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4 - Der Wert der Werte

1 Einleitung   2 Wertalternativen   3 Absolute Werte und ethischer Relativismus   4 Das Bedürfnis nach Gewißheit 

 

   1. Einleitung  

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Jedermann stimmt darin überein, daß sich die Werte verändern. Einige Gelehrte sagen uns, was wir tun müssen, um die alten Werte wieder herzustellen. So bedauert Professor Bronfenbrenner, der Wirtschafts­wissenschaftler von Carnegie-Mellon, der für das US-Schatzamt und die Bundes-Reservebank gearbeitet hat, »daß wir den alten Wert des Selbstvertrauens verwässert haben«. Andere erklären jedoch, daß das technologische Zeitalter <neue Werte> fördert — was diese auch sein mögen, und daß unsere Schwierigkeiten aus unserem Versagen stammen, sie zu entfalten.

Trotz der allgemeinen Übereinstimmung, daß Werte von entscheidender Wichtigkeit sind, gibt es kein Buch, das spezifisch darauf eingeht, wie und warum Werte sich ändern und was wir deswegen unternehmen sollten. Diesem Mangel ist jedoch abzuhelfen. Die letzten zwei Kapitel haben es klar gemacht, wie sich unsere Werte ändern: paternistische Werte wurden großenteils durch maternistische Werte, die Selbstbeherrschung durch Spontaneität und Betonung des Ausdrucks ersetzt, um es so kurz wie möglich zu fassen. Die Werte des harten Ichs weichen wenigstens bei den Jungen jetzt denen des weichen, das heißt, der Individualismus und das Wettbewerbsstreben machen dem Gruppenbewußtsein und der Kooperation Platz. Die Gründe für diesen Wandel wurden schon kurz skizziert. 

Wir sollten hier vermeiden, von einem Extrem ins andere zu verfallen. Jeder dieser Werte ist wertvoll; unser Fehler ist es, jeweils den einen über- und sein polares Gegenstück unterzubewerten. Auf die Frage, wie man Extreme vermeidet, werde ich gleich ausführlicher eingehen, doch möchte ich zuerst eine andere Art, wie Werte sich ändern, erwähnen.

Einige Autoritäten haben das Gefühl, daß die Werte eher verschwinden, als daß sie sich ändern. Zu ihnen gehört George W. Morgan von der Brown-Universität, der in seinem scharfsinnigen Buch <The Human Predicament> schreibt: 

»Die Werte befinden sich in Auflösung. Viele von uns besitzen keine tiefen Überzeugungen, was gut, gerecht, schön oder würdig ist — genauso­wenig hinsichtlich des Gegenteils. Ideale, die das Leben ausfüllen, sind selten. Viele Menschen glauben nicht wirklich, daß es Dinge gibt, die Respekt, Kampf oder Opfer verdienen. Nur wenige Menschen sind mit einem vitalen Sinn des Echten im Gegensatz zum Unechten ausgerüstet.« 

Die Tatsache, daß wir heute erkennen, wie gewaltig sich verschiedene Gesellschaften hinsichtlich ihres Wert­systems unterscheiden, hat, wie er glaubt, zu einem ethischen Relativismus geführt, der dem Begriff alle Bedeutung nimmt. Wenn wir nie glauben können, daß eine Sache besser ist als eine andere, werden die Werte nichtig, und aus der Toleranz wird Gleichgültigkeit: <Das ist uns völlig egal> — und das Leben wird bedeutungslos.

Der daraus entstehende Zynismus kann zur Annahme rein opportunistischer, egozentrischer, kurzfristiger Verhaltensmaßstäbe führen. Robert Neidorf, der an einer Universität der Westküste lehrt, berichtet voll Entsetzen, daß er drei Gespräche in oftmaliger Wiederholung hörte: 

»Mitglieder der neuen Generation haben mir gesagt, daß ein Mann, der ein Abkommen einhält, das er, wenn er die Möglichkeit hätte, nicht noch einmal schließen würde, ein Heuchler ist. So ist Integrität jetzt als Heuchelei bekannt. Man hat mir gesagt, daß ein Mann, der an einem Projekt arbeitet, das nicht sofort ein Gefühl der Unterhaltung oder Befriedigung auslöst, ein Narr ist: so sind Voraussicht und Wissensliebe jetzt als Torheit bekannt. Man hat mir als absolute Wahrheit gesagt, daß es keine wirklichen Wahrheiten gibt und daß jede Meinung so gut wie eine andere ist; manchmal klingt es so, daß der Sinn für Form und Ordnung, der Sprachen möglich macht, bewußt beiseitegesetzt wird.«

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Das ist eine hedonistische, opportunistische, relativistische Weltanschauung, und ich kann Dr. Neidorfs Verzweiflung verstehen; wenn auch nur die Hälfte davon stimmt, ist die Lage offensichtlich ernst, und es ist höchste Zeit, den Prozeß, durch den sich die Werte auflösen, zu erforschen, um etwas dagegen unternehmen zu können. Ich glaube nämlich, daß die Verzweiflung ungerechtfertigt ist.

Ehe die Diskussion jedoch fortgesetzt werden kann, muß ich mit einigen Erklärungen und Definitionen beginnen — denn es gibt keinen gemeinsamen Hintergrund für die Ideen noch auch nur eine Übereinstimmung über die Verwendung des Wortes <Wert>.

 

Anthropologen verwenden es in einem anderen Sinn als Wirtschaftswissenschaftler, die sich mit dem wirtschaftlichen Verhalten befassen. Für den Wirtschaftswissenschaftler ist alles, was sich ein Individuum einbildet, für dieses Individuum ein <Wert>, und sein Wert kann in monetären Begriffen als der <Preis> ausgedrückt werden, den es dafür zu zahlen bereit ist. Auf dieser Basis haben natürlich Rauschgifte einen hohen Wert, während viele Menschen erklären würden, daß sie gesellschaftlich gesehen einen niedrigen oder sogar einen negativen Wert haben. Der Anthropologe befaßt sich in einer viel allgemeineren Art und Weise mit der Verhaltensmotivierung: so ist der Mut für ihn ein Wert und auch die Vorsicht, obwohl beide von den Menschen nicht für einen Preis gekauft werden können. Insbesondere befaßt er sich mit gewissen Grundannahmen, den sogenannten Kernwerten, die das Verhalten auf weiten Tätigkeitsgebieten bestimmen und die in einer Weltanschauung oder einen Ethos koordiniert sind. In diesem Sinne werde ich das Wort gebrauchen.

Wie ich schon angedeutet habe, sind die Werte eng mit dem Verhalten verknüpft. Viele Soziologen verwenden den Begriff <Werte> als eine Art Kurzbeschreibung des Verhaltens — wenn sich ein Mensch selbst beherrscht verhält, wird ihm Selbstbeherrschung als Wert zugeschrieben. Das nennt man eine <normative> Verwendung des Begriffs, was heißen soll, daß sie von einer Verhaltensnorm abgeleitet ist. 


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Eine derartige Behandlung der Angelegenheit ist jedoch künstlich und zwar aus dem augenscheinlichen Grund, daß die Menschen oft den von ihnen vertretenen Werten nicht gerecht werden; mit anderen Worten, Werte beschreiben mehr einen Geisteszustand als einen Verhaltenstyp. Ich beziehe mich nicht auf die Tatsache, daß Menschen oft Werten ein Lippenbekenntnis zollen, die sie nicht wirklich vertreten. Mir geht es vielmehr um Menschen, die einen gewissen Verhaltenstyp ehrlich schätzen — sagen wir Freimut —, obwohl sie ihn selbst nicht aufbringen können. Sie können wegen dieses Versagens sogar Schuldgefühle haben. Umgekehrt können sich Menschen auf eine gewisse Art verhalten, ohne diese ausdrücklich als wünschenswert zu verfechten, ja sie können sich deswegen sogar entschuldigen. (>Ich fürchte, ich bin ein schrecklicher Feigling.....<)

Werte, wie sie hier definiert werden, unterscheiden sich von Vorlieben — zum Beispiel Vorlieben für gewisse Speisen — darin, daß sie ganz allgemein sind. Ein Mensch, der die Spontaneität bevorzugt, wird sie wahrscheinlich auf so verschiedenen Gebieten bevorzugen wie dem Tanz oder der Erziehung, der Religion oder dem Eheleben. Auf ähnliche Weise unterscheiden sie sich von den Hilfsmitteln. Daß man an den Wert der Technologie oder des Goldstandards glaubt, ist kein Wert. (Daß man aber an den Wert des Auspeitschens glaubt, ist ein Ausdruck der allgemeinen Wertschätzung einer strengen Disziplin.)

