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   1 - Das schwindende Utopia   

1  Wo gingen wir den falschen Weg?     2  Was sind Lebensstile?    
 3  Dimensionen des Elends     4  Der Wendepunkt     5  Die Suche nach Glück    6 Apologie

 

   1  Wo gingen wir den falschen Weg?  

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Als vor einem Jahrhundert die Eisenbahnlinie Islington-Camberwell eröffnet wurde, fragte der witzige Max Behrbohm inmitten der allgemeinen Glück­wünsche: »Welchen Wert hat denn eine Bahn, die es einem ermöglicht, von einem tristen und unfreien Leben in Islington in ein tristes und unfreies Leben in Camberwell zu fahren?« Seine Frage wurde natürlich ignoriert — aber heute sehen wir allmählich ein, daß er durchaus ins Schwarze getroffen haben könnte. 

Zumindest in den entwickelten Ländern dieser Erde scheint sich der Verdacht herauszukristallisieren, daß wir irgendwo auf dem Weg falsch abgebogen sind.

Während die Wunder der Technologie fast jedermann Gaben und Möglichkeiten bescheren, die sogar den Königen der Vergangenheit versagt blieben, scheinen die Menschen im allgemeinen unzufriedener und frustrierter zu sein als je zuvor — und das in einem solchen Maß, daß viele junge Menschen jetzt unserer Gesellschaft völlig den Rücken kehren und versuchen, Gemeinschaften aufzubauen, die auf einer ganz anderen Basis als die der Industriegesellschaft geleitet werden — Gemeinschaften, in denen sie glücklicher und zufriedener zu sein hoffen, als sie es in der bestehenden Gesellschaft je sein könnten. 

Andere beginnen ein Wanderleben, das auf Bettelei und Diebstahl basiert — nicht viel anders als die Beghards des vierzehnten Jahrhunderts. Andere wenden sich dem Mystizismus und der Kontemplation zu, Lebensweisen also, die im Westen seit Jahrhunderten nicht mehr favorisiert wurden, andere einer auf Gewalt gründenden politischen Aktivität und wieder andere dem Verbrechen. Die Suche nach neuen Lebensarten hat das Wort <Lebensstil> modisch gemacht.

In jüngster Zeit ist das Bewußtsein der Notwendigkeit, unsere Werte neu zu überprüfen, auch bei der älteren Generation ausgeprägter geworden. Ein deutlicher Hinweis ist die Nobelstiftung, die 1970 eine Sonderkonferenz mit dem Thema <Die Stellung der Werte in einer Welt der Tatsachen> einberief. Der Nobelpreisträger Arne Tiselius sprach in seiner Eröffnungsrede von »einem wachsenden Bewußtsein unter den Menschen aller Nationen, daß in der Welt etwas nicht in Ordnung ist und daß ein dringendes Bedürfnis besteht, zusammenzukommen und festzustellen, was unternommen werden sollte«.

Christopher Mayhew, der Vorsitzende der britischen Nationalgesellschaft für geistige Gesundheit, hat dieses Etwas, das nicht in Ordnung ist, treffend spezifiziert.

»Wir sind besser ernährt, besser gekleidet, besser untergebracht und gebildeter, unsere Jungen sind größer und stärker und unsere alten Menschen leben länger. Und doch sind wir geistig bekümmerter, wir betragen uns weniger gut und sind weniger glücklich. Wahrscheinlich gibt es mehr Wurzellosigkeit, mehr Einsamkeit, mehr Streß und bestimmt mehr Selbstmordversuche und Drogenkonsum.«  wikipedia  Christopher_Mayhew   1915-1997 

Oder, wie es der amerikanische Kongreßabgeordnete Allard Lowenstein auf einer internationalen Konferenz in Princeton 1968 kurz und bündig ausge­sprochen hat: »Wir haben entdeckt, daß wir, selbst nachdem wir die äußeren Ursachen des Unglücks beseitigt haben, keine glückliche Gesellschaft schaffen.«

Die Unzufriedenheit mit der Welt, so wie sie ist, wird besonders stark von den Jungen empfunden, die sich zum erstenmal mit der Realität konfrontiert sehen und feststellen, daß das wirkliche Leben so weit hinter ihren großzügigen Idealen zurückbleibt. Margaret Mead zitiert einen Aufsatz von Shannon Dixon, einem fünfzehnjährigen Jungen aus Texas:

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»Wir sehen die Welt als ein riesiges Gepolter, während sie mit Kriegen, Armut, Vorurteilen und dem Mangel an Verständnis zwischen Menschen und Nationen vorbeizieht. Dann halten wir inne und denken: Es muß einen besseren Weg geben, und wir müssen ihn finden.« 

Er hat das Gefühl, daß die gegenwärtige Generation »fast wie eine Maschine verwendet wird«, und zwar in dem Sinn, daß sie geschult wird, in die Fußtapfen der älteren Generation zu treten. 

»Aber warum? Wenn wir eine Generation der Wiederholung sein sollen, wird die Situation noch schlimmer werden. Aber wie sollen wir uns ändern? Wir brauchen viel Liebe für jedermann, wir brauchen ein weltweites Verstehen unter den Menschen, wir müssen an uns selbst denken und unsere Gefühle ausdrücken, aber das ist noch nicht alles. Ich muß erst entdecken, was wir sonst noch brauchen...« 

Und er setzt hinzu: »Die Antwort ist irgendwo da draußen. Wir müssen danach suchen!«

Dixon sieht, wie Margaret Mead hervorhebt, daß die Zukunft nicht lediglich eine Ausdehnung der Vergangenheit sein kann und darf: Was nötig ist, ist ein radikales Umdenken des gesamten Systems.

 

In seinem Buch <The Meaning of the Twentieth Century> (Die Bedeutung des 20. Jahrhunderts) argumentiert Professor Kenneth Boulding, Präsident der amerikanischen <Wirtschaftlichen Gesellschaft>, daß es historische Unterbrechungen gibt, die er <Systembrüche> nennt — Augenblicke, in denen der »Beutel durchgeschüttelt und sein Inhalt neu angeordnet wird«. Das Ende des Mittelalters war offensichtlich so ein Augenblick, der Beginn der industriellen Revolution ein anderer. Wir befinden uns zweifellos weltweit in einer derartigen Phase, um das Jahr 2000 werden wir uns wahrscheinlich sicher in das neue Schema eingefügt haben. 

Mein Ziel in diesem Buch ist es nun, die Kräfte zu identifizieren, die den <Systembruch> verursachen, und den Prozeß der Wiederanpassung zu beschleunigen, indem ich das Schema definiere, auf das wir uns zubewegen.

Eine Neuüberprüfung der Grundannahmen ist auf vielen Gebieten im Gang — dem innenpolitischen, wirtschaft­lichen, industriellen, politischen und religiösen. Die westliche Welt ist in einem massiven Umdenken begriffen, das sich unweigerlich als Wendepunkt in ihrer Entwicklung erweisen muß. (Auch die Dritte Welt steckt in einer gewaltigen Neuanpassung, obwohl ihre Probleme konträr zu denen des Westens sind.)


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Die Beschaffenheit des Gesamtproblems ist jedoch immer noch mangelhaft definiert. Das Gebiet ist voll von unklaren verworrenen Klischees. Was meinen die Menschen beispielsweise, wenn sie eine <Veränderung der Werte> fordern?

Man kann den Prozeß, den wir durchleben, in Begriffen des Wandels der gesellschaftlichen Ziele betrachten. Das, was ich die <Alte Linie> nennen werde, legte das Gewicht auf harte Arbeit und Selbstbeherrschung, als Lohn bot sie materielle Befriedigung. Weithin als protestantische Arbeitsethik bekannt, wurde sie wahrscheinlich in Amerika stärker als anderswo — vielleicht mit der Ausnahme Japans — vertreten; sie erklärt auch den materiellen Wohlstand dieser Länder. Was ich hingegen die <Neue Linie> nennen werde, wird erst allmählich klar, sie scheint jedoch auf einer Vision des Menschen zu basieren, der all seine Möglichkeiten nutzt. 

Materielle Fülle wird als gegeben vorausgesetzt, statt harter Arbeit werden angenehme und lockende Aufgaben erwartet, an Stelle der Selbstbeherrschung tritt Selbsterfüllung. Es gibt auch eine Perversion der Neuen Linie, die man die <Seitenlinie> nennen könnte: in ihr wird die Selbsterfüllung zu fortdauerndem Nachgeben gegen sich selbst, und die Unzufriedenheit mit der Welt, wie sie ist, äußert sich in destruktiven Aktionen und Zynismus statt in Selbstentwicklung und einem <Sich-Stellen> gegenüber den Herausforderungen.

