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7 - Künstliches Leben

 Taylor-1968

1 Ein Virus wird hergestellt  —  2 Leben aus dem Chemikalienkatalog  —  3 Künstliche Zellen  —  4 Eine Frage der Zeit  —  5 Schlußfolgerungen

 

197-213

Von alters her träumten die Alchimisten davon, Leben aus der Retorte zu schaffen. Aus einem geeigneten Gemisch sollte ein Homunkulus — ein Mensch in Miniaturausgabe — zum Vorschein kommen und auf irgendeine Weise zu voller Größe erwachsen, obgleich man gewöhnlich darüber schwieg, was man mit ihm anfangen wollte. 

Der im 16. Jahrhundert lebende berühmte Arzt Paracelsus, der an der Grenze zwischen Alchimie und moderner Naturwissenschaft stand, machte den Vorschlag, menschlichen Samen zu erwärmen und ihn mit Menschenblut zu ernähren. Seiner Meinung nach würde man mit dieser Methode nach achtzig Tagen »einen naturgetreuen und lebenden Säugling erhalten, der die gleichen Gliedmaßen besitzt wie ein Kind, das durch eine Frau geboren wurde; aber der sehr viel kleiner ist. Diesen nennen wir einen Homunkulus«.

Paracelsus sah bereits die allgemeinen gesellschaftlichen Konsequenzen, wenn es weiter bei ihm heißt: »Nachher sollte er mit größter Sorgfalt und Eifer erzogen werden, bis er heranwächst und anfängt, Intelligenz zu zeigen.« Dabei handelt es sich weniger darum, Leben aus Chemikalien zu erzeugen, vielmehr läßt man das Material, das die Natur auf ihre eigene geheimnisvolle Weise bereitet hat, entwickeln. Diese beiden Methoden begegnen uns auch heute wieder. 

Vor mehr als eineinhalb Jahrhunderten wurde Mary Shelley von dem gleichen Traum gefesselt. Sie sah auf bemerkenswerte Weise die vollkommen künstliche Erschaffung eines menschlichen Lebewesens - eines menschen­ähnlichen, wie wir es nennen sollten - durch einen Wissenschaftler voraus. In ihrem Roman nannte sie den Wissenschaftler Frankenstein, und dieser Name ist inzwischen gleichbedeutend geworden mit dem Ungeheuer, das er entwickelte. Noch war es ein Phantasiegebilde, aber heute werden die Wissenschaftler immer zuversichtlicher, daß künstliches Leben erschaffen werden kann. 

Prof. J. Bernal, der vor über dreißig Jahren mit physikalischen Methoden die Struktur lebender Materie untersuchte, hat zum Beispiel vor kurzem erklärt: »Das Leben wird mit der Zeit seinen geheimnisvollen Charakter verlieren und sich als Geheimschrift, als Puzzle-Spiel oder Code erweisen, die entziffert werden kann, als ein Versuchsmodell, das man früher oder später herstellen wird.«

Dem Laien mag die Vorstellung, künstliches Leben zu erzeugen, sehr phantastisch erscheinen, als reines Hirngespinst; wenn er es aber für möglich hält, so erscheint es ihm doch vermessen oder sogar gottlos. Beide Positionen wurden im Jahre 1965 auf dramatische Weise herausgefordert, als Professor Charles Price, der neugewählte Präsident der <American Chemical Society> (A.C.S.), öffentlich den Vorschlag machte, die Erzeugung künstlichen Lebens zu einem nationalen amerikanischen Ziel zu erheben. 

 wikipedia  Paracelsus *1493-1541   wikipedia  John_Desmond_Bernal 1901-1971       wikipedia  Charles_Price  1913-2001   en.wikipedia  Charles_C._Price 

In einem Brief an die Direktoren des Nationalen Wissenschaftsinstitutes, des Gesundheitsministeriums, der Atomenergie-Kommission, des Luft- und Raumfahrtministeriums und an den Chemiker-Ausschuß der nationalen Akademie der Wissenschaften stellte er den Antrag, zwanzig Jahre lang ein Viertel bis die Hälfte der wissenschaftlichen Kraft der Nation auf diese Bemühungen zu richten. »Alle antworteten zustimmend«, sagte er später —, obwohl sich die A.C.S. bemühte, klarzustellen, daß er nicht im Namen der Gesellschaft sprach.

Er regte an, daß die Arbeit zunächst mit der Synthese wichtiger Bestandteile des lebenden Systems beginnen sollte. Die nächsten Syntheseschritte sah er in folgender Reihenfolge: Viren; Untereinheiten, aus denen die Zelle besteht; ganze Zellen und schließlich vielzellige Organismen.

Zu jener Zeit waren viele Leute der Meinung, dieser Vorschlag bedeute die »Synthese menschlicher Lebewesen«. Prof. Price sagt, er hätte tatsächlich einige Bestellungen von seiner Segelmannschaft auf eine Liz Taylor und Brigitte Bardot. Aber in einer späteren Erklärung brachte er seine Meinung deutlicher zum Ausdruck: Stünde bei uns das Ziel, ein lebendes System zu erschaffen, an erster Stelle, so wäre es dennoch ein sehr weiter Weg bis zu einem Synthesegrad, der die Erzeugung von Intelligenz erlaubt. Dennoch ist er überzeugt, daß das »vielleicht in einem Jahrhundert« möglich wird.

Als ich ihn in seinem Laboratorium an der Universität von Pennsylvania besuchte, fragte ich ihn, was ihn dazu bewogen habe, solch einen Vorschlag gerade in dieser Zeit zu machen. Er antwortete:

»Ich glaube, daß die Chemiker in diesem Land den Anreiz eines größeren Zieles brauchen, zu dem ihre Arbeit beitragen kann. Sie benötigen ein Ziel, das sie anspornt und ihnen die Bedeutung eines speziellen Zwecks vermittelt, in der gleichen Art wie die Landung eines Menschen auf dem Mond das Ingenieurwesen und die Elektronikforschung angetrieben hat.«

Er betonte aber auch die indirekten Vorteile: »Würde man zum Beispiel herausfinden, wie Membranen zusammengesetzt sind und wie sie funktionieren, so wäre man in der Lage, künstliche Nieren zu entwickeln, die nicht fast das ganze Zimmer hier einnähmen.«


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Professor Price zog auch die Möglichkeit in Betracht, lebende Systeme in einer völlig neuen Art zu erzeugen. Er wies darauf hin, daß ein Chemiker, der synthetischen Gummi herstellen will, durchaus nicht beabsichtigt, den natürlich vorkommenden Kautschuk nachzuahmen. Wenn möglich, so möchte er gern die Eigenschaften des natürlichen Gummis übertreffen, und er ist darauf vorbereitet, zu diesem Zweck eine vom natürlichen Kautschuk vollkommen verschiedene chemische Struktur zugrunde zu legen. »Wenn wir also den Charakter des Lebensprozesses als Gesamtsystem verstehen, so könnten wir auch in der Lage sein, andere Systemarten zu entwerfen. Diese hätten dann die üblichen Eigenschaften lebender Systeme, besonders aber jene, die wir am besten gebrauchen könnten.« Dies nennt er »eine der umstrittensten Zukunftsaussichten, die ich mir vorstellen kann«.

