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6  Was Menschen zusammenhält     Taylor-1975

  Der Bruch der Sitte bricht die Welt entzwei.  -Shakespeare, Cymbeline-  wikipedia  Cymbeline (1610)

     1 Blindekuhspiel     2 Wir Abstauber    3 Die Anti-Kultur    4 Die moralische Krisis des Westens  

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    1  Blindekuhspiel   

An einem kalten Februarabend des Jahres 1966 stand Harry Minton vor einem Büfett in der Waterloo-Station in London und trank eine Tasse Tee, während er auf seinen Zug zur Heimfahrt wartete. Plötzlich hatte er ein seltsames Gefühl im linken Auge. «Es ist so, wie wenn einem jemand einen Tesafilm über die Pupille klebt» — so beschrieb er später seine Empfindung. Die Gesichter rings um ihn her verschwammen zur Undeutlichkeit. 

War ihm etwas ins Auge gekommen? Er blinzelte mehrmals, sein Auge begann zu tränen. Um ihn her verschwanden nach und nach die Leute, die Bücherstände, die Lampen, die Gepäckstücke, lösten sich auf, gingen unter «und ließen mich zurück, der ich dastand und in einen dunklen, trag dahinfließenden, gelblich-schmutzigen Fluß starrte». Er war plötzlich erblindet. Die Ursache, so erfuhr er später, war eine seltene Viruserkrankung.

Er sieht nichts mehr und tastet um sich, greift nach den Rockaufschlägen eines neben ihm stehenden Mannes. «Bitte, helfen Sie mir! Würden Sie bitte die Polizei herholen?» Der Angesprochene weiß nicht recht, was los ist. «Wieso? Was ist denn? Können Sie nichts mehr sehen?» Aber er verspricht, Hilfe herbeizuholen. «Bleiben Sie da 'ne Minute. Will sehen, was sich tun läßt.» Er geht weg, kommt aber nicht wieder. Harry Minton wendet sich jetzt an jemand anderen, mit gleichem Ergebnis. Und noch an acht weitere Leute. Erst der achte, ein junger Mann, reagiert anders. Er bringt Minton zu einer Bank, holt einen Polizisten herbei und alarmiert auch einen Krankenwagen. Als Minton ihm danken will, wehrt er ab: «Mein Gott, was ist das schon! Das ist doch selbstverständlich.»

Dieser Vorfall beleuchtet einen zentralen Mangel unserer Gesellschaft. In der trockenen Sprache der Soziologie heißt das «Verlust der Sozialbindung». Ich bin sicher, daß sich ein ähnlicher Vorfall nicht in dem Dorf hätte ereignen können, in dem ich wohne, und es lohnt sich, darüber nachzudenken.

In kleineren Kommunen bewahren sich die Leute ein Gefühl dafür, daß sie mit menschlichen Individuen zu tun haben. Ein Einkauf beim Krämer, ein Gang zum Postamt im Dorf ist, anders als meist in der Stadt, kein mechanischer Vorgang, den genausogut eine automatische Verkaufsvorrichtung ausführen könnte. Vielmehr ist es ein persönlicher Kontakt zwischen Menschen, die sich mit Namen kennen und von denen ein jeder ungefähr Bescheid weiß über die Lebensumstände der anderen: wo sie wohnen, ob sie Kinder haben und ähnliches mehr. Man hat etwas Zeit, um ein paar höfliche Worte miteinander zu wechseln oder ein Schwätzchen zu beginnen. 

In einer so überschaubar zusammenhängenden lokalen Gesellschaft bestehen auch soziale Zwänge. Wenn da ein Mitglied sich eine derartige Herzlosigkeit zuschulden kommen ließe, wie es die sieben Großstädter taten, die den Erblindeten einfach stehenließen, trüge ihm das einen Verlust an öffentlichem Ansehen ein, und er hätte daran zu tragen.

Gewiß hat das Leben in kleinen Gemeinden auch seine Nachteile, gerade weil man unter aller Augen lebt. Dies ist der Grund, warum viele Leute lieber in die Stadt ziehen, weil sie dort «machen können, was sie wollen». Aber der Preis für diesen Gewinn an Freiheit ist eine Einbuße an sozialem Zusammenhalt — mit allem, was dies mit sich bringt.