Im Ganzen gesehen ist es die Jugend, die für die Neue Linie und die Seitenlinie eintritt, während die Alten bei der Alten Linie bleiben. Es gibt aber auch ältere Menschen, die das Licht sehen, ich werde also nicht von den Jungen und den Alten sprechen, sondern von den Anhängern der Neuen und solchen der Alten Linie.

Es überrascht keineswegs, daß die neue <Moral der Fülle> sich zuerst im wohlhabenden Mittelstand entwickelt hat, bei denen also, die immer in einem ausreichenden materiellen Wohlstand lebten. Es gibt immer noch viele Menschen, die einen derartigen ausreichenden Wohlstand nicht besitzen, aber ihre Zahl nimmt dauernd ab, besonders in Ländern, die teilweise oder voll sozialdemokratisch sind. Es ist bezeichnend, daß sogar in den weniger privilegierten (aber nicht in den sehr unterprivilegierten) Sektoren Anzeichen für einen Gesinnungswandel auftauchen.


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Wenn ein Bergmann am Montagmorgen im Bett bleibt und den Lohn für die Schicht verliert, hat er ganz deutlich die Muße an Stelle von materiellen Gütern gewählt. Sogar in den Vereinigten Staaten hat es Streiks nicht für Geld, sondern für eine leichtere und interessantere Art von Arbeit gegeben. Dr. Arnold Mitchell vom Stanford-Forschungsinstitut in Palo Alto, Kalifornien, ist für die jungen Soziologen typisch, die diesen Trend begriffen haben. »Der Kernpunkt ist einfach«, sagt er, »so viele von uns haben es in materiellen Begriffen <geschafft>, daß wir für einen Wandel bereit sind. ... Wir sehen allmählich, daß unsere alten Ziele des Wohlstands nur eine Wegstation an der Straße zu einer höheren Auffassung der Menschen sind.« 

Bertrand de Jouvenel, der französische Wirtschaftler und Diplomat, drückt die gleiche Auffassung noch eleganter aus, wenn er sagt: »Ich verstehe es so, daß es unsere Sorge ist, unsere Nachkommen in Umstände zu versetzen, die zur Blüte von la pianta uomo führen, dem Ausdruck des Dichters Alfieri entsprechend, der deutlich auf die zweifachen Ziele des Wohlstands und der Qualität hinweist...«

Während die jüngere Generation ihre Unzufriedenheit durch Rebellion oder durch <Ausfallen> ausdrückt, scheint die ältere, die den traditionellen Lebensstilen zu sehr verhaftet ist, um auf diese relativ nichtfrustrierende Art zu reagieren, unter akuter Frustration und Gefühlen der Angst zu leiden. Als der Staatliche Gesundheitsdienst der USA vor kurzem eine Untersuchung bei 6672 Erwachsenen durchführte, sagten fast 60 Prozent, sie seien »zappelig und manchmal so angespannt, daß es sie beunruhigte«. Des weiteren hatten 4,9 Prozent einen nervösen Zusammenbruch erlebt und 12,8 Prozent fühlten, daß ein solcher nahe bevorstehe. Daraus folgt, daß zwanzig Millionen Erwachsene, ungefähr jeder sechste der Gesamtbevölkerung, unter <ernstem psychologischem Streß> leidet. (Ich werde mich gleich noch mit einigen anderen Anzeichen von Streß in unserer Gesellschaft, wie Alkoholismus und Selbstmord, befassen.)


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Selbst die, die ruhig bleiben, fühlen sich hinsichtlich der Situation nicht entspannt. Viele haben das Gefühl, daß gewisse unbestimmt definierte menschliche Werte als direkte Folge des Stresses durch den technologischen Fortschritt verlorengehen; sie sind in tiefer Sorge hinsichtlich der Richtung, die die westliche Zivilisation eingeschlagen hat. Dutzende von Büchern wurden veröffentlicht, die diesen Trend beklagen; Romanautoren schildern die unschöne Zukunft, auf die wir erbarmungslos zutreiben. Derartige Proteste haben aber nur wenig Wirkung. Tatsächlich fühlen sich viele Menschen hilflos, wie im Griff namenloser Mächte. Wie ein Raumschiff, das nicht in die Umlaufbahn gelangt ist, scheint die Welt in einem Kurs gefangen zu sein, aus dem sie nicht entkommen kann — und ist vielleicht wie das Raumschiff zum Untergang verdammt.

All das steht in völligem Gegensatz zu den Erwartungen, die zu Beginn unseres Jahrhunderts vorherrschten und, wenigstens in den USA, bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs Bestand hatten. (In Europa regten sich die Zweifel bereits früher.) In den Zukunftsvisionen eines H. G. Wells führen vernünftige, mäßige, vernünftig gekleidete Menschen ein vernünftiges, gemäßigtes, zivilisiertes Leben. Das Verbrechen ist fast unbekannt. Nach den Flugschriften der Fabian-Sozialisten stehlen Menschen nur, weil sie verzweifelt Nahrung und andere Lebensnotwendigkeiten brauchen; wenn sie vor der Armut gesichert sind, werden die Menschen nicht mehr stehlen. Heute haben wir jedoch gelernt, daß es im allgemeinen der wohlhabende Mittelstand ist, der die wildesten und antisozialsten Charaktere hervorbringt, und daß Diebstahl bei den Gutgenährten häufiger ist als bei den Hungrigen.

Wir sehen uns daher mit einem zweifachen Problem konfrontiert: Was war einerseits der Fehler in den Argumenten, die den materiellen Fortschritt mit Fortschritten in der Zufriedenheit verknüpfen?* Und gibt es andererseits, wenn die bestehende Gesellschaft nicht befriedigend ist, eine andere Gesellschaftsform, die befriedigender wäre? Könnten wir eine Gesellschaft nach einem anderen Plan modifizieren oder rekonstruieren, die — selbst wenn sie nicht vollkommen ist — doch besser wäre als die gegenwärtige?

 * Seltsamerweise haben wir keinen umfassenden Ausdruck für nicht-materielle Zufriedenheit, wenn man von dem fragwürdigen Begriff <Glück> absieht.


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Offensichtlich ist das eine Frage von hervorragender Bedeutung; es ist daher seltsam, daß sie in unserem Jahrhundert nicht viel diskutiert wurde und nicht in das Erziehungsprogramm aufgenommen wurde. Rebellen können daher auf nichts anderem aufbauen, als auf den Schlüssen von Sozialtheoretikern des neunzehnten Jahrhunderts wie Proudhon, Kropotkin, Landauer und natürlich der Dreieinigkeit Marx—Engels—Lenin. Diese frühen amateurhaften Spekulationen dienten, wie die Spekulationen der Anthropologen des neunzehnten Jahrhunderts, einem Zweck, indem sie das Thema aufschlossen und das Beste darboten, was zu dieser Zeit zu bieten war: seither haben wir aber nahezu ein Jahrhundert Arbeit in den Sozial- und Lebenswissenschaften geleistet und können zuverlässigere Ergebnisse erwarten. Obwohl sich diese Wissenschaften im Vergleich mit den Naturwissenschaften noch in einem frühen Entwicklungs­stadium befinden, hat man doch so viel gelernt, daß der größte Teil der politischen Philosophie des neunzehnten Jahrhunderts veraltet ist.

Daher will ich mich in diesem Buch auf die Feststellungen der Sozialwissenschaften stützen, um zu einigen Schlüssen über die Art von Gesellschaft zu gelangen, auf die wir abzielen sollten; das wird uns zu einer Betrachtung der komplizierten Probleme führen, wie eine neue Art von Gesellschaft geschaffen werden könnte.

In dieser Hinsicht stehen wir an einem außergewöhnlichen Punkt in der gesellschaftlichen Entwicklung des Menschen. Wir sind allmählich — wirklich zum erstenmal — in der Lage, bewußt den Lebensstil zu entwerfen, in dem wir unserer Meinung nach leben sollten, statt eine Gesellschaft akzeptieren zu müssen, wie wir sie vorfinden.* Daher sprechen Menschen von den Kommunen und den experimentellen Schemata des Lebens als beabsichtigten Gesellschaften — im Gegensatz zu den unbeabsichtigt erreichten Gesellschaften, die die Welt in der Vergangenheit erlebt hat.

