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1.3   Geschichte nach dem Fall

 

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  Wenn von einem Fall die Rede ist, der die Geschichte eröffnet oder sie prägt oder ihr eine bestimmte Wendung gibt, dann kommt ein Element des Plötzlichen, des Widernatürlichen, Unerwarteten, der Unterbrechung des Normalen ins Spiel. Geschichte ist dann nicht schicksalhafter Verlauf, nicht das Ausrechenbare und Erwartbare, sondern wird im Gegenteil dort in Gang gesetzt, wo der automatische Lauf der Dinge aussetzt.

Ob das eine Katastrophe oder die Rettung bedeutet, ist damit noch nicht gesagt. Denn während im Geschichtsbild des Schicksals trotz aller Unterschiede der Konzeptionen letztendlich stets das Ganze seine Teile erkläre und alles sozusagen ist, wie es ist, kommt es im Geschichtsbild des Falls gerade darauf an, die Ursache dessen zu bestimmen, was der Fall ist.

Denn Geschichte ist hier, was auch nicht oder auch ganz anders sein könnte oder — mit einem Ausspruch Konrad Adenauers, geradezu "die Summe dessen, was vermeidbar gewesen wäre."(75)

 

  3.1   Status corruptionis  

"Die Ahnung von einer erlittenen Trennung, Ablösung, Aussonderung wohnt allem Lebendigen inne", schrieb Alfred Döblin in seinem geschichts­philosophischen Essay <Prometheus und das Primitive>.(76) Wirklich allem Lebendigen? Oder ist es gerade der Mensch mit seiner fatalen Anthropozentrik, der "in die Natur einen Riss" einbringt?"(77)

Menschen jedenfalls scheint das Bewusstsein eigen, jenseits von Eden zu leben, als Ausgetriebene eines ursprünglichen Paradieses. So bezeugen es etwa die Erzählungen der in Nordostasien und in Amerika verbreiteten schamanischen Religionen: Ursprünglich sei der Himmel den Menschen nahe gewesen, eine Säule, Leiter oder ein Baum verband sie. Manchmal wird erzählt, dass in diesen Zeiten alle Menschen schamanische Kräfte hatten, manchmal, dass die ersten Schamanen leibhaftig in die Gotteswelt reisen konnten, während sie es heute nur noch kultisch tun.

Aber woher kam der Verfall? Manchmal ist es ein Gott selbst, der auch das Schlechte loslässt. Manchmal sind es böse oder Fehler begehende Schamanen, die der alten Harmonie ein Ende bereiten. Immer wieder ist auch von Schuld die Rede: In der ägyptischen Mythologie hat die Rebellion von Menschen gegen die Götter eine Spaltung und Trennung in die Welt gebracht.

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"Dadurch ist das Böse in Gestalt von Tod, Streit, Mangel und Unordnung in die Welt gekommen, die nur durch dessen unausgesetzte Bändigung in Gang zu halten ist"(78) Der erste griechische Geschichtsschreiber Herodot fragt nach der „aitia" der heurigen Verhältnisse; das Wort bedeutet gleichermaßen „Ursache und Schuld: danach gründet die Einheit der historischen Zeit in der Unauflöslichkeit eines Schuldzusammenhangs."(79)

Wo beginnt der? Bei den Tataren erzählte man» der Mensch habe etwas von Gottes Schöpfungsschlamm heimlich für sich behalten und sei deshalb gestraft worden. Oder ein verführender oder zerstörender Widersacher brachte Tod, Übel und das Böse in die Welt. In China hat sich diese Tradition in Erzählungen erhalten, nach denen ursprünglich Götter und Menschen sich gegenseitig besuchen konnten. Allerdings bleibt in unterschiedlichen Überlieferungen umstritten, was diese Situation beendete: Haben die Götter die Menschen zu sehr bedrückt oder die Menschen rituelle Fehler im Umgang mit den Göttern begangen? Was bleibt» ist die Sehnsucht nach der verlorenen Einheit, auf die insbesondere der Taois-mus reagiert, der zurückführen möchte in ein Bewusstsein, wie es vor der Zivilisation war. In der Zeit vor dem Aufstieg des geeinten Kaiserreiches zweifelt Lao-tse am Zivilisationsprozess insgesamt. Denn schon der erste Fortschritt produziert die Waffen seines Untergangs. „Spanne den Bogen, so weit du kannst, und du wirst wünschen, du hättest rechtzeitig eingehalten**, heißt es im Tao-te-king.*** Dagegen kann nur die mystische Erfahrung des Ursprungs und Jenseits der Wirklichkeit wiederbringen, was als natürliches Bewusstsein verloren ging.

In der Ur-Faü-Frage werden weder Sterblichkeit noch Schlechtigkeit als selbstverständliche Realität hingenommen- Ein Mythos aus dem indonesischen Poso berichtet, „dass am Anfang der I Iimmel der Erde sehr nah war44 und der Schöpfer den Menschen an einem Seil erst einen Stein, dann eine Banane herab ließ. Weil die Menschen die cssbare Banane wählten, wurden sie nicht unsterblich wie der Stein, sondern so wie die Pflanze. In Melanesien erzählt man sich, die Menschen hätten sich früher gehäutet wie die Schlangen- Aber weil ein kleines Kind seine so wieder jung gewordene Mutter nicht mehr erkannte, hätten sie freiwillig darauf verzichtet und wären sterblich geworden.81

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  Vorspiel im Himmel 

Ist es also böser Zufall, göttlicher Wille, menschliche Schuld oder gar eine sinnvolle, unumgängliche menschliche Wahl, dass ein Zustand der Schöpfung verloren ging, der ursprünglich sein sollte? Die mythische theologische Reflexion hat weltweit offenbar eine Tendenz, diese Frage tatsächlich theo-logisch zu klären, d.h. sie in die Götterwelt selbst zu verlegen. In einer vereinfachten Definition sind Mythen ja Göttergeschichten. Richtig daran ist, dass in ganz unterschiedlichen Kulturen und Religionen Mythen eine Art himmlischer Vor- oder Übcrgcschichtc erzählen, eine Art „Vorspiel im Himmel", das die irdische Geschichte vorweg bestimmt. Diese Mythen scheinen allerdings jünger zu sein als die bisher genannten mythischen Rrinncrungcn an einen verlorenen Urzustand. Im Unterschied zu schamanischen und ähnlichen Vorstellungen setzen sie nämlich eine differenzierte, hierarchische Götterwelt voraus, gewissermaßen einen schon historisierten Olymp, Mircea Eliade hat sich bemüht, diese Entwicklung von Göttergenealogien rund um die Welt zu verfolgen. Wie stichhaltig seine Theorie von der fast universalen Vorstellung der Götterrcvolurion ist, kann ich nicht beurteilen. Offensichtlich stellt sie jedoch einen eigenen Typus dar, sich den Fall himmlisch zu erklären.

