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     Kapitel 4  -  Gegenwart braucht Prophetie:  Theologische Qualifikation der Zeit   

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Die bisher durchlaufenen Kapitel haben einen weiten Weg durch ökologische, politische und historische Debatten genommen, wobei leicht aus den Augen verloren werden konnte, warum ich ihn eigentlich antrat: Die gegenwärtige Situation der Menschheit soll ins Verhältnis gesetzt werden zu biblischer Vernunft und christlicher Theologie.

Bei der Diagnose der globalen ökologischen und sozialen Katastrophe habe ich nachzuweisen versucht, dass die Menschheit gegenwärtig in einer real apokalyptischen Situation angekommen ist, aus der sie nicht mehr zurück­kann: Es geht jetzt permanent um ihr Überleben oder um ihren Untergang - zumindest in der uns kulturell-zivilisatorisch vorstellbaren Form. Es geht um Zukunft oder Selbstzerstörung dessen, was die Menschheit in ihrem bisherigen Lauf geworden ist.

Damit passt unsere gegenwärtige Lage auf überraschende Weise zum biblischen Geschichtsbild: Sie ist reale Endzeit. Aber sie ist dies rein faktisch, ohne dass diese Diagnose von sich aus einen religiösen Kontext nahelegen würde, aus dem die Charakterisierung »apokalyptisch« ursprünglich stammt.

Um Gegenwart und Theologie miteinander zu konfrontieren, müssen wir nun die Perspektive wechseln: Ich blicke in den folgenden zwei Kapiteln vom biblischen Glauben her, also mit seinen Augen, auf die Gegenwart und frage, wie die Theologie das bisher gezeigte Szenario »synthetisieren« kann, was ihre Diagnose zu unserer Diagnose ist.

Schon die bisherige Analyse war kein Experten-Bericht zur Lage der Menschheit. Vielmehr habe ich als Laie zu den betreffenden Themen die Auskünfte von Experten gesichtet, um das Besondere unserer geschichtlichen Situation in den Blick zu bekommen. Darin liegt immer schon ein Sprung vom Material - das selbst auch schon ein gedeutetes ist - hin zur eigenen Deutung. Ohne diese würden wir nur Expertendebatten in sich selbst kreisen lassen, lauter Kenntnisse gewinnen ohne den Mut zu eigener Erkenntnis. »In einer Welt der hochspezialisierten Experten, die immer mehr über immer weniger wissen, ist synthetisches Denken schwer geworden, als kritisches Denken aber mehr denn je gefordert.«(1)

Der theologische Blick auf die Gegenwart betrachtet nun die Situation unter der Annahme der Gegenwart Gottes als Herrn dieser Geschichte. Die Ist-Situation der Schöpfung wird gemessen an ihrem Sollen, d. h. am Willen des Schöpfers für sie. Die Theologie fügt als kritisches Mittel der Analyse die Frage nach dem »Sinn« oder »Unsinn« der Menschheitssituation vor der Gegenwart Gottes ein, wie sie die biblischen Schriften bezeugen.

Die Gegenwartsdiagnose wird in dieser Perspektiv-Wende theologisch - aber in einer ganz spezifischen Weise. Martin Niemöller war bekannt für seine Frage in bestimmten politischen Entscheidungs-Situationen: »Was würde Jesus dazu sagen?« Diese Frage enthält einen Konjunktiv, den nur der Fragende selbst auf eigene Verantwortung in den Indikativ der Antwort überführen kann. Er tut dies, indem er das, was er von Jesus weiß - aus den Zeugnissen über ihn - auf das bezieht, was er von der Situation weiß, in der er steht. Er muss mit seiner eigenen Vernunft »spekulieren«, was die Welt-Anschauung Jesu zur gegenwärtigen Situation zu sagen hat.