* Sicher: die Sozialisten beabsichtigen, die Gesellschaft zu modifizieren, sie waren dabei aber nicht erfolgreicher als die Konservativen beim Vermeiden der Frustrationen und der tiefverwurzelten Unzufriedenheiten, die die kapitalistischen Gesellschaften befallen; in mancher Hinsicht waren sie sogar noch weniger erfolgreich. Ihre Analyse des Problems war zu eng wirtschaftlich gefaßt und verspottete die psychologischen Realitäten; sie behandelten den Menschen mehr als ökonomische Einheit denn als menschliches Wesen.


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Tatsächlich ist, das muß betont werden, die Planung beabsichtigter Gesellschaften nicht ganz so neu, wie viele der Beteiligten (in ihrer Unkenntnis der Geschichte) denken. Im Prolog erwähnte ich eine Anzahl freizügiger und kommunalistischer Gruppen, die im späten Mittelalter und im siebzehnten Jahrhundert entstanden sind. Das neunzehnte Jahrhundert erlebte eine Welle solcher Experimente, die zumeist fehlschlugen, wie die Kooperativen, die Robert Owen in Schottland und Indiana gründete, oder die Icaria-Gemeinde Cabets. Derartige Gemeinden hatten aber nur dort Bestand, wo sie von einer starken religiösen Überzeugung motiviert wurden, wie bei den Hutteriten; wir werden später die Gründe für diese Fehlschläge noch sehen.

Mein Aktionsplan wird also sein, zuerst die gegenwärtigen und vergangenen Gesellschaften zu betrachten, um festzustellen, was die möglichen Schemata des gesellschaftlichen Verhaltens sind — und auch um zu entdecken, wie der soziale Wandel tatsächlich stattfindet — denn die Gesellschaft besitzt eine eigene Dynamik, und es kann sehr wohl nutzlos sein, sich nach einem Lebensschema zu sehnen, wenn uns die Gesellschaft erbarmungslos zu einem anderen mitreißt. Wenn wir die Dynamik des sozialen Wandels nicht verstehen, wenn wir die Hebel nicht entdecken können, die uns befähigen, sie zu kontrollieren, werden unsere Anstrengungen wahrscheinlich vergeudet sein.

Zweitens schlage ich vor, unsere eigene Gesellschaft im Licht dieser Feststellungen zu betrachten, um zu definieren, welche Anpassungen sie nötig zu haben scheint. (Das wünschenswert erscheinende Schema bezeichne ich als paraprimitive Gesellschaft.) Schließlich werde ich überlegen, wie die nötigen Änderungen herbeigeführt werden könnten. Ich werde beweisen, daß sie nur dann möglich sind, wenn man die Menschen ändert, daß politische Lösungen immer fehlschlagen, wenn sie nicht auf persönlichen Vorlieben und Bedürfnissen beruhen. 

Unsere bestehenden politischen Institutionen sind mindestens um ein Jahrhundert veraltet. Wenigstens ein Teil der Frustrationen, die die Menschen heute empfinden, stammt daher, daß sie in Lebensstile gezwungen werden, die ihnen nicht angemessen sind. Der Möchtegernmystiker, der gezwungen wird, Bankangestellter zu werden, ist genauso frustriert, wie das ein geborener Bankangestellter wäre, den man zwingt, Mystiker zu werden. Obwohl es aber viel vages Gerede über Lebensstile gibt, haben sich nur wenige die Mühe gemacht, die Idee zu analysieren. Ich möchte sie präzisieren.


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   2  Was sind Lebensstile?  

 

Wovon wir in Wirklichkeit sprechen, sind vorherrschende menschliche Vorlieben; von diesen gibt es aber nur etwa ein Dutzend, obwohl man, da viele verschiedene Beimischungen existieren, möglicherweise auch sagen könnte, daß es zahllose Lebensstile gibt. Nehmen wir als Beispiel das Leben des Dienstes für andere, das Leben, das sich auf das Bearbeiten von Material gründet, und das intellektuelle Leben.* Praktische Fälle sind dafür die Krankenschwester, der Handwerker und der Gelehrte. Es gibt aber auch Vermischungen — beispielsweise der Arzt, dessen Leben den Dienst mit einer beträchtlichen intellektuellen Komponente vereinigt, während der Chirurg den Dienst mit der Geschicklichkeit der Hände verbindet.

Jede Vorliebe wird durch den Besitz einer besonderen menschlichen Fähigkeit diktiert und zwar dank der Tatsache, daß die meisten Menschen mit Vorliebe das tun, worin sie gut sind. Der Gelehrte nützt seine intellektuellen Fähigkeiten aus, der Handwerker sein Geschick und der Hedonist seine Sinne. Bei einigen Menschen herrscht das Bedürfnis vor, in Kontakt mit der Natur zu bleiben, und so werden sie Bauern oder Forstleute; auch das ist, wie wir noch sehen werden, ein menschliches Grundcharakteristikum.

* Andere Beispiele sind das Leben der Aktion, der sozialen Kontakte, der Intrige (die Manipulation von Menschen), der Schöpfung (Dichter, Maler), der Betrachtung (der Mystiker oder Mönch) und des Zigeuners, des Abenteurers und des Unterhalters. Ferner gibt es Hedonisten und diejenigen mit neurotischen Forderungen.


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Wenn man die Frage stellt, ob einer dieser Lebensstile besser ist als jeder andere, muß die endgültige Antwort, wie ich glaube, lauten, daß der ideale Lebensstil einen Ausgleich aller Komponenten einbezieht. Der Gelehrte, der ein ausgezeichnetes Gehirn besitzt, aber emotionell eingefroren oder körperlich ungeschickt ist, verliert in der Folge etwas. Der Mann der Tat, der nie etwas schafft, muß sich schließlich einmal fragen, ob seine Aktionen wirklich die Mühe wert sind. Die Menschen sind jedoch, was sie sind, und müssen im großen und ganzen ihre <eingebauten> Begrenzungen hinnehmen. Vom sozialen Standpunkt aus mag eine derartige Spezialisierung der Funktion sogar wünschenswert erscheinen. Die Gesellschaft braucht Beiträge in allen möglichen Sphären.

Probleme tauchen auf, wenn die Gesellschaft einen Bereich von Wahlmöglichkeiten bietet, der sich von dem Bereich unterscheidet, den ihre Mitglieder fordern — und gerade das geschieht heute. Die westliche Gesellschaft kann keine Plätze im numerischen Verhältnis zu der Zahl der Menschen in jeder Gruppe bieten. So bietet sie mehr Plätze für die Manipulation von Menschen und Materialien, als es Menschen gibt, um sie auszufüllen — denn es gibt Kapazitäten, die von Handel und Industrie gebraucht werden. Sie bietet zu wenig Möglichkeiten in den emotionellen und schöpferischen Bereichen. Sie bietet auch zu wenig Gelegenheiten für Dienstleistungen, zu wenige für die Kontemplation. Andererseits hat sie damit angefangen, zu viele Plätze zu bieten, die hohe Intelligenz kombiniert mit praktischen Fähigkeiten fordern.

Andere Plätze bietet sie überhaupt nicht: beispielsweise für den Zigeuner und den Abenteurer. Die Menschen, die ein Nomadenleben vorziehen, fügen sich nicht leicht in eine Gesellschaft ein, wo jedermann etikettiert ist, wo Steuern zu zahlen sind, wo es ein Sozialversicherungssystem gibt, das auf der Annahme eines festen Wohnsitzes und eines bekannten Einkommens basiert und so weiter — und das ist der Grund, warum die Zigeuner in den europäischen Ländern ein Problem darstellen. Der Mann, der das Stimulans der Gefahr braucht, der dem Unbekannten trotzen will, kann immer weniger Unbekanntes finden, dem er sich stellen könnte. Abgesehen vom Krieg ist das einzige gefährliche Abenteuer, für das die Gesellschaft Freiwillige auf der Basis der Vollbeschäftigung benötigt, die Weltraumfahrt, und diese Möglichkeit steht offensichtlich nur sehr wenigen Menschen offen.


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Wenn der Abenteuersucher in Gefahr gerät, fühlt sich die Gesellschaft verpflichtet, ihn vor der Gefahr zu beschützen. Bergpfade sind mit Wegweisern versehen, Steilwände werden eingezäunt, es gibt Schutzhütten, Rettungsmannschaften stehen bereit, bis die Gefahr beseitigt und der Spaß an ihr verschwunden ist. Für den nicht abenteuerlichen Menschen, besonders den Bürokraten, scheinen diese unerwünschten Vorsichts­maßnahmen nur gesunder Menschenverstand zu sein — so wenig können die zwei Typen einander verstehen.