Man bemerke auch, daß es der Soziologe vermeidet, ein Urteil zwischen zwei entgegengesetzten Werten zu fällen: er bewertet die Werte nicht. Spontaneität und Selbstbeherrschung sind für ihn nur zwei Verhaltensmodi. Er ist stolz darauf, daß er eine >wertfreie< Methode besitzt. Heute sind die Menschen mit einem schwachen Neutralismus aber unzufrieden; sie wollen wissen, ob ein Wert wirklich wertvoller ist als ein anderer. Denn was soll man tun, wenn alle Werte gleich wertvoll sind? Wie soll man sein Leben führen? Ein Navigator braucht einen Leitstern. In diesem Kapitel möchte ich mich daher mit dem Werk gewisser Anthropologen und Psychologen befassen, um, wie es meiner Meinung nach möglich ist, ohne persönliche Vorurteile ein Schema verläßlicher Werte aus dem ethischen Mischmasch herauszuziehen, das uns die Soziologen vorgelegt haben.


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Bis jetzt habe ich über Werte gesprochen, als ob jedermann klar umrissene Vorstellungen über seine Werte hätte, die Wahrheit ist aber viel subtiler. Ein Team kanadischer Anthropologen, das die Wertvorstellungen in einer von ihnen Crestwood Heights genannten Vorortsgemeinde untersucht hat, wies darauf hin, daß das, was die Menschen tun, gewissermaßen im Gegensatz zu ihren Aussagen steht. Sie zeigten auch, daß Männer und Frauen in solchen Fragen zu entgegengesetzten Standpunkten neigen. Beispielsweise neigten Frauen (auf der Basis der Umfragen) zu größerem Optimismus und glauben, daß alles besser wird, während die Männer einen zynischeren und depressiveren Standpunkt einnehmen. Und doch sind es in der Praxis die Männer, die hauptsächlich für Verbesserungen arbeiten und über die Fehler schimpfen, die sie sehen, während die Frauen einen realistischeren Standpunkt vertreten und sie akzeptieren. Oder — um ein anderes Beispiel zu wählen — neigen Männer zu der Ansicht, daß die Vernunft der beste Führer zum Handeln ist und daß man Gefühlen mißtrauen solle; in der Praxis verlassen sie sich aber oft auf <Ahnungen> und fällen Entscheidungen, ohne lange zu überlegen. Die Frauen glauben, daß man seinen Gefühlen trauen solle, und fühlen doch, daß man nicht glücklich sein kann, wenn man nicht immer etwas Neues lernt.

Im Licht dessen, was ich über Paternismus und Maternismus gesagt habe, ist es nicht überraschend, wenn diese Autoren erklären, die Männer neigten dazu, die Ordnung als etwas Gutes an sich und die Freiheit als Sicherheitsventil zu betrachten. Wenn sie sich eine Orgie gestatten, dann nur deshalb, um nachher besser arbeiten zu können. Im Gegensatz dazu schätzen die Frauen die Ordnung nur als ein Mittel zur Freiheit, und wenn sie sich eine Orgie gestatten, dann ist die Orgie das Ziel und nicht ein Mittel zum Zweck. Wieder sind die Männer die <Macher>, sie erklären, daß man etwas leisten muß, um glücklich zu sein. Frauen sind <Sein>-Menschen, sie erklären, daß man glücklich sein muß, um etwas erreichen zu können.

Es wäre interessant festzustellen, wieweit solche Unterscheidungen in anderen Gemeinden und in anderen Ländern zu finden sind. Ich erwähne diese Feststellungen nicht, weil ich etwa glaube, daß sie universell gültig sind, sondern um zu demonstrieren, daß die Schemata, die ich beschreibe, notwendigerweise Vereinfachungen der Wirklichkeit darstellen und weil sie in sich selbst interessant sind.


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Eine andere Serie von Unterschieden, die in jeder Hinsicht systematisch-anthropologisch viel zu wenig erforscht wurde, ist die zwischen Jung und Alt. Sie gilt nicht nur heute und für den Westen, sondern ganz allgemein. Es ist sehr wohl bekannt, daß junge Menschen mehr zum Radikalismus neigen als alte. (<Wer mit zwanzig kein Sozialist ist, hat kein Herz, wer mit vierzig kein Konservativer, keinen Kopf>.) Ich vermute, daß man nach dem Tod des Vaters leichter seinem Beispiel folgen kann — zumindest diejenigen, die das Vaterbild ursprünglich abgelehnt haben —, und das mag den wachsenden Paternismus im Alter erklären. Junge Menschen sind wiederum im allgemeinen optimistischer, während die Alten zum Zynismus tendieren — aber es gibt viele Ausnahmen. Wir können diese Positionen zusammenfassen, indem wir sagen, daß die Jungen mehr zum weichen Ich und zum Maternismus neigen als die Älteren.

Mit jedem Kardinalwert sind gewisse emotionelle Worte assoziiert. Einige emotionelle Worte für den Paternismus sind zum Beispiel: alt, traditionell, Respekt, Ordnung und so weiter, der Kardinalwert ist Konformität. Der Kardinalwert des Maternisten ist die Spontaneität und die entsprechenden emotionellen Worte sind: neu, effektiv, frei und Erfolg, während für das weiche Ich-Individuum (dessen Kardinaltugend die Selbstlosigkeit ist) die Schlüsselworte lauten: kommunal, Harmonie, Großzügigkeit. Das erklärt, warum in einer Erfolgsgesellschaft wie der unseren die wirksamsten Werbeworte beim Verkauf eines Produkts >neu< und >frei< sind, wie alle Reklameleute bestätigen können. Die Leiter großer Unternehmen wiederholen in ihren Reden die Worte ihrer Reklame. Die Industrie schafft >eine neue Welt<. Mechanische Instrumente werden die Menschen von der Plackerei >befreien<, sie >frei machen* für Reisen und so weiter. (In den Reformkostgeschäften jedoch, die von den weiches-Ich-Menschen bevorzugt werden, ist >natürlich< das Schlüsselwort.)


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Diese Beschäftigung mit Schlüsselideen erscheint auch auf politischem Gebiet, und die Diagnose unserer Gesellschaft als einer hartes-Ich-Gesellschaft wird bestätigt. So ergab ein Überblick über die relativen Werte verschiedener Politiker, den Professor Berkley Eddins von der Universität von Buffalo (auf Grund öffentlicher Aussagen der Politiker) machte, daß die führenden politischen Gestalten Amerikas — Richard Nixon, Edward Kennedy, Edmund Muskie, Ronald Reagan, Hubert Humphrey, George McGovern und John Lindsay — alle die Freiheit an die Spitze einer Liste von fünf Werten stellten, die die Studie untersuchte. Ralph Nader setzte jedoch die Ordnung an die Spitze und die Freiheit an den letzten Platz — wie das schon Plato lange vor ihm tat. (Es ist auch interessant, daß Nixon, Kennedy und Reagan die Weisheit an den letzten Platz setzten: Plato reihte sie gleich hinter der Ordnung ein.) Diese Feststellungen bestätigen sehr hübsch meine Interpretation — daß das Umdenken, das jetzt im Gange ist, in politischer Hinsicht die hartes-Ich-Werte verse weiches-Ich-Werte betrifft.

Europa — das ist sicher — bietet ein weniger klar umrissenes Bild, da hier auf vielen Sektoren der Gesellschaft noch paternistische hartes-Ich-Werte vorwiegen. >Neu< ist für den Paternisten, der dazu tendiert, die alten Methoden für die besten zu halten, nicht automatisch >besser<. Es ist so, wie eine Gestalt in Guy Mannering sagte: »Selbst eine anerkannte Unannehmlichkeit mit langer Überlieferung sollte nicht ohne gewisse Vorsicht abgeschafft werden.«

  

  2  Wertalternativen  

 

Der Anthropologe Clyde Kluckhohn, Rhodes-Stipendiat und Dr. phil. der Harvard-Universität, der vor nicht allzu langer Zeit starb, machte sich seinen Namen durch eine ausführliche Studie der Navaho-Indianer — die übrigens die außerordentlich interessante Kombination individualistischer und altruistischer Werte entwickelt haben. Seine Frau Florence nennt sich Erzieherin, sie könnte aber genau so gut als Anthropologin gelten. Sie hat ihr Leben der Analyse der Grundwerte gewidmet, die Menschen in verschiedenen Gesellschaften besitzen, und diese Analyse auf praktische Probleme wie Geisteskrankheit, emotionelle Fehlanpassung, kulturellen Wandel und so weiter angewandt.


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Ihre Feststellungen beleuchten meine Analyse; sie gehen tatsächlich noch weiter, indem sie ganz klar anzeigen, wohin wir zielen sollten, wenn wir die Werte unserer Gesellschaft neu ordnen wollen.