Dr. Carl Berkley war einer von jenen, die Professor Prices Fingerzeig ernst nahmen. In einem Artikel in der Zeitschrift >Medical Research Engineering< vertrat er die Ansicht, daß wir sogar nach dem gegenwärtigen Stand unserer technischen Kenntnisse in der Lage seien, ein System herzustellen, das den grundlegenden Kriterien des Lebens entspräche, selbst wenn es kein biologisches System sei. Das bedeutet, daß es fähig ist, sich selbst zu vermehren, ein normales inneres Gleichgewicht wiederherzustellen, wenn ein äußerer Zwang es gestört hat (Homöostasis), und sich somit anzupassen. Solch ein System wäre sehr viel größer als irgendein biologisches lebendes System und wäre, obgleich völlig mechanisch, lebendig. Er stellte an seine Leser die Frage: »Lohnt es sich, so etwas zu konstruieren?«

Die Anforderungen an die Technik, die sich daraus ergeben würden, wären sicherlich sehr interessant, aber die meisten Wissenschaftler, die die Frage nach künstlichem Leben aufwerfen, meinen damit seine biologische Vielfalt, und mit dieser will ich mich nun etwas näher befassen.

Warum glauben Wissenschaftler, daß sie solch ein Ziel erreichen können, und was beabsichtigen sie damit? Obwohl die Erfolgsaussichten in viel weiterer Ferne liegen als bei den meisten Projekten, die wir bis jetzt betrachtet haben, sind die Möglichkeiten so außergewöhnlich, daß sie einer eingehenderen Untersuchung wert sind. Wenn die Kontrolle der menschlichen Entwicklung schon einen Wendepunkt in der Geschichte der Menschheit darstellt, welchen Wert müssen wir dann erst der Erzeugung künstlichen Lebens zumessen? Zumal sie die Kontrolle ja einschließt. Im Hinblick auf den Vorschlag von Price muß erwogen werden, ob wir einen solchen Weg gehen sollen, der mit großen Kosten verbunden ist und sich bei erfolgreichem Abschluß sogar als noch viel kostspieliger erweisen könnte.


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Das Programm, von dem Paracelsus behauptete, es zu kennen — die Kultivierung von Menschen im Labor, ausgehend von menschlichen Baustoffen wie Samen oder Eier —, haben wir schon besprochen und dabei gesehen, daß es vermutlich ausgeführt werden kann. Selbst ein so anerkannter Biologe wie Professor Glass hat vorausgesagt, daß wir vielleicht entdecken werden, »wie sich die durch Teilung vermehrenden Zellen von Mensch und Tier kultivieren lassen, um normale menschliche Embryos entweder in künstlichen Kulturen oder in menschlichen Nährmedien zu erzeugen und aufzuziehen ... und daß wir durch diesen Vorgang vielleicht herausfinden, wie sich defekte Gene modifizieren oder erneuern lassen«.

Aber die Synthese menschlichen Lebens aus unbelebter chemischer Materie ist etwas anderes.

Wenn dem Laien dieses Programm außerhalb der Grenze des Möglichen erscheint, so ist das wahrscheinlich auf sein Verständnis des Wortes »Leben« zurückzuführen und auf eine falsche Auffassung der Vorgänge, die es kennzeichnen. Viele Menschen halten Leben für einen geheimnisvollen Begriff, ein rätselhaftes Geschenk, das in einen leblosen Körper eingehaucht wird und ihn dadurch zum Leben erweckt. Der Wissenschaftler sieht in dem lebenden Organismus einfach nur eine Maschine — einen ungeheuer komplizierten und kunstreichen Apparat, der Reaktionsvermögen und Anpassungsfähigkeit zeigt, was keine bisher durch Menschen entwickelte Maschine vermag, der aber nichtsdestotrotz eine Maschine bleibt.

Er ist völlig zuversichtlich, daß die Maschine zu ticken anfängt sobald sie gelernt hat, die Einzelteilchen richtig zusammenzusetzen, genau wie ein Uhrmacher nicht daran zweifelt, daß die defekte Uhr laufen wird, sobald er die Teile neu zusammengefügt hat. Ebenso glaubt der Wissenschaftler an die Antithese: Wenn die Teile nicht richtig zusammengesetzt werden oder wesentliche Teile fehlen, so erweckt kein »Odem« und kein Wundermittel die seelenlose irdische Hülle zum Leben. Er behauptet dies sowohl für den Menschen als auch für weniger hoch entwickelte Lebewesen. Der Mensch wird nicht mehr wie im 19. Jahrhundert oder früher als ein Wesen angesehen, das eine besondere Stellung in der Natur einnimmt und das sich von allen anderen Lebewesen grundlegend unterscheidet. Sein kompliziertes Gehirn, das ihn zur Sprache und abstrahierendem Denkvermögen befähigt, mag ihn über andere Geschöpfe stellen, aber er steht nur auf derselben Leiter über ihnen.

Der Glauben der Wissenschaftler an den, sagen wir, mechanischen Charakter lebender Symptome und an die notwendige Fähigkeit, diesen Mechanismus vervielfältigen zu können, entspringt dem Erfolg einer Reihe von Experimenten, bei denen versucht wurde, einige Glieder in der Kette zwischen Unbelebtem und Belebtem zu vervielfältigen.

Das überzeugendste dieser Experimente ist vielleicht die Synthese von Viren.