In diesem Sinn argumentiert er theologisch, weil Jesu Welt-Anschauung eben keine anderweitig herleitbare Weltanschauung ist, weil sie ohne ihre Annahme der konkreten Gegenwart Gottes nicht angewandt werden kann. Dennoch ist diese Operation der Überführung des Konjunktivs der Frage in den Indikativ der Antwort ein theologisches nachvollziehbares Verfahren und kein Glaubensakt. Grundsätzlich könnte auch ein einfühlsamer, also hermeneutisch sensibler Nicht-Glaubender diese Operation vollziehen, indem er die Kategorien der Urteile Jesu aus den Zeugnissen über ihn interpretatorisch erhebt und dann analoge Urteile über die gegenwärtige Situation »im Geiste Jesu« zu formulieren sucht.

Ebenso verhält es sich bei der nun anstehenden Operation der Anwendung theologischer Kategorien auf die Diagnose unserer Gegenwart. Hier ist die Frage nicht enggeführt daraufhin, was Jesus sagen würde, sondern breiter darauf, was in den Kategorien einer biblisch geprägten Vernunft über unsere Gegenwart zu sagen wäre.

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Diese Kategorien(2) sind allerdings kein einfaches begriffliches Instrumentarium, sondern eine Zugangsweise zur geschichtlichen Gegenwart im Licht der Offenbarung Gottes in der Geschichte Israels, Jesu und der Gemeinde seiner Jünger. Diese Geschichte der Glaubens-Vernunft mit ihrer eigenen Quelle - dem Offenbarungszeugnis in der Geschichte Israels und der frühen Kirche - bleibt im Kern stets einer Logik treu: Sie vollzieht eine theologische Qualifikation der Gegenwart. In einer solchen Qualifikation geht es - von den Propheten über die Geschichtsbücher Israels bis zu den Evangelien und frühchristlichen Briefen - stets darum, inwiefern das Verhältnis der Menschen zu Gott »heil« oder »unheil«, also in Ordnung oder gestört ist.

Die biblischen Kategorien für diese Qualifikation sind aber nicht als eine Art Checkliste zu haben, als eine Sammlung von Maximen, die man dann in syllogistischen Schlüssen auf die Gegenwart beziehen könnte. Die Glaubens-Vernunft ist das Ergebnis geschichtlicher Erfahrung, gedeutet in der Gott-Konfrontation Israels und der Gemeinde Jesu. Deren theo-logische Vernunft hat sich nicht lehrhaft, sondern geschichtlich entfaltet. Immer neu wurden geschichtliche Situationen im Licht des überlieferten Willens Gottes gedeutet. Die Anwendung solcher Deutung auf die Gegenwart gelingt nicht in einer - tendenziell »fundamentalistischen« - Anwendung einzelner biblischer Sätze auf heutige Symptome. Die in der Bibel geleistete theologische Qualifikation von Gegenwart kann modern angewandt werden nur in einer erneuten Rekonstruktion, besser: einer »Pro-Konstruktion«. Wir fragen, wie aus dem biblischen Glaubenszeugnis heraus unsere Situation gedeutet werden muss, wie die damaligen Fragen nach Gott unsere Fragen werden können. Der Lichtkegel biblischen Denkens wird dabei auf die Diagnose der Gegenwart gerichtet. Die Schatten, die diese dann wirft, bilden die theologische Qualifikation unserer Gegenwart ab.

Theologisch ist damit zu rechnen, dass diese Qualifikation stets eschatologische Aussagen beinhaltet. Dies ist schon erkenntnistheoretisch so, weil Aussagen, welche die Welt mit Gott konfrontieren, stets etwas Ultimatives sagen wollen, eine letzte Ebene der Wirklichkeit ansprechen.

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Und es ist inhaltlich so, weil der biblische Glaube in seiner Grundgeschichte stets und in seiner neutestamendichen Version nochmals radikalisiert die Gegenwart in Beziehung gesetzt hat zum Ausgang, zum Letzten der Geschichte zwischen Menschen und Gott. Mit diesem theologischen Anspruch, in der Konfrontation mit Gott ein Letztes über die Geschichte der Menschen auszusagen, korrespondiert das empirische Ergebnis unserer Gegenwartsanalyse, nach der es in der gegenwärtigen Menschheitskrise um deren Überleben oder Untergang, also um ein Ganzes und Letztes in einem ganz weltlichen Sinn geht. Was diese Korrespondenz im Ergebnis bedeutet, kann erst die vollzogene theologische Deutung der Gegenwart sagen.