Ihren Überlegungen zufolge gibt es fünf Gebiete von grundsätzlicher Bedeutung, die sie >Wertorientierungen< nennt:

1. Die Beziehung des Menschen zum anderen Menschen
2. Die Beziehung des Menschen zur Natur
3. Die Beziehung des Menschen zu sich selbst
4. Die Beziehung des Menschen zur Zeit
5. Die Modalität der Aktivität

Auf jedem dieser Gebiete können wir die Wertwahl-Möglichkeiten entdecken, die ich beschrieben habe, aber auch eine dritte Alternative, die nicht so sehr ein Kompromiß zwischen den zwei Gegensätzen, sondern eher die dritte Ecke eines Dreiecks ist, eine neue und konstruktivere Position.

 

1. Beziehung zum anderen Menschen:  

Florence Kluckhohn weist darauf hin, daß es drei Wege gibt, auf denen sich ein Mensch zu anderen Menschen in Beziehung setzen kann. Er kann Individualist sein, mit allen anderen Menschen konkurrieren und ihre Ansichten, wie man sich verhalten sollte, mißachten. Auf dem anderen Extrem kann er kunstvolle hierarchische Strukturen errichten, in denen jedes Individuum jedem anderen entweder übergeordnet, gleichgestellt oder untergeordnet ist (wie in der Armee) und wo das Verhalten innerhalb dieser Beziehungen vorgeschrieben ist. Die dritte Alternative ist die, kooperative Gruppen zu bilden, die intern organisiert sind, extern aber mit anderen Gruppen konkurrieren — wie es in einer Gesellschaft der Fall ist, die noch nicht das Studium des Monopolkapitalismus erreicht hat. Man kann leicht einsehen, daß das hierarchische Schema (Florence Kluckhohn nennt es linear) das ausdrückt, was ich die paternistische Haltung genannt habe, während Individualismus das harte Ich spiegelt. Das kooperative Schema jedoch entspricht Mittelpositionen auf beiden Skalen: es ist ein Kompromiß zwischen hart und weich, zwischen Struktur und fehlender Struktur. Und da die Mittelpositionen die besten sind, mag das der Grund für ihren Erfolg sein. 


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Natürlich sprechen wir oft von der westlichen, besonders der amerikanischen, als einer individualistischen Gesellschaft. Wie aber Margaret Mead in ihrem Buch <Cooperation and Competition in Primitive Societies> nachgewiesen hat, ist unsere Gesellschaft nicht völlig individualistisch, sondern weist auch kooperative Anstrengungen auf. Wenn die Kooperation, wie etwa bei einem Streik oder einer Aussperrung, zusammenbricht, unternimmt man große Anstrengungen, um den Willen zur Kooperation wieder herzustellen. Der Individualismus und die monolithische Organisation sind als Extreme weniger wirksam als die Kooperation: der erste weist Motivierung auf, ermangelt aber der Struktur, um Wirkung zu erzielen, die zweite besitzt die Struktur, tendiert aber zu einer schwachen Motivierung.

Natürlich ist es nicht nur die industrielle Organisation, die in Frage steht. Die gleichen Prinzipien gelten auch für die politische Organisation, für Kirchen und sogar für die Familie.

 

2. Beziehung zur Natur: Auch hier sind wieder drei Haltungen möglich. Der Mensch kann fühlen, daß er schwächer ist als die Natur und daß er nach ihren Gesetzen leben muß: er ist ihr untergeordnet. Im Gegensatz dazu kann er sich berechtigt fühlen, sie zu erobern und auszubeuten. Oder er kann versuchen, mit ihr in Harmonie zu leben und seine Ziele mit Mitteln zu erreichen, die ihr nicht schaden. Unser neugeborenes Bewußtsein für Umweltprobleme hat uns die Tatsache klargemacht, daß sich der westliche Mensch lange Zeit berechtigt fühlte, die Natur zu vergewaltigen und auszubeuten. Das ist ein Trend, der vielleicht mit den Römern begann. Unsere Sprache steckt voll von Phrasen wie >die Eroberung des Dschungels<, >die Vergewaltigung der Erde<, >die Ausbeutung der Bodenschätze< und so weiter. Im Gegensatz dazu behandeln viele primitive Völker die Natur mit Respekt. Das Töten von Nahrungstieren ist durch Tabus beschränkt, man nimmt nur, was man braucht. Das Töten von Tieren des Sports wegen bis zu einem Punkt, wo der Bestand der Spezies bedroht wird (die fanatische Niedermetzelung der Büffel in den USA im neunzehnten Jahrhundert ist hier das Paradebeispiel), hat in solchen Gesellschaften kein Gegenstück. In vielen Gesellschaften ist selbst das Fällen eines Baumes eine Angelegenheit, die überdacht werden sollte: der Fäller entschuldigt sich bei dem Baum und verspricht, als Ersatz einen anderen zu pflanzen.


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Derartige Haltungen werden häufig einfach einem vernünftigen wirtschaftlichen Verstand zugeschrieben: der sogenannte Wilde erkennt, daß er die Pflanzen und die Tiere nicht gefährden darf, von denen er abhängig ist. Wir können das aber auch bis zur Persönlichkeitsstruktur zurückverfolgen — dem weichen Ich, das Pflanzen und Tiere mit einer lebendigen Seele versieht, und das bei dem Menschen, der sie vernichtet, ehrlichen Schmerz verursacht. So ist die Ausbeutung der Natur eine Manifestation des harten Ichs (zweifellos mit Elementen des Paternismus gemischt).

Die dritte Möglichkeit ist die, in Harmonie mit der Natur zu leben. Wenn wir zum Beispiel eine Tür anfertigen, wird die Tür schließlich einmal verfallen, und ihre Bestandteile werden sich dem gleichen natürlichen Kreislauf anschließen, wie wenn der Baum im Wald gefallen wäre. Wir haben den Zyklus für unsere eigenen Zwecke modifiziert und verlängert, wir haben ihn aber nicht aufgehalten. Wenn wir die Tür aber aus unzerstörbarem Kunststoff anfertigen, haben wir eine Sperre in den natürlichen Zyklus eingefügt. Wir arbeiten nicht mehr in Harmonie mit der Natur. Ähnlich ist es, wenn wir einen Fluß oder einen See leblos machen. Die Tatsache, daß heute viele Menschen für einen Wandel in unseren Kernwerten — von der Ausbeutung der Natur zu einem harmonischen Leben in Harmonie mit der Natur — eintreten, können wir auf diese besonderen Werte ohne allzugroßes Vorurteil eingehen. Im Fall einiger der Kernwerte, die wir diskutieren werden, mag eine unparteiische Haltung schwieriger sein.

 

3. Der Begriff des Selbst: Der Mensch neigt, wie es scheint, dazu, sich als von Natur aus böse, von Natur aus gut oder — was vernünftiger sein mag — als eine Mischung aus beidem zu sehen. Wie ich gezeigt habe, verrät es eine Last von Schuld, wenn man sich für unrettbar böse hält; in der Regel ist diese von strengen Eltern und einem intensiven Ödipuskonflikt herzuleiten. Sich für von Natur aus gut zu halten, ist im Gegensatz dazu eine maternistische Haltung und erscheint historisch als der Rousseausche Glaube an den >Edlen Wilden<. Beides sind Extreme. Heute ist der Glaube in Mode, daß Kinder von Natur aus gut sind und nur freigelassen werden müssen, um sich natürlich zu entwickeln.


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Die Argumente, die ich vorgebracht habe, zeigen, daß der Glaube an die ursprüngliche Tugend auf seine Art so falsch ist wie der Glaube an die ursprüngliche Sünde. Der Mensch ist eine Mischung aus beiden.

In der Theologie kann jede dieser Positionen noch weiter qualifiziert werden. Der Mensch kann als böse, aber als der Erlösung fähig gesehen werden, oder als gut, aber fähig, aus der Gnade zu fallen. Christus versprach natürlich die Erlösung, aber einige Sekten waren so von dem Gefühl des Bösen erfüllt, daß sie erklärten, die Erlösung" sei auf eine kleine Zahl von Menschen beschränkt, denen sie schon im voraus versprochen worden war, so daß die Erlösung für die Mehrheit unmöglich wurde; diese Formel ermöglichte es ihnen, den Buchstaben der Lehre Christi zu erhalten, während sie den Geist änderten. Mehr noch, sie behaupten, daß das Kind, das nicht getauft wurde, in die Hölle fahren muß. Wir können das mit dem schuldfreien Kommentar der christianisierten Samoaner in Kontrast setzen: »Warum soviel Zeit in Reue zubringen, wenn Gott bloß darauf wartet, dir zu vergeben?«

Wir können diese kontrastierenden zwei Positionen heute auch in den Haltungen zu Verbrechen und Strafen entdecken. So sind manche dafür, daß der Verbrecher nicht bestraft wird, denn seine Kriminalität ist nicht seine Schuld, sondern die der Gesellschaft. (Wie der >Edle Wilde< ist er durch die Zivilisation verdorben worden.) Die Gesellschaft sollte lediglich versuchen, ihn zu reformieren und seine natürliche Güte wieder herauszuholen. Das ist eine maternistische Ansicht. Des weiteren neigt der Maternist dazu, die Aktionen nach den Absichten des Täters zu beurteilen. >Er wollte keinen Schaden anrichten< oder >Er konnte nicht anders, er wurde eben so erzogen< sind für den Maternisten hinreichende Entschuldigungen. Nicht so für den Paternisten, der fühlt, daß Taten in sich gut oder schlecht sind und daß unrechte Aktionen bestraft werden sollten, wie gut auch die Absicht war. (So sollte auch ein Mann verurteilt werden, der einen Tyrannen ermordet hat.) Richter betonen oft diese absolute Ansicht des Gesetzes, während die Geschworenen in solchen Fällen oft Zusätze hinzufügen, wie >er handelte auf eine starke Provokation hin<.