Warum versagt unsere Gesellschaft also darin, den Bereich von Möglichkeiten zu bieten, den die Menschen wünschen? Ich glaube, es geht hier um drei Faktoren. Erstens gibt es keinen natürlichen Ausgleich zwischen dem, was die Natur erfordert und was die Individuen wollen. Viele Menschen konsumieren gern Waren, aber nicht jedermann stellt gern Waren her. Mehr Menschen möchten Schauspieler werden, als die Theater- und Kinobesucher sehen wollen. (Dieser fehlende Ausgleich wird noch mehr gestört, wenn eine Erfindung, in diesem Fall der Film, es einer kleineren Zahl von Schauspielern ermöglicht, sich einem viel größeren Publikum zu präsentieren.)

Trotzdem sucht die Gesellschaft sich den Bedürfnissen ihrer Mitglieder anzupassen: wenn die Menschen sich beispielsweise fürs Tanzen interessieren, werden Gelegenheiten und Örtlichkeiten für diesen Zweck geschaffen. Schwierigkeiten gibt es, wenn sich die Interessen der Menschen verlagern — und das eben geschieht heute. Weniger Menschen interessieren sich für die Möglichkeiten, die von Handel und Industrie angeboten werden. Mehr Menschen wollen Modefotografen, Mystiker und so weiter werden. Mehr Menschen wollen Land bestellen und das zu einer Zeit, in der die Technologie die Zahl der Menschen reduziert hat, die nötig sind, um eine gegebene Menge Lebensmittel zu erzeugen.

So erhebt sich die Frage: Warum haben sich die Interessen der Menschen verlagert?

Die Antwort lautet, daß es einen Wandel in der Persönlich­keits­norm gegeben hat — dem, was den Anthropologen als die modale Persönlichkeitsstruktur bekannt ist. Die Gesellschaften legen einen gewissen Stil oder Ethos an den Tag, der die Vorlieben der meisten ihrer Angehörigen spiegelt.


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So war die viktorianische Gesellschaft zugunsten der Selbstbeherrschung und gegen die Spontaneität eingenommen, weil die meisten Angehörigen der viktorianischen Gesellschaft so empfanden. Hingabe und Eifer wurden belohnt, orgiastisches Verhalten mit Strafe belegt. Es war eine gute Zeit für einen Soldaten oder einen Geschäftsmann, aber eine schlechte für einen Maler oder Sonnenanbeter. 

Heute hat sich die Norm der Persönlichkeitsstruktur gewandelt, die Gesellschaft hat sich aber dem Wandel noch nicht angepaßt. Sie versucht es zu tun, aber der Prozeß vollzieht sich nur langsam. Institutionen sind nur schwer zu ändern. Die Leute zollen gewissen Werten und Verhaltensschemata noch Lippenbekenntnisse, lange nachdem diese aufgehört haben, für sie wesentlich zu sein. Diese zeitliche Verzögerung ist die Hauptquelle unserer heutigen Unruhe.

Darüber hinaus liegt meistens die Macht in einer Gesellschaft wie der unseren in den Händen von Menschen einer beschränkten Zahl von Persönlichkeits­typen; diese neigen natürlich dazu, die Institutionen und Schemata zu erhalten, die sie schätzen. Die politischen und wirtschaftlichen Systeme sind unwirksame Mechanismen, um die Vorlieben von Menschen völlig verschiedener Anschauungen zum Ausdruck zu bringen. Wirtschafts­wissenschaftler sagen uns, daß der Preismechanismus es den Menschen ermöglicht, ihre Vorliebe für besondere Waren oder Dienstleistungen auszudrücken, doch übersehen sie dabei, daß er nicht den Wunsch, Mystiker oder Bauer zu werden, erfüllen kann. Politologen nehmen an, daß ein Wahlsystem den Menschen ermöglicht, ihre Vorlieben auszudrücken, auf die das Wirtschaftssystem nicht reagieren kann — wie kann man aber für mehr Abenteuer oder für ein kontemplatives Leben abstimmen?

Wirtschaft und Politik sind sicherlich mit Fehlern behaftet, aber das wirkliche Problem liegt anderswo. Der Wandel, den unsere Gesellschaft zu vollziehen versucht, macht Anpassungen nicht lediglich in unseren politischen und wirtschaftlichen Institutionen nötig, sondern in dem Verhalten der Individuen im allgemeinen und in den Ideen, die sie beseelen. Wenn wir neue Lebensstile festsetzen wollen, müssen wir fragen: Warum nehmen Gesellschaften besondere Wertsysteme an, und wie können sie geändert werden? 


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Wir werden uns mehr mit der Psychologie der Persönlichkeit als mit Politik und Wirtschaft befassen müssen, und in den nächsten zwei Kapiteln werde ich dieser Richtung folgen. Ich werde fragen, was die Menschen sind, was sie sein könnten und was sie sein sollten. Vor allem werde ich zu zeigen versuchen, warum sich die Grundstruktur der Persönlichkeit unserer Gesellschaft in jüngster Zeit gewandelt hat.

Damit sind wir etwas von der anfänglichen Problemstellung abgewichen. Wir dürfen nicht einfach in Begriffen denken, die Gesellschaft den Menschen anzupassen, noch in solchen, die Menschen der Gesellschaft anzupassen, was dazu führen würde, daß zu viele Menschen frustriert wären. Wir müssen einen Kompromiß schließen. So werden wir zu der Vorstellung gelangen, daß die Verteilung der Persönlichkeitstypen in einer Gesellschaft pathologisch oder zumindest abnormal sein kann. Wie weit können wir im Lauf der Zeit die modale Persönlichkeitsstruktur in ein normaleres Schema verlagern, so daß sie dann leichter Befriedigung finden kann?

Wenn eine Gesellschaft Sadisten umfaßt, wird es eine Forderung nach Institutionen geben, die den Sadismus gewähren lassen. Natürlich ist es selbstverständlich, daß es in einer derartigen Situation nicht unser Kurs sein kann, solche Institutionen zu schaffen, sondern daß wir die Bildung sadistischer Persönlichkeiten verhindern müssen. Kurz gesagt, wir dürfen nicht einfach in Begriffen denken, die Gesellschaft den Forderungen anzupassen, die ihr die Menschen stellen — und so denken heute die meisten Menschen — wir müssen in Begriffen denken, die geistige Gesundheit zu verbessern, gesunde Persönlichkeiten zu schaffen und ihnen dann die sozialen Institutionen anzupassen. Eine gesunde Gesellschaft ist die Widerspiegelung einer gesunden Persönlichkeit.

Gleichzeitig trifft es vollkommen zu, daß Sadisten oder andere Typen der Persönlichkeitsverzerrung (großenteils oder völlig) von sozialen Erfahrungen geschaffen werden, so daß wir das Eintreten solcher Erfahrungen verhindern müssen. Der entscheidende Punkt ist, daß man diese richtunggebenden Erfahrungen identifiziert. 


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Das Wechselspiel von Persönlichkeit und Gesellschaft ist das zentrale Thema meines Buches, ich nenne es den psychosozialen Nexus. (Ich gebe zu, das ist Fachjargon, aber <Fallstromvergaser> ist auch einer — technische Dinge machen eben technische Beschreibungen nötig.) In der Vergangenheit war es üblich, die Fehler der Gesellschaft den Fehlern von Individuen anzulasten. Heute hat das Pendel zum anderen Extrem ausgeschlagen, und wir neigen dazu, der Gesellschaft die Schuld zuzuschreiben, sie verderbe oder verzerre Individuen. Jede dieser Ansichten ist unvollkommen: die Wahrheit besteht in einer Synthese der beiden.

  

   3 Dimensionen des Elends   

 

Bücher werden hauptsächlich von den besser gestellten Mitgliedern der Gesellschaft gekauft; die Leser dieses Buches mögen es daher schwierig finden, sich das Ausmaß von Frustration, Langeweile, Einsamkeit und Verzweiflung vorzustellen, die viele Mitglieder der Gesellschaft quälen

Es ist schwer, sich an die Stelle einer freundlosen Frau zu versetzen, die in einem Wohnschlafzimmer lebt, eines Arbeiters in der Serienherstellung, der beispiels­weise unaufhörlich Schachteln einwickelt, des Bewohners eines Altersheims oder gar eines jungen Mannes in den Wehen der Pubertät und des Übergangs zur Mannbarkeit. Daher ist es durchaus die Mühe wert, sich einige der Statistiken genau anzusehen, denn es ist ein erster Schritt zum Verständnis der Situation, wenn man die Existenz dieser Geisteszustände erkennt.

