Quellen    Start    Weiter 

3 - Die Erfolgsgesellschaft 

1 Hart und zart    2 Pantheist und Puritaner    3 Die Idee des Heiligen   
4 Vom Erfolg zum Exzeß     5 Die beiden Achsen    6 Macht, Habgier und Unterordnung    7 Schlußfolgerung

 

   1 Hart und zart  

82-109

Bei einer Rückschau auf die Menschheitsgeschichte kann man erstaunliche Extreme menschlichen Verhaltens beobachten. Auf der einen Seite errichteten die tatarischen Horden Pyramiden aus den Schädeln ihrer Opfer, auf der anderen finden wir die zärtliche Liebe zahlreicher Mütter, die Selbstaufopferung einer Florence Nightingale oder eines Captain Oates. Auf der einen Seite Dschingis Khan und die spanische Inquisition, auf der anderen Seite Franz von Sales und Oxfam. 

 wikipedia  Florence_Nightingale  1820-1910    wikipedia  Lawrence_Oates  1880-1912     wikipedia  Spanische_Inquisition  1478-1834   wikipedia  Franz_von_Sales 1567-1622    wikipedia  Oxfam *1942

Die Vertrautheit mit dieser Tatsache macht uns für ihre Seltsamkeit blind. Wie können menschliche Wesen so gefühllos gegenüber den Leiden anderer sein, während sich andere bei dem bloßen Anblick physisch krank fühlen. 

In der Provence des vierzehnten Jahrhunderts war es ein Lieblingsamüsement Raymond de Turennes, seine Gefangenen dazu zu zwingen, sich von den Mauern seiner auf einem Felsen aufragenden Burg in den Tod zu stürzen. Die Überlieferung sagt, daß er dabei lachte, bis ihm die Tränen über die Backen liefen, wenn er ihr Zögern und ihre Qual beobachtete. Ich kann mir vorstellen, daß ein Tyrann bei einem solchen Schauspiel eine sadistische Befriedigung empfindet, meine Phantasie sträubt sich aber bei dem Gedanken an eine so aufrichtige Freude. 

  wikipedia  Raimond_de_Turenne 1352-1413       wikipedia  William_James  1842-1910 

Der große amerikanische Psychologe William James erwog, daß der Bereich zwischen Hart- und Weichherzigkeit einer der grundlegendsten Parameter in der Persönlichkeit ist. 

In den vergangenen Jahren hat Professor Eysenck von dem Londoner Institut für Psychiatrie diese Hart-Zart-Skala detaillierter untersucht und bewiesen, daß sie eng mit der Extraversion-Introversions-Skala des Schweizer Psychoanalytikers Carl G. Jung korrespondiert. Der Extravertierte ist praktisch, materialistisch und befaßt sich mit seiner Umgebung durch Gewalt (zum Beispiel der Soldat) oder durch Manipulation (zum Beispiel der Wissenschaftler). Das heißt, er ist hart, während der Introvertierte idealistisch und theoretisch ist und sich mit den Problemen durch Denken (zum Beispiel der Philosoph) oder durch Glauben (zum Beispiel der Priester) befaßt. Er ist zartfühlend. Der eine ist pessimistisch und skeptisch, der andere optimistisch und dogmatisch.

Übrigens legt Eysenck großes Gewicht auf einen weiteren Parameter, den Bereich vom Konservativen zum Radikalen, und weist nach, wie viele politische Haltungen als eine Kombination dieser zwei Faktoren angesehen werden müssen. So ist der Faschist konservativ und hart, der Kommunist radikal und hart. Der zarte Konservative ist religiös gesinnt — oft ein Kleriker —, der zarte Radikale humanitär, vielleicht ein Humanist. 

Wenn man Menschen hinsichtlich ihrer Haltung über spezifische Themen, wie etwa die Geburtenkontrolle oder die Todesstrafe, fragt, passen die Antworten auf logische Art zu ihrer Persönlichkeit: harte Konservative befürworten beispielsweise die Todesstrafe und glauben, daß Kinder streng erzogen werden sollten, zarte Radikale sind pazifistisch und so weiter.*

Man wird klar erkennen, daß Eysencks Konservativ-Radikal-Skala eng mit meiner maternistischen Unterscheidung korrespondiert, obwohl sie in viel engeren Begriffen gefaßt ist. Eysenck ist ein erbitterter Kritiker der Psychoanalyse, was ihn zu solchen Extremen zu treiben scheint, daß ein Psychoanalytiker ihm <unbewußte Motive> unterstellen muß. Dieses Vorurteil versagt es Eysenck, die Verbindung zwischen Faktoren wie dem Paternismus und Eifersucht oder dem Wunsch, die Geschlechter klar zu unterscheiden, zu erkennen, die er andererseits mit seiner statistischen Technik hätte erforschen können und die zweifellos seine sehr nützlichen Untersuchungen bestätigt und noch ausgeweitet hätten.

* Siehe Eysencks ausgezeichnetes Buch, The Psychology of Politics, Routledge & Kegan Paul, 1954.  
en.wikipedia  Hans_Eysenck mit Buch  -   wikipedia  Hans_Jürgen_Eysenck  *1916 in Berlin bis 1997  ohne Buch  -   dnb  Nummer  (150) nicht ins Deutsche

83/84

Innerhalb seiner Grenzen bestätigt Eysencks sehr andersartiger Ansatz aber schlagend meine früheren Voraussagen. (Eysenck, das muß klar gemacht werden, befaßt sich nur mit dem Verständnis der Persönlichkeit von Individuen und extrapoliert nicht vom Individuum zum Schema der Gesellschaft als einem Ganzen, wie ich es versuche.)

Um zu verstehen, wohin unsere Gesellschaft geht, müssen wir das Hart-Zart-Element in Rechnung stellen, genauso wie das paternistisch-maternistische. Es ist klar, daß in den vergangenen hundert Jahren ein beträchtlicher Wandel von der Härte zur Zartheit stattgefunden hat: wir unternehmen jetzt alle möglichen Arten der Hilfe für die Armen, Kranken und Behinderten, und zwar in einem Maßstab, wie man es sich vor einem Jahrhundert nicht erträumt hätte. Wir befassen uns mehr mit dem Elend derer, die von diktatorischen Regimes verfolgt werden, und mit den Opfern fremder Kriege. Man könnte viele Menschen heute als idealistisch und antimaterialistisch beschreiben, während die Waagschale vor einem Jahrhundert sich zum anderen Ende neigte.

Doch ist meiner Ansicht nach der Hart-Zart-Parameter viel zu eng gefaßt. Um die psychologischen Kräfte zu verstehen, für die er der Hinweis ist, müssen wir uns dem Thema von einem neuen Standort aus nähern.

Lange bevor die Psychologen die Hart-Zart-Skala wieder belebten, versuchten die Anthropologen eine Unterscheidung im Studium der Gesellschaften zu treffen, die meiner Ansicht nach damit zusammenhängt. Die Geschichte beginnt mit dem sensationellen Buch Patterns of Culture der verstorbenen Ruth Benedict, das 1938 zum erstenmal erschien. In ihm bot die Autorin Untersuchungen dreier Gesellschaften: der Pueblo-Indianer in Mexiko, insbesondere des Zunistamms; der Dobus im südwestlichen Neu-Guinea und der Kwakiutl an der nordwestamerikanischen Küste. Diese Namen sind dank des immensen Interesses, das das Buch erweckte, in der anthropologischen Literatur fast Gemeinplätze geworden.

Was Ruth Benedict so stark aufgefallen war, waren der fanatische Individualismus und die Aggressivität der Dobus und der Kwakiutl im Gegensatz zu der extremen Friedlichkeit und dem Gruppenbewußtsein der Zunis.


 85

Die Dobus denken nur in Begriffen des persönlichen Erfolgs und des <Heruntermachens> des anderen. Das Schachern ist bei ihnen eine Manie; ihre Ehen sind mehr Duelle als Partnerschaften. Die Zunis könnten andererseits nicht verschiedener sein: ein Mann, der ein Haus gebaut oder eine Saat gepflanzt hat, empfindet, wenn er aus irgendeinem Grund den Pueblo verlassen muß, kein Gefühl des Verlustes; er hat ja für die Gruppe und nicht für sich selbst gearbeitet. Wenn man einen Zuni auffordert, den Posten des kachina (einer Art Stammesältesten) zu übernehmen, weigert er sich, man muß ihn stark unter Druck setzen, ehe er annimmt. Ein Todesfall wird nicht als persönlicher Verlust betrauert, sondern als Verlust der Gruppe.