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So sieht der Paternist den Menschen als zum Bösen geboren, für das er bestraft werden muß. Er kann durch Furcht vor Strafe vom Mißverhalten zurückgehalten, aber er kann nicht reformiert werden. Es ist unschwer zu erkennen, wie sich die letztere Haltung mit einem Glauben an Disziplin verbindet, die Gegenseite mit einem Glauben an Spontaneität. Wenn der Mensch von Natur aus gut ist, muß man ihn nur von den Verzerrungen der Gesellschaft befreien und ihn überreden, er selbst zu sein.

 

4. Die Haltung zur Zeit: Der Mensch kann in die Vergangenheit schauen, für die Gegenwart leben oder in die Zukunft blicken. Die Araber liefern ein Beispiel für Menschen, die in die Vergangenheit schauen, sie zitieren unaufhörlich historische Präzedenzfälle und Parallelen zu dem, was sie tun. Diese Aufmerksamkeit für das Werk unserer Väter ist dem Charakter nach offensichtlich paternistisch. Die Amerikaner, so wird oft gesagt, blicken in die Zukunft, obwohl Margaret Mead die Ansicht vertreten hat, daß es die meisten Amerikaner schwer finden, mehr als fünf oder zehn Jahre zurück- oder vorauszusehen, was andeutet, daß sie für die Gegenwart leben. (Amerikaner bezeichnen ein Projekt, das zehn Jahre in die Zukunft reicht, typischerweise als langfristig.) Der Blick in die Zukunft verbindet sich viel klarer mit progressiven Bewegungen einschließlich des Kommunismus. Man glaubt an eine rosige Zukunft, um die Leiden in der Gegenwart zu rechtfertigen. Das Wachstum der <Futurologie> ist ein Zeichen für eine Verlagerung des Interesses auf die Zukunft, und der Glaube, daß ein Kuchen am Himmel hängt, kann als maternistisch bezeichnet werden.

Die Zukunftsorientierung verbindet sich also mit Optimismus. Der Paternist dagegen denkt, daß die <Dinge nicht mehr so sind, wie sie waren>, das heißt, daß die Maßstäbe verfallen. Gewöhnlich ist er ein Pessimist. Der Maternist andererseits hat das Gefühl, daß alles besser wird.

Die vernünftige Position besteht erstens in der Erkenntnis, daß die Zukunft möglicherweise schlechter und die Vergangenheit möglicherweise besser sein mag als die Gegenwart, und zweitens in einem gegenwartsbezogenen Leben in dem Sinn, daß man aus der Gegenwart so viel Freude und Entwicklungen wie möglich aus ihr herausholt. 


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Der Urlauber, der so damit beschäftigt ist, seine Kamera zu betätigen, daß er in Wirklichkeit nicht genau sieht, was er eigentlich fotografiert, ist typisch für die Art von Menschen, die den Wert einer Erfahrung nicht erleben können, weil sie sich hauptsächlich mit einem zukünftigen Ereignis befassen, nämlich in diesem Fall, die Fotografie anzusehen. Was ist aber besser? Das Parthenon zu sehen oder eine Aufnahme davon?

5. Modalität der Tätigkeit: In letzter Zeit haben die Jungen damit begonnen, eine Unterscheidung zwischen den Tat- und den Sein-Menschen zu treffen. Für unsere Väter war Tätigkeit wesentlich. Die Standphrase >Tu etwas, steh nicht einfach herum< würde für einen Indianer wenig Sinn ergeben, der gelehrt wurde, in Augenblicken der Gefahr bewegungslos >einzufrieren< — ein Schema, das sich in den Wäldern bewährt, im Großstadtverkehr aber höchst gefährlich sein kann. In unserer Gesellschaft wird die Tätigkeit um ihrer selbst willen geschätzt: aller Sport ist Tätigkeit um der Tätigkeit willen. (Nach der paternistischen Ansicht wird der Satan Arbeit für müßige Hände finden.) In einer Krise verspürt ein Amerikaner den Drang, etwas zu tun, selbst wenn eine nützliche Betätigung nicht möglich ist. Mit einem Mal aber ist das Ideal eines Menschen, >der was schafft<, in Verruf geraten: in einigen Sektoren der Gesellschaft ist es zum bevorzugten Lebensstil geworden, passiv dazusitzen, nicht einmal zu überlegen, sondern nur den Sonnenschein zu genießen oder inneren Träumereien nachzuhängen. Für die Sein-Menschen ist eine Betätigung eine unnötige und sinnlose Mühe, die einen lediglich vom Leben ablenkt.

Tun und Sein sind die zwei Extreme in Dr. Kluckhohns entscheidender Kategorie der Wertorientierung. So wenig vertraut diese Wahl für viele von uns im Westen ist, ist sie dem Anthropologen doch ziemlich geläufig. Die Nuer im Sudan beispielsweise sind Tat-Menschen. Die Mexikaner sind Sein-Menschen, die zufrieden sind, einfach dazusitzen und sich zu entspannen.

Da ich die Ansicht vertreten habe, daß Mittelpositionen die besten sind, wird es nicht überraschen, wenn ich beide Extreme für unklug halte. Was ist dann die dritte Alternative? Florence Kluckhohn nennt sie das Werden. Die buddhistische Religion wird als ein Beispiel für eine Doktrin des Werdens zitiert.


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Während die Buddhisten eine fieberhafte körperliche Betätigung verurteilen, sind sie der Ansicht, daß der Wandel durch natürliches Wachstum und durch Entwicklung kommen muß. Ein diktatorisches Planen ist daher genau so unerwünscht wie Trägheit. Der politische und gesellschaftliche Wandel muß sich genauso wie der persönliche von innen heraus entwickeln.

Aus dem gleichen Grund ist einfacher Hedonismus eine ebenso nichtige wie widersinnige Betätigung. Er fördert nicht das Wachstum und die Entwicklung, sondern eher eine fortschreitende Sättigung, die das Gegenteil von Entwicklung ist. (Merkwürdigerweise haben wir kein Wort für das Gegenteil von Entwicklung mit Ausnahme von so spezialisierten Begriffen wie <Regression> oder <De-differenzierung>.)

Zusammenfassend läßt sich sagen, daß es in allen diesen fünf Grundgebieten eine dritte Position gibt, die den anderen nachweislich überlegen ist. In die Form von Vorschriften gebracht, sollte der Mensch mit anderen Menschen kooperieren, in Harmonie mit der Natur leben, sich weder als Kind der Sünde noch als <Edlen Wilden> sehen, in der Gegenwart leben, aber sich immer weiter entwickeln, realistisch in seinen Ansichten zwischen Optimismus und Pessimismus bleiben.

Diese multipolaren Wertwahlmöglichkeiten, deren verschiedenartige Verteilung den Anthropologen faszinierten, umfassen jedoch nicht die Gesamtheit der Werte: es gibt noch andere, die substantiell in allen Gesellschaften die gleichen sind und lediglich akzeptiert oder abgelehnt werden können. Wir könnten sie die <einpoligen Werte> nennen.

 

6. Unsere pervertierten Werte: Es wurde oft festgestellt, die westliche Gesellschaft leide darunter, daß sie die »falschen Werte< besitze. Wir seien zu materialistisch. Wir beschäftigten uns hauptsächlich mit dem Erfolg als einer Art Selbstbestätigung, >dem anderen über-legen< zu sein. Wir seien dem Glauben verhaftet, daß >größer< auch >besser< und damit das Wachstum in sich selbst gut ist. Diese Anklagen beziehen sich auf eine tieferliegende Fehleinschätzung, die nur selten erwähnt wird. 