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   1  Ein Virus wird hergestellt   

 

Auf der untersten Sprosse der Lebensleiter steht das Virus — ein winziger Organismus, der die Fähigkeit besitzt, sich selbst unbegrenzt zu vermehren und Mutationen zu erleiden, obwohl er selbst weder chemische Reaktionen ausführt noch Nährstoffe aufnimmt und abgebaute Produkte absondert. Grob gesagt, er vermehrt sich, ohne zu atmen und ohne Nahrungsaufnahme. Er besitzt eine genetische Information in Form einer Nucleinsäure, die die Virussynthese steuert, aber er braucht den genetischen Mechanismus von Bakterien oder anderen Zellen, um sich zu vermehren. Da er deshalb ohne zelluläre Bestandteile auskommt, besteht er nur aus einer Nucleinsäure als Informationsträger sowie aus einer Protein-Schutzhülle. (Einige Virusarten sind ein wenig komplizierter: sie können noch eine spezielle Einrichtung haben, um ihre Nucleinsäure in die Zelle einzuspritzen, die dazu bestimmt ist, das Virus zu vermehren; oder sie können Enzyme besitzen, die den Austritt der neuen Viren aus der Zelle erleichtern, usw.)

Ohne intensiveres Nachdenken erscheint das Virus als ein ziemlich außergewöhnliches Lebewesen. Es läßt sich mit einer verirrten Lochkarte vergleichen, die sich in irgendeinen Computer einschleicht mit dem einzigen Ziel, daß dieser noch mehr Lochstreifen der gleichen Art ausdruckt — nebenbei zerstört sie bei diesem Prozeß sehr oft den Computer.

Als die Biologen in den dreißiger Jahren zum erstenmal versuchten, diese unsichtbaren kleinen Partikel zu isolieren, wußten sie nicht genau, womit sie sich überhaupt befaßten. (Man sieht Viren nicht unter einem Lichtmikroskop, dem einzigen, das zu jener Zeit zur Verfügung stand.) Die Tatsache, daß die Mehrzahl unter ihnen zur Kristallisation gebracht werden konnte, wie man das beim Zucker und bei vielen anderen organischen Substanzen kennt, legte die Vermutung nahe, daß sie leblose Materie darstellten; ihre Fähigkeit zur Vermehrung jedoch schien das Gegenteil zu beweisen.

Einige Wissenschaftler meinen, daß Viren aus Bakterien entstanden sind, die sich von ihrer zellulären Ausrüstung losgelöst haben und wie Viren zu Parasiten geworden sind. Andere glauben, sie seien spontan entstanden. Sind Viren lebende Wesen auf dem Weg nach unten oder unbelebte Materie auf dem Weg nach oben? Vielleicht werden wir es niemals erfahren.


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Ob Lebewesen oder nicht, der Mensch hat inzwischen entdeckt, wie man sie herstellen kann. Im Jahre 1965 hatten Professor Sol Spiegelman und seine Mitarbeiter an der Universität Illinois mit einer Reihe glänzender Experimente Erfolg. Sie konnten unbelebte Nucleinsäuren, die die genetischen Informationen für ein Virus enthielten, zusammensetzen und so ein sich vermehrendes künstliches Virus erhalten, der von einem natürlichen nicht zu unterscheiden war. Das Virus, mit dem sie arbeiteten und das unter dem Namen 0-beta bekannt wurde, ist ein kleines, vielseitiges Partikel, das eine RNS-Kette aus etwa 3000 Einheiten enthält und auf Bakterien wächst.

Die Schwierigkeiten bei den Experimenten bestanden nicht darin, die Nucleinsäure-Bruchstücke zusammenzubauen — sie tun dies mit der größten Begeisterung von selbst —, sondern zunächst die Bruchstücke zu isolieren und sicherzugehen, daß das Gemisch keine natürlichen Viren mehr enthält. Der Trick bei dieser Arbeit war die Isolierung eines spezifischen Enzyms aus den infizierten Bakterien, das als Replikase bekannt ist und das dazu verwendet wird, die Untereinheiten zu einer Nuclein-säurekette zusammenzuknüpfen. Die Reinigung dieser Replikase von Enzymen, die die RNS wieder zerstören und die ebenfalls in Bakterien enthalten sind, war das Hauptproblem. Die Replikase vereinigte in kurzer Zeit die Nucleotide zur RNS mit richtigem Gewicht und richtiger Dichte. Nachdem diese RNS in Bakterien eingebracht wurde, entwickelten sich neue Viren, die ebenso infektiös wie die alten waren und auch sonst keinerlei Unterschiede aufwiesen.

Es erhebt sich sofort die naheliegende Aussicht auf die Möglichkeit, Nucleinsäuren geringfügig zu verändern und so neuartige Viren zu erzeugen — falls sich irgend jemand neue Viren wünschen sollte.

(Vermutlich interessiert sich vor allem das Militär für derartige Entdeckungen, obwohl selbstverständlich auch Landwirte Viren gebrauchen könnten, um unerwünschtes Unkraut oder Schädlinge zu bekämpfen, ohne dabei Tiere und Ernte in Mitleidenschaft zu ziehen.)

Freilich: Hauptsächlich sind Wissenschaftler daran interessiert, da hier ein weiterer großer Schritt zum Verständnis der Lebensvorgänge getan wurde, besonders zur Aufklärung der komplizierteren Nucleinsäurereplikation. Molekularbiologen betrachteten die Leistung von Spiegelman als eine wichtige Bestätigung ihrer Überzeugung, daß das Leben künstlich nachgebildet werden kann. Spiegelmans Team wendet sich zur Zeit der neuen Aufgabe zu, völlig ohne Bakterienzellen zu arbeiten und die Synthese von Viren im Reagenzglas nur mittels Aminosäuren, Nucleotiden und Replikase zu erreichen.


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Spiegelmans Erfolg leitet sich aus den früheren Arbeiten von Heinz Fränkel-Conrat ab, der 1933 Deutschland verließ und seither in Kalifornien arbeitet. Es gelang ihm, beim Tabakmosaikvirus, das die Mosaik-Krankheiten bei Tabak und bestimmten anderen Pflanzen verursacht, das Hüllprotein von der Nucleinsäure zu trennen; jede der beiden Lösungen, die am Tabak auf ihre infektiöse Wirkung getestet wurden, war wirkungslos. Dann mischte er die beiden Lösungen wieder, glaubte aber nicht ernsthaft daran, daß sich etwas ereignen würde. Innerhalb weniger Minuten begann sich das Aussehen der Mischung zu verändern, und die Untersuchung mit einem Elektronenmikroskop ergab, daß sie vollkommen ausgebildete Tabakmosaikviren enthielt. Die beiden Teile hatten sich von selbst wieder vereinigt. Beim Test an der Tabakpflanze erwiesen sie sich in gewohnter Weise als infektiös. Zu jener Zeit nannte man dieses Ergebnis »Leben, im Reagenzglas erzeugt«, und wenn man einräumt, daß Viren als lebende Wesen betrachtet werden können, so stimmt dies beinahe auch; »Leben, im Reagenzglas zurückgewonnen« würde den Tatsachen genauer entsprechen. Dieses Experiment fand 1955 statt. Die Zeit, die zwischen den Arbeiten von Fränkel-Conrat und denen von Spiegelman verstrich, betrug genau 10 Jahre, und sie gibt uns eine Vorstellung über die Geschwindigkeit, mit der solche Arbeiten voranschreiten.