Weltweit findet Eliade den Glauben an „Welteltern, Umunter, Urwc-sen und Urvater", die eigentlich die höchsten Gottheiten sind. Doch deren „göttliche Wirksamkeit erlischt nach dem Schöpfungsakt, sie sind nun oriose Gottheiten, die nicht mehr in das Leben der Menschen eingreifen."*- Diese sowohl in Indonesien als auch in Westafrika anzutreffende fast elastische Rolle der Schöpfungsgottheiten wirkt so, als hätten diese früher einmal eine aktivere Rolle gespielt, als sei der Fall aus paradiesischen Urgegcbcnhciten mit einer Entkräftigung Gottes cinherge-gangen - so wie die ägyptische Mythologie berichtet, der Sonnengott Re habe sich schließlich alt gefühlt und sei von seiner Tochter Nut in den Himmel entrückt worden. Dahinter vermutet man religionsgeschichtii-che Verdrängungsprozesse: So wurde in den altindischen Veden aus dem indogermanischen Himmclsgott Dyaus ein verblasster Symbolbcgriff für I limmel und Tag, jüngere Gottheiten wie Varuna und lndra übernehmen die Macht. In ausdifferenzierten Pantheon-Geschichten wird diese Entwicklung ausdrücklich und meist recht brutal erzählt- Zeus entmannt bekanntlich seinen Vater Uranos, den alten Schöpfer, und macht sich so gegen den Widerstand von Mutter Gaia zum regierenden Gott,

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Auch der babylonische Marduk ist so ein Revolutionär und in Kanaan entmachtet Baal den Urgott EL Ein gewaltsamer Bruch zwischen den ursprüngliche^ einfachen Zuständen der Schöpfung und den gegenwärtigen Machtverhältnissen der Welt wird hier offenbar in den Himmel projiziert. Unschwer lassen sich darin die Erfahrungen der ersten Stadtkulturen und Imperien erkennen, der Königshöfe und Eroberungen, So wie diese sich vor die Erinnerung an die alten Nomaden- und Pflanzerkulturen schieben, so werden die ersten Lebensspender entmachtet zugunsten heldischer Täter-Gottheiten, Diese dramatischen Götterrevolutionen erklären also tatsächlich, wie wir geworden sind, wie wir sind - aber der Fall vom Ursprünglichen ins Heute hat sich doch über die Köpfe der Menschen hinweg ereignet, er hat, wiewohl ein wahrgenommener gewaltsamer Bruch, wieder schicksalhafte Züge.

Selbst in der persischen, auf Zarathustra zurückgehenden Religion, wird der Kampf zwischen Gut und Böse in den Himmel vor der Schöpfung verlegt- In der dualistischen Religion der Zoroastrier dreht sich alles darum, dass die Menschen sich auf die Seite des guten Gottes Ahura Mazda stellen, dass sie ihm kultisch und sittlich zur Seite springen und so die Geschichte zu ihrem guten Ziel führen helfen- Deshalb wird vermutet, dass diese tätige, der Geschichte zugewandte Religion die Entwicklung des Judentums unter persischer Oberherrschaft beeinflusse hat, Dennoch verlegt der Zoroastrismus die dualistische Ur-Scheidung in den Kampf Gottes gegen die dunkle Gegenmacht Angra Mainyu, der auch die gute Schöpfung angegriffen und die Welt so zu einer verseuchten Mischung verfälscht hat.

 

Vorspiel im Garten

Die biblische Schöpfungs- und Paradieserzählung ist in der Umgebung solcher Götterdramen entstanden und von deren altorientalischen Varianten nachweislich beeinflusst. Umso stärker zeigt sich dennoch der Kontrast der biblischen Geschichte vom Fall im Buch Genesis zu diesem mythologischen Hintergrund, Im biblischen Bericht folgt die Paradieserzählung (Genesis 2) auf den Schöpfungsgesang (Genesis I), in dem Gott die ganze Welt durch seine Befehlsworte gestaltet und am Ende das Ergebnis als gut, den Menschen sogar als „sehr gut" preist. Der Mensch, der das Paradies bewohnt, ist nach dieser Komposition also kein unfertiger Vormensch, kein Naturwesen ohne Vernunft und Freiheit» wie ihn

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die idealistische Deutung sieht. Er ist von Gott beauftragt, den Garten „zu bedienen und zu hüten", isr also gewissermaßen Gottes Gärtner und eben in dieser Rolle sein Ebenbild. Wenn Adam den Tieren ihre Namen gibt, also tatsächlich der von ihnen unterschiedene Sprecher ist, wenn er nur in Eva ein echtes Gegenüber erkennen kann, dann werden „die Menschen deutlich von einem nur tierischen, unbewussten Zustand des Geistes unterschieden"*1. In der Terminologie von Kant, Schiller und I legcl muss man also — gegen deren Auslegung — formulieren, dass die Bibel sich eine Vernunft und Ereiheit vorstellen kann, die mit ihrem paradiesischen Einklang mit Gott und seiner Schöpfung nicht gebrochen hat

Dass diese Vorstellung mythisch-bildhaft bleibt und niemals realistisch werden kann, versteht sich nicht nur literarisch, sondern auch aus der Sache heraus: Die hier imaginierte „heile Welt** ist nicht unsere Realität. Die Geschichte will ja gerade erzählen, warum dies so ist. So bleibt das Paradies auch später zugleich Ciegcn-Eolic zur Tristesse unserer Welt, Sehnsuchtsort, und doch auch so unwirklich wie auch der Himmel der Erlösten (in dem einem sehr realen Bayern wie dem des EudwigThoma und Karl Valentin nur langweilig werden kann). Doch das bedeutet noch nicht, dass die Erzählung einen Anfangs-Zu stand imaginiere, der eben aus sich nicht stabil sei, der sozusagen noch geerdet werden müsse-*4 Es geht nicht um die „Unfertigkeit des Menschen**HS - jedenfalls nicht im jetzigen Kontext der Genesis, im Endtext» wie die Bibel ihn bieten will und wie er theologisch wirksam wurde.

Gewiss ist auch der Gott dieser Erzählung provozierend mythisch gezeichnet: Er scheint die Menschen zu betrügen, denn sie ernten mit der verbotenen Frucht ja keineswegs wie angedroht den Tod, jedenfalls nicht buchstäblich, Hat die Schlange also Recht? Als Gott die Menschen des Paradieses verweist, tut er dies aus Angst, sie könnten sonst auch noch vom Baum des Ixbens essen und ewig leben (Genesis 3,22) - ganz ähnlich wie Gott beim Turmbau zu Babel später fürchtet, die einige Menschheit könne tatsächlich zu mächtig werden (Genesis 11,6). Doch die Pointe dieses mvthischen Gottesbildes besteht m.E. nicht in einer „Perspektive des Erwachscnwcrdcns des Menschen1*, nicht darin, dass der Mensch sich „auch ein Stück weit von Gott emanzipieren** müsse86, um wirklich Mensch zu sein. Das scheint mir eine moderne, von Kant, Schiller, Hegel oder Fromm untergründig beeinflusste Sichtweise. In der Geschichte geht es um eine Rebellion gegen Gott, um eine Grenzüberschreitung, die dem Menschen nicht gut tut.

Der Mensch will seine vom

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Schöpfer gesetzten Grenzen ins Unendliche („werden wie Gott*') überschreiten. Damit handelt er sich jedoch gerade ein, dass aus seiner natürlichen Differenz zu Gott, seiner akzeptablen Endlichkeit, eine bedrückende, gebrochene Endlichkeit, eine Last wird.

Daraus folgt dann umgekehrt für den Fall aus diesem Einklang, „dass die Sünde keineswegs mit der Bewusstwerdung identisch"**7 - und dass sie keineswegs zur Menschwerdung notwendig ist. Das Besondere, Unmythische der Paradieserzählung besteht gerade darin, dass der Sündenfall selbst nicht erklärt wird. Das Böse, das eigentlich Erklärungsbedürftige der Geschichte, bleibt geradezu aufreizend kontingent. So ist die Schlange, die Eva verführt, zwar ein besonders schlaues Tier, aber keineswegs der Teufel, also keine Gott gegenüberstehende dunkle Grundmacht. Die spätere jüdische und christliche Tradition kennt den Sündenfall Luzifers im 1 limmel als eine Art himmlischer Vorgeschichte des menschlichen Falls. Der romantische Theologe Franz von Baader und sogar der moderne Svstemtheoretiker Niklas Luhmann haben diesen Mythos geradezu als Ursache der materiellen Schöpfung und damit des menschlichen Falls betrachtet.88 So soll das Böse metaphysisch oder logisch einsichtig werden. Dabei wusste schon der frühchristliche Theologe Ürigenes, dass die Lehre vom Teufel die Frage nach dem Ursprung des Bösen nur um eine Station zu rück verlegt: Was motiviert die in Gottes Vollkommenheit lebenden Engel zur Rebellion? Auch hier ist das anfänglich Böse gerade das, wofür man keine positiven Gründe angeben kann.09 Es ist tatsächlich absurd-Biblisch verkörpert die Schlange einfach die Stimme der Verführung im Menschen, Ihre Lüge, Gott habe angeblich den Gcnuss aller Früchte im Garten verboten, weist Eva noch zurück; der Verheißung, durch die Frucht zu werden wie Gott, erliegt sie jedoch ebenso wie der Mann. Die Folgen erzählt die Geschichte mit einer merkwürdig ambivalenten Ironie: Statt zu werden wie Gott, „erkennend Gut und Böse", erkennen die Menschen nur, „dass sie nackt waren/* Sie schämen und verstecken sich. An der Scham erkennt Gott die Sünde — was heißt: ohne Sünde gäbe es diese Scham nicht. Tatsächlich erkennt Gott die Verheißung der Schlange gewissermaßen an: „Der Mensch ist geworden wie unser einer im Erkennen von Gut und Böse" (Genesis 3,22). Und die Vertreibung aus dem Garten geschieht aus der göttlichen Sorge, die Menschen könnten sich auch noch am Baum des I-cbcns vergreifen und ewig leben.