Die Erfahrung, die Harry Minton mit seinen Mitmenschen machte, ist gewiß weniger schrecklich gewesen als jener grauenvolle Vorfall in New York, bei dem ein Mädchen namens Kitty Genovese verfolgt und ermordet wurde, während über zwanzig Personen aus den Fenstern heraus zusahen und es nicht einmal nötig fanden, ans Telefon zu gehen, um die Polizei zu verständigen. Es mag sein, daß im Blick durch die Fenster und unter dem kalten Licht der Straßenlampen Kitty Genoveses Ermordung sich nicht viel anders ausnahm als eine der üblichen Mordszenen aus einem Fernsehkrimi. So könnte es sein, daß das Fernsehen ein Gefühl des unbeteiligten Zuschauertums ohne persönlichen Bezug zum Geschehen fördert.

Aber Harry Mintons Fall scheint mir gerade wegen seiner für Außenstehende undramatischen Art, der ganz die Faszination des Schreckens fehlte, und weil ein Eingreifen hier für keinen Helfer Gefahr gebracht hätte, von besonderer Aussagekraft zu sein. Ich habe ihn daher an den Eingang dieses Kapitels gestellt.

Aus den Fällen Harry Minton und Kitty Genovese spricht aber nicht nur ein Verlust an Bereitschaft, anderen zu helfen, sondern noch ein Weiteres: Verlust an Gewissen.

Man muß sich heute ja fast schon entschuldigen, wenn man einen so altmodischen Begriff wie «Gewissen» verwendet, aber es ist ein Begriff, der sowohl moralisch wie wissenschaftlich seine Geltung haben kann. 

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Die Psychologen haben Erklärungsmodelle erarbeitet, anhand deren wir die Formung des Gewissens oder Über-Ichs als Ergebnis einer Übernahme und Verinnerlichung elterlicher Vorbilder verstehen können. Dieser Prozeß der Verinnerlichung setzt schon in frühem Lebensalter ein, wahrscheinlich bereits im Alter von eineinhalb Jahren. Damit diese Verinnerlichung erfolgreich vor sich gehen kann, muß der Vater dem Kind ein Mindestmaß an Zuwendung entgegenbringen, selbst wenn er es streng erzieht. Aber ein Vater, der nur brutal ist oder das Kind ganz ohne Liebeszuwendung läßt, wird fast immer psychologisch abgelehnt, und das Kind wird dann eher seinen Maßstäben entgegenzuhandeln versuchen als sie übernehmen. 

Wie ich an anderer Stelle gezeigt habe, tendiert nun die moderne Gesellschaft dazu, die Kinder von ihren Vätern abzuschneiden, da sie ja oft erst von der Arbeit heimkommen, wenn ein Zweijähriger bereits im Bettchen ist. Andere Väter sind ganze Wochen lang nicht zu Hause, wie Seeleute, Handelsreisende und vielbeschäftigte leitende Angestellte. Außerdem wird die Ausbildung des Gewissens beeinträchtigt, wenn der Vater Alkoholiker, kriminell, charakterschwach oder in anderer Weise als Vorbild ungeeignet ist — vor allem dann, wenn dies von der Mutter noch dauernd betont wird. Der amerikanische Soziologe C. Wright Mills beklagte, daß es «vorbildliche Männer» nicht mehr gebe, also noble Charaktere, deren Leben anderen als Richtschnur dienen könne. (Daher komme, so sagte er, das gegenwärtige Interesse an Biographien historischer Persönlichkeiten.

Und er befand, daß «die Formung solcher vorbildlicher Männer ein Hauptziel unseres gemeinsamen politischen Lebens zu sein habe». Es wäre ihre Aufgabe, «Krisen in der moralischen Entscheidung allgemein sichtbar zu machen». Schlecht wirkt sich aus, daß der Sinn für den eigentlichen Inhalt des «Gesellschaftsvertrags» verlorengegangen ist, daß man nicht mehr weiß, daß ein Bürger mehr Pflichten hat als Rechte, daß die Beschränkung im persönlichen Anspruch der Preis ist für die Unterstützung durch die Gesellschaft als Ganzes. 

