setzen, gerade wo kein Grund zum Optimismus besteht.«(21) Das genau ist die prophetische und apokalyptische Haltung im biblischen Sinn, die es auch in der Erkenntnis der gegenwärtigen Situation als einer des Gerichts mit wirklicher Hoffnung für eine echte Zukunft - die nicht nur Verlängerung des Bestehenden wäre - zu tun hat. Es ginge dann um eine Zukunft, die im Glauben durchaus nicht nur »jenseitig« bestimmt wäre, sondern die das Kommen Gottes gerade da erwartet, wo das Gericht in Umkehr angenommen wird.

Ich hoffe, eines ist bis hierhin deutlich geworden: Die Rede vom Gericht als theologischer Qualifikation der Gegenwart meint nicht etwa die Ankündigung irgendwelcher bevorstehender übernatürlicher Ereignisse, die man nur mit Hilfe der Bibel vorhersagen könnte. Sie bezeichnet vielmehr die Bewertung, die sich aus der Gegenwartsanalyse ergibt, in theologischer Perspektive. Sie ist keine Zukunftsvorhersage, sondern Qualifikation der Gegenwart, keine Hinzufügung zur bisherigen Analyse, sondern deren Ergebnis. Sie hält fest, was die apokalyptische Situation der Gegenwart, ihre ökologische und soziale Krise und deren wahrscheinlicher katastrophaler Trend im Licht der biblischen Vernunft ist - nicht, was erst aus ihr folgen könnte. Die Rede vom Gericht als theo-logische Rede ist in diesem Sinn gänzlich unmythologisch.

Auch die Prophetie Israels hat den geschichtlichen Ereignissen im Kern nichts hinzugefügt außer dieser theologischen Belichtung, auch wenn dies in metaphorischer oder mythologischer Sprache geschah. Sie hat gedeutet. Und sie hat Handlungskonsequenzen benannt.

Entsprechend stellt sich jetzt die Folgefrage, welche Bedeutung die Rede vom Gericht für uns eigentlich hat. Sie soll ja keine leere Rede bleiben, die ihre Anhänger nur als Besserwisser des Weltgeschehens dastehen lässt. Das ist in ihrem hier entwickelten Verständnis schon deshalb ausgeschlossen, weil die Gerichtserkenntnis nur auf die Erkennenden selbst gewendet, als Selbst-Erkenntnis von Bürgern der reichen Welt, und nicht als betrachtendes Fazit von Unbeteiligten aufgeht. Diese Erkenntnis bedeutet eine Ein-Stellung zur Gegenwart und auf die Zukunft - nur als solche, nicht als reine Behauptung »über« die Zeit kann sie konkreten Sinn bekommen.

Es geht darum, »sich auf etwas gefasst zu machen«, und speziell in unserer säkularen apokalyptischen Situation darum, sich »auf den Empfang eines Ereignisses vorzubereiten, das >eigentlich< zu groß für das gewöhnliche Volumen unserer Seele ist«.(22) Denn die Wahrscheinlichkeit eines Menschheitskurses, der auf einen bisher geschichtlich nie da gewesenen Zivilisationsbruch hinsteuert, gehört gewiss nicht zum erlernten Kalkül des Menschen.

Faktisch aber lebt unsere Generation schon seit längerem wenigstens mit der Möglichkeit dieser Perspektive. Bisher haben das vor allem Science Fictions in Buch und Film auf den Punkt gebracht. Unser nicht-fiktionales Bewusstsein sperrt sich offenbar dagegen, sich in diesem Sinne »auf etwas einzustellen« - auch wenn man inzwischen von so genannten Collapsitarians lesen kann, die fantasiereich für die Welt »danach« proben.(23)

Was aber können jene erproben, die sich der theologischen Rede vom Gericht stellen?

Nun kennt vielleicht ein einzelner Prophet, nicht aber die Bibel als solche das Gericht als abstraktes letztes Wort. Es mag zwar in bestimmten Situationen - und wahrscheinlich gerade in der unseren - zunächst wie eine Mauer vor uns stehen, weil es die Deutung der letzten uns möglichen zeitgeschichtlichen Aussicht ist. Wenn die Aussicht real nicht weiter gehen kann, kann auch eine geschichtstheologische Deutung der Situation nicht billig darüber hinwegreden. Aber auch solche geschichtstheologische Deutung ist als theologische immer eine Deutung in Konfrontation mit dem als Schöpfer und Offenbarer erinnerten und erwarteten Gott.