In dieser göttlichen Bestätigung liegt der einzige Anhaltspunkt dafür, dass der Fall tatsächlich so etwas wie Fortschritt in die Menschheit ge-

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bracht habe* Aber es ist eben ein mit bitterer Ironie durchschauter Fort-Schritt: Der Mensch hat gewissermaßen hinter den Spiegel geschaut und dort die andere Möglichkeit, das Böse entdeckt, und darin den unbändigen Willen zur Selbstbehauptung, der auch im Wunsch nach Unsterblichkeit besteht. Darin ist er ein Konkurrent Gottes geworden. Aber dieser Anspruch spottet seiner wirklichen Realität, seiner Nacktheit, die Gott nun noch fürsorglich mit Fellröcken bedeckt. Der Mensch der Bibel ist durch den Fall nicht vollgültiger Mensch, sondern ein elend mit seinem Ursprung Zerfallener geworden.

So beschreiben die Strafen Gottes in der Austreibung aus dem Paradies auch nicht die Dialektik menschlicher Autonomie, sondern sein natürliches Elend: die Gebärschmerzen der Frau und ihre Unterwerfung unter den Patriarchat und die Arbcitsmühsal des Mannes. Natürlich will diese Erzählung „aiüologisch" herleiten, warum es das alles gibt: die Arbeitsplage auf dem Acker, die Gefährlichkeit der Schlangen, die Geburtswehen. Doch daraus lasse sich nur sehr künstlich der Schluss ziehen, es werde die Herkunft der dem Menschen eigentlich angemessenen, realisü-schen Wirklichkeit geschildert,90 Die Flüche bleiben doch eindeutig Flüche: Die reale Welt - wir kennen tatsächlich keine andere - erseheint in dieser Aitiologie als eine, die ursprünglich aus Schöpferhand für den Menschen nicht so sein sollte und nicht so sein müsste.

Ganz im Gegensatz zum idealistischen Ansatz besitzt der ursprüngliche Mensch der Bibel also ein volles Menschsein in Harmonie mit Gott, während die scheinbar natürlichen Widrigkeiten der Staub-Rxistcnz des Menschen erst durch den Fall eintreten. Das ist eine geradezu utopische Umkehrung idealistischer wie naturalistischer Perspektiven: In der Bibel wird „von Gott her eine Alternative erkennbar, vor der die bestehende Ordnung als nicht zu recht fertigende, schuldhafte, nicht-notwendige Wirklichkeit erscheint." Das Natürliche, über das sich der Mensch des Idealismus erst durch den Sündenfall erheben muss, ist biblisch gerade nicht natürlich, sondern Folge eines Zerwürfnisses. Was immer Anthropologen als menschlich beschreiben mögen, sind in biblischer Perspektive „Grundzüge der Kreatürlichkeit des Menschen" nur so, „wie diese in der Trennung von Gott erscheinen."91

Der Kern des Sündenfalls dagegen bleibt merkwürdig unerklärt, wenn man denn die Attraktivität des Baumes — „dass er eine Wollust den Augen war und anreizend zu begreifen" (Genesis 3,6) — nicht für eine ausreichende Erklärung halten möchte inmitten eines Gartens voller guter Früchte, inmitten eines Daseins, in dem eigentlich alles sehr gut ist.

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Entgegen immer neuer Deutungsanläufe ist die biblische Erzählung vom Fall gerade nicht angetreten, ihn zu erklären, also abzuleiten und so doch irgendwie verständlich und damit auch verschmerzbar zu machen. Die Provokation der biblischen Perspektive des Falls besteht im Blick auf die Geschichtsphilosophie darin, dass sie alles, was daraufhin geschieht, als etwas betrachtet, was schief gelaufen ist, was unheilbar unheil ist. Mit dem Fall tut sich ein Riss, ein Ur-Bruch in der Schöpfung auf, der nicht wieder in sie einzuordnen ist, so wie sich das Böse nicht dem Guten koordinieren lässt als seine für die Gutheit des Guten doch irgendwie notwendige andere Seite. Mit der Geschichte vom Fall stellt die Bibel für uns „die Frage, wie die Welt vernünftiger betrachtet wird: indem man alles Böse der menschlichen Geschichte als notwendig zur Selbstverwirklichung der Freiheit hinstellt, oder indem man die Freiheit als wirklich setzt und mithin das Böse als nicht-notwendig.“ Hinter dieser Frage taucht die These auf, „dass die Welt vernünftiger bleibt, wenn man in ihr nicht alles rechtfertigt.“92

In diesem Sinn erzählt die Geschichte tatsächlich vom Uranfang des Bösen, von seinem Einfallstor in die Wirklichkeit. Man kann sich deshalb zu Recht fragen, ob in der Sündenfallgeschichte tatsächlich schon von wirklicher Sünde die Rede ist, oder nicht eher „nur“ von ihrer Ermöglichung. Sie schildert die Öffnung, den Riss, durch den dann tatsächlich das Böse in die Welt tritt. Die reale, handgreifliche Sünde folgt daraus – in unserer Geschichte in der nächsten Generation: Deshalb wird „der Begriff der Sünde nicht mit dem Blick auf das Essen vom verbotenen Baum eingeführt, sondern für das Kapitalverbrechen des Bruder-mords.“93 Die Paradies- ist darin im strengsten Sinn Ur-Geschichte, sie spricht von den Ur-Gründen, nicht vom Anfang im zeitlichen Sinn oder so, wie man die ersten Tatsachen einer Tatsachenreihe erzählt. Es geht hier nicht um „das erste Mal“ der Sünde, sondern um ihre Wurzel.

Die biblische Geschichte vom Fall lehrt deshalb auch keine Erbsünde. Auch die neutestamentliche Auslegung des Paulus, in der Adam zu einer Kollektivpersönlichkeit wird, welche die Sünde aller darstellt, von der erst Christus befreien kann, tut das nicht. Die spätere Erbsündenlehre ist eine ein wenig zum Mythos, ein wenig zum Naturalismus neigende Auslegung dessen, was mit der biblischen Perspektive allerdings grundgelegt wird: Der Blick auf die faktische Situation der Welt und des Menschen als eines nicht-ursprünglichen „status corruptionis“, einer Schöpfung, der schon die Spur eines Bruchs anhaftet und in der Menschen – frei und wie unter Zwang zugleich – immer wieder in diese Kerbe schlagen

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und sie so weiter vertiefen. So sehr diese Sicht in der Theologiegeschichte moralisch und oft sogar auf die Sexualität hin verengt wurde, hat sie doch das biblische Bewusstsein bewahrt, dass der Adam des Paradieses keinen unfertigen Naturburschen darstellt, sondern das Menschsein, wie es aus Gottes Händen kommt, wie es von ihm gewollt ist. Deshalb kannte Adam laut Augustinus nicht nur eine Sexualität ohne Begierde, sondern überhaupt eine Leiblichkeit ohne deren Beschwernis: keinen Mangel, weder Hitze noch Kälte und auch kein Altern.94 Das Paradies wird in der christlichen Tradition zu einer Art rückwärts projizierten Utopie, einer Spekulation über Menschsein und sogar Natur ohne die Spuren eines Bruchs. Diese Spekulation erhält eine ökologische Dimension. „Der Glaube, dass mit dem menschlichen Sündenfall auch der Niedergang der Natur einhergehe, ist altes christliches Traditionsgut.“95 Jüdisches ebenso: Auch im Talmud denkt der Mensch darüber nach, dass er im Paradies „mühelos ernährt“ wurde, jetzt aber mehr arbeiten muss als die Tiere: „Ich habe meine Werke verdorben und meine Ernährung be-einträchtigt.“96 Je mehr diese Vision einer Schöpfung ohne Bruch reflektiert wird, desto weniger begreiflich, desto weniger philosophisch erklärbar wirkt jedoch das Böse, welches den Fall auslöst.