Diese Grundwahrheit sollte von Eltern nachdrücklich vertreten werden und auch in der Schule gebührend zur Darstellung gelangen.

Das Unvermögen in der Übernahme der Normen des Vaters erklärt das Ausufern der Permissivität und macht gleichzeitig verständlich, warum dies mit einer Ablehnung von Autorität einhergeht. Es ist die unbewußte Suche nach einer festen Autorität, bei der die Herausforderung eine adäquate Gegenreaktion provozieren möchte, was von den Rektoren mancher Universitäten offenbar nicht verstanden wurde.*

* Der Autor mag diesen Eindruck an englischen Universitäten gewonnen haben, doch bleibt angesichts deutscher Verhältnisse gewiß, daß es die Funktion eines Rektors an einer Massen­universität nicht sein kann, gegenüber Studenten gewissermaßen im Nachholverfahren Autorität zu repräsentieren, die von den Vätern zu übermitteln versäumt wurde. (AdÜ)

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Permissivität ist ja keineswegs auf Freizügigkeit im Geschlechtlichen beschränkt. Diese Grundhaltung erstreckt sich genauso auf Steuerhinterziehung und Versicherungsschwindel. Sie erlaubt, daß bei der Reparatur eines Fernsehgeräts gleich noch weitere Reparaturen vorgenommen werden, die gar nicht notwendig gewesen wären, oder daß Museumsdirektoren Stücke erwerben, von deren zwielichtiger Herkunft sie unterrichtet sind.

Nach den jüngsten Überschwemmungen in der australischen Stadt Brisbane waren Plünderungen an der Tagesordnung, ebenso bei verschiedenen Riots in den USA. Die Tage, da jedermann eine gefundene Geldbörse zum Fundbüro oder zur Polizei brachte, sind vorbei.

Als Mangel an Gewissen können wir auch einen Großteil unserer sozialen Apathie bezeichnen — das Unvermögen, alten Menschen wirklich zu helfen und mit körperlich oder geistig schwer Behinderten menschlich umzugehen. Aber auch schlampige Arbeit für andere oder Gleichgültigkeit bei Dienstleistungen gehören dazu. Das Leben einer Gesellschaft hängt aber davon ab, ob es Gewissen gibt oder nicht. Heutzutage jedoch gilt Gewissenhaftigkeit nicht mehr als Ideal. Das Gewissen wurde «Polizist im Gehirn» genannt, und damit war gemeint, es sei ein Werkzeug der Unterdrückung, und folglich müsse ihm widerstanden werden. 

Sicher kann auch das Gewissen zu einem Zwangsinstrument und zu einem Alpdruck werden wie bei den Puritanern. Heute aber schwingt das Pendel nach der anderen Seite aus. So ist es denn notwendig, das Gewissen in einer Mittellage sich einpendeln zu lassen. Aber das kann nicht nur durch Argumentation oder Anklage geleistet werden, sondern allein durch sozialen Wandel, der die Familie wieder zu einer wirksamen psychologischen und sozialen Einheit werden läßt.

Die Gesellschaft beruht auf freiwilliger Zusammenarbeit. Selbst in den am stärksten auf Aggression und Wettbewerb beruhenden Gesellschaften der urtümlichen, noch schriftlosen Stufe finden wir ein weites Feld von Verhaltensweisen, die durch Konventionen und allgemein akzeptierte Normen geregelt sind. Es ist dies nicht nur eine Frage gegenseitiger Hilfeleistung; es geht auch darum, daß gemeinsame Spielregeln anerkannt werden, daß unangetastet bleibt, was allen gemeinsam gehört — daß man nicht die Quelle trübt, aus der andere trinken.