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Wir bewerten Kompetenzen und Leistungsfähigkeit hoch — zu hoch — bis zum Ausschluß der Spontaneität und des Gefühls, denn ein Mensch, der sich auf die Durchführung einer komplizierten Aufgabe konzentriert, kann es sich einfach nicht leisten, seinen Impulsen nachzugeben und seinen Gefühlen zu willfahren. Wir tendieren in der Tat dazu, daß wir viel mehr an den Mitteln als an den Zielen interessiert sind. Oder, wie es manchmal ausgedrückt wird, unsere Werte tendieren dazu, Instrumenten zu sein.

 

Ich halte es für nützlicher, das zu spezifizieren, was wir unterschätzen als das, was wir überschätzen, weil Kompetenz an sich etwas Gutes und weil materielle Befriedigung an sich nichts Schlechtes ist. Nur wenn die Verfolgung dieser guten Ziele dazu führt, daß eine andere Seite unserer Natur verkümmert, sollten wir anfangen, uns Sorgen zu machen. Die meisten Autoritäten stimmen darin überein, daß wir dazu neigen, die Bedeutung der emotionellen und schöpferischen Seiten unserer Natur zu unterschätzen. Der Protest derer, die ich Anhänger der Neuen Linie genannt habe, richtet sich hauptsächlich dagegen, und dieser Punkt mag, intellektuell gesehen, als richtig gelten, selbst wenn es viele Menschen gibt, die dahingehend keine Bedürfnisse fühlen. Weniger offenkundig ist die Tatsache, daß wir die Kontemplation unterschätzen — das Bedürfnis, über das Leben zu reflektieren und zu versuchen, es zu <verstehen>. Wir müssen das, was wir darüber lernen, in unser System von Haltungen inkorporieren, statt einfach in einer reservierten Weise davon zu wissen. (Es ist ein gewaltiger Unterschied zwischen dem Wissen, daß jemand getötet wurde, und dem Erleben des Tods eines Menschen, den man intim kennt; das gleiche gilt für weniger katastrophale sowie auch für erfreuliche und befriedigende Erfahrungen.)

Die menschliche Persönlichkeit hat, wie Freud argumentierte und wie mittlerweile auch seine Kritiker allgemein akzeptiert haben, drei Ebenen: das Uber-Ich, das Ich und das Es. Oder, um es in gewöhnlicherer Sprache zu sagen: die Gefühle und Impulse, die aus dem primitiven Teil des Gehirns kommen (— das Es), die Fähigkeit zu denken und das Verhalten zu koordinieren und an einem langfristigen Plan zu arbeiten (= das Ich) und die Werte, Tabus und Hemmungen, die das Verhalten lenken und begrenzen (= das Über-Ich).


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Unser Zeitalter betont die Ich-Funktionen, das heißt Geschicklichkeit, Kompetenz, die Fähigkeit, mit einer Aufgabe fertig zu werden. Wir schätzen sie höher als Liebe und die Fähigkeit zu fühlen und sogar höher als Selbstbeherrschung, obwohl diese an Wichtigkeit unmittelbar danach rangiert. Im Mittelalter stand Selbstbeherrschung, zumindest von Seiten der Kirche, an erster Stelle. In der vorchristlichen mediterranen Welt wurde häufig das Es an die erste, das Ich an die zweite und das Uber-Ich an die letzte Stelle gesetzt. So kann man die Geschichte für gewisse Zwecke in Begriffen des sich verlagernden Gleichgewichts zwischen drei Komponenten sehen.

Wie der Soziologe Kenneth Keniston von der Universität Chicago erklärt hat, ordnet unser Zeitalter die Fantasien nicht nur unter, sondern sperrt Menschen, wenn sie nicht ein gewisses Minimum von Ich-Stärke zeigen, regelrecht ein. Und doch können viele andere Gesellschaften solche Menschen tolerieren, und einige wenige betrachten sie sogar als besonders begabt. Wahrscheinlich ist der >drop-out< und der Straftäter für die menschliche Entwicklung typischer als der hartes-Ich-Typ, den unsere Gesellschaft fordert und bewundert. Des weiteren weist Keniston darauf hin, daß unsere Intoleranz gegen Schizophrenie und die umfassendere Definition, die wir heute geistigen Störungen geben, die >überzogene< Beschäftigung mit den Ich-Tugenden spiegelt.*

Sicher, das Ich ist wichtig, aber es gibt Augenblicke, in denen wir hinter die Kulisse treten und den anderen Seiten der Persönlichkeit eine Chance geben sollten, ins Rampenlicht zu rücken. Unglücklicherweise neigen wir dazu, das Ich als unser besseres Selbst anzusehen und das Es zu verachten. Der Preis dieser Unausgeglichenheit ist hoch. Das Individuum, das unter der Diktatur seines Ich steht, erleidet eine Verkümmerung seiner Persönlichkeit. Der weiches-Ich-Mensch wird der Gesellschaft entfremdet, die ihm keine Rolle anbietet. 

* Kenneth Keniston, The Uncomitted, Harcourt Brace and World, 1965, Kapitel 12.


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Es ist die Technologie, die hartes-Ich-Menschen fordert und von ihnen geschaffen wird — ein zirkulärer Vorgang, in dem die Forderungen nach Ich-Tugenden ständig eskalieren und vielleicht jetzt bereits die gesellschaftlich tolerierbare Grenze erreicht haben; es gibt nicht mehr genug hartes-Ich-Menschen, die die angebotenen Plätze einnehmen könnten. Wir haben daher, wie Keniston beobachtete, nur drei Möglichkeiten: mit der Technologie weiterzumachen, zur Vergangenheit zurückzukehren oder eine neue Gesellschaft zu finden, deren Werte über die der Technologie hinausgehen.

Vor vielen Jahren argumentierte der geachtete Soziologe Thorsten Veblen, daß es zwei verschiedene menschliche Denkmodi gebe — er nannte sie instrumentell und institutionell —, die alle menschlichen Aktionen formten. Diese meiner Ansicht nach falsche Unterscheidung wurde durch den Psychologen John Dewey und den Wirtschaftswissenschaftler Clarence Ayres weiter ausgearbeitet und ist inzwischen sehr einflußreich geworden.* Diesen Autoritäten zufolge korrespondiert die instrumentelle Haltung, die pragmatisch forschend ist, mit dem Ich, während die institutionelle, die die Werte betont, mit dem Uber-Ich korrespondiert. Soziale Veränderungen treten als Ergebnis der forschenden instrumentellen Haltung ein, während die institutionelle Haltung so weit wie möglich festgelegt bleibt.

Als gute Amerikaner und Angehörige einer Erfolgsgesellschaft billigen Dewey, Ayres und Co. die instrumentelle Haltung ohne Zögern und betrachten die institutionelle mit Verachtung. Was sie dabei nicht erfassen, ist, daß instrumentelle Werte nur die Mittel betreffen und keine Hilfe hinsichtlich der Endziele bieten. Werte wie Objektivität und Selbstbeherrschung helfen uns, Wissenschaft und Technologie zu entwickeln, Flugzeuge zu bauen und das Atom zu spalten. Sie funktionieren, aber sie sagen uns nicht, ob die Atomspaltung wünschenswert ist oder wozu wir das Flugzeug verwenden sollten. Nur die Werte, die durch den kumulativen Gedanken und die Erfahrung derer destilliert werden, die Zeit haben, die Realität aufzunehmen und zu betrachten, vermögen uns zu den Endzielen zu leiten.

* Siehe C. Ayres, Theory of Economic Progress, University of North Carolina Press, 1944.


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Der Fehler, den diese Pragmatiker machen, ist die Annahme, daß die institutionellen Werte veraltet sind, weil sie alt sind. Für sie ist das Traditionelle das Altmodische und Überholte. Absolute Werte veralten jedoch nicht: Freundlichkeit ist auch heute besser als Grausamkeit, genauso wie das vor 2000 Jahren war. Das soll nicht heißen, daß alle herausgebildeten Werte jeder Gesellschaft wünschenswert sind oder daß sie unter geänderten Bedingungen keine Neuformulierung nötig haben. Aber wir sollten auch die gesammelte Weisheit nicht leichtfertig wegwerfen. Die Vergangenheit als unbedingt schlecht zu behandeln und die Zukunft für unvermeidlich gut zu halten, wäre genauso dumm wie die umgekehrte Verfahrensweise.