Der Fall ist, auch wenn das in seinen vielfältigen Auslegungen mitunter nicht mehr scharf gesehen wird, kein historisches Datum, keine bestimmte Stunde der Weltgeschichte. Er ist die Voraus-Setzung jeder biblisch inspirierten Anthropologie. „Ursünde bezeichnet jenen Bruch im Verhältnis zu Gott und uns selbst, den ein Mensch immer schon als Voraussetzung seiner Existenz vorfindet und zugleich durch sein eigenes Verhalten bestätigt.“97 Christliche Theologen in der Spur von Paulus und Augustinus haben das stets so gesehen, insbesondere auch die Reformatoren Luther und Calvin. Scharf ausgebildet zu einer christlichen Anthropologie des Falls hat dies Blaise Pascal in seinen „Pensées“. Seine unbarmherzig festgehaltene Fassung der Erbsünde – „Wir werden ungerecht und entartet geboren“98 – ist nicht einfach eine dogmatische Lehre, sondern eine existenzielle Erfahrung: Der Mensch erlebt sich als aus der eigenen Natur gefallen. Unser unstillbares Ungenügen ist „ein Zeichen und eine ganz leere Spur“ des Falls: „Denn wer hält sich für unglücklich, wenn er nicht König ist, es sei denn ein entthronter König?“99 Die Geschichte ist eine Geschichte der Ersatzsuche, der verzweifelten Substituierung des Verlustes. Weil der Mensch seine ursprüngliche Natur verloren hat, sein höchstes Gut, kann ihm nun potenziell alles zur zweiten Natur, zum umkämpften Gut werden. Es sind die inneren Widersprüche

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des Menschen und seiner Geschichte, die auf den Fall zurückverweisen. „Ihr seid nicht im Stande eurer Erschaffung“ lautet Pascals Aufklärung dieser Widersprüche, und auch er hält die „ökologische“ Dimension dieser Perspektive fest, weitet sie also auf die Natur insgesamt aus: „Die Natur ist so, dass sie überall auf den verlorenen Gott hinweist, sowohl im Menschen wie außerhalb des Menschen“.100 Dass sich diese ökologische Perspektive nur schwer mit der schon erwähnten biologischen Erkenntnis verbinden lässt, nach der das Leben schon Jahrmillionen vor dem Menschen auf das Gesetz von Fressen und Gefressenwerden verfallen ist, versteht sich von selbst. Ob die moderne Naturgeschichte sich in die Theologie des Falls integrieren lässt, steht hier nicht zur Debatte.101 Es geht hier im Gegenteil um die scharfe Kontur eines Geschichtsdenkens, welches das Böse nicht quasi-natürlich oder logisch in sein System einzuordnen vermag.

Ausgerechnet der Idealist Kant hat trotz seiner ganz anderen Auslegung der Genesis diese letzte Unerklärlichkeit des Bösen festgehalten. Kant kennt in seiner Religionsphilosophie das „radikal Böse“ im Menschen, das er keineswegs mit seiner Naturseite identifiziert102, sondern mit der Fähigkeit gerade der all ihren empirischen Bedingungen vorausgehenden Freiheit, sich böse Maximen zu setzen. Das Böse ist hier nicht erklärbare Folge einer Situation, sondern es schafft erst die Situation, in der Böses sozusagen normal wird. „Das Böse hat nur aus dem Moralisch-Bösen (nicht den bloßen Schranken unserer Natur) entspringen können“, und weil das eine Tautologie enthält, „ist also kein begreiflicher Grund da, woher das moralische Böse in uns zuerst gekommen sein könne.“103 Man hat „diese Lehre vom radikalen Bösen einen ‚Fremdkör-per‘ in der Kantischen Lehre“ genannt – und der Humanist Goethe ärgerte sich drastisch darüber, Kant habe „‚seinen philosophischen Mantel … freventlich mit dem Schandfleck des radikalen Bösen beschlab-bert‘“.104 Kant aber wusste sehr wohl, was er hier tat: Er hielt an der biblischen Provokation vom unableitbaren Bösen fest und er erklärte sie gleichzeitig für vernünftiger als alle idealistischen oder naturalistischen Ableitungen des Bösen. In einer Fußnote seiner Religionsphilosophie nennt er es „eine Eigentümlichkeit der christlichen Moral“, das Gute vom Bösen zu unterscheiden „nicht wie den Himmel von der Erde, sondern wie den Himmel von der Hölle“. Diese Vorstellung, betont der Aufklärer, sei „zwar bildlich, und als solche empörend, nichts desto weniger aber ihrem Sinn nach philosophisch richtig.“105 Mit diesem Fremdkörper, den er tatsächlich in seine Geschichtsphilosophie nur insofern

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integriert hat, als er sich einer einfachen Gleichsetzung von Geschichts-prozess und Vernunft verweigert, hat Kant die Perspektive des Falls in seinen Reflexionen des notwendigen Fortschritts doch erhalten. Denn es macht diese andere Perspektive gegenüber allen Variationen des Schicksals-Themas aus, dass es in ihr nicht nur den idealistischen Unterschied von Himmel und Erde, von Geist und Natur, von Sollen und Endlichkeit gibt, sondern den niemals in einem Dritten vermittelbaren oder aufhebbaren Gegensatz von Himmel und Hölle – einer Hölle, die mitten in der Geschichte unableitbare Wirklichkeit ist.

Wie schon angedeutet, hat nicht nur der Idealismus Kants, sondern auch der Materialismus von Marx diesen „Fremdkörper“ in seiner Geschichtsauffassung erhalten. In seiner Kritik des Liberalismus macht Marx sich lustig über die Ökonomen, für die das Kapital „ungefähr dieselbe Rolle“ spiele „wie der Sündenfall in der Theologie: Adam biss in den Apfel und damit kam über das Menschengeschlecht die Sünde. Ihr Ursprung wird erklärt, indem er als Anekdote der Vergangenheit erzählt wird.“106 Dagegen will Marx zeigen, wie die Akkumulation des Kapitals und die Enteignung der Proletarier keineswegs vom Himmel fielen. Aber trotz dieser Missdeutung der Genesis als einer „Anekdote“ spielt die Perspektive des Falls eine weitaus tiefere Rolle bei Marx.