Kaum nehmen wir uns heute einmal die Zeit, darüber nachzudenken, wie sehr unsere Gesellschaft bis in ihre Wurzeln dadurch bedingt ist, daß es Allgemeinverbindlichkeiten gibt, die man nicht antasten darf. In den Eisenbahnen konnten die Holzbänke erst dann durch gepolsterte Sitze ersetzt werden, als man die Gewißheit haben konnte, daß die Mehrheit der Reisenden sie mit gebotener Schonung behandeln würde. Elektrisches Licht und Waschräume waren auch nur unter solchen Voraussetzungen einführbar. Wir machen uns nicht immer klar, daß großflächige Schaufenster nur deshalb möglich sind, weil eine Übereinkunft besteht, sie nicht einzuschlagen.

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Auch das Telefonsystem funktioniert nur dann, wenn die Teilnehmer sich daran halten, die Hörer auf die Gabel zu legen. Manchmal kann ein technischer Kunstgriff entwickelt werden, der eine Verletzung der Übereinkunft kompensiert, so etwa im Falle der Aufzugtüren, die nach einer Weile automatisch schließen; aber immer ist das nicht möglich.

Auch Restaurants können sich nur dann saubere Tischtücher und ordentliches Geschirr leisten, wenn die Gäste ähnlich pfleglich damit umgehen, als säßen sie bei sich zu Hause am Tisch. In England findet man aber jetzt an den Autobahnraststätten Lokale, die mit den allerbilligsten Aschenbechern, mit Pappbechern und nichtrostendem Kantinenbesteck ausgerüstet sind, weil bessere Sachen einfach verschwinden. In den Toiletten müssen dort die Spiegel angeklebt werden — nicht angeschraubt wie anderswo —, und die Klobrillen werden in Gebrauchsstellung festgeschweißt. Selbst schwergewichtige Musikautomaten sind schon mitten im Gaststättenbetrieb abhanden gekommen.

Natürlich gibt es in jeder Gesellschaft einen bestimmten Prozentsatz von gesellschaftsschädigenden Personen, und das Gesetz wie seine Vollzugsorgane sind dazu da, deren Aktivitäten einzuschränken. Die Situation ändert sich aber qualitativ, sobald ein größerer Teil der Bevölkerung anfängt, sich gesellschafts­schädigend zu verhalten, und die Lage kann dann leicht unkontrollierbar werden. Weitverbreitete Diebereien sind sozial ganz anders einzuschätzen als vorgeplanter Raub und die Einbrüche von Berufsverbrechern. Wenn das Gewissen in weiten Kreisen verfällt; ohne daß eine Notsituation herrscht, so ist das ein alarmierendes Zeichen, denn es besteht die Gefahr, daß das Gefüge der sozialen Prozesse in seinen Fundamenten unterminiert wird. Wer sich nichts aus kleinen Gelegenheitsdiebstählen macht, wird wohl bei Gelegenheit auch mitplündern. Und es gibt viele Anzeichen dafür, daß ein Mensch, der es in Eigentumsfragen nicht genau nimmt, auch in Dingen des Gefühls wenig Verläßlichkeit zeigt.

So soll denn in den Details untersucht werden, inwieweit derartige Entwicklungstendenzen auszumachen sind.

 

   2  Wir Abstauber      ^^^^  

Jedermann kann sehen, daß die moderne Gesellschaft durch gesellschaftsschädigendes Verhalten gekennzeichnet ist, aber in exakten Zahlen und Daten ist das gar nicht so leicht zu belegen. Da ist der Autofahrer, der dem anderen die Ausfahrt verstellt, weil er aus seinem Wagen ausgestiegen und fortgegangen ist; da ist der Kunde, der es unterläßt, auf zuviel herausgegebenes Wechselgeld aufmerksam zu machen; da ist der Passant, der zur Seite schaut, wenn ein Kind mißhandelt wird. 

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Das kommt alles sehr häufig vor, aber es erscheint in keiner Statistik. Und es mag auch manchmal Entschuldigungen für derartiges Verhalten geben— Zeitmangel zum Beispiel. Es hat sich aber ein ganz bestimmtes Verhalten dieser Art herausgebildet, weit verbreitet und stets noch im Zunehmen begriffen, über das statistische Zahlen vorliegen und für das es keine ernst zu nehmende Entschuldigung gibt: Ladendiebstahl. Es sei dieses Verhalten daher genauer unter die Lupe genommen, nicht etwa, weil es in irgendeiner Hinsicht ähnlich wichtig wäre wie die im vorangegangenen Kapitel beschriebenen Verhaltensdeformationen, sondern weil wir hier den dürren Halm haben, der anzeigt, aus welcher Richtung der Wind bläst.