Allen Wheelis beweist Einsicht, wenn er zum Kampf zwischen den instrumentellen und den institutionellen Praktiken bemerkt, daß die ersteren über die letzteren zwar zu siegen scheinen, daß sie aber viel zerstören, ohne das Zerstörte zu ersetzen: so schwächen sie zum Beispiel die Familie, bieten aber nichts als Ersatz an. Mehr noch, da die institutionellen Werte unterminiert werden, scheint die Bedeutung des Lebens verloren zu gehen, denn diese fällt stets mit dem institutionellen Vorgang zusammen. »Institutionen betonen die Existenz einer gesellschaftlichen Realität, die dem Individuum übergeordnet ist, sie erklären, daß dieses Übergeordnete allein Sinn hat und daß das individuelle Leben Bedeutung nur kraft seines Platzes in diesem größeren Ganzen erlangt.« Wie wir später noch sehen werden, ist das Identitätsgefühl im Menschen auf seine und seiner Gesellschaft Werte gegründet. Der Verlust der Identität ist der Preis für den Versuch, die Instrumentalität zu fördern.

George W. Morgan drückt in vertrauterer Sprache ähnliches aus, wenn er die modale Persönlichkeit unserer Zeit als die <prosaische Mentalität> beschreibt. In seinem Buch The Human Predicament schreibt er: »Die prosaische Mentalität wird durch eine Ansammlung von Haltungen und Interessen charakterisiert, die sie als überlegen erklärt, während sie andere Haltungen und Interessen ignoriert, leugnet oder unterdrückt. Der prosaische Mensch interessiert sich für Abstraktionen (die er Fakten nennt), Methoden, Prozeduren und Techniken und das, was ich klar umrissene Grenze nennen werde.« 


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Der prosaische Mensch betont die Buchstäblichkeit und preist die Objektivität. Diese Haltungen sind für die Wissenschaft zentral, obwohl sie einen Menschen nicht wissenschaftlich machen, und sind in unserer von der Wissenschaft beherrschten Welt zum Mittelpunkt geworden.

Wie Morgan ausführlich beweist, degradieren derartige Haltungen die Geschichte und führen zu Konsequenzen, die den Menschen selbst klein machen und degradieren. Genau so, wie der Mensch durch einen Wolkenkratzer zur physischen Bedeutungslosigkeit reduziert wird, wird er durch ein >AUzuviel< der Kultur und durch die Flut von Daten, die er nicht mehr aufnehmen kann, zur geistigen Bedeutungslosigkeit herabgedrückt. Morgan führt an, daß es mehrere Wege gibt, um die Dinge zu erfassen, von denen die Wissenschaft nur einer ist. Historisches Wissen und künstlerisches Wissen sind ebenso gültige Modi des Begreifens wie der wissenschaftliche. Wir nehmen es aber in steigendem Maße für gegeben hin, daß die Welt auf die wissenschaftliche Ansicht von der Welt beschränkt ist. Wie ein Mann, der eine belebte Straße überquert, sehen wir den Himmel nicht, weil wir zu sehr damit beschäftigt sind, nach dem Verkehr Ausschau zu halten. Weil wir uns auf die Mittel konzentrieren, entdecken wir die Werte nicht.

Aber es genügt nicht, lediglich zu sagen, daß wir mit der Effizienz beschäftigt und durch die Mittel fasziniert sind. Unsere Schwierigkeit liegt darin, daß wir die Vielseitigkeit des Lebens vernachlässigen und die Tatsache ignorieren, daß menschliche Aktionen von vielen Standpunkten aus zugleich bewertet werden müssen. Ich nenne diese Täuschung den <naiven Pragmatismus>. Ich möchte dafür ein Beispiel geben.

Wenn wir ein Essen zubereiten, ist das erste Ziel — oder sollte es sein —, den Hunger zu stillen und die nötigen Nährstoffe zu liefern. Aber im Leben erfüllen Mahlzeiten gleichzeitig verschiedene andere Funktionen. Sie führen die Familie zusammen — oft ist sie, nachdem die Familiengebete verschwunden sind, die einzige Zeremonie, die die Familie mit täglicher Regelmäßigkeit zusammenbringt. Mahlzeiten ermöglichen auch, daß sich Freunde treffen, sie liefern Gelegenheit, daß die Gastgeberin ihr Geschick und ihren Geschmack demonstriert, sie führen zu guten Gesprächen und so weiter. Sie können auch eine rituelle Komponente haben und an vergangene wichtige Gelegenheiten erinnern, wie etwa das Passahfest.


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Der naive Pragmatismus besteht darin, diese Vielseitigkeit zu übersehen. Wenn wir annehmen, daß die Darreichung von Nahrungsmitteln die einzige Funktion einer Mahlzeit ist, werden wir den Mitgliedern der Familie gestatten, zu verschiedenen Zeiten zu essen oder schon auf dem Heimweg einen Imbiß zu sich zu nehmen. Wir werden mit geschmacklosen, aber leicht zubereiteten Gerichten zufrieden sein, die ziemlich formlos serviert werden. Wir werden uns nicht darum kümmern, wenn die Menschen beim Essen die Zeitung lesen oder fernsehen und so weiter. Indem wir das tun, verdrängen wir wichtige Komponenten aus unserem Leben, und es gibt keine Garantie dafür, daß wir sie anderswo wieder einsetzen werden. Tatsächlich ist der Fall der Mahlzeiten keineswegs trivial: der Verlust an Familienstruktur, der als Folge solcher Veränderungen wie der Zersetzung der zeremoniellen und ästhetischen Komponenten beim Essen entsteht, ist sicher in enger Verbindung mit sozialen Problemen wie Verbrechen und Selbstmord zu sehen.

Der naive Pragmatismus, der eine Mahlzeit einfach als Ernährungsvorgang behandelt, ist auch auf vielen anderen Gebieten evident. <Es ist o.k., wenn es funktioniert>, ist der Kern der pragmatischen Philosophie. Die Theorie von der <technologischen Zwickmühle> basiert auf dem Pragmatismus. Ein interessantes Beispiel für diese Methode ist die Vermeidungstherapie, bei der Menschen durch Anpassungstechniken gegen einen neurotischen Zwang behandelt werden. Zum Beispiel erhält ein Gewohnheitstrinker ein Brechmittel, bis ihm der Anblick eines Drinks Übelkeit bereitet. Eine derartige Behandlung tut nichts gegen den emotionellen Zustand, der ihn zum Trinken getrieben hat, und läßt ihn entweder auf der Suche nach einem anderen Beruhigungsmittel oder in Verzweiflung zurück. Daß eine derartig grobe Methode überhaupt vorgeschlagen, geschweige denn praktiziert werden konnte, ist dem Umstand zuzuschreiben, daß man sich darauf konzentriert, das Trinken zu verhindern, und dabei die anderen Faktoren ignoriert.


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Andere <praktikable> Techniken (zum Beispiel Tests von Mitteln zur Erhaltung von Vorurteilen) verhöhnen die menschliche Würde für den privaten Bereich, die Freundschaft, das gesellschaftliche Leben und so weiter. Aber die menschliche Würde ist nur ein Faktor, den die naiven Pragmatiker übersehen, wenn auch der wichtigste. Eine Parade am 1. Mai ist nicht nur ein Mittel, um von Punkt A zu Punkt B zu gelangen. Ein Feuer ist nicht bloß eine Methode, einen Raum zu erwärmen: es ist der Brennpunkt einer menschlichen Gruppe (wie das Wort Fokus, das Herd bedeutet, anzeigt). Deshalb vermag, menschlich gesehen, die Zentralheizung ein offenes Feuer nicht angemessen zu ersetzen, das einem Raum Leben und Bewegung verleiht und zugleich als Sammelpunkt dient. Ein Auto ist nicht einfach ein Transportmittel, es ist ein Statussymbol und eine Quelle ästhetischer Freude. Manchmal ist es der einzige elegante Gegenstand, den ein Mann besitzt. Die Pragmatiker begreifen das natürlich intellektuell, aber es bedeutet für sie nichts. Deshalb stellen sie eine Gefahr dar.

Wir müssen den Wert der Werte neu bestätigen, wenn wir eine akzeptable Welt schaffen wollen.

   

  3  Absolute Werte und ethischer Relativismus  

 

Heute haben viele Menschen das Gefühl, daß das Wachstum an Wissen alle ethischen Maßstäbe zerstört hat. Weil eine Gesellschaft Selbstbeherrschung und eine andere Spontaneität bewundert, oder weil eine Gesellschaft erklärt, daß die Ehe monogam sein müsse, und eine andere, daß sie polygam sein kann, haben die Menschen den Eindruck gewonnen, daß unsere westlichen Maßstäbe keinen absoluten Wert besitzen, und sie tendieren zu Opportunismus und Hedonismus. 

Alle Handlungen scheinen allmählich gleich statthaft zu werden. Ferner bewirkt ein rascher gesellschaftlicher Wandel, den Wert der akzeptierten Werte zu untergraben und die Menschen zur Annahme einer subjektiven Position zu zwingen. Aus diesem Grund versuchen Menschen heute nicht mehr, eine moralische Position zu beziehen, sondern sie wünschen sich <anzupassen>. 