Schon „Rousseau machte aus der Arbeitsteilung den Sündenfall, der die Vertreibung aus dem Paradies einer vollendeten Menschheit nach sich zog.“107 Schon Rousseau hatte aber auch mit dem Problem zu ringen, dass der Augenblick des Falls aus der ursprünglich guten Natur des Menschen nicht wirklich erzählbar ist. Er schwankt dazwischen, ihn quasihistorisch als geschichtlichen Übergang beim Fortschritt der Menschheit in ihrem souveränen Umgang mit der Natur zu schildern und ihn doch als ungreifbaren und unbegreiflichen Bruch anzusehen. Sein „natürlicher Mensch“ ist einerseits dem zeitgenössischen Ideal des edlen Wilden nachgebildet, andererseits doch ein Denkmodell, eine hypothetische Figur. So steht Rousseau zwischen den Paradigmen des Schicksals und des Falls. In dieser Zwischenstellung hält ihn das Paradox jeder Fall-Erzählung, denn ihr „Narrativ der Schwelle muss Diskontinuität und Kontinuität gleichzeitig begründen.“108 Und das Bewusstsein dieses Paradoxes bringt Rousseau auch in eine gewisse Nähe zur christlichen Anschauung der gefallenen und doch nicht gänzlich zerstörten guten menschlichen Natur: Er appelliert an jene menschlichen Eigenschaften, die zwar durch die Zivilisation, durch Erziehung und Gewohnheit verderbt, aber niemals gänzlich verschwunden sind.109

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Marx hat immer einen Schuss rousseausches Bruchbewusstsein beibehalten. Bei Marx ist es nicht die Arbeitsteilung als solche, wohl aber die in ihr entstehende Unterscheidung des Tausch- vom Gebrauchswert, also die Entstehung der Ware, welche die ökonomische Dialektik der Geschichte in Gang setzt. Eine „bestimmte historische Entwicklungsepoche … verwandelt das Arbeitsprodukt in Ware“110, in der sich das entfremdete Verhältnis der Menschen zueinander spiegelt, die nun als Privateigentümer miteinander konkurrieren. Marx kann keinen bestimmten ersten historischen Punkt angeben, an dem dies geschieht – auch wenn er vormoderne Gesellschaften bzw. „naturwüchsige Gemeinwe-sen“ wie etwa die „altindische Gemeinde“ oder den „Inkastaat“ oder die „Kulturanfänge der Menschheit bei Jägervölkern“111 nennt, in denen der Austausch von Gebrauchsgegenständen noch nicht der Tausch von Waren ist. In einer solchen Urgesellschaft gibt es keine Ausbeutung, weil Gemeinschaft und Individuen noch nicht differenziert sind.112

Marx hat faktisch ein christliches Traditionsgut bewahrt, hat doch der paradiesische Mensch laut Kirchenvätern und sogar in dem für das Kirchenrecht wichtigen Dekretum Gratianum kein Eigentum gekannt, sondern in ursprünglicher Gütergemeinschaft gelebt. Das Privateigentum, in einem neuzeitlich-bürgerlichen Christentum tatsächlich geradezu zum Fetisch kirchlicher und politischer Obrigkeit geworden, ist also ursprünglich theologisch eine Folge des Sündenfalls. „Eigentum und menschliches Recht beginnen mit dem Sündenfall und mit der Einrichtung einer Stadt durch Kain.“113

Wo der Warenfetischismus erst einmal begonnen hat, ist die weitere Entwicklung des Verhältnisses von Mensch zu Mensch jedoch vorgezeichnet. Marx sieht diese Entwicklung nach der Notwendigkeit ökonomischer Gesetze ablaufen, die sich jeweils mit dem Stand der WarenProduktions-Technik transformieren. Dieser Prozess setzt offenbar schon bald ein, nachdem „die Menschen sich aus ihren ersten Tierzuständen herausgearbeitet haben“114. Insofern denkt Marx ähnlich wie die Idealisten vom notwendigen Austritt aus dem Naturzustand. Und doch ist der Umschlag von einer nicht warenförmigen menschlichen Beziehung in diese Entwicklung hinein selbst nicht erzählbar – er wäre dann wieder ein „anekdotischer“. Er ist also ein Fall, ein Ur-Bruch menschlicher Verhältnisse, der erst im vollendeten Kommunismus auf höherer Ebene geheilt werden kann.

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   Apokalyptik 

Die Lehre vom Status corruptionis, von der gefallenen Natur stellt den statischen Aspekt dieses Paradigmas dar. Verbreitete religiöse Anschauungen, gerade auch in der Mitte, der Orthodoxie biblischer Religionen, verharren weitgehend in dieser Vorstellung. Jenseits davon gibt es dann nur das Jenseits, also die Auferstehung, den Himmel, die Ewigkeit. Im Blick auf die irdische Geschichte denken deshalb viele Religiöse ähnlich wie Kohelet oder Goethe: Es geschieht in ihr nichts wirklich Neues zwischen Fall und Erlösung; die Geschichte stellt dann gewissermaßen nur die Bühne dar für die Rettung der Seelen.

Vielfach setzt die Perspektive des Falls aber doch ein bestimmtes Geschichtsbild aus sich heraus, das ich „apokalyptisch“ nennen möchte, auch wenn es weit über die Apokalypsen im engeren Sinn hinausgeht. In der Perspektive des Falls ist die Apokalyptik das, was in der Perspektive des Schicksals den Niedergang darstellt. Aber die Apokalypse ist eben etwas anderes als die unabwendbare Dekadenz.

Beginnen wir wiederum bei der Genesis: Auf die Austreibung aus dem Paradies folgt im wahrsten Sinn des Wortes eine Geschichte von Mord und Todschlag. Die setzt ein mit dem berühmten Brüderpaar Kain und Abel, in dem schon Augustinus hellsichtig ein Element pessimistischer Geschichtstheologie erkannt hat: Wird doch Kain als Gründer der ersten Stadt, als Zivilisator also, vorgestellt. Augustinus sagt: Kain hat „einen Staat gegründet“, während Abel ein „Fremdling“ in der Welt blieb.115 Die Gewalttendenz der Geschichte steigert sich in Kains Nachfahren Lamech, der sich seiner „siebenundsiebzigfachen Blutrache“ in einem Lied rühmt: „Einen Mann töte ich für eine Wunde und einen Knaben für eine Strieme“ (Genesis 4,23). Die Genealogien der ersten Menschengenerationen zeigen, „wie zwischen Kain und Noah die Menschheit langsam, aber sicher moralisch verfällt, oder anders gesagt: Die Genealogie Kains beschreibt die Genesis der Gewalt in der Welt.“116 Dieser Verfall endet vorerst in Gottes Beschluss, die missratene Menschheit in einer Sintflut zu vernichten, weil „alle Planungen seines Herzens bloß böse sind all den Tag“ (Genesis 6,5). „Die als ‚gut‘ bewertete Schöpfung ist nach nur wenigen Generationen geschöpflichen Lebens so weit korrumpiert und von Gewalt erfüllt, dass Gott sich entscheidet, eine Flut über die Welt zu bringen.“117 Weil diese Vernichtung letztlich in der GewaltTendenz der Geschichte liegt, ist sie „nicht so sehr eine Strafe, vielmehr das Zur-Vollendung-kommen-Lassen einer fatalen Dynamik, die bereits

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am Werk ist.“118 Gott kapituliert gewissermaßen vor dem, was der Mensch inszeniert. Er lässt es laufen.

Doch nicht ganz: Bekanntlich wird dieser Beschluss nicht vollständig ausgeführt: Gott rettet Noah samt Familie und Tierarten und schließt mit ihm einen Bund, der für die gesamte Menschheit gilt und im Zeichen des Regenbogens besiegelt wird. Dieser Bund ist aber einer des bleibend verlorenen Paradieses: War Adam Gärtner und Namensgeber der Tiere, so heißt es von den Nachkommen Noahs nun: „Furcht und Schrecken vor euch sei auf allem Wildlebenden der Erde“ (Genesis 9,2), denn aus dem Gärtner ist nun ein Fleisch essender Jäger geworden. Die Realität, wie wir sie kennen – zu der eben auch Jagd, Schlachten und Fleischkonsum gehören – wird hier wiederum als Bruch mit der ursprünglichsten Schöpfung wahrgenommen. Gleichzeitig erhält diese Normalität jedoch eine göttliche Erlaubnis. Ähnlich wie nach der Vertreibung aus dem Paradies die Kleider und den Ackerbau, ähnlich wie für den Geächteten Kain das ihn vor Rache schützende Zeichen, so richtet Gott auch im Noah-Bund eine Art Not-Ordnung auf. Die Theologen werden später auch von „Erhaltungsordnung“ oder „Bewahrungsordnungen“ im Unterschied zur ursprünglichen Schöpfungsordnung sprechen119: Die Welt ist nicht, wie sie sein sollte, nicht ideal – aber sie ist dennoch von Gott gewollt, sie soll dennoch leben können, ihre relative Stabilität erhalten. Das ist der Bund des Regenbogens.