Sicher gibt es unter den Ladendieben Menschen, die unter einem psychischen Zwang stehen, und die Psychologen erklären deren Tun als Ersatz­handlungen für entgangene Liebe. Wenn ein Kind nicht genügend Zuwendung erhält, stiehlt es nicht selten von den Sachen der Mutter, und kennzeichnenderweise sind es Süßigkeiten wie Bonbons, Schokolade, Kekse, Pralinen und andere Näschereien. In der. unscharfen Vorstellungswelt des Kindes ist die Mutter als Spenderin der Nahrung auch gleichzeitig Spenderin von Wärme, Zuwendung und Liebe, und beide Komplexe sind unauflöslich verwoben. Manche Warenhausdiebe sind Menschen, die diesem kindlichen Bezugsschema nie entwachsen sind.

In letzter Zeit haben Ladendiebstähle aber derartig überhand genommen, daß diese Ursache nicht länger als die einzige anzusehen ist. Nach einer amerikanischen Untersuchung in großen Warenhäusern New Yorks, Bostons und Philadelphias ist unter 15 Kunden ein Warenhausdieb, wiewohl nur weniger als 1 % dieser Diebe gefaßt werden. Diese Zahlen beziehen sich auf Beobachtungen an 1647 Kunden in jeweils vier Kaufhäusern der genannten Städte. Die Kunden wurden nach Zufallskriterien ausgewählt und insgeheim beobachtet. Von 109 Personen, die beim Stehlen beobachtet wurden, wurde nur eine von einem Hausdetektiv festgenommen.

England erlebte 1973 eine durch ausländische Besucher ausgelöste Welle von Ladendiebstählen. Nicht wenige der Diebe standen in besten Verhältnissen — es gab unter ihnen Frauen von Diplomaten und hohen Beamten —, und was sie zusammenrafften, überstieg bei weitem ihre persönlichen Bedürfnisse.

Eine Untersuchergruppe des Innenministeriums stellte fest, daß Fälle von Ladendiebstahl selten zur Anzeige gelangen — es sei denn, man ertappe den Dieb auf frischer Tat — und daß bei Angestellten des Ladens in der Regel ein Auge zugedrückt wird. Die Reaktionen der Polizei sind unterschiedlich, aber in welcher Richtung die Entwicklung geht, verdeutlicht der Umstand, daß zwischen 1966 und 1971 die Zahl der Warenhausdiebstähle zwar um 75 % zunahm, aber die Zahl der einschlägigen Strafverfolgungen aber nur 54 % betrug, während formelle Geldstrafen um 169 % anstiegen.

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Bei Kindern wird von Strafverfolgung meist abgesehen, und damit rechnen einige auch. Während der vorweihnachtlichen Einkaufszeit 1973 schätzten einige Ladeninhaber in den Ortschaften des Themsetals, daß drei Viertel der Diebstahlsverluste auf Kinder unter Fünfzehn zurückzuführen seien, ein Teil aber sogar auf Kinder von sechs oder gar erst fünf Jahren. Gestohlen wurden Spielzeug und billiger Schmuck für Weihnachtsgeschenke. Erklärungen, die Ladendiebstähle als eine Reaktion auf soziale Benachteiligung hinstellen wollen, treffen schwerlich für Schulkinder und Diplomatenfrauen zu.