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Wir sagen nicht mehr, daß der Straftäter unrecht hat, sondern daß er schlecht angepaßt, <milieugestört> ist. (Mit der anderen, gleich irreführenden Ansicht, daß die Gesellschaft dem Straftäter gegenüber schlecht angepaßt ist, werde ich mich später befassen.) Wenn aber nichts mehr von Wert erscheint, hat das Leben keine Bedeutung mehr. Die existentielle Verzweiflung, die man heute so weithin empfindet, entspringt genau diesem Zusammen­bruch der Werte. Meine Argumentation widerspricht insofern der Verzweiflung, indem sie erklärt, daß viele Werte bipolar sind und daß jedes dieser Paare seine guten und schlechten Aspekte hat. Man könnte das gleiche auch von einem Wert wie <Mut> sagen. Eine tollkühne Mißachtung der Gefahr ist schwerlich wünschenswert, außer vielleicht in einigen verzweifelten Situationen, in denen die Wahlmöglichkeit <Tu's oder stirb!> heißt. Darum haben wir auch zwei Worte für viele Werte: Tapferkeit, wenn wir den Mut billigen, Tollkühnheit, wenn wir das nicht tun, Feigheit bei Mißbilligung, Vorsicht bei Billigung.

Es gibt aber noch andere Werte, die nicht so offensichtlich bipolar sind. So ist Ehrlichkeit gut, Unehrlichkeit schlecht, die Wahrheit gut, die Lüge schlecht. Oder noch mehr, Lebensretten ist gut, Mord aber schlecht. Niemand würde im Ernst vorschlagen, in solchen Dingen eine Mittelposition einzunehmen. Niemand hat je Schwäche, Wankelmut oder Feigheit bewundert. Natürlich kann ein zwanghaftes Anklammern an solche Werte schädlich sein, da hierdurch der Zusammenstoß mit anderen Werten verursacht wird. Einem Menschen unnötig eine schmerzliche Wahrheit zu sagen, verletzt den Wert der Freundlichkeit oder der Rücksichtnahme. Selbst die Vernichtung von Leben ist gelegentlich gerechtfertigt, besonders wenn dadurch verhindert wird, daß andere Leben zerstört werden.

Trotz dieser speziellen Situationen haben wir keinen wirklichen Zweifel hinsichtlich des absoluten Charakters dessen, was wir moralische Imperative nennen. Die Anthropologen berichten, daß jede Gesellschaft solche Imperative anerkennt, selbst wenn sie dabei unterschiedliche Grenzen setzen mag.

Die meisten Diskrepanzen zwischen den <moralischen> Maßstäben in anderen Gesellschaften und unserer eigenen, die uns in Erstaunen oder in Verblüffung versetzen, fallen in die Sphäre der sexuellen Moral. Genau gesehen sind das aber überhaupt keine moralischen Fragen: es sind lediglich Fragen der Sitte und der Angemessenheit.


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Es wäre eine vergebliche Mühe, Don Carlos in Tibet aufzuführen, wo Vater und Sohn allgemein üblich die gleiche Frau teilen. Prinzipien wie die Monogamie haben keinen moralischen Inhalt, sondern entstehen aus unbewußten Befürchtungen — in diesem Fall dem Ödipuskomplex. Sie sind buchstäblich tabu. Im Westen haben wir in letzter Zeit erlebt, wie sich die magische Furcht vor der Masturbation verflüchtigt hat, einer Übung, die sicherlich eine armselige Alternative zum normalen Sex darstellt und die, wie andere Formen der Selbstbefriedigung, schädlich ist, wenn sie übertrieben wird, die aber in sich keine Sünde ist, noch mit schrecklichen Strafen verfolgt wird. 

Für die Scherpas in Tibet ist es ein schlimmeres Verbrechen, ein Kind zu schlagen oder ein lebendes Geschöpf zu töten, als Ehebruch zu begehen. Wer kann sicher sein, daß sie unrecht haben? (Es gibt jedoch ein sexuelles Tabu, das universal ist — die Blutschande, besonders zwischen Mutter und Sohn. Das hat, wie ich vermute, seine Wurzeln in der Notwendigkeit, den Sohn psychologisch von der Mutter zu entwöhnen, und somit vernünftige Ursachen.)

Trotz all dem bleibt es wahr, daß die Vorschriften und Sitten einer Gesellschaft nicht beiläufig in eine andere eingeführt werden sollten. Die Konventionen einer Gesellschaft passen zusammen in ein Schema, und wenn es geändert wird, werden korrespondierende Änderungen anderswo nötig. Noch weniger wünschenswert ist es, daß Individuen ihre eigenen Regeln aufstellen. Einen Fremden in einer Gesellschaft, wo sich die Menschen gewöhnlich die Hände schütteln, durch Nasenreiben zu begrüßen, verursacht nur Verwirrung. Zwei Frauen zu haben, macht die Sitzordnung an einem Eßtisch in einer formell monogamen Gesellschaft sehr peinlich. Selbst die arabische Praxis, während des Monats Ramadan nicht vor Einbruch der Nacht zu essen, verwirrt europäische Wirtinnen. V/ie diese trivialen Beispiele andeuten, ist jede Sitte in einen kulturellen Zusammenhang gebettet; sie zu ändern, verursacht zumindest Unbequemlichkeiten und im schlimmsten Fall echte Leiden.


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Die Ethik ist jedoch nicht die einzige Sphäre, wo absolute Prinzipien angeführt werden können. Es gibt noch eine andere: die Ästhetik. Die Noten eines Septakkords stehen in einer mathematischen Beziehung hinsichtlich der Frequenz ihrer Schwingungen, und eine Oktave ist in Indien eine Oktave wie in Europa. Die Proportionen des Tadsch Mahal sprechen den Europäer genauso an wie den Inder, weil die Regeln der Proportionen universal sind. Einige Farben harmonieren, andere >beißen< sich. Richtig, man kann verschiedene Tonskalen konstruieren. Die Musik Indiens klingt nicht wie die Europas, noch sieht der Tadsch Mahal aus wie die St. Pauls' Kathedrale in London. Auch hier gilt es, die Regel der Zusammenhänge zu beachten. In einer langen Sequenz von Akkorden kann ein Disakkord durchaus einen legitimen Platz einnehmen, Farben können sich manchmal zu guter Gesamtwirkung >zusammenbeißen<. Alle Regeln können gelegentlich durchbrochen werden. Die Beurteilung ist alles.

Wir dürfen die Kategorien aber nicht verwirren. In Kapitel 2,1 habe ich darauf hingewiesen, wie oft moralische (oder genauer gesagt ethische) und ästhetische Urteile verwirrt sind. Der Paternist beurteilt ästhetische Fragen mit ethischen Maßstäben, der Maternist verfährt umgekehrt. Die Mittelposition ist, wie man hinzufügen könnte, daß man beides in Betracht ziehen muß. Das Kunstwerk, das ethisch entwürdigend ist, wird nicht durch seine Schönheit oder Lebenswahrheit entschuldigt. Genausowenig ist ein ethisches Verhalten befriedigend, wenn ihm die Anmut fehlt.

Um zusammenzufassen: der ethische Relativismus ist (vorausgesetzt, daß wir die sexuellen Konventionen dabei weglassen) ein Schreckgespenst, das nicht existiert.*

 

* In Lehrbüchern über Ethik wird gewöhnlich ein Unterschied zwischen drei Typen von ethischen Systemen gemacht: der Ethik des Prinzips (Mord ist unter allen Umständen unrecht), der Ethik der Absichten (»Ich wollte keinen Schaden anrichten«) und der Ethik der Resultate (»Es war etwas zweifelhaft, es wurde aber kein Schaden angerichtet«). Ich habe mich nicht damit befaßt, weil die einzige Ethik, mit der wir arbeiten können, die Ethik der Intentionen (Absichten) ist. Wenn gute Absichten schlechte Resultate haben, können wir uns schuldig fühlen, und man kann uns auch die Schuld geben, aber das ist erst nach dem Ereignis der Fall. Vor dem Ereignis können wir es nur gut meinen. Ich lehne die Ethik des absoluten Prinzips ab, weil die Umstände die Fälle ändern. Ich gebe zu, daß ich in diesem begrenzten Sinn ein ethischer Relativist bin.