Und auch dieser zweite Schöpfungsansatz Gottes wird ein Debakel: Die Menschen wollen wieder zu Konkurrenten Gottes werden und einen Turm bis in seinen Himmel bauen. Gott reagiert wie im Paradies mit ironischer Angst: „Dies ist nur der Beginn ihres Tuns, und nichts wäre nunmehr ihnen zu steil, was sie zu tun sich ersännen.“ (Genesis 11,6) Deshalb verwirrt Gott die Sprachen, und so beginnt die Geschichte einander nicht mehr verstehender Völker, die Geschichte einer zerteilten Menschheit. Die israelitischen Geschichtsschreiber reflektieren in dieser Geschichte die Erfahrungen ihres kleinen Bauernvolkes mit den Großreichen, insbesondere mit Babylon. Die Urgeschichte von Kain bis zum Turmbau ist tatsächlich tendenziell zivilisations-, königs-, staatskritisch; sie mag keine Imperien.120 Deshalb beginnt nach dieser erneuten Katastrophe auch die Geschichte eines weiteren, aber ganz anderen, nämlich ganz bescheidenen Bundes, den Gott nicht mehr mit der Menschheit schließt, sondern mit Abraham, wiederum einem wandernden Fremdling in der Welt, dem ein Volk unter der Leitung des göttlichen Willens entstammen soll.

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Diese Urgeschichte ist so mythisch, sagenhaft oder „anekdotisch“ wie die Paradieserzählung selbst. Sie ist keine Geschichtsschreibung, aber sie macht deutlich, wie Geschichte sich theologisch in der Perspektive des Falls darstellt: als ein Drama zwischen dem unerklärlichen menschlichen Willen zur Macht, der stets in Gewalt und Grenzüberschreitung ausartet und der deshalb in die Katastrophe steuert, und einem erstaunlich ohnmächtigen Gott, der zwar in brutalem Gericht den Menschen die Konsequenzen ihres Handelns spüren lässt, aber in merkwürdig experimentellen Neuansätzen versucht, seinem ursprünglichen Schöpfungsplan jenseits von Eden doch noch näher zu kommen. Im Talmud wird erzählt, Gott habe drei Mal neue Engel schaffen müssen, bis er Helfer erhielt, die bereit waren, sich auf dieses Schöpfungsexperiment einzulassen. Nach Sintflut und Turmbau fragen auch diese willigen Helfer ihren Herrn, ob die skeptischen Vorgänger nicht Recht hatten. Und Gott antwortet – man weiß nicht, ob mehr entschlossen oder mehr resigniert: „Bis ins Alter bin ich derselbe und bis zum Grauhaar bin ich’s, der es trägt.“121

Die biblische Geschichtsschreibung Israels, des Volkes Abrahams, ist durch diese Perspektive strukturell geprägt. Deshalb unterscheidet sich ihre Geschichtsreflexion von der des alten Orients, in dem Tatenberichte der Mächtigen dominieren, aber auch von der des antiken Griechenlands, in der menschliche Heroen mit dem göttergelenkten Schicksal ringen. Israel schreibt seine Geschichte als die eines ständigen Ab-Falls von seinem Bund mit Gott und als einer durch das Gericht hindurch immer neuen Bundesbereitschaft Gottes. Diese Geschichte ist also nicht die eines kontinuierlichen, vorhersehbaren Niedergangs, sondern die einer göttlichen Utopie und vieler menschlicher Katastrophen.

Ein Stenogramm zur Erinnerung: Gott befreit Sklaven aus Ägypten und schließt mit ihnen einen Bund in der Wüste. Sein Volk aber betet lieber das goldene Kalb an und muss deshalb in der Wüste bleiben. Als es schließlich doch das verheißene Land erobert, gerät es dort ständig unter Fremdherrschaft, die das Buch der Richter immer wieder mit dem Ungehorsam des Volkes begründet. Schließlich will dieses Volk einen König wie alle anderen Völker. Gott gibt nach und macht auch aus dieser seiner Niederlage einen Neuanfang: den Bund mit David. Aber die Bücher der Könige schreiben wieder eine Geschichte des Abfalls: Schon David fällt in persönliche und politische Sünde. Unter seinen Nachfolgern zerfällt das Reich, danach gibt es wenige Lichtpunkte zwischen viel Götzendienst, sozialem Unrecht und Bruderkrieg. Die Königsbücher

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erzählen dies schon aus der Perspektive der Vernichtung beider israelischer Staaten durch die Assyrer und Babylonier. Gottes Experiment mit dem Bundesvolk endet also in einem erneuten Desaster.

Die Prophetenbücher reflektieren dieses Geschehen durch ständige Klagen und Gerichtsansagen. Aber in der Stunde Null der zerstörten Reiche, ohne König, ohne Tempel, überwiegen plötzlich die Heilsworte, an ein Volk, das nun ohne politische Macht den Gottesbund leben soll, als eine Art Modellgemeinwesen unter den Völkern, die einst in einer großen Wallfahrt zu diesem Volk pilgern werden. Nach dem Niedergang beginnt also gerade die Heilsverkündigung, schließlich der Messianismus. Aber das Modellgemeinwesen gerät in die Globalisierung des Hellenismus nach dem Eroberer Alexander. Die alten Gewissheiten schwinden, viele wollen in dem neuen Melting Pot aufgehen. Dagegen schreiben nun die Apokalyptiker ihre Geschichtsdeutung, in der – beginnend mit dem biblischen Buch Daniel – die Großreiche der Babylonier, Perser und Griechen wie riesige Monster erscheinen, eins schrecklicher und mächtiger als das andere, aber alle dem Untergang geweiht, wenn Gott in seinem letzten Gericht sein eigenes Reich durchsetzen wird.

Im Bann dieser Hoffnung stand auch die Bewegung um Jesus von Na-zareth. Sein Scheitern am Kreuz deuten die ersten christlichen Schriftsteller im Neuen Testament wieder neu nach dem alten Muster: Am Messias Jesus hat Gott stellvertretend das Gericht über die Mächte und Gewalten vollzogen, in seiner Auferstehung eröffnet er nun allen, Juden wie Heiden, einen neuen Zugang zu seinem Bund. Nun sollen die Gemeinden Modellgesellschaften des Reiches Gottes werden, in denen es nicht mehr Männer und Frauen, Sklaven und Freie, Juden und Heiden gibt, sondern alle eins sind (Galaterbrief 3,28). Aber auch diese Gemeinden geraten bald unter den Druck der Weltmacht Rom, und so schildert das letzte Buch der christlichen Bibel, die Apokalypse des Johannes, wiederum ein Katastrophen-Szenario anwachsenden Abfalls, weltweiter Macht- und Gewaltentfaltung – dargestellt in Bildern der Hure Babylon, des Tieres aus der Tiefe, des großen Verführers, dem schließlich Gottes Weltgericht ein Ende macht, auf das sein neues Jerusalem folgt.