 

In Großbritannien beispielsweise machen alljährlich schätzungsweise 50.000 Menschen einen Selbstmord­versuch; das heißt, daß im Verlauf meines eigenen Lebens 3 Millionen Versuche unternommen wurden, und diese Zahl steigt — vielleicht jährlich um zehn Prozent —  noch weiter an. Professor E. Stengel hat geschätzt, daß eine halbe Million Menschen, die jetzt in Großbritannien leben, bereits versucht haben, sich das Leben zu nehmen. A. W. Stearns, der eine Serie von 167 Selbstmordversuchen studierte, die in ein allgemeines Krankenhaus aufgenommen wurden, stellte fest, daß zwei Drittel finanziell gut gestellt waren und nur vierzehn Prozent sich in einer wirtschaftlichen Misere befanden.


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In den USA jedoch, dieser großen Industriegesellschaft mit ihrem hohen Lebensstandard, ist die Selbstmord­quote etwa dreimal so hoch wie in Großbritannien. Das deutet darauf hin, daß jeden Tag in den USA etwa 1500 Menschen einen Selbstmordversuch unternehmen, eine Tatsache, über die man nachdenken sollte.*

Wenn Menschen gelangweilt und unglücklich sind oder wenn ihr Leben leer ist, greifen sie zum Alkohol, um ihre Sorgen abzustumpfen. In den USA hat man die Gefahr des Alkoholismus sehr wohl begriffen, in Großbritannien ist das Problem bis in jüngster Zeit weitgehend ignoriert worden. Jetzt hat man erkannt, daß es weit ernster ist, als angenommen wurde: Die Weltgesundheitsorganisation schätzt, daß es in Großbritannien 350.000 Alkoholiker gibt — also etwa einen unter je 100 Erwachsenen. 

In den USA beträgt die Quote mehr als das Vierfache davon und in Frankreich das Fünffache. Bestrafungen wegen Trunkenheit liefern einige Hinweise, obwohl keineswegs alle Betrunkenen Alkoholiker sind. In Großbritannien sind sie von 20.000 im Jahre 1946 auf über 68.000 im Jahr 1960 angestiegen — also eine Zunahme um 250 Prozent in vierzehn Jahren.

Es ist richtig, daß ein Alkoholiker ein Mensch mit entschiedenen Persönlichkeitsdefekten ist (wie Howard Jones 1963 in seinem Alcohol Addiction nachgewiesen hat). In gleichem Maß aber standen diese Menschen auch unter besonderem Streß. Ich möchte mich hier nicht mit einer Untersuchung über die Ursachen von Alkoholismus befassen, ich will nur die Existenz des Unglücks festhalten.

Die vielleicht erschöpfendste Studie geistiger Krankheiten außerhalb der Nervenkliniken ist die <Midtown-Studie>, in der zweitausend Menschen im Alter zwischen zwanzig und neunundfünfzig, die alle in einem Teil von Manhattan lebten, eingehend befragt und über einen Zeitraum von zehn Jahren getestet wurden. Zwei Psychiater nahmen unabhängige Beobachtungen der geistigen Gesundheit all dieser Menschen vor, ihre Feststellungen stimmten weitgehend mit den Testergebnissen überein.

* Während ich diese Zeilen schreibe, hat ein amerikanischer Arzt erklärt, die USA müßten sich kaum deswegen sorgen, da ihre Selbstmordquote nicht schlimmer sei als die anderer Nationen!


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Beide Untersuchungsmethoden ergaben, daß weniger als neunzehn Prozent der Untersuchten als geistig gesund bezeichnet werden konnten. Rund 40 Prozent waren leicht erkrankt, 20 Prozent mäßig und weitere 20 so ernstlich, daß ihre Funktionen gestört waren. Die Quoten nahmen mit steigendem Alter zu und waren am unteren Ende der sozioökonomischen Skala höher als am oberen. Des weiteren wurden über 70 Prozent als <unter gemischten Angstgefühlen leidend> eingestuft, und 4,6 Prozent waren Alkoholiker.

Die steigenden Quoten von Verbrechen und Gewalt deuten auch auf einen gewissen Grad von sozialer Pathologie.* Man versucht, die Zahlen dadurch abzutun, daß man sie Veränderungen in den Meldemethoden zuschreibt. Daß es aber im letzten Vierteljahrhundert eine Steigerung gegeben hat, ist nicht zu leugnen, während man doch nach den konventionellen Argumenten eine Abnahme hätte erwarten können. Besonders die Jugendkriminalität weist darauf hin, daß etwas nicht in Ordnung ist. In den USA landet ungefähr je eines von sechs Kindern vor den Schranken des Gerichts. Das ist schwerlich ein Grund zur Selbstgefälligkeit.

Diese Statistiken sind erschreckend. In primitiven Gesellschaften findet man nichts der Art — so wie auch Mord, Alkoholismus und Selbstmord keineswegs in dem gleichen Maßstab auftreten, außer vielleicht dort, wo sie sich unter der Einwirkung der westlichen Kultur zersetzen. Und doch behandeln wir diese Statistiken mit erstaunlicher Ruhe. Für die geistige Gesundheit wird weit weniger Geld ausgegeben als für die physische. Jede Gesellschaft, bei der ein Drittel der Bevölkerung geistig gestört ist, befindet sich in einem verzweifelten Zustand; sie sollte sich größte Mühe geben, den Grund dafür herauszufinden und etwas dagegen zu unternehmen.

*  In den ersten neun Monaten 1971 stiegen die Morde in New York um 30 Prozent (1067). Die Gewaltverbrechen in den USA nahmen in dem gleichen Zeitraum um 10 Prozent zu, sie lagen um 101 über dem Vorjahr (Zahlen des Justizministeriums). Die Zahl der britischen Strafgefangenen hat sich in zwanzig Jahren trotz gesteigerter Anwendung der Bewährung und des sogenannten Vermittlungssystems verdoppelt.


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Ist all dieses Unglück schlicht unvermeidlich, ist es sozusagen der psychologische Preis des Lebens? Nein: die Tatsache, daß die Quoten von Selbstmord, Alkoholismus und Geisteskrankheiten — vom Verbrechen ganz zu schweigen — in den verschiedenen Ländern stark differieren, beweist, daß soziale Kräfte am Werk sind und daß uns, wenn wir auch all dieses Elend nie völlig eliminieren können, doch eine beträchtliche Skala von Möglichkeiten offensteht. Jetzt heißt es, die komplizierten Wege, auf denen die sozialen Bedingungen den Individuen mehr oder weniger Streß auferlegen, zu erforschen. Ferner deutet die Tatsache, daß primitive Gesellschaften keine derartigen Anzeichen von Streß aufweisen, darauf, daß derartige Streß-Situationen das Produkt einer ungeeigneten Lebensweise sind.

Eine weitere Erklärung, die vorgebracht wurde, ist die, daß uns die Motivierungen ausgegangen sind. Hierin steckt ein Körnchen Wahrheit. Wenn ein Mann häufig friert und hungrig ist, hat er sehr starke Motive, sich ein Obdach zu bauen, sich Kleider zu machen und Nahrungsmittel anzubauen. Er fragt nicht nach dem Zweck des Lebens, sondern befaßt sich laufend mit den dringenden Notwendigkeiten. Wenn immer mehr seiner Forderungen erfüllt sind, verschafft jedes neue Unternehmen immer weniger Befriedigung und immer weniger das Gefühl einer Leistung, und er beginnt, sich nach weiteren Zielen umzusehen. Heute fragen sich viele Menschen: Wozu das alles? Und wenn sie hierauf keine Antwort finden, versinken sie leicht in Apathie und Verzweiflung.

Dieses Gefühl, daß der Zweck fehlt, ist bei denen besonders stark, die mit allem versorgt sind — heute vor allem die Jungen, womit ich jene meine, die noch nicht den Punkt erreicht haben, wo sie sich den Lebensunterhalt selbst verdienen müssen. Wenn sie damit beginnen, verschwindet etwas von ihrer Angst, Aber auch Erwachsene fangen an, nach mehr zu fragen, wenn und falls es ihnen gelungen ist, ihre materiellen Bedürfnisse zu sichern und ihre offensichtlicheren psychologischen Bedürfnisse zu befriedigen. Einige finden die Antwort dann im Dienst an anderen; einige in <Aufregung> oder in der Intensivierung von Stimuli; andere suchen auch durch Mittel wie Alkohol, Sex oder Rauschgift einen Ausweg aus der Langeweile.