Fränkel-Conrat hatte die beiden Hauptbestandteile (Nucleinsäure und Proteinhülle) wieder zusammengebaut — oder richtiger, diese hatten die Fähigkeit gezeigt, sich von selbst wieder zu vereinigen. Spiegelman gelang es, eine dieser Komponenten, nämlich die Nucleinsäure, aus den Ausgangsmaterialien herzustellen. Diese künstliche RNS war dann imstande, die Proteinhülle zu erzeugen und sich mit ihr innerhalb eines Bakteriums zu verbinden, genau wie es in der Natur geschieht. Dies ist ein offenkundiger Fortschritt. Vor allem wird deutlich, daß dieses Material die außergewöhnliche Eigenschaft besitzt, sich selbst in einer Reihe von verschiedenen Abschnitten wieder zu vereinigen. Zunächst vereinigen sich die einzelnen Bauelemente zu größeren Bestandteilen; dann vereinigen sich diese Bestandteile zu vollständigen Viren.

Dies ist der entscheidende Punkt. Die Wissenschaftler sind gerade deshalb sehr zuversichtlich, weil die Bausteine des Lebens diese unheimliche Fähigkeit zur spontanen Vereinigung untereinander besitzen (»self-assembling«); so konnten auch größere Funktionseinheiten des menschlichen Lebens durch spontane Vereinigung synthetisiert werden*. Das Ziel des Wissenschaftlers besteht weniger darin, Leben zu erschaffen, als vielmehr die Bedingungen herzustellen, unter denen sich das Leben von selbst bilden kann.

* Anmerkung des Übersetzers:  In jüngster Zeit haben Wissenschaftler gefunden, daß diese Fähigkeit zum »self-assembling« von chemischen Untereinheiten noch ausgeprägter ist, als sie zuerst annahmen. Jede Aminosäure bevorzugt bei ihrer spontanen Vereinigung ganz bestimmte andere Aminosäuren. — Weiterhin wurde zum erstenmal im Reagenzglas ein Enzym ohne die Hilfe lebender Zellen synthetisiert. (Enzyme sind die Katalysatoren, die den Lebensvorgang biochemisch regulieren.)


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Und seine Meinung, daß sich das Leben von selbst bilden kann, ist eng verbunden mit der Überzeugung, daß einst auf unserem Planeten Leben von selbst entstand. Die Forschung nach dem Ursprung des Lebens ist die zweite der Entwicklungsrichtungen, die den Ehrgeiz von Professor Price und anderen anspornte, lebende Wesen zu synthetisieren.

 

   2  Leben aus dem Chemikalienkatalog   

 

Eine der Methoden, die Natur irgendeiner Sache verstehen zu lernen, ist die Frage nach ihrem Ursprung. Hauptsächlich aus diesem Grund interessierten sich die Wissenschaftler lange Zeit für die Entstehung der Lebewesen. Der Erfolg Darwins, der die Gültigkeit der Selektionstheorie nachwies und damit zeigte, daß die in der Entwicklung zurückgebliebenen Lebewesen vernichtet werden, erweckt die Hoffnung, daß höhere Lebensformen spontan gebildet werden können. Gleichzeitig erhob sich aber die Frage, woher die primitivsten Lebensformen stammen. Eine Zeitlang glaubte man an einen »Protoplasma-Schlamm« auf dem Meeresgrund als der ersten Entwicklungsstufe des Lebens. Proben, die durch die ozeanographische Expedition »Challenger« aus enormen Tiefen ausgebaggert wurden, untersuchte man eifrig nach diesem »Lebens-Schlamm«, der schon im voraus den Namen Bathybius haeckeli erhalten hatte. Aber vergebens.

Der Sachverhalt ist ebenso bedeutend in Verbindung mit der Frage, ob es anderswo in unserem Universum noch Leben gibt. Denn wenn sich die Bedingungen, unter denen Leben spontan entstehen kann, bestimmen lassen, so ist auch die Frage leichter zu entscheiden, ob es andere Planeten gibt, auf denen ähnliche Verhältnisse herrschen.

Ebenso ermöglicht die Erkenntnis der Bedingungen, unter denen Leben spontan entsteht, selber diese Bedingungen herzustellen, um Leben zu erzeugen; und der beste Beweis für irgendeine Theorie ist stets die Verwirklichung im Experiment. Nun ist in den letzten dreißig Jahren eine einleuchtende Theorie darüber aufgestellt worden, wie Leben entstanden sein könnte, die von Nicht-Wissenschaftlern bislang kaum wahrgenommen wurde. Viele Experimente sind erdacht und ausgeführt worden, einzelne Teile dieser Theorie zu prüfen, und sie waren erzreicher, als ihre Bearbeiter zu erhoffen wagten.


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Wenn die Wissenschaftler die verschiedenen Experimente bislang nicht füreinander verbunden haben, um Leben aus unbelebter Ma-Bferie herzustellen, so liegt das nur daran, daß die Natur Millionen von Jahren und riesige Mengen Substanz benötigt, bis sie ihr Ziel erreicht, und die Wissenschaft weiß noch nicht, wie sich dieser Prozeß genügend beschleunigen läßt. Anfang der fünfziger Jahre hatte der Nobelpreisträger Harold Urey eine glänzende Idee, die neue Einblicke in den Ursprung des Lebens öffnete. Er erkannte, daß'die Uratmosphäre auf der Erde frei von Sauerstoff gewesen sein muß. Sie enthielt wahrscheinlich nur einfache Gase wie Wasserstoff, Ammoniak, Wasserdampf und Methan (Sumpfgas). Später kamen eventuell Kohlenstoff-monoxyd, -dioxyd und Stickstoff hinzu. Diese Atmosphäre muß für ultraviolettes Licht sehr viel durchlässiger gewesen sein als unsere heutige. Während der ersten Jahrzehnte unseres Jahrhunderts hatte man bereits die universelle Rolle der Proteine für lebende Systeme und ihren Aufbau aus Aminosäuren entdeckt. Da sämtliche Aminosäuren aus Ammoniak-Molekülen abgeleitet werden können, lag es nun nahe zu untersuchen, ob in solch einer Uratmosphäre Aminosäuren spontan gebildet werden können. Urey machte den Vorschlag für ein derartiges Experiment, das einer seiner Studenten, Stanley Miller, 1953 ausführte. Die bestrahlten Gase bildeten tatsächlich Aminosäuren und andere lebenswichtige Moleküle. Die wissenschaftliche Welt richtete plötzlich ihre ganze Aufmerksamkeit auf dieses Ergebnis.