Später taufte die Anthropologin Mary Douglas die Gesellschaft von Individualisten eine <Erfolgs­gesell­schaft>, und ich habe mir diesen Begriff als Überschrift für dieses Kapitel ausgeliehen, obwohl es bedauernswerterweise keinen entsprechend plastischen Begriff für die gruppenbewußte Gesellschaft gibt. Der Leser wird sofort erkennen, daß die Vereinigten Staaten im neunzehnten Jahrhundert eindeutig eine Erfolgsgesellschaft waren. Die heutige Bildung von Kommunen und die Ablehnung des Karrieretums durch viele junge und auch nicht mehr so junge Menschen ist ebenso offensichtlich eine Rebellion gegen das Prinzip des persönlichen Erfolgs und eine Manifestation von >groupiness< (>Gruppismus<) — ein entsetzliches Wort, das ich erstmals im Nationalen Laboratorium für Gruppenentwicklung in Bethel, Maine, im Jahre 1949 hörte und das zum Bestandteil des Fachjargons geworden ist. Die gegenwärtige Mode der >Tast-gruppen< und des Sensibilitätstrainings sind eine weitere offenkundige Manifestation der gleichen sozialen Schwingung.

Ich habe die Vereinigten Staaten als klassisches Beispiel für die Erfolgsgesellschaft genannt, weil die Situation in den europäischen Ländern komplizierter war. In Europa überschwemmte ein aufsteigender, dem Erfolg ergebener Mittelstand allmählich die hierarchisch geordnete Gesellschaft, in der jeder die Position im Leben akzeptierte, auf die ihn Gott berufen hatte, und in der er sich nicht anmaßte, die gesellschaftliche Stufenleiter zu erklettern. Der Paternismus machte dem Individualismus viel offensichtlicher Platz als in den Vereinigten Staaten, wo die Hierarchie verschwunden war, als die <Vater-Ablehner> die Briten vertrieben.


86

Sicher, das sind Verallgemeinerungen; die französische Revolution hat das Bild in Frankreich modifiziert; die Entstehung Deutschlands aus den Fürstentümern gab der deutschen Geschichte ihren besonderen Charakter — und selbst in England heirateten Herzöge manchmal Schauspielerinnen. Das Gesamtbild stimmt jedoch: wir sind Zeugen eines Pendelausschlags im sozialen Ethos oder dem bevorzugten Lebensstil vom Individualismus zum <Gruppismus>. Und genau so wie im Fall von Paternismus und Maternismus dürfen wir erwarten, daß eine irgendgeartete Mittelposition wünschenswerter ist als jedes der beiden Extreme.

Warum aber findet dieser wirklich ziemlich merkwürdige Wandel in den Haltungen überhaupt statt? Welcher Mechanismus liegt ihm zugrunde? Wenn wir ihn identifiziert haben, werden wir sehen, daß der Unterschied viel weiter reicht, als sowohl Verhaltensforscher wie Psychologen oder Anthropologen vermuten.

  

   2  Pantheist und Puritaner   

 

Religiöse Glauben beziehen ihre Gestalt aus unbewußten Beschäftigungen und sind wie die Träume der <mühelose Weg> zum Verständnis der unbewußten Ebenen des Geistes. Der Kontrast zwischen dem Himmelvater und der Erdmutter hat zum erstenmal den maternistisch-paternistischen Unterschied demonstriert; es sollte daher auch einen religiösen Kontrast geben, der Unterscheidung zwischen Individualismus und Gruppenbewußtsein widerspiegelt.

Wenn ich mich frage, wo ich in der westlichen Geschichte den Kontrast zwischen der intensiven Beschäftigung mit dem Selbst und dem Verlust des Selbstgefühls gesehen habe, fällt mir sofort das Gefühl der Isolierung des protestantischen Puritaners und das pantheistische Gefühl der Einheit mit anderen und der Natur in den Gedichten Lord Shaftesburys und, viel später, der romantischen Lake-Poeten ein. (Es gab tatsächlich auch religiöse Gruppen pantheistischen Charakters, obwohl über sie nicht viel bekannt ist.)


87

Das Gefühl der Einheit mit der Natur scheint als eine plötzliche blendende Erfahrung über die Menschen hereingebrochen zu sein; eine der lebendigsten Schilderungen liefert Dr. P. M. Bücke, der davon so berührt war, daß er viele andere Berichte darüber sammelte und sie 1901 unter dem Titel Cosmic Consciousness (Kosmisches Bewußtsein) veröffentlichte. Er schreibt: 

»Ich habe den Abend in einer großen Stadt mit zwei Freunden verbracht, wir hatten gelesen und über Poesie und Philosophie diskutiert. Um Mitternacht trennten wir uns. Ich hatte eine lange Fahrt in meiner Kutsche zu meiner Wohnung. Mein Geist, der tief unter dem Einfluß der Ideen, Bilder und Emotionen stand, die durch die Lektüre und die Gespräche heraufbeschworen worden waren, war ruhig und friedlich. Ich befand mich in einem Zustand der ruhigen, fast passiven Freude, ich dachte nicht tatsächlich, sondern ließ die Ideen, Bilder und Emotionen wie von selbst durch meinen Geist treiben. Mit einemmal fand ich mich ohne jede Warnung in eine flammenfarbige Wolke gehüllt. Einen Augenblick lang dachte ich an ein Feuer, einen gewaltigen Brand ganz in der Nähe der großen Stadt. Im nächsten Augenblick erkannte ich aber, daß das Feuer in mir selbst brannte. Unmittelbar darauf überkam mich ein Gefühl des Jubels, der ungeheuren Freude, begleitet oder unmittelbar gefolgt von einer intellektuellen Erleichterung, die ich unmöglich schildern kann. Unter anderem glaubte ich nicht nur, sondern ich sah tatsächlich, daß das Universum nicht von toter Materie erfüllt, sondern im Gegenteil eine lebendige Gegenwart ist. Ich wurde mir des ewigen Lebens in mir bewußt. Ich sah, daß alle Menschen unsterblich sind, daß die kosmische Ordnung von der Art ist, daß alle Dinge ohne jeden Zufall zum Nutzen jedes und aller zusammenarbeiten. Die Vision dauerte einige Sekunden und war dann verschwunden; die Erinnerung daran und das Gefühl der Realität dessen, was sie gelehrt hat, blieb aber während des Vierteljahrhunderts, das seither verstrichen ist.«

Dr. Bücke war es klar, daß sein Erlebnis der Natur nach religiös war, denn unter den anderen Beispielen, die er anführt, sind die Bekehrung des Paulus und die Visionen mehrerer christlicher Mystiker. Freud erkannte diese Erfahrung ebenfalls, die er das <ozeanische Gefühl> nannte.  

 wikipedia  Richard_Maurice_Bucke  1837-1902     Kosmisches-Bewußtsein.pdf 


2-88

Den Menschen fällt es im allgemeinen schwer, es zu beschreiben, aber Dichter sind darin geschult, die Sprache zur Vermittlung von Gefühlen zu gebrauchen, und deshalb ist Tennysons Bericht in seinen Erinnerungen besonders wertvoll. »Ich hatte nie irgendwelche Offenbarungen durch Anästhetika«, schreibt er, 

»aber eine Art wacher Trance - ich brauche das Wort, weil mir ein besseres fehlt - erlebte ich häufig von Kindheit an, wenn ich allein war. Sie kam über mich, wenn ich meinen eigenen Namen zwei- oder dreimal stumm für mich wiederholte, bis ganz plötzlich, so als ob es aus der Intensivität des Bewußtseins der Individualität käme, die Individualität selbst sich aufzulösen und in ein grenzenloses Sein zu schwinden schien; und das war kein verwirrter Zustand, sondern der klarste der klarsten und der sicherste der sichersten, der sonderbarste der sonderbarsten, durch keine Worte zu beschreiben, wo der Tod fast eine lachhafte Unmöglichkeit war, der Verlust der Persönlichkeit (wenn es so wäre) kein Auslöschen zu sein schien, sondern das einzig wahre Leben. Ich schäme mich meiner schwachen Beschreibung. Habe ich nicht gesagt, daß der Zustand jenseits aller Worte liegt?«

Wo Tennyson die Auflösung des Selbst betont, stellt Wordsworth die (auch von Bücke erwähnte) Vorstellung von dem Gefühl einer göttlichen Gegenwart in den Vordergrund. In den <Zeilen, geschrieben einige Meilen oberhalb Tinton Abbey an den Ufern des Wye> (1798) beschreibt er, wie er in seiner Jugend, obwohl er eine Leidenschaft für die Natur empfand, keine besondere mystische Einsicht erlebte. Aber später lernte er »auf die Natur zu schauen, nicht wie in der Stunde der gedankenlosen Jugend, sondern im Lauschen der stillen, traurigen Musik der Menschlichkeit«.