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George E. Brown jr., ein ehemaliger Kongreßabgeordneter aus Kalifornien — dazu Ingenieur, Physiker und Bankier —, betrachtet das als das primäre Problem. In einem Aufsatz in Physics Today (Oktober 1971) zitiert er Robert Redfield, der einen großen Teil seines Lebens darauf verwandte, die Auswirkungen der Zivilisation auf primitive Gesellschaften zu studieren, und der in seinem Buch Peasant Society sagte: »Die Menschen entwickeln Wünsche, deren Befriedigung keine Befriedigung bringt.« 

Brown schlägt vor, daß wir versuchen sollten, das Verständnis des Universums zu unserem Motiv zu machen — und daß wir daher die Budgets für wissenschaftliche Forschung nicht kürzen, sondern stark erweitern sollten. Dieser Vorschlag entspricht genau einem Menschen, der zunächst als Physiker begann. Natürlich werden Wissenschaftler stark durch Neugier motiviert: das ist der Grund, warum sie Wissenschaftler werden. Der Mehrzahl der Menschen fehlt diese hartnäckige Art von Neugier, oder sie sind neugieriger hinsichtlich der Menschen als der Dinge. Als allgemeines Motiv für die gesamte Gesellschaft hat die Neugier, wie ich fürchte, wirklich keine Chance; nur ein Wissenschaftler wird sich einbilden, daß das richtig ist — und das wieder zeigt die Gefahr, die Dinge den Wissenschaftlern zu überlassen.

Das Bedürfnis für Sinn und Zweck ist jedoch, wie wir sehen werden, nur ein Teil des Problems. Ein weiterer Wissenschaftler-Ingenieur-Beamter, Jerome Wiesner, Direktor des Massachusetts Institute of Technologie, lieferte dem Kongreßausschuß für Wissenschaft und Astronautik eine andere Analyse: »... zur gleichen Zeit, in der die Technologie den Menschen emanzipiert, ihn von der Notwendigkeit befreit, den bloßen Lebensunterhalt wie ein Sklave mit Handarbeit zu erschuften, und ihm die Möglichkeit der Erfüllung als wahrhaft menschliches Wesen verspricht, droht sie, ihn noch vollständiger zu entmenschlichen als der oft ungleiche Kampf vergangener Zeiten. Das ist der Grund, warum sich so viele unserer Mitbürger so betrogen, so entfremdet fühlen.« Hier hat meiner Ansicht nach Wiesner das Problem richtig identifiziert, während die eigentliche Bedeutung des Wortes Entmenschlichung sehr unklar bleibt. In den folgenden Kapiteln will ich versuchen, dieses sehr komplizierte System von Elementen zu erforschen, die das <menschlich> ausmachen.

Ich hoffe, klar herausgestellt zu haben, daß meiner Meinung nach die jüngere Generation mit der Behauptung recht hat, mit unserer Gesellschaft sei etwas radikal in Unordnung. Daher möchte ich jetzt genauso klar herausstellen, daß sie das meiner Meinung nach aus dem falschen Grund tut, und daß ihre Auffassung von dem, was richtig ist, genauso unerwünscht wäre wie das, worüber sie sich beklagt.


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   4   Der Wendepunkt   

 

Als Odysseus und seine Männer Schiffbruch erlitten, machten sie zuerst ein Feuer aus Treibholz und kochten ein Mahl. Nachdem sie gegessen hatten, erinnerten sie sich ihrer ertrunkenen Gefährten und weinten.

 wikipedia  Odysseus 

Homers Bericht klingt wahr. Unsere physischen Bedürfnisse besitzen absoluten Vorrang vor unseren emotionellen Forderungen; wenn sie aber einmal befriedigt sind, rücken die tieferen Bedürfnisse unserer menschlichen Natur wieder an ihren Platz. Und was auf der persönlichen Skala geschieht, kann sich genauso auf der Weltskala ereignen. Die Industrienationen haben es jetzt, allgemein gesprochen, fertiggebracht, ihre Bürger mit Nahrung, Wohnung und Kleidung zu versorgen. Als Ergebnis davon werden sich diese Bürger jetzt anderer und subtilerer Bedürfnisse bewußt. Aber eine Gesellschaft, die auf die Produktion von Waren ausgerichtet ist, ist gerade eine Gesellschaft, die kaum in der Lage ist, psychologische Bedürfnisse zu befriedigen. Dieselben Prozesse, durch die wir so effektiv Güter herstellen, reduzieren in Wirklichkeit die psychologischen Befriedigungen. Je weiter wir daher von hier aus den technologischen Fortschritt vorantreiben, desto schlechter wird die psychologische Umwelt. Wir haben uns aus der physischen Armut herausgearbeitet, nur um in eine psychologische Armut zu fallen. In der Tat ist unser Zustand noch schlimmer als Armut, wir leben in einem psychologischen Slum.

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Kurz gesagt, in dem technologischen Wachstum eines jeden sozialen Organismus gibt es einen Wendepunkt, an dem die Anstrengungen von materiellen auf nichtmaterielle Bedürfnisse übertragen werden müssen. Diesen Punkt haben wir jetzt erreicht oder bereits überschritten. Das ist der Grund, warum wir unsere ganze gesellschaftliche Technik umdenken müssen. Wie können wir unsere psychologischen Bedürfnisse in einer technologisch fortgeschrittenen Gesellschaft befriedigen? Das ist die zentrale Frage.

Wenn psychologische Bedürfnisse nicht erfüllt werden, kann man sagen, daß die Menschen frustriert sind. Ihre Bemühungen, eine Art von psychologischer Befriedigung zu erlangen, sind vergeblich. (Das Wort <Frustration> kommt von dem lateinischen frustra = vergeblich.) Nun führt die Frustration, wie es die amerikanischen Psychologen Dollard und Miller vor einem Vierteljahrhundert bewiesen, zur Aggression. Wenn wir unser Ruder nicht reparieren können, möchten wir ihm am liebsten einen Tritt versetzen. (Natürlich ist über die Ursprünge der Aggression noch mehr zu sagen, und ich werde das später auch tun.) Kurz gesagt, die Existenz weitverbreiteter Frustration ist die Hauptursache für den wachsenden Zoll an Gewalt, den die Welt heute zahlen muß. Wenn also bewiesen werden kann, daß die Frustration durch die Industriegesellschaft und die Bedingungen verursacht wurde, die sie auferlegt, muß man die Gewalt als einen Preis der Produktion ansehen. Die Frustration ist der Preis für materiellen Wohlstand.

Daraus folgt auch, daß Alkoholismus, Selbstmorde, geistige Störungen und so weiter nicht dadurch beseitigt werden, daß man der psychiatrischen Fürsorge große Geldmittel zuweist. Sie werden nur reduziert werden, wenn man die Struktur und die Werte der Gesellschaft ändert.

Vor diesem Hintergrund muß man die Argumente sehen, wie wünschenswert wirtschaftliches Wachstum ist. Es genügt nicht, auf die Vorzüge eines Computers, eines Überschallflugzeugs oder einer Plastikhülle hinzuweisen. Es ist eine Frage des Abwägens der Vorteile gegen die psychologischen Kosten ihrer Produktion. Sicher, es ist sehr hübsch, wenn man einen Küchenmixer besitzt: wenn der Preis aber auch einschließt, daß man auf dem Heimweg überfallen wird, mag er zu hoch erscheinen. 


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Unglücklicherweise ist die Kette von Ursache und Wirkung ziemlich lang; viele Menschen können einfach nicht erkennen, welcher Zusammenhang zwischen dem Guten und dem Schlechten besteht. In einem späteren Kapitel werde ich zu beweisen versuchen, daß diese Verbindung existiert, indem ich die psychologischen Bedürfnisse des Menschen in einigen Einzelheiten definiere, um zu zeigen, wie die moderne Gesellschaft sie frustriert und was man dagegen unternehmen kann.

Unglücklicherweise gibt es in diesem System eine <Rückkopplung>. Wir können Güter gebrauchen, um nicht nur physische, sondern auch psychologische Bedürfnisse zu befriedigen — wie das beispielsweise der Fall ist, wenn wir Dinge erwerben, die wir an sich nicht wollen, sondern nur deshalb, weil sie Status verleihen. Die Industrie war bei der Erfüllung solcher Forderungen sehr großzügig, mit dem Resultat, daß ein circulus vitiosus entstanden ist. Je mehr uns die Industrie frustriert, desto mehr Güter kaufen wir in dem Versuch, unsere Frustration zu erleichtern. Eine derartige sinnlose Hartnäckigkeit ist den Psychologen als <Wiederholungszwang> (der gleichen Handlung) bekannt. Eine Ratte, die dafür belohnt wurde, daß sie an einem Fenster hochsprang, wird weiterhin springen, selbst wenn sie dafür einen elektrischen Schock erhält und selbst wenn das Futter an einem anderen Fenster zu erhalten ist. Wie die Ratte beharrt auch der Mensch und mit ihm die Verbrauchergesellschaft. Wie wir aber sehen werden, ist die Macht der Waren, psychologische Bedürfnisse zu befriedigen, ziemlich begrenzt.