Man probierte bald darauf zahlreiche Varianten aus; der Einfluß von Röntgenstrahlen, Hitze und Licht wurde bei geringfügig veränderten Gemischen während verschiedener Zeiträume geprüft. Innerhalb weniger Jahre stellte sich heraus, daß bei diesem Experiment auch Nucleotideinheiten, aus denen die Nucleinsäuren aufgebaut sind, gebildet werden können, ebenso ATP, der Energielieferant jeder Zelle, und sogar kleine Proteine. Man war also auf einer richtigen Spur; die nächste Frage lautete: Wie konnten sich diese Einheiten unter den gegebenen Bedingungen verketten?

Obwohl Millers Experiment einen Meilenstein auf dem Weg zum künstlichen Leben darstellte, war im Grunde A. I. Oparin, Mitglied der russischen Akademie, der erste gewesen, der diesen Sachverhalt behandelt hatte. Sein Buch »Vom Ursprung des Lebens« wurde kurz nach 1930 veröffentlicht. Oparin vertrat die Ansicht, daß die organischen Moleküle, die etwa so gebildet werden, wie ich es skizziert habe, in kleinen Tröpfchen eingekapselt werden, die unter dem Namen Koazervate bekannt sind. Diese absorbieren ganz bestimmte Substanzen aus dem sie umgebenden Medium.


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Trennt man sie von ihrer Umgebung ab, so werden sie stabiler, da sie sich nicht mehr so leicht im Medium auflösen können. Solche Koazervate, die mit Aminosäuren und Nucleotiden beladen sind, könnten die Vorläufer der lebenden Zellen bilden, bis eines Tages bei ihnen eine Art Zellteilung erreicht wird. Deshalb war es eine weitere aufsehenerregende Bestätigung dieser Spekulationen, als im Jahre 1967 über die spontane Bildung von Koazervaten aus einem einfachen Gemisch verschiedener Proteine in einer normalen Lösung berichtet wurde.

Um diese Vorgänge zu untersuchen, wurde vor kurzem unter der Leitung von Professor Sidney Fox in Miami ein Institut für molekulare Entwicklung gegründet. Fox vermutet, daß das einfache Gemisch aus organischen Substanzen, hauptsächlich Aminosäuren, über heiße vulkanische Felsen gespült wurde. Ein Teil davon gelangte auch in Felsvertiefungen, wo durch die dort herrschende Hitze Wasser verdampfte und der Inhalt konzentriert wurde. Als er diese Bedingungen in Experimenten nachahmte, entdeckte er, daß sich eine geringfügig veränderte winzige Kugel bildet, wenn man die auf diese Weise entstandenen proteinähnlichen Substanzen abkühlt. Diese Tröpfchen teilten sich während ihrer Entstehung merkwürdigerweise ähnlich wie Bakterien und bilden ebenso wie diese lange Ketten. Unter bestimmten Bedingungen erlangen diese Kugeln eine doppelte Außenwand. Während der Synthese dieses »proteinähnlichen« Materials werden nicht nur Proteine, sondern auch Fettsäuren gebildet.

Nach Fox liegt die Hauptbedeutung der Experimente in der Beantwortung der zentralen Frage: Wie können Substanzen, die heute nur durch belebte Materie gebildet werden, ohne belebte Materie entstanden sein?

Dennoch liegt eine tiefe Kluft zwischen der Ansammlung großer Moleküle in dieser kleinen Kugel und der Zelle, wie wir sie kennen, mit ihren unzähligen genauen chemischen Reaktionen. Es ist das Ziel der Biologen, diese Kluft zu beseitigen. Die einfache Zelle der Vorzeit mußte entdeckt haben, wie sie sich ernähren, wie sie Energie aus ihrer Umgebung aufnehmen konnte, um leistungsfähig zu bleiben. Das Problem von der Entstehung des Lebens wäre im wesentlichen gelöst, wenn man nachweisen könnte, wie diese Aufgaben bewältigt wurden. Professor George Wald von der Harvard Universität führte aus, daß dies in zwei entscheidenden Etappen stattgefunden hat: der erste Schritt mußte ein Gärungsprozeß gewesen sein: der Abbau von Zucker zu einfacheren Verbindungen wie Alkohol und Kohlenstoffdioxyd — eine Reaktion, bei der Energie frei wird, allerdings mit geringem Nutzeffekt. Diese Reaktion ist nicht außergewöhnlich, zum Beispiel findet sie ständig in der


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feiere statt Dodi würde ein solcher Prozeß allmählich den verfugbaren Zuckervorrat aufbrauchen und damit als Energiequelle » ausfallen. Auf einer gewissen Stufe mußte also die Sonnen energie eingefangen werden. Deshalb hatte die Zelle — dürfen wir sie so nennen — vor dem vollständigen Verb,- "h ' -"es Zuckers chemische Substanzen zu produzieren die das qU' enlicht absorbieren und die komplizierte chemische Reakt°n" rlernen können, die man unter dem Namen Photosynth^1 ennt. Professor Wald hat sich während seiner gesamten 1 w ahn auf die Untersuchung dieser photochemischen Substnnzen pezialisiert.

 

Viele Stufen in der Entwicklung der Photosynthese lassen sich plausibel ableiten; und wenn die Entstehung der photosynthetischen Pigmente oder ihrer Vorläufer, den Porphyrinen im Laboratorium durch weitere Experimente nachgeahmt werden kann, die als Rekonstruktion der Vergangenheit beabsichtigt sind, so wird sich das Vertrauen in diese Art Beweisführung verstärken. Solche Experimente werden unternommen. Die Tatsache, daß die Zellen, die wir heute kennen, unter bestimmten Umständen auf eine nicht-Sauerstoff-verbrauchende Form des Stoffwechsels zurückgreifen können, ist ein weiteres Faktum, das die Waldsche Spekulation zu unterstützen scheint. Aber zwischen einer vernünftigen Theorie und einer bewiesenen Tatsache liegt ein langer Weg.