Deshalb gibt es biblisch die Rede vom Gericht nur sozusagen eingeschlossen in die Verheißung und Zusage des Heilswillens Gottes. Denn wer sich an diesem Heil nicht mehr orientiert, wer Gott nicht mehr erhofft, nicht mehr an ihn appelliert, für den muss auch die Rede vom Gericht semantischer Unsinn sein. Dem bleibt nur noch die »kupierte« Apokalyptik eines letzten sinnlosen Schreckens. Dabei geht es im Zusammenhang von Gericht und Heil allerdings nicht um ein lineares Denken, um ein Danach oder Jenseits des Gerichts, sondern darum, in bestimmter geschichtlicher Konstellation, d. h. konkret in bestimmten Auswirkungen menschlichen Handelns auch das Gericht als letzte notwendige Weise zu begreifen, in der sich Gottes Wille - also jetzt sein Gegen-Wille - durchhält.

Wir befinden uns mit diesem Vortasten ganz in der Spur biblischer apokalyptischer Vernunft. Denn auch deren geschichtstheologische Perspektiven funktionierten nie als für sich stehende Thesen. Sie hatten vielmehr die Funktion, die Adressaten - die angesprochene Gemeinde Israels und Jesu - auf etwas einzustellen. Bei den deuteronomistischen Geschichtsschreibern und den Redakteuren der Prophetenbücher ging es darum, die Menschen nach dem Zusammenbruch des Königreiches Juda und der Exilierung der Oberschicht auf eine neue Zeit nach der Katastrophe einzustellen, dem Zusammenbruch einen Sinn und dem dennoch bleibenden Bund mit Gott eine neue Gestalt zu geben. Bekanntlich ist das Judentum, ist diese Bundesexistenz, die einer eigenen politischen Verfassung letztlich nicht mehr bedarf, erst aus dieser Neu-Einstellung entstanden.

Den Apokalyptikern später ging es darum, Israels Treue zu diesem Bund zu motivieren, während das winzige Gemeinwesen im Schmelztiegel des Hellenismus aufgelöst zu werden drohte. Den neutestamentlichen Autoren schließlich musste es gelingen, im Licht ihrer Erfahrung der Auferstehung Jesu die Neuheit einer endzeitlichen Gemeinde aus Juden und Heiden zu begründen, sich in die Bundestheologie einzuschreiben und ihr eine lebbare Gestalt zwischen jüdischer Bestreitung der Neuheit und dem Druck des Imperium Romanum auf jede Neuheit zu geben. In all diesen Neu-Einstellungen spielt die geschichtstheologische Diagnose der Gegenwart, die Ausrichtung des geistigen Kompasses auf das gerade jetzt besondere Verhältnis zwischen Gerichts-Notwendigkeit und Heils-Verheißung Gottes eine entscheidende Rolle.

Aber wie kann diese biblische Deute-Perspektive heute, in einer den damals gemeinten Situationen gegenüber gänzlich anderen Zeit, konkret und kreativ aufgenommen werden - und nicht nur als ein entweder fundament­alistischer oder rhetorisch-abgehobener religiöser Überbau über unseren säkularen apokalyptischen Empfindungen?

Es kommt offensichtlich darauf an, die ureigenen Ressourcen, das den Glaubenden wirklich aufgegebene Erbe tatsächlich und nicht nur rhetorisch für unsere Zeit zu aktivieren. »Das Christentum müsste sich an seinen eigenen Wurzeln fassen, um radikal zu werden.«(24)

Ich möchte deshalb am Ende dieses Buches die spezifisch biblischen Weisen aufgreifen, sich auf die Verkündigung des Heils im Gericht einzustellen.(25) Biblische Vernunft gibt es ja nie »pur«, sie ist an sich ein theologisches Konstrukt der Analytik biblischen Denkens, also der Texte. In diesen finden sich unterschiedliche theologische Grund-Stile. Ich nenne diese »deuteronomistisch«, »apokalyptisch« und »weisheitlich«. Sie sind gemeinsam Ausdrucksweisen biblischer Vernunft, weil sie alle eine Einstellung suchen zur in ihrer Zeit notwendigen theologischen Situationsbestimmung.

Ich frage also im Folgenden, welche diesen biblischen Perspektiven entsprechenden modernen Einstellungen zur säkularen apokahptischen Situation es gibt und wie sie in der Perspektive biblischer Vernunft zu bewerten sind - inwieweit sie sich sozusagen auf der Höhe dieser Vernunft halten. Die Pluralität der möglichen Einstellungen entspricht dabei schon dem biblisch gegebenen Pluralismus und zeigt, dass die Notwendigkeit der Rede vom Gericht keineswegs einen Vorhang fallen lässt, vor dem Denken und Leben erstarren müssten.

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(5) 1. Kirchen ohne Prophetie