Die Behauptung, daß die Industriegesellschaft viele ihrer Mitglieder bis zum Zusammenbruch frustriert, mag den glücklichen Ausnahmen nicht plausibel erscheinen: diese Ausnahmen sind hauptsächlich Angehörige der gehobenen Berufe, deren Arbeit ihre Fähigkeiten herausfordert, nicht monoton ist und ihnen etwas persönliche Freiheit und die Gelegenheit gewährt, ihre eigene Zeit zu planen und zu gestalten. Da das fast alle einschließt, die im weiten Sinn des Wortes intellektuelle Führer sind — Politiker, Journalisten, Wissenschaftler, Ärzte, Architekten, Musiker, Professoren, höhere Staatsbeamte und Industrieführer, um nur einige zu erwähnen —, wurde die frustrierende Natur der modernen Gesellschaft im allgemeinen ignoriert. Für sie ist die moderne Gesellschaft im großen und ganzen recht befriedigend. Wenn man ihnen sagt, daß sie die Bevölkerung in Verzweiflung treibt, glauben sie, diese Behauptung nicht ernst nehmen zu müssen.


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Wenn man gegen eine Politik der Gütermaximierung spricht, gibt es immer Menschen, die das fälschlich als Versuch auslegen, Privilegien zu erhalten. Warum sollten nicht die, die jetzt arm sind, die gleichen Privilegien haben — Ruderboote, Hausbars, Urlaub im Ausland — wie die Reichen?

Es ist natürlich wahr, daß es auch in der westlichen Welt Gebiete der Armut gibt, wo die Gütererzeugung den Wendepunkt noch nicht erreicht hat — das ist aber mehr der Ungleichheit der Verteilung als der Unfähigkeit zuzuschreiben, genug zu produzieren, wie man schon lange erkannt hat. Es ist nicht nötig, hier auf die verschiedenen Gründe für eine derartige Situation einzugehen. Nichts, was ich sage, sollte als Unterstellung aufgefaßt werden, daß die Probleme der Slums, der Unterernährung, gleicher Erziehungsmöglichkeiten und so weiter vernachlässigt werden könnten. Wenn eine Beschränkung oder ein Rückschritt der industriellen Produktion nötig ist — und später werde ich diesen Punkt diskutieren —, sollte das eindeutig nicht auf Kosten der Lebensnotwendigkeiten geschehen.*

* Wie Professor Galbraith nachgewiesen hat, ist die Armut in den Gesellschaften des Westens der bildungsmäßigen, rassischen und familiären Herkunft zuzuschreiben und nicht durch die Anhebung des Einkommensniveaus zu beseitigen.

  

     5 Die Suche nach Glück    

  

Wenn jemand die Idee vorbringt, man solle die Gesellschaft verbessern, gibt es immer einige Leute, die schreien: »Das ist Utopismus.« Heute sind wir hinsichtlich dieser Möglichkeit desillusioniert. Teilweise ist das schlichter Zynismus: wenn die Welt, so sagen sie, überhaupt verbessert werden muß, wird es durch ad-hoc-Bemühungen geschehen, spezifische Institutionen zu verbessern; Versuche, ganze Gesellschaften zu planen, sind fruchtlos, weil niemand genug über die Gesellschaft weiß, um das tun zu können. 

Und es ist in der Tat wahr, daß die Utopien der Vergangenheit — einschließlich der von Sir Thomas Moore — offensichtlich nicht ausführbar waren und es wahrscheinlich auf jeden Fall unbefriedigend gewesen wäre, in ihnen zu leben. Ich glaube, daß wir uns heute dem Thema mit mehr Zuversicht nähern können, weil wir viel mehr über die Beschaffenheit der Gesellschaft wissen.

Einige Menschen sind jedoch weniger zynisch als verzweifelt. Sie glauben nicht, daß in der Praxis eine Verbesserung der Situation möglich ist. Sie haben das Gefühl, daß die Kräfte, die das gegenwärtige System aufrecht­erhalten, zu stark sind, daß seine Trägheit zu groß ist, als daß eine Minderheit — es sei denn durch eine gewaltsame Revolution — es verändern könnte. Dieses Gefühl der Verzweiflung entsteht meiner Ansicht nach deshalb, weil die Menschen empfinden, daß der Mechanismus der Gesellschaft nicht analysiert und auch nicht analysierbar sei. Daher erscheint es unmöglich, sie zu kontrollieren. 

Ich hoffe beweisen zu können, daß diese Ansicht irrig ist.

Eine soziale Kontrolle ist zu erreichen und zwar ohne Versklavung durch eine Diktatur oder durch ein subtileres <Gedanken-kontroll>-System. Ich muß jedoch hinzufügen, daß wir herausfinden werden, daß solche Veränderungen, mit der menschlichen Lebensspanne verglichen, nicht schnell in die Tat umgesetzt werden können. Es dauert im besten Fall ein oder zwei Generationen. Für die Jungen, die ihr Utopia morgen oder spätestens übermorgen haben wollen, wird das nicht schnell genug sein, ich glaube aber, daß es das Beste ist, was wir erreichen können. Man kann einen Ozeandampfer nicht auf einer Strecke zum Halten bringen, die seiner eigenen Länge gleichkommt.

Man könnte auch einwenden, daß sich die Gesellschaft stetig verändert, so daß jede gegebene Lösung für das Problem, eine Gesellschaft zu planen, bestenfalls für eine Weile wirksam ist. Das ist meiner Ansicht nach richtig: es ist sinnlos, bei der Planung eines Gesellschaftssystems nach einer statischen Lösung zu suchen. Wenn wir aber den Mechanismus des sozialen Wandels verstehen, können wir einen Kurs aufzeichnen, selbst wenn wir das Sichten von Land nicht versprechen können. Wir können sehen, in welche Richtung wir uns von unserem Standort aus bewegen sollten. Wenn sich im Lauf der Zeit unsere Position ändert, wird es auch der Kurs, den wir festlegen müssen. Auch können wir zweckmäßig diskutieren, wie wir unsere Segel setzen müssen, um diesem Kurs folgen zu können. Kurz gesagt, wir können die Ziele und die Mittel diskutieren.


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Der Schrei vom Utopismus kommt in vielen Fällen aber von den Marxisten, die an einen anderen Einwand denken. 

Marx zufolge entwickelt sich die Geschichte unvermeidlich auf ein sozialistisches Utopia zu, der durchschnittliche Mensch braucht dem Prozeß also bloß ein wenig nachzuhelfen. Eine Zukunft zu planen, ist Zeitverschwendung, weil wir gar keine andere Wahl haben. Das sozialistische Utopia wird früher oder später kommen, ob wir es nun planen oder nicht. Um sicherzustellen, daß es früher kommt, müssen wir uns nur auf die Revolution konzentrieren.

Das ist der historische Ursprung der Behauptung heutiger Aktivisten, daß wir lediglich das bestehende System wegwerfen müssen und daß sich dann an seiner Stelle ein neues und besseres erheben wird. Unglücklicherweise zeigt die Geschichte, daß das ein verhängnisvoller Irrtum ist. Gewaltsame Revolutionen bringen starke autoritäre Gestalten an die Spitze, die die ursprünglichen Führer verdrängen und sich daran machen, durch Maßnahmen der Unterdrückung die Ordnung wiederherzustellen. So war es bei der russischen Revolution, die mit dem Ziel begann, selbstregierende Kommunen einzurichten, die in so vielen Worten den Begriff des zentralistischen Staates verwarf und doch damit endete, daß sie eine völlig zentralisierte Diktatur schuf. Daher ist es bei einer Veränderung der Gesellschaft lebenswichtig, den Pfad auszuarbeiten, dem wir folgen wollen. 

Es dem Gang der Ereignisse zu überlassen, wird eine Katastrophe garantieren; die Aktivisten stellen eine ernste Bedrohung für unsere Gesellschaft dar — nicht weil sie sie ändern wollen, sondern weil ihre Methoden sicherstellen, daß es eine Veränderung zum Schlechteren sein wird.

 

Wenn wir über die Erschaffung einer besseren, zufriedenstellenderen Gesellschaft sprechen, denken wir ganz unvermeidlich an eine glücklichere Gesellschaft. <Glücklich> ist ein umstrittenes Wort, und ich muß erklären, wie ich es anzuwenden beabsichtige. Es gibt einige Menschen, für die Glück tatsächlich unerwünscht ist: sie stellen sich eine Welt totaler Euphorie vor, in der nichts erreicht werden würde, weil niemand das Motiv besäße, etwas zu tun.