Und ich erspür 
Ein Etwas, das mich durch die Freude hoher 
Gedanken tief bewegt: erhabner Anhauch 
Von etwas, das viel tiefer untermischt ist, 
Behaust im Lichte untergehender Sonnen, 
Im Ozean und der lebendigen Luft 
Im Himmelsblau und im Gemüt der Menschen 
Eine Bewegung und ein Geist, der alle

  88/89

Die denkenden und die gedachten Dinge
Treibt und durch alle Dinge rollt. Drum bleib ich
Ein Liebender der Wiesen und der Wälder
Und Berge, alles dessen, was wir sehn
Auf grüner Erde und der großen Welt
Des Augs und Ohrs —, des, was sie halb erschaffen
Wahrnehmen halb — in der Natur
Und in der Sinnensprache froh erkennend
Den Anker meines reinsten Denkens, Hüter
Und Lenker meines Herzens und die Seele
All meines sittlichen Seins.*

So wird die Natur zur erhaltenden Kraft, zur Amme; sie ist auch eine <lebendige Gegenwart und eine moralische Kraft>:

Ein einziger Hauch des Frühlingswalds 
Mag lehren dich viel mehr von Menschen, 
Von dem, was böse und was gut, 
Als alle Weisen es vermögen.

Auch Byron drückte ähnliche Gefühle aus:

Ich lebe nicht in mir allein, ich werde 
ein Teil von dem, was mich umgibt, 
das Hochgebirg — ein Hochgefühl.**

Wordsworth spricht ebenfalls von einer Art Trance, in der er einen besonderen Einblick in die Natur hat, auch er verzeichnet den moralischen Aspekt:

Man legt uns schlafen 
und wir werden ganz zur Seele. 
Doch unser Auge, das die Kraft der Harmonie 
und die der Freude stillgemacht 
sieht tief ins Leben aller Dinge ...

*  Zitiert nach William Wordsworth: Gedichte, Lambert Schneider-Verlag, Heidelberg, 1959, Deutsch von Wolfgang Breitwieser.
** Byrons Werke: Übersetzt v. Adolf Seibert, Leipzig, o. J. I. Bd.


2-90

Jeder natürlichen Gestalt, Fels, Frucht und Blume
Ja selbst dem losen Schotterstein der Straße
Moralisch Leben gab ich — und ich sah sie fühlen
Verbunden sah ich sie mit dem Gefühl; die große Masse
Lag eingebettet in den Puls der Seele; und alles
Das ich schaute, atmete Bedeutung,
die von innen kam.

Diese Stellen der Naturmystik sind nicht ausdrücklich mit dem Göttlichen verbunden. Aber in dem gleichen Gedicht finden wir folgende Stelle, die für einen Angehörigen der Kirche von England sicher bemerkenswert ist.

Über der weiten Erde und auf Berg und Feld 
Haust in der Menschen liebevoller Seele 
Ein Gott wie der allgegenwärtige Pan, 
Nur noch erhabener.

(Es ist natürlich kein Zufall, daß die Gottheit <Pan> genannt wird — also mit dem griechischen Wort für <alles>. Daher stammt auch das Wort <Pantheismus>).

 

Dieser freudigen Erfahrung möchte ich jetzt das schreckliche Gefühl der Isolation des Puritaners entgegen­setzen. Der Puritaner beschäftigte sich hauptsächlich mit der Vorstellung einer strengen Vater-Gottheit, die den Menschen wütend züchtigen würde — was angesichts der Strenge der wirklichen Eltern schwerlich überraschend war. Viele Puritaner schildern mächtige Aggressionsgefühle: »Ich empfand eine diabolische Freude daran, Hunde aufzuhängen und Katzen zu quälen, Vögel und Insekten zu töten, zu verstümmeln und in Stücke zu schneiden«, berichtet Christopher Hopper, der Sohn eines Farmers aus Durham. Er erinnert sich besonders daran, daß er eine große Zahl von Fröschen mit Steinen zerschmetterte und nachher einen Alptraum hatte, in dem ihm die Frösche das Fleisch von den Knochen fraßen. Er erwachte »schweißgebadet und zitternd und halbtot vor Angst«.


2-91

Man glaubte, daß Gott den Menschen nicht liebte, sondern beinahe haßte. So sagte Jonathan Edwards, der große amerikanische Prediger, in einer Predigt mit dem Titel <Sünder in den Händen eines zornigen Gottes> seinen Zuhörern: »Ihr wärt letzte Nacht zur Hölle gefahren, wenn Er euch nicht wie eine abscheuliche Spinne an einem Faden über die Flammen gehalten hätte. Jeder Augenblick des Aufschubs steigerte den Zorn.« In einer anderen Predigt kehrt er zu dem Bild der über den Flammen hängenden Spinne zurück. »Kein Wunder, wenn sie jeden Augenblick darauf warten, daß dieser zornige Gott sie fallen lassen wird, und kein Wunder, daß sie ihr Elend hinausschreien, und kein Wunder auch, daß der Zorn Gottes, wenn er sich nur ein wenig der Seele offenbart, die menschliche Kraft zu Boden drückt.«

Da das Christentum dem Namen nach eine Religion der Liebe ist, hätte man es für unmöglich halten können, daß ein christlicher Pfarrer ihre Absichten so korrumpierte. Augenscheinlich ist der Puritanismus teilweise ein Versuch, mit der Aggression fertig zu werden, die durch einen strengen Vater hervorgerufen wird; die Bekehrungen vieler dieser Puritaner zum Methodismus veranlaßte eine plötzliche Umkehrung des Gefühls der Verlassenheit und der Ablehnung, die den Erfahrungen der Pantheisten merkwürdig ähnelt. Peter Jaco, ein Mann aus Cornwall, dachte, nachdem er durch die Überzeugung von seiner Schuld »an den Rand der Verzweiflung« getrieben worden war, plötzlich, daß Christus ja gestorben sei, um ihn zu erlösen. »In diesem Augenblick schien es mir, als ob eine neue Schöpfung stattgefunden habe. Ich fühlte keine Schuld, keine Pein irgendwelcher Art. Meine Seele war von Licht und Liebe erfüllt.«»Meine Freude strömte wie ein Fluß«, sagte Duncan Wright aus Pertshire.

Der Kontrast zwischen pantheistischer Euphorie und puritanischer Verzweiflung ist mit dem Kontrast zwischen Manie und Depression identisch; wie sehr wohl bekannt ist, leiden verschiedene Menschen sowohl unter manischen wie unter depressiven Episoden. Der Dichter Cowper gehörte dazu, er hatte viele depressive Anfälle — aber auch ein oder zwei manische Erfahrungen der Freude. 


2-92

»Ich wurde, nicht lange, nachdem ich mich im Tempel niederließ, von einer solchen Niedergeschlagenheit des Geistes befallen, wie sie niemand, außer einem, der sie selbst erlebt hat, auch nur entfernt begreifen kann. Tag und Nacht war ich auf der Folter, ich legte mich in Entsetzen nieder und erhob mich in Verzweiflung. In diesem Geisteszustand verblieb ich fast zwölf Monate ...« 

Später aber, als er in die schöne Gegend in der Nähe von Southampton gezogen war, erkletterte er einen Hügel und setzte sich nieder. »Mit einemmal war es, als ob sich eine andere Sonne am Himmel entzündet hätte... ich fühlte, daß die ganze Last meines Elends weggenommen wurde. Mein Herz wurde in einem Augenblick leicht und freudig. Ich hätte vor Hingerissenheit weinen können, wenn ich allein gewesen wäre.«

Relevanter für mein Thema ist jedoch die starke Beschäftigung des Puritaners mit dem Begriff des <Selbst>. Wie schon gesagt, befaßt sich der Gott der Puritaner nur mit Individuen und nicht mit der Menschheit insgesamt. Bezeichnenderweise verwenden puritanische Autoren ständig Phrasen mit <Selbst>: Nachgiebigkeit gegen sich selbst, Selbstwille und vor allem Selbstbeherrschung. (Andere haben von ihrer Selbstbefriedigung gesprochen.) Das Wort <selbst-süchtig> wurde von den Puritanern eingeführt. Der Puritaner verwendet viel Zeit darauf, über sich selbst und seine eigene Persönlichkeit, den Zustand seiner Seele und seine Zukunftsaussichten nachzubrüten. Das führte den deutschen Historiker Schücking dazu, von einer <moralischen Hypochondrie> der Puritaner zu sprechen.