Dies soll keine Bibel-Zusammenfassung sein. Es sollte nur skizziert werden, dass sich aus der Perspektive des Falls eine sehr vielfältige, aber strukturell doch bestimmbare Geschichtsdeutung ergibt. In ihr ist allerdings ähnlich wie im Geschichtsbild des Niedergangs „nicht von einem Fortschritt zum Besseren … die Rede, sondern nur von einem Fortschritt in immer größere Ausweglosigkeit und der wachsenden Unfreiheit

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in der Verstrickung des Bösen“.122 Die Geschichte vom Sündenfall ist gewissermaßen immer und überall. Sie wiederholt sich nicht, sondern sie ist selbst ein verdichtetes Vor-Bild für das, was menschliche Geschichte in der Bibel darstellt. Aber dieser katastrophische Zug der Geschichtsbetrachtung, so pessimistisch er mitunter erscheint, hat nichts Gesetzmäßiges und lässt sich auch nicht als eine absteigende Linie zeichnen.
In der Geschichte von Juden, Christen und Muslimen gibt es immer wieder prophetische und apokalyptische Bewegungen und Einzelgestalten, die nach dem Muster der biblischen Erzählungen ihre Gegenwart als Abfall deuten und ihrer Gemeinschaft oder Umwelt das Gericht ansagen. Diese gläubigen Pessimisten sind jedoch keine Fatalisten, die Geschichte stets als das ansehen, wo es immer noch schlimmer kommt. Prophetische Geschichtsdeutung geschieht stets sozusagen „ad hoc“, sie bestimmt die Stunde der Gegenwart in ihrem Fall-Winkel zu Gottes Willen. Das kann nur zuungunsten der Gegenwart ausgehen. Es bildet jedoch keine melancholische Chronik, über die man den Rückzug ins Private antreten möchte, sondern ist stets ein Weckruf zur Umkehr, selbst wenn die oft in Weltflucht bestehen mag.

 

    Messias 

So wie die Apokalypse den Aspekt des Niedergangs in der Perspektive des Falls darstellt, so steht in dieser Perspektive der Messianismus strukturell an der Stelle, die im Schicksals-Paradigma der Fortschritt einnimmt. Apokalypse meint ja in ihrer Wortbedeutung nicht Katastrophe, sondern Offenbarung. Die Apokalypsen im Umfeld biblischen Denkens schildern nie einfach den Weltuntergang, das Weltende, sondern die Weltwende. Während das Fortschrittsdenken optimistisch auf den erwartbaren Lauf der Geschichte blickt, hofft die Apokalyptik wider allen Augenschein auf das unerwartete Heil jenseits der Katastrophe. Das führt Gott selbst herbei, häufig jedoch durch eine Mittlergestalt, einen Messias.

Die messianische Heilswende stellt jenen Ausgang aus der Geschichte dar, der notwendig ist, da nach dem Fall die Rückkehr ins Paradies versperrt blieb. Das Reich Gottes ist das wiedergewonnene Paradies auf einer neuen Ebene. Die Heilung des Bruchs, den die Geschichte selbst darstellt, kann nicht einfach in einer spiegelbildlichen Rückkehr bestehen. Die Erlösten kehren nicht zu einer ursprünglichen Unschuld zu-

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rück, sondern in eine neue Versöhntheit. In diesem Sinne denken alle biblischen Offenbarungsreligionen eschatologisch. Die Gesamtfigur der Geschichte vom Paradies über den Fall und das Drama Gottes mit den Menschen bis hin zum Reich Gottes, zum neuen Himmel und der neuen Erde, kann man als Parallele zum Denken im Kreislauf ansehen. Aber zyklisch wie das Schicksals-Denken stellt sich die Heilsgeschichte in der Perspektive des Falls eben doch nicht dar.

In den biblischen Religionen kann der Himmel noch so transzendent gedacht werden, er bleibt doch immer eine auf die Geschichte bezogene Hoffnung: ob nun im Anschluss an die Apokalyptik ein messianisches „Tausendjähriges Reich“ als Vorbereitung der letzten Erlösung erwartet wird oder ob der Mönch Joachim von Fiore die Kirchengeschichte einmünden sieht in ein neues Zeitalter des Heiligen Geistes.123 Sie alle zehren von der ursprünglich jüdischen Messiaserwartung, die stets auf die Geschichte bezogen ist und sich nicht religiös von der Welt verabschiedet. Messianer empfinden sich als Glaubende „zwischen den Zeiten“, zehren aus den biblischen Verheißungen der Vorzeit, erleben ihre Gegenwart meist als „Zeit der Gottesfinsternis, Zeit des Ausgesetzt- und Verlassenseins“ und strecken sich nach Gottes Zukunft aus.124

Dabei bezieht der biblische Messianismus spiegelbildlich wie die Theologie des Falls auch die außermenschliche Natur mit ein. So wie diese in den Fall hineingezogen erscheint, wird auch die erlöste Natur befriedet sein jenseits ihrer anscheinend so natürlichen Gesetze. Nach Genesis 6, 2-4 ist das Fleischessen erst ein Notstandsgesetz, mit dem Gott nach der Sintflut auf die Gewaltstruktur der Verhältnisse jenseits von Eden reagiert. In messianischer Zeit aber sehen die Propheten Löwen, die Gras fressen, und Kinder, die am Schlupfloch der giftigen Natter spielen (Jesa-ja 11,6-8).

In diesem messianischen Geist sind auch moderne Hoffnungen auf ein „Zurück zur Natur“ stets Utopien, die sich nicht auf die Natur der geltenden Naturgesetze beziehen, weil diese schon in der Perspektive, der Erkenntnisweise nach dem Fall formuliert sind. „Rousseau … hat … dem Menschen ein sentimentales und leidenschaftliches Verlangen nach seinen unschuldigen und paradiesischen Anfangstagen eingeimpft, die niemals existiert haben“, schrieb Arnold Zweig125 – und man müsste noch hinzufügen, dass Rousseau selbst solch ein Verlangen auch nie zum Programm erhoben hat. Er hält das Schicksal der Zivilisation jenseits des Falls aus der Natur in seinem späteren Werk bekanntlich nur durch einen Gesellschaftsvertrag für überwindbar, in dem die Menschen zu ihrem

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gemeinsamen Willen jenseits der egoistischen Einzel- und Gruppeninteressen finden; ein Programm, das seit der Französischen Revolution immer wieder einen gefährlich totalitären Zug in die modernen Messia-nismen gebracht hat. Der Messianismus insgesamt ist tatsächlich anfällig für die Versuchung des Totalitären. Aber so wie Rousseaus Denken merkwürdig zwischen den Paradigmen des Schicksals und des Falls angesiedelt ist, so ist seine rückblickende Utopie des Verlorenen immer wieder anschlussfähig für die andere, in Zweigs Formulierung „sentimen-tale“ Seite der Hoffnung auf eine Überwindung des Bruchs.

Sie findet der Reiseschriftsteller Bruce Chatwin etwa in jener hundertjährigen Frau aus dem Volk der nordafrikanischen Nemadi-Nomaden, deren Lächeln er „wie eine Botschaft aus dem Goldenen Zeitalter“ empfindet. Es würde „alle Argumente, die für die Schlechtigkeit der menschlichen Natur sprächen, unverzüglich zurückweisen.“ Dieses Lächeln lässt Chatwin den Gedanken, „zu einer ‚ursprünglichen Einfachheit‘ zurückzukehren, nicht naiv oder unwissenschaftlich oder realitätsfremd“ erscheinen. Und mit einem Wort, mit dem die christliche Mönchstradition ihre messianische Utopie formuliert und gelebt hat, sagt er: „Wenn die Welt noch eine Zukunft hat, dann ist es eine asketische Zukunft.“(126)

Der Messianismus hat sich schließlich ganz un-, ja anti-religiös auch im Marxismus erhalten. Das bestätigt noch einmal meine These, dass Marx ein Grenzgänger der Geschichtsparadigmen ist: Einerseits entwickelt er seine Geschichtsphilosophie in den Denkschemata eines notwendigen und so auch vorhersehbaren Ablaufs, andererseits entspricht seiner Reflexion eines ursprünglichen Bruchs im gesellschaftlichen Menschsein auch seine Erwartung ihrer revolutionären Vollendung. Die klassenlose Gesellschaft haben Marx und Engels ausdrücklich als eine Rückkehr zur Egalität der Urgesellschaft auf höherer Ebene vorgestellt, als letzte Ausheilung aller dialektischen Brüche also, zu der jedoch – ganz der apokalyptischen Wende ähnlich – nur der große Bruch der Revolution führen kann. Die Versöhnung des Menschen mit dem Menschen in der klassenlosen Gesellschaft verhindert schließlich, dass Geschichte zum heillosen Zyklus wird. Das Ziel also ist die „Vermeidbarkeit eines erneuten Sündenfalls von Klassen- und Arbeitsteilung, der den Prozess wieder von vorne beginnen ließe.“127

Walter Benjamin hat in seinen Fragmenten zur Geschichtsphilosophie ganz bewusst den Marxismus und den theologischen Messianismus zusammenführen wollen. Dabei sollte der Messianismus den Marxismus von einer Fortschrittsideologie unterscheiden.