Nachdem einmal die Photosynthese von der Zelle »entdeckt« worden war, produzierte sie Sauerstoff als Nebenprodukt, und die Atmosphäre auf der Erde wurde allmählich zu einer oxydierenden, wie wir sie heute kennen. In dieser aber kann das Leben nicht entstanden sein, denn sonst wären sämtliche Bausteine für die spätere belebte Materie sehr rasch oxydiert und damit zerstört worden. Somit haben wir nun die ältere Vorstellung einer ununterbrochenen Entstehung des Lebens durch eine dritte Erkenntnis zu ersetzen: die Entwicklung des Lebens »ein für allemal« aus anorganischen Substanzen vor einer sehr langen Zeit. Und da man Fossilien kennt, die wenigstens 2000 Millionen Jahre alt sind, muß der Ursprung des Lebens noch sehr viel früher in der Geschichte der Erde eingetreten sein; bald nachdem die Temperaturen auf einen Punkt gesunken waren, bei denen dieser Prozeß möglich war.

 

  3  Künstliche Zellen   

 

Selbst wenn die Molekularbiologen eine Reihe von Verfahren entwickelten, die den Selektionsprozeß beschleunigen würden, so daß also die kleinen Kügelchen innerhalb von Wochen oder Monaten mit ihrem Stoffwechsel beginnen könnten — anstelle der Millionen oder Hundertmillionen Jahre, die sie vermutlich ursprünglich dazu gebraucht haben —, so erscheint es doch unwahrscheinlich, daß irgend jemand diese Experimente ausführen möchte; es sei denn, er wollte die Theorie der Lebensentstehung beweisen.


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Doch wäre diese Methode wahrscheinlich zu umständlich, um mit ihr belebte Materie zu erzeugen. Professor Price schlägt als nächsten Beitrag zur Aufklärung des Lebensprozesses vor, Versuche zu unternehmen, die die Strukturen der Zelle aufbauen. 

Der größte Teil einer Zelle besteht aus einem Netzwerk, oder richtiger, aus einem Membransystem. Gibt es vielleicht irgendein Bauteil, das sich unter den richtigen Bedingungen spontan zu solchen Schichten vereinigt? 

Die Bereiche einer Zelle, die Arbeit leisten, sind wiederum mit Strukturen angefüllt, die man Mitochondrien nennt — nachenförmige Gebilde mit zahlreichen querlaufenden Fächern. Hier wird in einer Reihe chemischer Reaktionen der zelluläre Energielieferant ATP (Adenosintriphosphat) hergestellt, deshalb nennt man die Mitochondrien auch oft »die Kraftwerke der Zelle«. 

Einige Biologen vermuten, daß die Synthese der Mitochondrien nicht der Kontrolle des Zellkerns unterliegt, sondern daß sie sich einfach nur teilen wie die Bakterien. Um die Frage zu beantworten, untersucht man am einfachsten, ob die Mitochondrien auch in Abwesenheit des Zellkerns zur Teilung oder Vermehrung gebracht werden können. Weiterhin enthält die Zelle viele andere Strukturen wie Golgi-Apparat, Zellkern und Mitosespindel, deren Funktion und Struktur noch weitgehend ungeklärt sind. Die Biologen werden während der nächsten zwanzig Jahre immer mehr Experimente ausführen müssen, um solche unbekannten Strukturen aufzuklären. Übrigens mag es sich im Verlauf all dieser Experimente herausstellen, daß man Zellbestandteile künstlich herstellen kann, die dann tatsächlich in mancher Hinsicht jenen überlegen sind, die die Natur hervorbringt. 

Es ist schwierig, den Verlauf solcher Entwicklungen vorherzusehen, bestenfalls sind es phantastische Vermutungen; aber man kann sich zumindest vorstellen, daß man Muskelfasern herstellen könnte mit größeren Kontraktionsleistungen oder einer kürzeren Ruhephase; ferner Blut, das die Muskeln wirkungsvoller mit Sauerstoff versorgt, oder Nervenzellen, die Impulse schneller weiterleiten als die Nerven, die wir besitzen. Obwohl unser Körper eine bemerkenswerte Leistung vollbringt, so hat er dennoch nicht den letztmöglichen Entwicklungsstand erreicht, und er enthält durch die Entwicklung bedingte Überreste wie Mandeln und Blinddarm, die mehr Kummer bereiten, als sie wert sind. Der deutsche Anatom Wieders-heim sagte einmal, er kenne 107 Strukturen in unserem Körper, die keinem Zweck dienen, und später wurde sogar geäußert, jeder gute Ingenieur könne einen leistungsfähigeren Körper entwerfen.


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Während das zu jener Zeit sicherlich falsch war, so ist es heute nicht mehr übertrieben, eine etwas bescheidenere Möglichkeit ins Auge zu fassen und das natürliche Modell ein wenig zu verbessern.

Im Laufe der Zeit werden die Wissenschaftler herausfinden, daß sie manches Ausrüstungsstück einer Zelle im Laboratorium herstellen können. Sie werden dann bestrebt sein, ihre eigenen Nachbildungen in eine normale Zelle einzusetzen, um zu prüfen, wie gut sie arbeiten. Spezialisten arbeiten an den Techniken der Mikro-Chirurgie, durch die kleine Teile einer Zelle eingesetzt oder entfernt werden können. Einer von ihnen ist Professor M. J. Kopac von der Universität New York, der ein erfolgreiches Verfahren entwickelt hat, um den Nukleolus einer Zelle in eine andere zu implantieren. Wenn jemals der Tag kommen sollte, an dem alle Zellstrukturen künstlich hergestellt worden sind und sich als leistungsfähig erwiesen haben, so wird es ein besonderer Höhepunkt sein, die Teile zusammenzufügen, um zu sehen, ob sie wie eine Zelle reagieren. Sollte das jemals erreicht werden, so dürften wir tatsächlich von der Erzeugung künstlichen Lebens reden: der ersten Erschaffung einer Zelle.