Weil sich der Puritaner so stark mit seinen eigenen Dingen befaßt (was ihn nebenbei zumeist in Geschäften erfolgreich macht), vernachlässigt er die Wünsche und Bedürfnisse anderer auf auffällige Weise. Oft scheint er seine Gefühle für andere völlig unterdrückt zu haben. Sewall verzeichnete beispielsweise für den 26. Mai 1720 in seinem Tagebuch: »Gegen Mitternacht verschied meine liebe Frau zu unserem, vor allem meinem, großen Erstaunen.«

Das ermöglicht uns, wie ich glaube, die Ursprünge der Hart-Zart-Dichotomie zu identifizieren: der Puritaner ist hart, weil er nur an sich selbst interessiert ist; eine Information über die Leiden anderer hat für ihn wenig emotionelles Gewicht. Der Pantheist hingegen fühlt die Leiden anderer fast wie seine eigenen, er fühlt sich sogar mit Tieren, Pflanzen und der unbelebten Natur identisch, so daß die Vergewaltigung der Erde wie eine Wunde für ihn selbst ist.


2-93

Wie können wir dieses Phänomen in psychologischen Begriffen interpretieren? Meiner Ansicht nach geht es hierbei um das Ego — dem Teil unserer Psyche, den wir als <Ich> erkennen lernen. Wenn sich der Dichter mit Steinen, Pflanzen und so weiter identisch fühlt, scheint es klar, daß die Grenzen seines Ich aufgelöst sind — wie Tennyson spezifisch feststellt.

Wenn es im Gehirn einen Mechanismus gibt, der gewisse Empfindungen, Überzeugungen und so weiter mit dem Etikett <Teil von mir> versieht, dann ist dieser Mechanismus während solcher Erfahrungen augenscheinlich in Schwebe. Umgekehrt werden bei dem Erlebnis, ausgestoßen zu sein, die Mauern des Ich ungewöhnlich dick: das Gefühl der Zugehörigkeit ist in Schwebe. Ich schlage daher vor, diese beiden bemerkenswerten Zustände in Ermangelung besserer anerkannter Begriffe als <hartes> und als <weiches> Ich zu bezeichnen.*

Die eben beschriebenen Erfahrungen sind sicherlich ziemlich außergewöhnlich und extrem: ich zitierte sie, weil sie demonstrieren, daß Individuen in der Ich-Definition außerordentlich verschieden sind und einige Individuen sich unfreiwilligen Definitionswandeln unterziehen. Das berechtigt uns zu der Schlußfolgerung, daß sich mehr normale Individuen in der Ich-Definition unterscheiden, obwohl sie vielleicht nie die abrupten Veränderungen erleiden, auf die ich angespielt habe. Des weiteren wissen wir heute, daß ähnliche Veränderungen zeitweilig durch Substanzen wie LSD veranlaßt werden können.

* Das darf nicht mit den Begriffen <starkes Ich> und <schwaches Ich> verwechselt werden, wie sie die Psychoanalytiker verwenden. Mit diesen Begriffen scheinen sie einerseits ein wohl integriertes System von Zielen, Fähigkeiten und so weiter zu meinen, das es dem Besitzer ermöglicht, sich in einer zusammenhängenden und wirksamen Weise auf ein Ziel zuzubewegen, andererseits ein System widersprechender oder unsicherer Ziele, mangelhaft gestützt von Wissen und Kenntnissen, die den Besitzer in einem unzusammenhängenden und unwirksamen Zustand lassen. Die Entschiedenheit und Wirksamkeit einiger Menschen und das unlogische, wirkungslose Verhalten anderer ist eine Angelegenheit der Erfahrung; die Integration von Ichfunktionen ist selbstverständlich klinisch wichtig, doch geht es hier um etwas anderes.


2-94

Zudem will es scheinen, daß das Ich dazu tendiert, mit dem Alter härter zu werden, genauso, wie es paternistischer wird. Wordsworth, der in seiner Jugend für eine Universalbildung eintrat, endet damit, daß er sich beklagte, die >Technischen< Institute schüfen einfach »unzufriedene Geister und unbotmäßige und anmaßende Arbeiter«, später fragte er sogar noch konservativer: »Kann es, in allgemeiner Sicht, gut sein, daß ein Kind viel lernen kann, was seine Eltern nicht wissen?« 

Ähnlich gab Coleridge, in seiner Jugend Pantheist, schließlich die Poesie auf und hielt die Bibel für die einzig notwendige Offenbarung. Er selbst sprach von der »Krankheit seines Geistes« und sagte: »Ich bin so von all den Formen und den Farben der Existenz verlassen worden, als ob die Organe des Lebens eingetrocknet wären.« Seine Egozentrik wurde zum Gesprächsthema.

  

   3  Die Idee des Heiligen  

 

Die Zitate, die ich gebracht habe, deuten auf einen interessanten Unterschied zwischen den zwei Typen von Individuen: das Gefühl des Individualisten von Gott als einem klar definierten Individuum, das sich an einem spezifischen Ort, dem Himmel, fern von der Alltagswelt, befindet, und der Vorstellung des Pantheisten von Gott als allgegenwärtig, als einer <lebendigen Präsenz> überall.

Ich kann nicht widerstehen, eine Stelle aus Lord Shaftesburys berühmtem Poem <Die Charakteristika> zu zitieren, teils wegen der Schönheit der Sprache, teils, weil es gewisse andere Aspekte dieses Bereiches dramatisiert:

»Aber auf halbem Weg beherbergt der Berg, eine geräumige Grenze aus dichtem Wald, unsere ermüdeten Reisenden: die jetzt unter das Immergrün und die erhabenen Fichten kommen, die Föhren und die edlen Zedern, deren hochragende Häupter im Himmel endlos scheinen. Die übrigen Bäume erscheinen neben ihnen nur wie Gestrüpp. Und hier ergreift ein anderes Entsetzen unsere geschützten Reisenden, wenn sie sehen, wie der Tag durch die tiefen Schatten des unendlichen Waldes vermindert wird, dessen dichtes Zusammenrücken in der Höhe unten Dunkelheit und ewige Nacht verbreitet. 

94/95

Das schwache, düstere Licht sieht entsetzlich aus wie der Schatten selbst, und die tiefe Stille dieses Platzes erlegt den Menschen Stille auf, getroffen von den heiseren Echos jedes Geräuschs in den gewaltigen Kavernen des Waldes. Hier setzt der Traum in Erstaunen. Die Stille selbst scheint schwanger, während eine unbekannte Kraft auf den Geist einwirkt, und zweifelhafte Objekte den wachen Sinn bewegen. Man hört geheimnisvolle Stimmen oder bildet sie sich ein, und verschiedene Formen der Gottheit scheinen sich zu präsentieren, sie scheinen in den geheiligten Waldszenen offenkundiger; wie es in alter Zeit die Tempel entstehen ließen und die Religion der alten Welt begünstigte.«

Das Gefühl, das Professor Otto das Gefühl für das Numinose nannte, könnte kaum klarer ausgedrückt werden. Die gotische Kathedrale mit ihren baumartig sich verästelnden Pfeilern und ihren Strahlen gefilterten Lichts dient gleicherweise dazu, das Gefühl für das Numinose heraufzubeschwören, welches die Basis des religiösen Gefühls ist.

Während die oben angeführte Stelle die Bedeutung der Natur als des Wohnsitzes der Gottheit herausstellt, verdeutlicht sie auch die Beziehung all dessen zu der Idee des Geheimnisvollen und seiner physischen Ergänzung, der Obskurität.

Das steht in gewaltigem Kontrast zu der wissenschaftlichen oder auch der geschäftlichen Haltung; der Wissenschaftler wünscht äußerste Klarheit zu erreichen und findet das Geheimnis verwirrend. Wenn das Gerücht umläuft, daß im Loch Ness ein Ungeheuer haust, möchte er sofort herausfinden, ob das der Fall ist, und wenn ja, um was für ein Ungeheuer es sich handelt. Er kann nicht verstehen, daß es andere Menschen gibt, die wünschen, daß das Geheimnis gewahrt bleibt, die den Gedanken schön finden, daß der Mond vielleicht aus Käse gemacht ist und von kleinen grünen Männern bewohnt wird. Er kann nicht einsehen, daß seine Bemühungen die Welt für gewisse Menschen tatsächlich weniger erfreulich machen, daß man das Wegziehen der Schleier auch als Unheil und nicht als Fortschritt ansehen kann. 