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Benjamin hat also aus meiner Sicht den Marxismus aus dem Bann des Schicksals-Schemas herausholen wollen. Die Geschichte sieht Benjamin in dem berühmt gewordenen Bild vom „Engel der Geschichte“ apokalyptisch: als eine Anhäufung von Katastrophen, und der Fortschritt ist nichts anderes als der „Sturm“, der diesen Prozess immer weiter anfacht.128 Deshalb kann die Hoffnung sich nicht mit dem Prozess der Geschichte identifizieren. Das „Reich Gottes“ ist eben „nicht das Telos der historischen Dynamis; es kann nicht zum Ziel gesetzt werden.“ Diese diskontinuierliche Beziehung der Geschichte „auf das Messianische ist eines der wesentlichen Lehrstücke der Geschichtsphilosophie.“129

Ausgerechnet in der theologischen, gar mythischen Kategorie des Messianischen sieht Benjamin offensichtlich ein Korrektiv für den stalinistischen Marxismus seiner Gegenwart, der sich einfach mit der Lokomotive der Geschichte identifiziert. Diese Lokomotive walzt alle Hindernisse auf ihrem Weg nieder, lässt sie zu notwendigen Opfern werden. Benjamin sieht den „vulgärmarxistischen“ Begriff der Geschichte deshalb auf dem Weg in den Faschismus. Benjamins Marxismus in der Perspektive des Falls kann sich Versöhnung jedoch nur im Blick auf die Opfer der Geschichte vorstellen. Die Versöhnung muss sich deshalb gerade auf die Brüche der Vergangenheit beziehen. Sie wurzelt in ihnen – so wie die biblische Tradition bis hin zur christlichen Kreuzestheologie den Anbruch der Versöhnung stets an Figuren von Opfern festmachte. Deshalb fasst vielleicht ein Satz Benjamins das gesamte Geschichtsdenken aus der Perspektive des Falls zusammen: „Die Vergangenheit führt einen heimlichen Index mit, durch den sie auf die Erlösung verwiesen wird.“130

Messianismus ist also auch in der Moderne eine merkwürdig rückwärts gewandte Hoffnung, nicht im Sinne einer romantischen oder konservativen Revolution, sondern im Sinne einer Erwartung von Zukunft, die sich nur formulieren – und praktizieren – lässt im Blick auf die in der Vergangenheit unabgegoltenen Hoffnungen, in einem Blick, der jenseits oder „unterhalb“ der Historie Spuren einer Herkunft ohne den alles verderbenden Bruch findet. In diesem Sinne versteht auch der italienische Philosoph Giorgio Agamben seine „Archäologie“ abendländischer Geschichte. Als messianischer Philosoph zeigt er sich schon durch den „apokalyptischen“ Charakter seiner Geschichtssicht, die stets ein wachsendes Verhängnis von Macht und Ausgrenzung, Gewalt und totalitärer Aufzehrung des Lebens zeichnet. Dieser Pessimismus ist ihm häufig schon als einseitig und nivellierend vorgeworfen worden.

Für mich ist er ein Indiz für eine in die Moderne übersetzte Kritik der Mächte und Ge-

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walten, wie sie die Apokalyptiker für ein weltlich beheimatetes, „bürgerliches“ Bewusstsein aufreizend schwarz in schwarz schon seit dem Buch Daniel üben.

Die andere Seite des Messianismus Agambens besteht in der Hoffnung der philosophischen Archäologie, unterhalb der Bruchlinien auf ein Diesseits des Verhängnisses zu stoßen. Früh hat Agamben dafür individual-historisch die Kindheit beschworen, zu der wir keinen Zugang mehr finden, ohne auf die sie aufhebende „Sprache zu stoßen, die ihren Eingang zu bewachen scheint wie der Engel mit dem Schwert die Schwelle zu Eden“.131 Agamben will damit, wie er an gleicher Stelle betont, keineswegs die Kindheit zu einem verlorenen Paradies erklären, das wir, in die Sprache eintretend, verlassen müssten. Vielmehr geht die Kindheit als einfaches Ichsein „vor“ der Sprache nur in dieser mit auf, ist ihr „koexistent“. Schon darin unterscheidet sich dieser Gedankengang Agambens von der Subjekts-Schicksals-Logik des Idealismus. In der Reflexion der Kindheit geht auf, dass „die Sprache nicht mit dem Menschsein übereinstimmt“, dass wir nie identisch sind und werden mit unserem Selbstausdruck, und genau in dieser Erfahrung der Differenz „gibt es Geschichte und ist der Mensch ein geschichtliches Wesen“.

Der „Raum der Geschichte“ ist damit stets „Babel, d.h. der Fall aus der reinen Sprache Edens.“132 Agamben erinnert die Urdifferenz also nicht als einen notwendigen Schritt der Subjektwerdung, sondern als einen Bruch, eine Entfremdung, die unserer Erfahrung von Subjektsein immer schon mitgegeben ist und aus der heraus wir Geschichte machen und erfahren. Dieser Vorgang ist nicht einfach natürlich und logisch – und auch wo Agamben an die Bewusstseinsphilosophie, etwa die Kantische Analyse der Zeiterfahrung, anknüpft, stößt er auf eine „Kluft“, auf eine „in jeder Subjektivierung konstitutiv enthaltene Entsubjektivierung.“133 In diesem Bewusstsein unseres „Nicht-Zusammenfallens mit uns selbst“ wurzelt für Agamben auch die Erfahrung der „Scham“.134 Ohne dass der Philosoph hier an die Genesis erinnert, wirkt seine Analyse der Subjektivität wie die Adams und Evas nach der Entfremdung von Gott.

Agambens Anvisieren unserer Herkunft „vor“ dem Fall bleibt stets indirekt und unbegrifflich. Das muss so sein, steht doch „unsere Art, die Vorgeschichte einer Spaltung zu verstehen, unter der Befehlsgewalt der Spaltung selbst. Sich ein solches ‚davor‘ vorzustellen, bedeutet eigentlich nichts anderes, als die Logik der Spaltung fortzusetzen“.135 Diese Begründung erinnert den Theologen an die alten christlichen Überlegungen, nach denen eben auch die Vernunft, selbst die unseres Gott-Denkens, in den „status corruptionis“ unserer Entfremdung von Gott und uns selbst einbezogen ist. Wir haben jenseits von Eden gewissermaßen vergessen und verdrängt, was ursprünglich sein sollte und sein könnte. Das macht unseren Zerfall mit uns selbst aus. Das macht es aber auch so schwer, vielleicht schier unmöglich, die erhoffte messianische Alternative zum Verhängnis unserer Geschichte zu formulieren – und zu praktizieren. Das macht all diese Versuche so utopisch, welt- und geschichtsfern. Was vermag da aber Geschichtsphilosophie oder Geschichtstheologie? Was mag es nützen, uns den Bruchlinien der Geschichte zu widmen? Es sei, sagt Agamben, „die Archäologie, die bis vor den Auseinanderfall der Erinnerung und des Vergessens zurückgeht, der einzige Weg des Zugangs zur Gegenwart.“136

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