Der Ausdruck »Erzeugung künstlichen Lebens« erweckt wahrscheinlich die Vorstellung eines Wissenschaftlers, der ein Gemisch aus chemischen Substanzen in ein Gefäß gießt und abwartet, bis eine große Menge Protoplasma vorschriftsmäßig über den Rand herausläuft. Wie wir nun aber verstehen können, verläuft die Geschichte in drei oder vier großen Abschnitten: 1. Die Herstellung der Bausteine des Lebens — Proteine usw. — aus anorganischer Materie. Dieser Schritt ist bereits unternommen worden. 2. Die Bildung von Zellbestandteilen aus diesen Substanzen, und daraus wiederum 3. die Bildung einer lebenden Zelle. Das letztere ist nicht ausgeführt worden und steht auch nicht unmittelbar in Aussicht: vielleicht ist es überhaupt unmöglich. 4. Die Entwicklung einer Zelle zu einem höheren Organismus. Professor Steward ist dieses Experiment bereits mit natürlichen Zellen gelungen (siehe Kapitel 2), und im Grunde findet es stets dann statt, wenn sich eine Eizelle zu einem erwachsenen Organismus entwickelt. Es gibt keinen Gegenbeweis für die Vermutung, daß sich eine künstliche Zelle auf die gleiche Art entwickeln kann, obwohl die Zellen eines vielzelligen Geschöpfes in mancher — noch unbekannter — Hinsicht komplizierter sein mögen als die Zellen eines einzelligen Organismus. Daher wird man wohl eher in der Lage sein, so etwas wie ein Bakterium oder eine Amöbe herzustellen, bevor man zu der künstlichen Erzeugung eines Eies oder einer Zelle übergehen kann, die mit den Körperzellen höherer Organismen wirklich vergleichbar sind.


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Wenn diese vier Entwicklungsphasen unabhängig voneinander erreicht worden sind, so wäre offenbar nur noch eine »tour de force« nötig, um die gesamte Reihenfolge — ausgehend von anorganischen Substanzen bis hin zu Lebewesen — nachzuvoll-ziehen. Der Biologe, der — sagen wir — Adenin für ein Experiment über die Struktur der Mitochondrien benötigt, wird dann nicht mehr ausdrücklich ein Adenin verlangen, das Dr. C. Pon-namperuma am Arnes Forschungszentrum der NASA nach einem Verfahren herstellt, das den Ursprung des Lebens nachahmt. Gewöhnliches Adenin von einer biologischen Lieferfirma wird es dann genauso tun und kostet erheblich weniger.

 

  4  Eine Frage der Zeit   

 

Trotz des Vorschlages von Professor Price befassen sich die Biologen gegenwärtig nicht ausschließlich mit groß angelegten Experimenten, die künstliches Leben zu erzeugen suchen. Sie versuchen vielmehr aufzuklären, wie lebende Systeme im einzelnen arbeiten — hauptsächlich wohl deshalb, weil dieses Problem, sicherlich eine der größten Anforderungen an den menschlichen Geist, eine sehr große Faszination ausstrahlt, und zum Teil auch, weil im Verlaufe dieser Arbeiten viele praktisch anwendbare Probleme gelöst werden. 

Es liegt im Charakter der Naturwissenschaften, den Forscher stets auf grundlegende Probleme zurückzuführen. Die Anforderung an einen Brückenbauingenieur, die Festigkeit und Ermüdungserscheinungen des Baumaterials im einzelnen zu kennen, führt ihn sofort zu Untersuchungen über die Struktur des Materials. Der Wunsch eines Arztes, Virus-Krankheiten zu bekämpfen, führt zu der Frage nach dem Wesen und der Funktion von Viren. Dies wiederum wirft grundlegende Fragen auf nach den Substanzen, aus denen Viren gebaut sind, und nach deren Eigenschaften. 

Dennoch werden einige Biologen, sobald dies möglich wird, versuchen, im eigentlichen Sinn des Wortes Leben zu erzeugen, weniger aus Ruhmsucht denn aus dem Bedürfnis, die bisherigen Theorien im Experiment bestätigt zu sehen. Derjenige, der wissen will, wie eine Uhr aufgebaut ist, beweist am besten, daß er die damit verbundenen Prinzipien verstanden hat, wenn er selbst eine funktionierende Uhr zusammenbastelt. Nationales Prestigedenken mag ebenso zu diesem Ziel beitragen: »Leben zu erschaffen« bedeutet ein erstklassiges Qualitätsprädikat<, das sicherlich großes Aufsehen erregen wird. Für diese Zwecke genügt allein die Erschaffung einer einzigen lebenden Zelle, die sich teilen und vermehren kann, die Nährstoffe aufnehmen, verstoffwechseln und wieder ausscheiden kann und die in einer gewissen Weise reizbar oder sensitiv für die Umgebung ist. Es wäre schon eine phantastische Leistung.


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Professor Price glaubt daran, daß sich dies in zwanzig Jahren verwirklichen läßt. Ich persönlich halte das allerdings für sehr optimistisch. Die ausgezeichneten Erfolge der Molekularbiologie haben eine Zuversicht erzeugt, die bei vielen, die auf diesem Gebiet arbeiten, fast schon an Hochmut grenzt. Die Mauern, die das zentrale Geheimnis umgeben, scheinen beim nächstbesten Trompetengeschmetter einzustürzen. Aber wie die Geschichte der Naturwissenschaft lehrt, sind die Probleme oft schwerer zu enträtseln, als es bei oberflächlicher Betrachtung erscheint. 

Vor weniger als einem Jahrhundert stellte man sich das Protoplasma einer Zelle als eine Art Schaum vor, und viele meinten, daß seine Eigenschaften bald hinreichend aufgeklärt werden könnten in Form physikalischer Phänomene, zum Beispiel Osmose und Oberflächenspannung. Die Art und Weise, wie ein Flüssigkeitstropfen von einem kleinen Span eines überzogenen Glases absorbiert wird, den Überzug auflöst und dann den Span wieder abstößt, gleicht so sehr dem Verhalten einer Amöbe beim Verschlingen von Nährstoffen, daß man angenommen hat, die gleichen physikalischen Prinzipien würden beides erklären. Heute wissen wir, daß der vermutete Schaum ein fein-strukturiertes Netzwerk aus Molekülen darstellt, in das weitere Moleküle und Strukturen eingebettet sind, wovon jedes sehr genau seinem Zweck als ein Instrument des Apparates angepaßt ist.

Aber ebenso wie die Biologen damals die komplizierte Struktur des Protoplasmas unterschätzten, so unterschätzen sie vielleicht auch das heutige Problem. Dank dem Elektronenmikroskop und anderen Instrumenten wissen wir zwar schon sehr viel über die Struktur in der Zelle — aber wir wissen immer noch sehr wenig über die Vorgänge, die ablaufen. Der rasche Fortschritt, der zum Verständnis der Proteinsynthese beigetragen hat, läßt uns manchmal vergessen, daß wir beispielsweise nicht wissen, wodurch die Teilung der Chromosomen bewirkt wird.