   3-96

Ich glaube, es ist der Versuch, das so benötigte Element des Geheimnisses zu wahren, wenn sich Menschen so hartnäckig an die Existenz von fliegenden Untertassen klammern, gesteuert von Piloten mit geheimnisvollem Wissen; wenn sie an den Yeti, den Schneemenschen, und an die Seeschlange glauben wollen; wenn sie der Astrologie vertrauen und ständig an Geistern, Hellsehern und außersinnlichen Wahrnehmungsgaben interessiert sind.

Viele primitive Völker leben in einer solchen Atmosphäre: Geister mancherlei Art umgeben sie, Magie und Hexerei sind Gemeinplätze. Es ist möglich, daß der Mensch in seinem Leben ein Geheimnis braucht. Vielleicht müssen wir auch hier eine Mittelposition zwischen blendender Klarheit und totaler Dunkelheit finden.

Die Menschen finden es oft überraschend, daß psychologische Kräfte nicht nur große politische und religiöse Haltungen bestimmen, sondern auch auf subtile Art unsere Gefühle für ganz alltägliche Dinge durchdringen. So habe ich im letzten Kapitel darauf hingewiesen, wie sich die paternistischen und die maternistischen Auffassungen über Architektur und Gartenarchitektur voneinander unterschieden. Wir sollten daher in der Lage sein, analoge Unterschiede zu erkennen, die sich aus der Unterscheidung zwischen <weichem> und <hartem> Ich ergeben. So könnten wir erwarten, daß der Garten des Individualisten durch Hecken in formale Parzellen eingeteilt und vom Haus abgetrennt ist, während der Garten des <weichen Ichs> natürlich angelegt ist. 

Und tatsächlich, wir finden den Garten des siebzehnten Jahrhunderts stilisiert, mit kunstvoll zugeschnittenen Bäumen und geometrischen Beeten. Um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts war dann der Naturalismus die große Mode. Die Bäche flossen, statt in steingefaßte Teiche und Kanäle geleitet zu werden, so, als ob sie von der Natur geschaffen seien, und der versenkte Grenzzaun oder Graben ersetzt die Hecke, so daß sich der Garten in die umgebende Landschaft fortzusetzen scheint.* 

* Der erste, der einen gewundenen Bach durch einen Garten fließen ließ, war Lord Bathurst. Die Wirkung war so ungewöhnlich, daß sein Freund, Lord Stafford, nicht glauben wollte, daß er absichtlich so angelegt worden war; da er annahm, daß es aus wirtschaftlichen Gründen geschehen sei, fragte er, wie wenig mehr es wohl gekostet haben würde, wenn man den Verlauf des Bachs gerade gemacht hätte. Vergleiche The Angel Makexs, Kap. 11 für diese und andere Stellen.


  97

Der Essayist Addison hatte diesen neuen Trend in Gang gebracht; er argumentierte, daß der Garten seiner Zeit »eine der größten Freuden, die man sich vorstellen kann, nicht biete, das Erstaunen und das erregende Gefühl der Freiheit, das daraus abzuleiten ist... wenn sich das Auge vor dem Horizont keiner Grenze bewußt wird.« Er drängte darauf, daß der ganze Landsitz in »eine Art Garten« verwandelt werde, der sogar die Wiesen und die »Getreidefelder« einbeziehe. Bald wurden überall Mauern und Hecken eingerissen.

In dem Baum, der durch die Schere des Kunstgärtners in die Form eines Pfaus oder einer Kugel umgestaltet wird, können wir eine Analogie zu dem Kind sehen, das in eine gebilligte gesellschaftliche Rolle gezwungen wird. In der Vorliebe des achtzehnten Jahrhunderts für schöne Exemplare natürlich gewachsener Bäume können wir die entgegengesetzte Haltung erkennen.

Im neunzehnten Jahrhundert schlug das Pendel in die andere Richtung. Die Formalität kehrte zurück. Die offenen Räume der Gastwirtschaft des achtzehnten Jahrhunderts wurden in der Viktorianischen Pub <Kneipe> durch Zwischenwände in sechs oder sieben Kammern aufgeteilt, wo man <unter sich> sein konnte. Die Kinder wurden in eine Form gepreßt. Spitzenvorhänge bildeten eine Schranke zwischen dem Haus und den Passanten. Heute schlägt das Pendel wieder in die andere Richtung aus, die Spitzenvorhänge werden durch Aussichtsfenster ersetzt. Man ermutigt die Kinder, sich entsprechend dem Gebot ihrer eigenen Natur zu entwickeln.

  

   4 Vom Erfolg zum Exzeß   

 

Wir können jetzt noch deutlicher sehen, daß die Neue Linie in unserer Gesellschaft nicht nur eine Bewegung vom Paternismus zum Maternismus, sondern auch eine vom Individualismus zum Gruppenbewußtsein ist, von der Härte zur Zartheit und vom Erfolg zu einer Ablehnung des Selbst, die oft an Pantheismus grenzt. So erklärte Paul McCartney, einer der Beatles: »Gott ist in allem. Gott ist in dem Raum zwischen uns, Gott ist in dem Tisch vor Ihnen, Gott ist alles und überall und jedermann.« Deutlicher kann man es nicht ausdrücken. 


 4 98

Ich brauche auch nicht lange zu demonstrieren, daß die Anhänger der Neuen Linie gegen den <Erfolg> sind. Sie lehnen den Konkurrenzkampf ab, weil es ein Kampf um den Erfolg ist. Statt dessen <fallen sie aus>. Sie bevorzugen das Leben in der Kommune, sie verringern den persönlichen Besitz und fühlen sich berechtigt, den Besitz anderer zu borgen oder zu stehlen, weil sie fühlen, daß alle Dinge im Gemeinbesitz sein sollten. Des weiteren begünstigen sie den Trancezustand und freuen sich über Geheimnisse. Aus diesem Grund heißen sie Drogenerfahrungen willkommen, die chemisch herbeigeführte Trancezustände sind, und praktizieren die Meditation. Sie lehnen die Wissenschaft mit ihrer Suche nach Klarheit ab und ziehen das Obskure sowohl im wirklichen Leben wie auf dem Gebiet der Ideen vor. Um den Katalog zu vervollständigen, sind sie größtenteils dafür, die Natur zu erhalten und Dinge auf natürliche Art zu tun: Sie lehnen die Industriekultur ab und viele von ihnen auch das Leben in der Großstadt.

Für viele von ihnen liegt die höchste Erfahrung in dem Gefühl der Kameradschaft, das dann auftritt, wenn sie zu Tausenden auf einem Pop-Festival versammelt sind. Ich hoffe, daß sie eines Tages den Dichter hervorbringen werden, der dieses Gefühl unsterblich machen wird: im Augenblick erscheint es nur in banaler Form in den Liedern vieler Pop-Sänger. Manchmal versucht ein Angehöriger der Neuen Linie in stockenden Worten auszudrücken, wie <großartig> das Gefühl ist.

Es ist natürlich, daß die Spontaneität, die das Aufgeben der Kontrolle der Großhirnrinde bedeutet, Irrationalität des Verhaltens einschließt. Das Verhalten wird durch Gefühl und nicht durch Vernunft diktiert, der Glaube mehr von Wünschen als von Fakten. Fakten, die zur Verfügung stehen, werden in Wahnsysteme eingepaßt, ohne sie einer näheren Prüfung zu unterziehen, die ihren Mangel an Zusammenhang enthüllen würde.

Wenn die betroffenen Individuen elend und niedergetreten sind, entwickeln sie häufig Mythen von Erlösern, die sie aus dem Elend zur Zufriedenheit herausführen würden, wie in den <Frachtkulten>, die nach dem Zweiten Weltkrieg auf mehreren Inseln der Südsee entstanden sind. (Geheimnisvolle Weiße würden mit Ladungen von Waren eintreffen.)


    4 99

Ganz ähnlich sind die mittelalterlichen Kulte, die ich im Prolog beschrieben habe. Die zwanglose vielfarbige Kleidung, die zerlumpte Erscheinung, das Betteln, die sexuelle Duldsamkeit, die Ausbrüche von Aggression, die Unfähigkeit vorauszuplanen — all diese Phänomene sind vorhanden.

Heute erleben wir ironischerweise chiliastische Kulte bei Menschen, die aus dem Mittelstand stammen, denen es im materiellen Sinn keineswegs schlecht geht, die aber trotzdem dem klassischen Schema folgen. Deshalb sind Theorien über den Ursprung solcher Bewegungen, die wirtschaftliche Probleme als Ursache annehmen, offensichtlich irrig.