Die Verhältnisse auf dem europäischen Kontinent liegen nicht viel anders als in England und den Vereinigten Staaten, wie aus einem Report von Lisa Schmidt in der Zeitschrift <Europa> zu entnehmen ist: «Waren­haus­diebstähle sind heute etwas ganz anderes als der Griff der kleinen alten Dame nach dem Pastetchen, mit dem sie ihren ausgehungerten Mann sattkriegen möchte. Es ist ein großes Geschäft für Diebe wie für Detektive.» Der Detektiv des Pariser Bazar de l'Hötel de Ville gab an, daß die Diebstähle während des Vorjahrs um 10 % gestiegen seien, wobei viele Touristen als Diebe in Erscheinung traten und ebenso Schulmädchen, die «wie Heuschrecken einfallen». Ein Brüsseler Warenhausdetektiv sagte: «In früheren Jahren gab's mal ein Kind, das einen Minirecorder mitgehen ließ. Jetzt langen sie zu sechst und zu siebt zu.» Auch aus Kopenhagen wird ein Anstieg der Diebstähle gemeldet. «Warenhausdiebstähle nehmen in ganz Europa gewaltig zu» — so zieht Lisa Schmidt ihr Fazit.

Ein eigentümliches Phänomen ist dabei, daß viele Leute, die selber wohl gar keine Warenhausdiebe sind, Diebstähle anderer durchaus tolerieren. Ein belgischer Richter, der in Lüttich 18 Warenhausdiebe laufenließ, meinte dazu: «Es ist unvermeidlich, daß es in großen Läden zu Diebstählen kommt, und dies wird auch von den Unternehmen auf der Verlustseite von vornherein abgebucht. Warenhausdiebstahl setzt keinen Vorsatz zum Diebstahl voraus und muß daher auch nicht mit Haft- oder Geldstrafen belegt werden.» Indessen ist es ja nicht das Warenhaus, das durch solche Praktiken leidet, sondern vielmehr der anständige Kunde, dem dieser Diebstahls verlust auf den Preis geschlagen wird. Und jene Frau mit dem Farbfernseher auf Abzahlung zu Wochenraten von 7,50 Pfund Sterling, die Fleisch stahl, weil sie es nicht bezahlen konnte, hätte sich doch vielleicht auch mit einem Schwarzweißgerät zufriedengeben können, wie dies andere ja auch tun müssen.

Während Warenhausdiebstahl Aufmerksamkeit auf sich zieht und als spezifische Kategorie in der Statistik seinen Platz findet, so daß Zahlen vorliegen, gibt es noch eine Vielzahl von Formen des kleinen Diebstahls, so etwa das heimliche Abzapfen von Benzin aus Kraftwagen, das Manipulieren von Telefonen und Gaszählern oder das Entwenden von Material am Arbeitsplatz. 

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Ein Angestellter der britischen Ford-Werke sagte mir schon vor zwanzig Jahren, daß man mit einem täglichen Verlust von entwendetem Material im Wert eines ganzen Wagens rechne, schmeichelte sich aber, es habe noch niemand geschafft, einen ganzen Wagen im Stück aus der Fabrik zu stehlen. Bei der British Motor Corporation sprachen die Leute bewundernd von einem Mann, der mit einem kompletten Zylinderblock zum Werkstor hinausmarschiert war, wobei er in jeden Zylinder eine Geranie gepflanzt hatte. Er gab an, unterwegs zu einer Blumenschau zu sein, und der Mann vom Werkschutz am Tor gratulierte ihm noch zu seinen hübschen Geranien, ohne zu bemerken, in was sie hineingepflanzt waren.

Das Mitgehenlassen von allerlei Brauchbarem ist natürlich bei den Streitkräften überall verbreitet. Dort sind große Mengen an Material gestapelt, das offensichtlich niemandem persönlich gehört und daher eine Versuchung darstellt. Als Gerry Mars jüngst eine Untersuchung über Diebstähle durch Hotelangestellte vornahm, erfuhr er aus dem Munde eines Kellners: «Was einer mal schnell so einschiebt, gehört doch zum Gehalt dazu. Das Ganze geht doch nur, wenn man sich ab und an auch was mitnimmt. War doch anders gar nicht zu machen.» Der Verband britischer Hersteller von Sicherheitsvorrichtungen schätzt, daß die Diebstähle in Läden und Büros sich im Jahr auf 12 Millionen Pfund Sterling belaufen. Warenhäuser haben für diese Erscheinung einen beschönigenden Ausdruck: «Inventarverlust».

Der Verfall des Gewissens erklärt die meisten Straftaten, an denen weder Gewalt noch Sex beteiligt sind. 