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Wo es um unipolare Werte geht, sind die Prinzipien völlig klar, wo es sich um bipolare Werte handelt, benötigt man nur ein Gefühl der Proportion. Es ist durchaus wahr, daß es im wirklichen Lebear Situationen gibt, wo es schwer ist, das richtige Urteil zu fällen. Da wir den Ausgang unserer Aktionen nicht mit Sicherheit voraussagen können, besteht immer die Möglichkeit, daß wir ein Fehlurteil treffen. Unsere moralische Verantwortung ist darauf beschränkt, das Beste zu tun, das wir in einem altruistischen Sinn tun können. Insbesondere sollten wir uns nicht selbst täuschen, daß wir aus moralischen Gründen handeln, wenn wir in Wirklichkeit einem Vorurteil oder einem zwingenden Bedürfnis nachgeben.*

  

   4  Das Bedürfnis nach Gewißheit  

 

Um noch einmal zusammenzufassen: es ist völlig richtig, zu sagen, daß unsere gegenwärtige Krise eine Krise der Werte ist. Aber die Krise entsteht weniger aus dem Wandel in den bipolaren Werten — was den meisten Menschen auffällt —, sondern aus der Degradierung der Werte und dem Subjektivismus, der dem Aufgeben der Tradition gefolgt ist.

In Abwesenheit fester Werte sind wir darauf beschränkt, uns auf unseren Geschmack zu verlassen oder den Vorlieben der Mehrheit zu folgen. (Da die Mehrheit ebenfalls das gleiche tut, führt das zu einer endlosen <Jagd> oder einer Oszillation, dem sogenannten <Wandel der Mode>.) Der Zusammenbruch des Absoluten verursacht kulturellen Nihilismus. Eine Sache ist gut, wenn sie gefällt, die Originalität bleibt das einzige unbestreitbare Kriterium. So entsteht eine Manie nach Neuheit.

* Hinsichtlich weiterer Erörterungen der Anthropologie der Moral siehe John Ladd: The Süuctme of a Momle Code, Harvard, 1957, eine Studie der Navahos; und H. Ginsberg The Diveisity of Moials, Essays on Sociology and Social Philosophy, Bd. 3, Houtledge and Kegan Paul, 19s6 bis 196r; ebenso C. von Fürer-Heimendorf, Glückliche Barbaren, Wiesbaden 1963.


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Der kulturelle Nihilismus führt zugleich zu einer Rebellion gegen die Vernunft. Wenn man feststellt, daß die Produkte der Überlegung unbefriedigend sind — das Wort ist vielleicht nicht angemessen, wenn man bedenkt, daß die Atombombe eines dieser Produkte ist —, tendiert die Vernunft selbst dazu, abgelehnt zu werden. (Wie man gesagt hat: »Der Mensch, der herausgefunden hat, daß er nicht allein durch die Vernunft leben kann, scheint entschlossen zu sein, überhaupt nicht mehr nach der Vernunft zu leben.«) Des weiteren tendieren, wie Wheelis erklärt, die Produkte der Vernunft dazu, in Glaubensartikel umgewandelt zu werden, wie es beispielsweise mit dem Marxismus geschah. Ursprünglich ein intellektuelles Produkt, ist er zu einem Dogma geworden; wenn solche Dogmen als mangelhaft befunden und abgelehnt werden, könnte die Vernunft selbst abgelehnt werden.

All dem liegt der Wunsch des Menschen zugrunde, Gewißheit zu erlangen. Die traditionellen Lehren, einschließlich der Religion, boten Gewißheit. Indem die Menschen die Tradition ablehnten, lehnten sie auch die Gewißheit ab. Viele Menschen finden es aber schwer, ohne Gewißheit zu leben. So sagt Wheelis: »Es ist möglich, daß Über-Ich-Werte in der maßlosen Fähigkeit des Ichs, ohne sie auszukommen, verlorengehen. Viele Menschen verlieren Gott, ehe sie wirklich fähig sind, in einem ungeschützten Universum zu leben.« Ein reifes Ich ist nötig, um Entscheidungen ohne Bezug auf ein Über-Ich zu treffen, und genau das haben wir nicht — oder, besser gesagt, es ist nicht leicht zu erreichen. 

Nur bei einem stark reduzierten Tempo des Wandels könnten wir hoffen, den Schock zu absorbieren.

Die Sicherheit, die durch die Tradition geboten wird, ist zugegebenermaßen oftmals falsch: die Sicherheit, die durch den Instrumentalismus geboten wird, ist bei aller Begrenztheit zuverlässig. So sind wir mit der Wahl zwischen einer Sicherheit konfrontiert, die real, aber begrenzt ist, und der Sicherheit der Religion oder Ideologie, die illusorisch, aber unbegrenzt ist. Manche Leute finden, daß sie mit der Illusion leichter zurechtkommen als mit der Unsicherheit. Was die Menschen heute suchen, sind nicht neue, sondern dauerhafte Werte.


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Manchmal wird behauptet, wir müßten eine vielwertige Gesellschaft entwickeln. Wenn das eine Gesellschaft bedeutet, die Öffnungen für Menschen verschiedenen Typs bietet — für die ehrgeizigen wie für die lethargischen, für die selbstsüchtigen wie für die selbstlosen —, dann ist das als kurzfristige Politik vernünftig. Als langfristiges Ziel für die Gesellschaft als Ganzes ist der Gedanke jedoch absurd. Eine Gesellschaft kann nicht zugleich selbstsüchtig und selbstlos, kooperativ und konkurrierend, schöpferisch und destruktiv sein, ohne schizophren zu werden. In einer gegebenen Situation muß man entweder zusammenarbeiten oder konkurrieren, man kann nicht beides zugleich.

Das Rezept spiegelt den verschwommenen Glauben, daß es möglich sei, zwei Dinge auf einmal zu haben: einen Kuchen zu essen und ihn zugleich zu besitzen. Das gilt besonders für die absoluten Werte: man kann nicht zugleich Freundlichkeit und Unfreundlichkeit oder Wahrheit und Lüge schätzen. Daß ein solcher Vorschlag überhaupt gemacht werden konnte, deutet darauf hin, wie wenig ernstlich die Menschen über das Thema nachgedacht haben. Die Schwierigkeit liegt genau darin, daß wir eine vielwertige Gesellschaft bereits haben.

Ich habe in diesem Kapitel nicht versucht, den ganzen Bereich der persönlichen Werte zu erforschen, die in ein gesellschaftliches Wertsystem inkorporiert werden können. Ich hätte über Erwerbsstreben und Machtstreben sprechen können, über Abhängigkeit und Statussuche, über Aggressivität und Friedfertigkeit. In einigen Gesellschaften sind solche Haltungen die Eigenarten einer Minderheit, in anderen können sie so weit verbreitet sein, daß sie die ganze Kultur beeinflussen. Sie sind aber nicht nötig, um den allgemeinen Trend der Zeit oder die Gründe für unsere gegenwärtigen Unzufriedenheiten zu verstehen, und das ist meine Absicht. Auch wird gelegentlich an anderer Stelle des Buches darauf eingegangen werden.

Der Kern des Problems liegt, das möchte ich wiederholen, darin, daß wir die Ich-Tugenden (Leistungsfähigkeit) auf Kosten des Über-Ich (Moral) und des Es (Impuls) überbetonen. Diese Überbetonung wird auf vielerlei Arten aufrechterhalten, in der Reklame, in politischen Reden, in der Wahl, die Industrielle und Geschäftsleute, Bürokraten und Technologen treffen. Zu behaupten, daß ein Auto oder eine Atomkraftanlage Annehmlichkeiten bietet, ist nur ein Aspekt der Situation. Die Nachteile werden ignoriert.

Wir müssen die Bedeutung des Es und des Über-Ichs, der Gefühle und der Kreativität, der Kontemplation und der Moral, mit so viel Kraft und Lebhaftigkeit und so weitgehend bejahen, wie wir die Vorteile des materiellen Reichtums und der produktiven Geschicklichkeit bejahen. Aber das Bejahen allein genügt nicht. Das prosaische Individuum wird seine Haltungen nicht ändern, weil es einen anderen rufen hört: es kann das nicht, sie sind Teile seines Wesens. (Auch der <drop-out> kann die prosaische Mentalität nicht entwickeln, wenn er von festgelegten Individuen wegen seiner unverbindlichen Haltung getadelt wird.) 

So besteht das Problem — und das ist der Kern meines zentralen Themas — allein darin, wie weit wir allmählich die modale Persönlichkeit der Gesellschaft durch Erziehung, insbesondere durch veränderte Methoden der Kinder­erziehung, ändern können. 

Ehe wir uns aber diesem Thema zuwenden, möchte ich im zweiten Teil des Buches genauer untersuchen, was in unserer Gesellschaft nicht in Ordnung ist. In den nächsten drei Kapiteln werde ich eine Analyse ihrer Mängel sowohl vom Standpunkt des Individuums wie vom Begriff der Gesellschaftsstruktur selbst aus geben. Was erwartet der Mensch von der Gesellschaft? Das ist die erste Frage. 

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Von Taylor erwähnt:

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  Das Experiment Glück   Entwürfe zu einer Neuordnung der Gesellschaft  Rethink: Radical Proposals to Save a Disintegrating World