Dennoch ist unsere eigene Gesellschaft, wenn sie auch in steigendem Maß maternistisch wird, immer noch eine ziemlich Hartes-Ich- oder Erfolgsgesellschaft. Die Gesellschaft als Ganzes bewegt sich weiter auf einer Philosophie des Harten-Ich, und diese Philosophie ist in dem Wirtschaftssystem verwurzelt, insoweit sie auf der Verfolgung des Profits basiert und wenig die Auswirkungen auf Angestellte, Kunden oder die allgemeine Öffentlichkeit berücksichtigt. Nur wenn die Auswirkungen sichtlich schädlich werden, reagiert der normale Hersteller auf den öffentlichen Druck und modifiziert seine Praktiken, wie es sich bei den Auswirkungen verschmutzender Tätigkeit auf die Gesundheit der Angestellten und der allgemeinen Umgebung zeigte. Die Revolte der Jungen ist spezifisch eine Rebellion gegen diese Haltung.

Ein französischer Student, 20 Jahre alt, drückte das nach den Studentenunruhen in Paris im Jahre 1968 so aus: »Ich glaube, daß die Welt von heute eine Welt ohne Werte ist, ohne wirkliche Werte, das soll — um einen anderen Ausdruck zu gebrauchen — heißen, eine Welt ohne Ideale. Die Hauptkritik, die ich vielleicht gegen das Regime aussprechen würde, wäre, daß das Regime dieses Fehlen von Werten unterstützt.«

Die Philosophie der Konservativen in Großbritannien wie in den USA und anderswo besagt, daß Unternehmen nur durchgeführt werden sollten, wenn sie sich selbst bezahlen. Später werden wir feststellen, wie unmöglich das ist und daß sie es selber in Wirklichkeit nicht glauben. Hier ist lediglich die Tatsache interessant, daß ein so materialistischer Anspruch überhaupt erhoben werden kann.


   4 100

Die menschliche Geschichte ist die Geschichte von Versuchen, der einfachen Verfolgung des persönlichen Nutzens geistige oder höhere Werte aufzuerlegen: die Ablehnung dieses gesamten Programms ist es, was die Jungen alarmiert.

So bewundernswert ein derartiger Idealismus sein mag, so bleibt doch die Tatsache bestehen, daß genauso wie im Fall von Paternismus und Maternismus die wünschenswerteste Position mitten zwischen dem weichen und dem harten Ich liegt. Wenn der harte Mann zu selbstsüchtig ist, so ist der weiche zu verschwommen und zu wenig organisiert. Der euphorische Optimismus eines Timothy Leary, der glaubt, alles wäre gut, wenn die Menschen nur auf ihr inneres Selbst achten und den Kampf aufgäben, ist womöglich bornierter als der erbarmungslose Drang des Erfolgsuchers.

Eine Gesellschaft, die wie die unsere eine Mischung der beiden Extreme enthält, ist vielleicht der allerschlimmste Fall. Und unglücklicherweise wissen wir viel zu wenig über die psychologischen Ursprünge der weichen und harten Ich-Schemata, so daß wir auch nicht wissen, was wir unternehmen könnten, um eine Integration der beiden herbeizuführen.

   

     5 Die beiden Achsen   

 

Wenn ich recht habe, können alle Individuen und damit ganz allgemein alle Gesellschaften einer Position auf zwei verschiedenen Skalen zugewiesen werden: der paternistisch/maternistischen und der des harten/weichen Ichs. Ich beeile mich, eine Einsschränkung zu wiederholen, die ich bereits im Hinblick auf den Paternismus/ Maternismus gemacht habe. Natürlich bedeutet das nicht, daß jedes Individuum in einer gegebenen Gesellschaft den gleichen Platz einnimmt wie jedes andere Individuum, noch bedeutet es, daß jedes Individuum selbst ein klar umrissenes Beispiel der einen oder anderen Skala ist. Wir sprechen einfach von einem dominierenden Ethos. Im Prinzip hätten wir dann vier Typen von Personen: paternistisch und hartes Ich oder paternistisch und weiches Ich, maternistisch und hartes Ich oder maternistisch und weiches Ich.


  101

Wir könnten auch Gesellschaften haben, die sich auf der einen Skala in einer extremen und auf der andern in einer Mittelposition befinden. Einige dieser Kombinationen sind leicht zu erkennen. Der Puritaner ist ein Paternist (von einem ungewöhnlich schuldgequälten Typ), kombiniert mit hartem Ich. Die harte-Ich-paternistische Kombination ist auch für viele Richter typisch, die autoritär-konservative Ansichten mit Strenge vereinen, und in früheren Zeiten für Puritaner wie Cromwell oder Calvin (der viele Menschen umbringen ließ, obwohl er ihnen Straflosigkeit versprochen hatte) und natürlich für die Inquisition. Der Geschäftsmann von heute ist jedoch oft kein Puritaner und kann sogar zum Maternismus tendieren; es ist sein <hartes Ich> oder sein <harter Aspekt>, der ihn zum erfolgreichen Geschäftsmann macht. Umgekehrt ist der weiches-Ich-Maternist leicht in der Hippie-Gruppe zu erkennen. Der harte Maternist kann als gewaltsamer Revolutionär erscheinen, wie bei den Wethermen.* Das weiches-Ich-Individuum, das auf der paternistisch/maternistischen Skala in der Mitte steht, könnte Tennyson oder der Verwalter eines Wohltätigkeits-Fonds sein.**

Wir finden, wenn auch selten, Menschen, die sowohl paternistische wie weiches-Ich-Symptome aufweisen: dazu gehören viele der christlichen Mystiker — Männer wie Meister Eckhart, Suso und Böhme, die die Vereinigung mit Gott und ein Versenken in ihn suchen und die doch auf einer vaterartigen Beziehung der Subordination und so weiter bestehen. Die christliche Mystik ist von der römischen Kirche immer sehr scharf beobachtet worden, viele ihrer Manifestationen wurden für ketzerisch oder wenigstens für unerwünscht erklärt. St. Johannes vom Kreuz verbrachte zwanzig Jahre im Gefängnis, weil seine Erfahrungen nicht mit der gebilligten doktrinären Haltung übereinstimmten. 

*  Amerikanische Anarchistengruppe, die ähnliche Methoden und Ziele verfolgt wie in der BRD die Baader-Meinhof-Gruppe.
** Obwohl wir hartes-Ich-Maternisten finden, scheint es, daß das harte Ich gewöhnlich mit dem Paternismus assoziiert ist, vielleicht, weil die Introjektion einer Vater-Figur einer der Prozesse ist, die zur Formung des Ich dienen.


    5 102

Wenn wir diese anstößigen Erfahrungen genauer inspizieren, stellen wir fest, daß das Vater-Element verschwunden ist: sie sind pantheistisch geworden. Die Kirche war sich immer der Gefahr der nichtpaternalistischen Mystik klar bewußt — da ihre Autorität (und letzten Endes ihre fortwährende Existenz) von der väterlichen Komponente und damit von Gott abhing, der in gewissem Sinn als Person und nicht als göttlicher Urgrund verstanden wurde. Ihr Einwand gegen den Neuplatonismus ist in diesem Zusammenhang zu verstehen. <Im Garten der Lüste> (Kapitel 13) habe ich darauf hingewiesen, daß das frühe Christentum selbst relativ pantheistisch und vaterfrei war. Der bekannteste Oxyrinchus-Ausspruch Jesu lautet: »Hebe den Stein auf und du wirst mich finden, spalte das Holz und ich bin da« — ein bemerkenswerter Ausdruck für die Immanenz der Gottheit.

Die Quäker und einige verbündete Sekten liefern ebenfalls ein Beispiel des Weichen-Ich-Paternismus. Das Treffen von Entscheidungen durch das <Empfinden des Zusammenseins> ist spezifisch weiches Ich, genauso wie das <Verlangen nach Erleuchtung>. Dagegen ist die Ablehnung von Farben, Aktivität und Spontaneität im allgemeinen, für die die Quäker bekannt sind, eindeutig paternistisch.

Wenn wir ähnlich ganze Gesellschaften oder soziale Gruppen betrachten, können wir sehen, daß sie zu den gleichen Kategorien hin tendieren. Die Verteilung ist am leichtesten durch ein Diagramm, ähnlich dem Diagramm der Persönlichkeitsschemata von Eysenck, bei dem Paternismus und Maternismus eine Achse und hartes und weiches Ich die andere bilden.

 


 5 103

Gesellschaften dieser Art sind bei primitiven Völkern leicht zu erkennen, so sind die Mandaris, ein am Nil lebender Stamm, im wesentlichen paternistisch, die Nuer im Sudan sind im wesentlichen eine Erfolgsgesellschaft, die Zunis sind gruppenorientiert und so weiter.