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Offensichtlich würde aber eine Welt, in der die Menschen nicht die nötigen Dienstleistungen zur Verfügung stellen, sehr schnell unglücklich werden. Auf jeden Fall ist es unwahrscheinlich, daß wir eine vollkommene Euphorie erreichen können. Gegenwärtig ist es jedoch eher so, daß viele Menschen ihres Unglücks wegen weniger effektiv funktionieren — wenn wir das Wort <Unglück> auf Frustration, Langeweile und Verzweiflung anwenden.

Eine andere Gruppe hält das Glück, außer als kurze Erfahrung, für unmöglich. Wenn ein langersehntes Ziel erreicht ist, gibt es für eine Weile einen Schein reiner Freude, wie etwa, wenn die Mutter einen lange vermißten Sohn zurückbekommt oder wenn ein Kaufmann ein verwickeltes Geschäft erfolgreich abschließt. Bald verblaßt der Glanz jedoch wieder, und wir beginnen mit frischen Plänen, setzen uns neue Ziele. Und wenn wir dann zurückschauen, sehen wir, daß viel von dem, was uns jetzt als Glück erscheint, in dem Kampf lag. Das Problem ist also, wie wir das meiste aus dem Kampf herausholen können.

Es ist unbefriedigend, wenn man einen Gegner bekämpft, der überwältigend besser ist als man selbst, und es ist ermüdend, gegen ein Kaninchen zu kämpfen, das wir ohne Mühe besiegen können. Nur der Kampf befriedigt, der die eigenen Fähigkeiten bis zu ihren Grenzen beansprucht. Aus diesem Grund segeln Männer in Segelbooten, erklettern hohe Berge und stellen sich anderen Herausforderungen — einschließlich solcher intellektueller Natur. Es ist die Aufgabe der Gesellschaft, eine weite Skala von Herausforderungen anzubieten, damit all ihre Mitglieder solche vorfinden, die ihren Fähigkeiten und ihrem Geschmack entsprechen.

Wenn diese Herausforderungen fehlen, empfinden wir Langeweile, wenn wir vor unmögliche gestellt werden, Frustration und Verzweiflung. In jedem Fall kann gesagt werden, daß wir unglücklich sind. Ich schlage dementsprechend vor, daß wir für den augenblicklichen Glanz das Wort <Freude> verwenden und das Wort <Glück> für den langfristigen Seelenzustand, der auf einer stetigen Leistung basiert.


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Man kann leicht sehen, wann Menschen glücklich sind: es zeigt sich in ihrem Gang und in ihrer Haltung, in der Vitalität und dem Rhythmus ihrer Bewegungen, in ihrem ganzen <Stil>. Wenn wir uns in einem beliebigen U-Bahnwaggon oder einem Bus umsehen, zeigt uns ein Blick, wie wenige Menschen in unserer Gesellschaft, und besonders in der großstädtischen Gesellschaft, glücklich sind.

Wie Professor Abraham Maslow in seinem anregenden Buch <Motivation and Personality> (Motivierung und Persönlichkeit) zwingend nachgewiesen hat, ist das grundsätzlichste aller Bedürfnisse das, die eigenen Möglichkeiten zu aktivieren. Meiner Ansicht nach hat bislang niemand versucht, abzumessen, wie weit Menschen eine solche Aktualisierung oder Selbsterfüllung erreichen. Zur Illustrierung griff Professor Maslow einige Zahlen aus der Luft, um anzudeuten, daß im Westen die meisten von uns zwar vielleicht zu 85 Prozent auf der physiologischen Ebene und vielleicht zu 50 Prozent in den emotionellen Bedürfnissen befriedigt sind, aber nur etwa zu 10 Prozent auf der Ebene der Selbstaktualisierung. Ich meinerseits werde zu beweisen versuchen, daß in vielen nichtindustrialisierten, <unzivilisierten> Ländern das Verhältnis umgekehrt ist — mit einem höheren Grad der Aktualisierung trotz einer niedrigeren Ebene der physiologischen Befriedigung.

Offensichtlich kann kein Gesellschaftssystem Menschen vor einem individuellen Verlust schützen — einem persönlichen Unfall oder einer Krankheit, dem Tod oder dem Verlust eines geliebten Menschen oder auch nur dem Fehlschlag eines Plans, der einem am Herzen liegt. Wenn wir die von den Anthropologen untersuchten Gesellschaften überschauen, können wir nichtsdestoweniger feststellen, daß einige glücklicher sind als andere. In einigen sind die Menschen im ganzen gesehen heiter, produktiv, freundlich und zufrieden, wie etwa in Samoa. In anderen ist das Gegenteil der Fall, wie bei den Dobus im Westpazifik, die in einem Zustand des dauernden Mißtrauens leben und ein freundliches Individuum für <schwach im Kopf> halten. 

So sind Variationen auf der allgemeinen Ebene des Glücks durchaus möglich. Und selbst wenn wir meinen, daß diese Welt nur eine Vorbereitung für eine bessere ist, muß es doch sicherlich wünschenswert sein, daß die Gesellschaft die Menschen für eine solche Vorbereitung freimacht und sie nicht so weit zermalmt oder frustriert, daß sie Selbstmord begehen oder zu trinken anfangen, statt sich auf die zukünftige Welt vorzubereiten.

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Was ich aber in erster Linie herausstellen möchte, ist die Tatsache, daß die Suche nach dem Glück nicht, wie man allgemein angenommen hat, eine individuelle Aufgabe ist. Tatsache ist, daß einige Gesellschaften das Erreichen der Erfüllung viel schwerer machen als andere. Gesellschaften liefern Strukturen, die sehr wohl geeignet sind, menschliche ehrgeizige Bestrebungen zu erleichtern oder sie zu frustrieren. Sie legen Bedingungen und Verpflichtungen auf, die die Erfüllung schwierig oder leicht machen. Ich glaube, daß wir im Westen ein gesellschaftliches Schema geschaffen haben, in dem die Erlangung des Glücks für die meisten Menschen sehr schwierig und für einige sogar unmöglich ist. Trotz gegenteiliger Überzeugung liefert unsere Gesellschaft für eine steigende Zahl von Menschen nicht die Bedingungen zum Glück.

Wenn jemand ein Buch schreibt und darin andeutet, daß die Gesellschaft verbessert werden kann, wird man ihn wahrscheinlich als Optimisten einstufen und ihm sagen, daß <Utopias> unmöglich sind. 

Richtig, vollkommene Gesellschaften sind unmöglich, aber wenn wir das Wort <Utopia> gebrauchen, um damit eine angemessen zufriedenstellende Gesellschaft zu bezeichnen, dann bin ich optimistisch genug zu glauben, daß <Utopias> möglich sind. Ob andererseits die Politiker oder die Wähler, von denen sie abhängen, die Gedankengänge übernehmen, die ich vorschlage, ist eine völlig andere Frage. In diesem Punkt bin ich Pessimist.

  

  6  Apologie  

Ich brauche wohl kaum zu erwähnen, daß bei der Behandlung eines so weiten Feldes die Analyse unvermeid­licher­weise vereinfacht sein muß; viele qualifizierende Faktoren und viele stützende Beweise müssen weggelassen werden. Was aber in diesem Stadium nötig ist, ist eine Erkundung des Themas und wenn möglich eine Synthese. Ich habe versucht, die wichtigen Elemente in dem Bild herauszusuchen, so daß allgemeine Methoden klar werden, detaillierte Studien können dann später von Spezialisten vorgenommen werden.

So werde ich in den folgenden zwei Kapiteln nur vier gesellschaftliche Grundschemata und die möglichen Kombinationen dieser Schemata betrachten, weil das für die Beweisführung genügt. Ich bin nicht so naiv anzunehmen, daß es erschöpfende Beschreibungen aller denkbaren Gesellschaften sind.

Unglücklicherweise ist eine der Strafen für den Versuch, komplizierte Fragen zu vereinfachen, der unvermeidliche Vorwurf der Spezialisten, man habe allzusehr vereinfacht. Es liegt in der Natur der Vereinfachung, daß vieles ignoriert wird. Entsprechend habe ich das Thema der menschlichen Persönlichkeit und ihrer Varianten stark vereinfacht, während ich auf den Gebieten der Wirtschaft und der Politik nur die Punkte ausgewählt habe, die ich für unerläßlich hielt.

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 wikipedia  Apologetik 

Von Taylor erwähnt:

     

 

 

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Gordon Rattray Taylor 1972  Das Experiment Glück   Entwürfe zu einer Neuordnung der Gesellschaft