Aber es lässt sich an ihrem Ausgangspunkt schon festhalten, dass man den empirisch festgestellten, unser Überleben betreffenden »Endzeiten der menschlichen Geschichte ... nicht gerecht wird, wenn man die mit ihnen gegebenen Herausforderungen ... allein ethisch-politisch, aber nicht strikt theo-logisch aufnimmt«.3 Schlichter gesagt: Wenn man die jetzige Situation der Menschheit »auf der Kippe« letztlich begreifen will, dann geht es um ihr Verhältnis zu Gott, und nicht nur darum, was jetzt zu tun ist. Die festgestellte apokalyptische Situation ruft die Frage hervor, was das mögliche Scheitern des Fortschrittsprojekts der westlichen Menschheit mit all seinen globalen Folgen im Angesicht Gottes bedeuten mag. Die Frage allein, wie der Untergang zu vermeiden sei, wird der vorgerückten Stunde und unserem Wissen um sie nicht gerecht, so wenig wie ein Mensch im bewusst erlebten Todeskampf nur medizinische Fragen hat.

Solch eine Frage nach dem Verhältnis unserer säkular-apokalyptischen Situation zum Gott-Denken der Bibel zu stellen bedeutet »keine wohlfeile Apokalyptik«4 - wie sie Weltuntergangsprediger betreiben, um Wasser auf die Werbemühlen ihres eigenen religiösen Vereins zu leiten. Ein solch apologetisches Interesse liegt mir tatsächlich fern. Die gegenwärtige Situation der Menschheit eignet sich nicht dazu, aus ihr religiöses Kapital zu schlagen. Vielmehr frage ich, was das christliche religiöse Kapital in diese Situation einzubringen hat. Die folgenden beiden Kapitel ziehen also die theologische Konsequenz aus der Erkenntnis, »dass unsere Existenz in die Nähe der absoluten Entscheidung und ihrer Konsequenzen gelangt; der höchsten Möglichkeiten wie der äußersten Gefahren«.5

Allerdings: In einer Menschheit, die längst »lieber Gott spielt« - und zwar mit sich selbst -, die Gottes-Frage nicht zu stellen, scheint mir nicht von Aufgeklärtheit zu zeugen, sondern davon, geistig der eigenen Situation nicht mehr gewachsen zu sein.

Prophetischen Kritikern erscheint, was die Agenten des Fortschritts derzeit mit der Natur und mit den Verlierern des Fortschritts anstellen, als »Todesprojekt«.6 Das ist nicht einfach moralisierende Sprache. Es charakter­isiert vielmehr exakt eine Situation, in welche die neuzeitliche, europäische Zivilisation die Menschheit gebracht hat. Wir haben uns selbst zum »Projekt« gemacht. Der Mensch hat sich selbst in die Hand genommen - und nun müssen seine Projekte danach beurteilt werden, ob sie ihm Leben oder Tod bringen.

Paul Crutzens Anthropozän ist notwendigerweise das apokalyptische Erdzeitalter. Erstmals und nicht mehr hintergehbar sind Heil und Unheil der Menschheit als ganzer zum bewussten Thema ihrer Geschichte geworden. »Der Mensch erscheint im Holozän«, formulierte Max Frisch im Titel einer Erzählung. Nun entscheidet der Mensch darüber, ob er im Anthropozän wieder verschwindet. Die »letzten Dinge« sind angebrochen, wir selbst haben sie angebrochen. - Da darf man schon die Frage stellen, was dies mit dem Gott zu tun hat, dem bisher allein diese letzten Dinge zukamen.

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