Der Wandel, dem sich unsere Gesellschaft in der präindustriellen Periode unterzog, war einer vom Paternismus zum Erfolg, oder, wie man oft sagt, vom Status zum Vertrag. Die Beziehungen zwischen Individuen werden nicht mehr von Ritual, Konvention und der sozialen Position der Betroffenen geregelt, sondern durch Verhandlungen; sie verkörpern sich in Verträgen. Viele derartige Aspekte lassen sich diesen Schemata anpassen.*

Heute sehen wir einen Wechsel von der Erfolgsgesellschaft zum Maternismus mit Elementen des weichen Ich. Die Geschichte deutet an, daß all diese Pendel­schwingungen möglicherweise wieder umkehren.

Wenn man einmal die Idee erfaßt hat, daß die Art, wie Persönlichkeitselemente gruppiert sind, das ganze Schema der Gesellschaft beeinflussen kann, kommt man unschwer darauf, daß es neben den beiden bislang diskutierten Gruppen noch andere Faktoren von Bedeutung geben mag. Tatsächlich gibt es eine weitere Gruppe, die Beachtung verdient, obwohl sie nicht ganz auf die gleiche Art verbreitet ist wie die bislang untersuchten.

  

    6 Macht, Habgier und Unterordnung  

 

Erwerbsstreben nach Waren und Erwerbsstreben nach Macht sind augenscheinlich Kräfte von großer sozialer Bedeutung, und jede Gesellschaft, die eine beträchtliche Anzahl von Menschen mit solchen Tendenzen aufweist, wird eine bestimmte Form annehmen. 

Die freundlichen, kooperativen Utopias von William Morris und H.G. Wells gehen unbefangen davon aus, daß es solche Charaktere nicht geben wird, die die Situation ausnützen und ausbeuten. Aber leider sind nicht viele Wölfe nötig, um eine Herde Schafe zu dezimieren.

*Die verstorbene Mary Douglas hat in ihrem Buch Natural Symbols in diese Richtung gearbeitet. Obwohl sie von einem völlig anderen Blickwinkel ausgeht, entdeckt auch sie zwei Achsen in der Gesellschaft, die allerdings in einem Winkel von 45 Grad zu meinen verlaufen.


 6    104

Diese beiden Tendenzen sind keine Gegensätze, die sich ausschließen, wie Maternismus und Paternismus. Obwohl es Machtsucher gibt, deren persönliches Leben asketisch war (wie Julius Cäsar), und Geizhälse, die Geld und Wertsachen sammeln, die Macht jedoch ignorieren (wie Hetty Green), gibt es auch Menschen, die ihren Reichtum zur Ausübung der Macht benützen, wie gewisse Zeitungsmagnaten.

Die psychoanalytische Theorie liefert uns eine einleuchtende Erklärung der Entwicklung dieser Tendenz. Freud erklärt, daß sich das neugeborene Kind fast ausschließlich mit den Empfindungen beschäftigt, die aus seinem Mund kommen, und mit der Befriedigung, die es aus dem Trinken der Muttermilch gewinnt. Später beschäftigt es sich mit dem anderen Ende seines Ernährungstrakts. Seine Sekrete sind die ersten Objekte, die es produziert, und es findet sie faszinierend. Es lernt auch, seine Mutter dadurch zu erfreuen, daß es sie auf Wunsch produziert oder sie zurückhält, wenn man es ihm sagt. Das ist als die orale und die anale Entwicklungsphase bekannt. 

Schließlich wendet sich das Kind einer dritten Phase, dem Interesse an seinem Phallus, zu; es entdeckt, daß es ohne Hilfe große Befriedigung erreichen kann. Zu dieser Zeit kann es auch Angst entwickeln, wenn seine Eltern ihm in entsetztem Ton verbieten, sein Geschlechtsorgan zu berühren. Dann folgt eine ruhige Periode bis zur Pubertät, wenn sexuelle Interessen erwachen und ein neues Interesse an dem Phallus als spezifisch sexuellem Organ entsteht. Das ist als die genitale Phase bekannt. Denen, die mit der psychoanalytischen Theorie nicht vertraut sind, erscheinen diese Theorien oft seltsam oder unangenehm, um so mehr, als die Diskussion darüber in den meisten Familien und Gruppen tabu ist. Ich möchte nur sagen, daß ein halbes Jahrhundert der Beobachtung Freuds Grundbehauptungen bestätigt hat.


6   105

Freud fügt dann die Behauptung hinzu, daß jeder Mensch eine gewisse Menge psychischer Energie (Libido) zu investieren hat. Manchmal gelingt es ihm nicht, diese voll von einer Phase auf die nächste zu übertragen, so daß ein gewisser Betrag in jeder Phase versperrt bleibt und <orale Komplexe>, <anale Komplexe> oder <genitale Komplexe> verursacht. Solche Komplexe entstehen, wenn die kindliche Entdeckung jeder Phase von den Eltern so behandelt wird, daß sie eine Quelle der Angst wird. So kann man durch <Haustraining> entweder erreichen, daß die Produktion von Fäkalien auf Anforderung belohnt oder aber das Versagen, sie zurückzuhalten, bestraft wird. Im ersten Fall lernt das Kind die allgemeine Lektion, daß Produktivität gut ist, und im zweiten, daß das Zurückhalten gut ist — was zur Zurückhaltung im ganzen Leben führen kann. So entsteht der Geizhals. 

Es ist kein Zufall, daß das Geld oft als <schmutzig> geschildert wird. Der anale Typ ist auch in seiner Fähigkeit, Liebe zu geben, und in seinen persönlichen Beziehungen gehemmt. Wo die Bestrafung so streng ist, daß sie Zorn erzeugt, kann das Kind lernen, sich an der Mutter durch die unerwünschte Produktion von Fäkalien zu rächen, und wir erhalten den anal-expulsiven Typ. Der Ausdruck, <jemanden in den Dreck ziehen>, ist wiederum kein Zufall, und die derben schmähenden Angriffe auf Gestalten der Öffentlichkeit, die in einigen Sektoren unserer Gesellschaft gang und gäbe sind, können so erklärt werden.

Ich habe mich mit dem analen Komplex so ausführlich befaßt, weil er vielen Menschen fremd ist. Natürlich ließe sich viel mehr sagen. Ich möchte nur hinzufügen, daß, ist der Komplex genital, sich der Erwachsene mit Macht oder dem Wissen, das Macht entweder über Personen oder über Dinge verleiht, beschäftigt. (Hieraus resultiert der Wissenschaftler wie der Geizhals.) Die intensive Beschäftigung mit politischer Macht kann eine Kompensation für den Mangel an sexueller Potenz sein. (Die Impotenz kann natürlich auch aus anderen Ursachen entstehen, genauso wie der Drang zur Macht.)

Freud stellte aber auch fest, daß der Komplex auf der oralen Ebene eintreten kann; das scheint einen abhängigen Charakter zu schaffen, so daß wir die Abhängigkeit mit der Erwerbssucht und dem Machtstreben in einem Trio gruppieren müssen. Wenn wir nun Persönlichkeiten haben, die diese drei Einflüsse aufweisen (zu den schon früher diskutierten Faktoren), werden dann nicht auch in den Gesellschaften diese Trends dominieren?


  106

Die Antwort lautet: »Ja.« Die Puritaner waren in ihrer Beschäftigung bemerkenswert anal, wie ich in <The Angel Makers> ausführlich beschrieben habe. (Die merkwürdige Assoziation von Protestantismus und Kapitalismus, die Professor R. H. Tawney in seinem berühmten Buch <Religion and the Rise of Capitalism> geschildert hat, wird dadurch erklärt.)

Die Kwakiutl von der amerikanischen Nordwestküste, die Ruth Benedict geschildert hat, befassen sich stark damit, Macht übereinander zu gewinnen. Sie horten Reichtum, den sie dann zerstören. Der Mann, der die meisten Erwerbungen zerstören kann, gewinnt den höchsten Status und beschämt seine Gegner. Obwohl sie nach Macht streben, sind sie sicher nicht anal-retentiv. Schließlich zeigt unsere eigene Gesellschaft starke Abhängigkeitselemente. Neben der weitverbreiteten Tendenz, Hilfe vom Staat zu fordern (ob es nun Subsidien für Geschäfte oder die Landwirtschaft sind oder Wohltätigkeits­zahlungen, Gesundheits­dienste und so weiter für Angestellte), weisen wir auch eine immense Beschäftigung mit Essen und Trinken, Nahrungsqualität und so weiter auf.