Leider sind die Angaben über Verbrechen ohne Gewalt allzu ungenau, als daß sich viel Brauchbares daraus entnehmen ließe. Zu einem Großteil werden solche Vergehen gewöhnlich nicht registriert, so daß ansteigende Zahlenwerte zeitweilig vielleicht mehr auf bessere Aufklärung von Seiten der Polizei denn auf einen tatsächlichen Anstieg der Vergehen selbst zurückführbar scheinen. Außerdem verändern sich die gesetzlichen Definitionen der Vergehen, so daß Vergleiche zwischen heute und gestern oder zwischen verschiedenen Ländern wenig verläßlich sind. Nach einer amerikanischen Untersuchung liegt die Anzahl der tatsächlich begangenen Vergehen um das Fünffache über den festgestellten Werten. Die Dinge werden etwas klarer, wenn wir von den schweren Verbrechen ausgehen, die ja nicht so leicht unter den Tisch fallen, und wenn wir beim Vergleich zwischen früher und heute den Bevölkerungszuwachs in Anschlag bringen. Amerikanische Angaben sind wegen der Unterschiedlichkeit zwischen den einzelnen Staaten wenig brauchbar, weshalb ich britische Daten heranziehe. 

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Hier sind die Zahlen für die Verbrechenshäufigkeit in England und Wales für den Beginn eines jeden Jahrzehnts seit 1930, ausgedrückt in der Zahl der kriminellen Akte je 100.000 Einwohner:

1930       369
1940       729
1950      1048
1960      1625
1970      3176

Hieraus wird klar ersichtlich, daß die schweren Verbrechen in so drastischer Weise angestiegen sind, daß Erklärungsversuche mit dem Hinweis auf bessere Verbrechensaufklärung durch die Behörden nicht befriedigen können.*

Es gibt ein Verbrechen, von dem sich ziemlich verläßliche Daten über seine Häufigkeit gewinnen lassen: Brandstiftung. Jeder Brand zieht Versicherungs­ansprüche nach sich, und die Versicherungsfachleute beschäftigen sich sehr genau mit der Ursache eines jeden Brandes, um gegebenenfalls Brandstiftung mit der Absicht des Versicherungsbetruges aufzuklären und künftige Versuche dieser Art zu verhindern. Ihre Ergebnisse beruhen nicht auf vager Einschätzung. Danach ereignen sich in den USA Fälle von Brandstiftung heute zehnmal so häufig wie 1950, und dieser Anstieg erfolgte längs eines Weges aus der Stadt über die Vororte auf das Land.

Die durch Brandstiftung verursachten Kosten überschreiten die Kosten aller Gewaltverbrechen bei weitem. So wurden 1971 in 72000 Fällen Brandstiftungen festgestellt, die eine Totalschadenssumme von 233 Millionen Pfund Sterling ausmachen. Die Anzahl gelegter Brände hat sich seit 1960 verdreifacht, ist seit 1950 um das Dreizehnfache gestiegen — wenn man den Bevölkerungszuwachs einrechnet, «nur» um das Zehnfache. Bloß 1 % all dieser Brandstiftungsfälle zog eine Verurteilung nach sich.

Aber es ist bei allen Verbrechen noch nicht einmal so sehr die quantitative Zunahme als vielmehr der qualitative Umschlag, der zählt. Angaben über einige der jüngsten Formen des Verbrechens mögen verdeutlichen, was ich meine. Zwei Reisende, Francesco und Maria Bernardi, berichteten von einer Fahrt mit dem Schnellzug Paris-Instanbul: Zwei Mädchen im Teenageralter seien in ein Abteil voller Männer gezerrt worden, wo man sie für eine halbe Stunde lang kreischen hörte, bis sie dann halbnackt und weinend wieder herauskamen. 

* Diese Argumentation, die in der Presse immer wieder erscheint, könnte auch umgedreht werden. Sicher ist richtig, daß bei erhöhter Aktivität der Polizei mehr Verbrechen aufgeklärt werden, also auch höhere statistische Häufigkeitswerte vorliegen. Wenn aber die Polizei geringere Aktivität an den Tag legt, begehen die Kriminellen mehr Verbrechen — und auch dies führt zu einer Erhöhung der statistischen Häufigkeitswerte. In Wahrheit besteht ohnehin gar kein Grund, einen langfristigen Trend der Effektivitätssteigerung bei der Polizei anzunehmen.