Sehr wahrscheinlich treten zudem innerhalb einer Zelle elektrische Ladungen auf, die wir aber überhaupt noch nicht analysieren können. Es fehlen einfach die technischen Mittel; und selbst in fernerer Zukunft sind sie noch nicht zu erwarten. Dieses Problem läßt sich nicht mit der Landung des Menschen auf dem Mond vergleichen. Letzteres erfordert die Erweiterung bekannter Techniken — bessere Nachrichtensysteme, größere Schubkräfte, festere Werkstoffe. Aber wir kannten im Jahre 1950 schon Funk, Raketenantriebe und Keramik. 

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Um einen gültigen Vergleich anzuführen, müssen wir uns den Vorsitzenden der Luftfahrt-Gesellschaft um 1890 vorstellen, der einen Zwanzig-Jahres-Plan vorschlägt, um auf den Mond zu gelangen — ohne die Hilfe von Computern und Radargeräten, um den Vorgang zu überwachen, nur mit sehr einfachen Funkverbindungen, ohne Aluminium und andere Leichtmetalle und mit den Leuchtraketen eines Rettungsbootes als fortschrittlichstes Antriebsmittel. Natürlich reichten 50 bis 60 Jahre, um die technologische Hürde zu überwinden — doch war niemand damals in der Lage, einen entsprechenden Plan zu entwickeln. Man hätte bestenfalls die Forschungsgelder hierfür erhöhen können, was vielleicht den zeitlichen Abstand um zehn Jahre verkürzt hätte.

Ich denke, daß heute unser Spielraum an Auswahlmöglichkeiten vergleichbar ist. Wir können auf diesem Gebiet die Anstrengungen verstärken und das Problem in dreißig Jahren lösen, wenn es überhaupt lösbar ist; oder wir können es vernachlässigen, und es mag sich dann in vierzig oder fünfzig Jahren von selbst aufklären.

Während für die Wissenschaft die Synthese lebender Zellen ein erstrebenswertes Ziel ist, sieht der gewöhnliche Mensch in der Herstellung von wirklichen Organismen die aufregendste Entwicklungsmöglichkeit, die zugleich Bewunderung und Bestürzung erweckt; denn Mißgestalten könnten ebensogut wie normal aussehende Wesen erzeugt werden. Dies wird wahrscheinlich sehr viel früher erreicht werden als die Synthese einer Zelle.

Wie ich bereits erwähnt habe, sind die Wissenschaftler schon dabei, genetisches Material künstlich herzustellen und Methoden zu finden, dieses in Zellen einzufügen. Lange bevor es ihnen gelingen wird, künstliches Erbgut in synthetische Zellen einzubauen, werden sie es in natürliche Zellen eingeführt haben und damit sowohl normale als auch mißgestaltete Formen des Lebens erzeugt haben. Wenn dieses einmal mit künstlichen Zellen gelingen wird, ist die Aufregung darüber sicher längst verflogen. 

 

    5  Schlußfolgerungen   

 

Es erscheint auf jeder Ebene unwahrscheinlich, daß die Synthese von Leben zu einem normalen praktischen Verfahren werden wird. Die einfachste und billigste Methode, lebende Organismen zu erzeugen, sofern man es wünscht, liegt immer noch in den Mitteln, die uns die Natur so zuvorkommend beschert hat und die wir bereits ausnutzen.

Es ist ein abgedroschener Witz, daß der Mensch den einzigen Computer besitzt, der in der Lage ist, aus der Erfahrung zu lernen und der massenweise von ungelernten Arbeitern hergestellt werden kann. Die Pointe kann sogar noch überzeugender herausgearbeitet werden mit dem Satz, daß dieser Computer sich überallhin fortbewegt. Pflanzen und Tiere ohne Intelligenz sind dagegen unübertroffen, wenn es sich um ihre eigene Vermehrung handelt.

Die wesentlichen Ergebnisse der Molekularbiologie, sieht man einmal von der Bestätigung der biologischen Hypothesen ab, sind wahrscheinlich mehr philosophischer als praktischer Natur. Bevor jemals eine vollständige Synthese des Lebens stattfindet, wird die zunehmende Vertauschbarkeit von belebtem und synthetisiertem Material die volkstümliche Meinung wegfegen, daß sich Belebtes grundsätzlich von unbelebter Materie unterscheidet. Die Erzeugung von teilweise künstlichen — und später völlig künstlichen — Lebewesen wird es' schwierig machen, noch länger zu behaupten, das Leben sei eine Erscheinung von geheimnisvoller Bedeutung; vorausgesetzt natürlich, daß sich diese Kreaturen nicht als Homunkuli erweisen, die sich definierbar von normalen Lebewesen unterscheiden — etwas, das kein Wissenschaftler erwartet.

Natürlich bleibt das unerforschte Geheimnis bestehen, warum belebte Materie ihre spezifische Eigenschaft besitzt, von selbst lebende Organismen auszubilden, die in der Lage sind, sich zu immer kunstreicheren Formen zu entwickeln. Aber dies ist eine andere Frage.

Es besteht zweifellos die Gefahr, daß eine allgemeine Fabrikation der mechanischen Struktur lebender Systeme — wie vortrefflich auch immer die Anfertigung sein mag — zu einer geringeren Wertschätzung des Lebens führen kann und zu der Tendenz, es als Verbrauchsgegenstand zu betrachten, der keine Hochachtung verdient.

Wie groß diese Gefahr werden kann, hängt meiner Meinung nach vom Fortschritt des allgemeinen Intelligenzgrades und vom Erfolg der Pädagogen ab, die die Schüler mit der Problematik und den Realitäten des Lebens vertraut machen müssen, anstatt sie mit Tatsachen und Methoden der technischen Ausführung vollzustopfen.

Denn — muß es überhaupt gesagt werden? — eine solche Geringschätzung des Lebens ist weder zu rechtfertigen noch berechtigt. Der Prüfstein für ein Flugzeug besteht nicht darin, wie leicht es gebaut werden kann, sondern wie gut es fliegt. Um wieviel mehr muß dann der Mensch danach beurteilt werden, was er macht und nicht, wovon und von wem er abstammt.

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Taylor 1968 Revolution der modernen Biologie