Die Popularität der Gewohnheit des Rauchens verrät ebenfalls orale Elemente, und das Saugen an einer Zigarette, Zigarre oder Pfeife ist oft mit dem Saugen an der Brust der Mutter verglichen worden. Die Wirkung des Saugens ist beruhigend, denn es entspannt unbewußt orale Ängste; daher die Neigung, sich in Augenblicken des Streß <eine anzuzünden>.

Ich trage diese Ideen deshalb vor, weil sie zu der viel weitergehenden Frage führen, inwieweit unsere Methoden der Kindererziehung unbeabsichtigt Schemata aufstellen, die die ganze Beschaffenheit der Gesellschaft beeinflussen. Wenn das der Fall ist, werden Versuche, die Gesellschaft lediglich durch politische Mittel zu modifizieren, unwirksam sein; umgekehrt können wir die Gesellschaft in gewünschten Richtungen modifizieren, wenn wir verstehen, wie das, was wir tun, sich auf den erwachsenen Charakter auswirkt.

Ich muß hinzufügen, daß nicht alle Charakteristika der Persönlichkeit auf diese >Umwelts<-Art gebildet werden. Es gibt sicherlich ererbte Faktoren, die die Ebene der Intelligenz und wahrscheinlich auch die der zur Verfügung stehenden Energie beeinflussen.

Manche Menschen sind grundsätzlich energisch — andere treiben lässig oder apathisch dahin. Und wie Eysenck gezeigt hat, scheint auch die Tendenz zur Neurose erblich zu sein. Trotzdem bleibt das hier Angeführte im Zusammenhang mit der Rekonstruktion der Gesellschaft ein Thema von entscheidender Bedeutung, ich werde im Kapitel 10 darauf zurückkommen.


  107

   7   Schlußfolgerung   

 

Die Gesellschaft erscheint in meiner Überschau als ein Schlachtfeld von Ideen — aber mehr noch als ein Schlachtfeld der Persönlichkeitsschemata, denn die Ideen sind die Projektionen der variierenden Persönlichkeitsstrukturen. Das wirklich bedeutende Faktum ist dabei die tiefe Kluft, die die Typen trennt. Der harte Individualist kann nicht begreifen, was der zarte Naturliebhaber will. Für diesen wieder wäre die Anlage einer Kupfermine oder der Bau einer Fabrik inmitten eines Nationalparks oder einer anderen romantischen Landschaft nicht bloß asozial, sondern eine Entweihung: es wäre fast so, als ob die Fabrik in einer Kirche erbaut würde, in der die Menschen Gott verehren, und die dann während ihrer Gebete drauflos lärmt. Die Gottheit wird verscheucht.

Für den pragmatischen Individualisten sind all diese Steine und Bäume bloß eine Art von Gott gegebener Abfallplatz, aus dem man sehr wohl die Stücke und Teilchen herausholen kann, die einem gerade passen. Die zwei Parteien sprechen einfach nicht die gleiche Sprache.*

* Natürlich gibt es Präsidenten von Zechen und anderen Industriegesellschaften, die schön gelegene Häuser auf dem Land besitzen oder ihren Urlaub in einer schönen Gegend verbringen, während ihre Firmen die Landschaft zerstören, die andere genießen. Zweifellos bedeutet ihnen diese Landschaft wenig; wenn das aber der Fall ist, sollten sie sich schämen.


 108

Die gleiche tiefe Kluft trennt den Paternisten und den Maternisten. Ich will ein Beispiel anführen. Vor kurzem wurde in Birmingham, Großbritannien, eine Klinik für impotente Männer eingerichtet, deren Impotenz psychologischer Natur war und auf einer Furcht vor Frauen basierte. Man arrangierte es, daß Frauen, als unbezahlte Freiwillige, mit diesen Männern sprachen, ihre Furcht zu beschwichtigen versuchten und schließlich, wenn es sich so ergab, mit ihnen ins Bett gingen. Mit der Versicherung, daß man sie nicht verspotten würde, wenn nichts geschah, konnten einige dieser Männer ihre Potenz wiedererlangen, und als sie einmal erkannt hatten, daß sie wirklich Männer waren, hatte die Kur dauernden Erfolg. Für einige Männer, deren einzige Erfahrung mit Frauen eine dominierende Mutter oder eine nörgelnde Frau gewesen waren, half allein ein Gespräch mit einem warmherzigen, nicht fordernden Mädchen, ihfe ganze Haltung gegenüber Frauen zu ändern. Ein örtlicher Würdenträger, der auf das, was er <eine organisierte Unmoral> nannte, wütend war, brachte es fertig, die Klinik schließen zu lassen.

Man könnte denken, daß extreme Ansichten wie diese die Ausnahme sind — daß sich die meisten Menschen in einer Mittelposition treffen. Untersuchungen beweisen jedoch, daß die Menschen zu extremen Ansichten neigen. In einer Studie, bei der 22.208 Personen über den Grad von Überzeugung befragt wurden, mit der sie verschiedene soziale Haltungen vertraten, stellte man fest, daß die meisten Menschen auf die Behauptungen mit >Ich bin dafür< oder >Ich bin sehr dafür< oder >Nicht dafür< reagierten, und nur eine kleine Minderheit >Ich bin unsicher, wenn ich gedrängt würde, würde ich wahrscheinlich für den Vorschlag stimmen* oder >ich bin un-entschlossen< angab. Wie der britische Psychologe R. H. Thouless vor vielen Jahren betonte, macht die Tatsache, daß eine Frage widersprüchlich ist, die Menschen in ihrem Glauben nicht unsicher; entweder beharren sie mit einem großen Grad von Überzeugung auf ihrem Glauben oder sie lehnen ihn genauso energisch ab. (Wir sehen das dauernd in der Politik.)

Die Bedeutung von all dem für eine Revision der Lebensstile ist entscheidend. Es ist absolut unwahrschein­lich, daß sich eine Mehrheit der Bevölkerung einer großen modernen Gesellschaft auf einen Lebensstil einigen kann oder auch nur dahingehend, die Lebensstile anderer zu tolerieren. Im Gegenteil, sie werden versuchen, das Schema, das sie selbst vorziehen, anderen aufzuzwingen. 

So liefert der Marxismus keine Lösung außer für harte Radikale, der Faschismus bietet nur eine Lösung für harte Konservative. Das Christentum wird nur zartgesinnten Konservativen eine Lösung bringen. 

Die menschliche logische Analyse (und das gilt auch für dieses Buch) besitzt ihren Appeal nur für zartgesinnte Radikale.

In diesem Tetralemma (und ich könnte es mit noch mehr <Hörnern> versehen, wenn ich ein komplizierteres System der Analyse verwenden würde) gibt es nur einen Kurs, der überhaupt Hoffnung bietet: All unseren Einfluß darauf zu verwenden, zukünftige Generationen auf die Mittelpositionen zuzudrängen.  

Es gibt gute Beweise dafür, daß solche Haltungen durch die Erfahrung der frühen Kindheit, durch Erziehung und durch die Werte, die in der Kultur der Gesellschaft eingebettet sind, gebildet oder zumindest entwickelt und verstärkt werden. Wenn andererseits Erbdeterminanten am Werk sind, mag die Aufgabe hoffnungslos erscheinen. Ich meinerseits neige zu der Ansicht, daß solche Haltungen großenteils oder gänzlich erworben sind und daß wir sie ändern können. Für den Paternismus/Maternismus glaube ich das ganz bestimmt, bei dem Hart/Zart bin ich mir weniger sicher. Diese Frage müßte dringend genauer untersucht werden.

Was sich aus meiner Analyse ebenfalls ergibt, ist die sehr grundlegende Tatsache, daß wir uns bei dem Studium möglicher Lebensstile ebenso sehr mit der Persönlichkeit wie mit der Gesellschaft befassen müssen. Die Kluft zwischen den beiden wird durch den Begriff der Werte überbrückt. Werte werden von der Gesellschaft übermittelt und bestimmen das Verhalten oder beeinflussen es zumindest. Für viele Menschen ist die Sprache der Werte akzeptabler als die Sprache der Psychologie, die ich angewandt habe. Gleichzeitig können nur wenige Menschen präzise aussagen, was sie mit <Werten> meinen oder erklären, wie diese Werte arbeiten. 

Im nächsten Kapitel wollen wir also die Suche nach der besten aller möglichen Welten in den Begriffen der Werte neu formulieren.

109

#

Von Taylor im Text erwähnt:

1901

 

 

 

  www.detopia.de     ^^^^

Gordon Rattray Taylor  -  Rethink: Radical Proposals to Save a Disintegrating World