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Als die Bernardis ihnen zu Hilfe kommen wollten, wurden sie mit feststehenden Messern bedroht. Sie waren auch Zeugen, wie ein zehnjähriges Mädchen belästigt wurde. Als sie aber diese Vorkommnisse in Triest der Polizei meldeten, sagte man ihnen: «Das kommt halt vor.»

Der Gedanke, daß ein internationaler Schnellzug zum Schauplatz einer Massenvergewaltigung werden könnte, wäre noch vor wenigen Jahren geradezu abenteuerlich und unglaubwürdig gewesen. Aber heute hören wir von Raubüberfällen in italienischen Zügen durch die Berichte des Eisenbahn­korrespondenten Mario Righetti vom <Corriere della Sera>: Ganze Banden von Räubern, meist Jugoslawen, Türken, Griechen und Südamerikaner, pumpen Narkosegas durch die Ritzen der Abteiltüren und öffnen dann mit Nachschlüsseln, um die ohnmächtigen Passagiere auszurauben. Das mag wie eine Szene aus einem billigen Boulevardblattroman klingen, doch unter den auf diese Weise Beraubten befand sich auch Jean Marabini, Korrespondent von <Le Monde>. Jetzt begleiten Polizisten in Zivil die Züge.

Wie diese Vorfälle zeigen, kann die Polizei nicht überall sein. Verbrechen wird allein durch die Erkenntnis dessen bestimmt, was «noch geht» und was «nicht mehr geht». Heutzutage aber ist das Gefühl weit verbreitet, daß man in jedem Fall «irgendwie davonkommt». Und dank der modernen Technik ist Davonkommen ein leichtes. Banden südamerikanischer Taschendiebe grasen die Flugplätze in aller Welt ab, kommen morgens mit dem Flugzeug an und fliegen schon am Nachmittag mitsamt ihrer Beute in eine andere Hauptstadt, ehe noch irgendwelche Maßnahmen gegen sie ergriffen werden konnten. Einzig eine ganz neuartige Methode der Verbrechensvorbeugung könnte derartigen Unternehmungen einen Riegel vorschieben.

Ganz ohne Zweifel sind die Kriminellen kühner und einfallsreicher geworden, indem sie sich längst Formen des Diebstahls zugewendet haben, die viel weniger auffällig sind als das Stehlen von Geld oder Schmuck. «Ganz früher», sagt Howard Nixon, stellvertretender Direktor der Bibliothek des Britischen Museums, «gingen wir davon aus, daß die Leute keine Bücher klauen. Jetzt müssen wir davon ausgehen, daß sie das verdammt gern tun. Wer heute ins Britische Museum hineingeht, wird durchsucht, ob er nicht eine Bombe mit sich führt, und wer wieder rausgeht, wird durchsucht, ob er nicht ein Buch hat mitgehen lassen.»

Früher glaubten die Bibliothekare auch, daß besonders seltene Bücher nicht gestohlen würden, weil sie ja doch nicht weiterzuverkaufen seien. Denn jeder kundige Käufer müsse sehen, daß es sich nicht um ein im Antiquariatshandel erhältliches Buch handeln könne. Heute sind Verkäufer und Käufer weniger gewissenhaft, und die Diebe haben außerdem gelernt, daß sie durch die Drohung, das Buch zu zerstören, oft noch ansehnliche «Lösegelder» einhandeln können. (Gleiches gilt für andere Antiquitäten, vor allem Bilder.) 

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So wurde bereits ein Versuch unternommen, die Gutenberg-Bibel der Harvard University zu stehlen. Sie war aber glücklicherweise so schwer, daß das Seil, mit dem der Dieb sich und seine Beute abseilen wollte, der Beanspruchung nicht standhielt. In den allerletzten Jahren haben Bücherdiebstähle in Großbritannien derart überhand genommen, daß 1972 ein Arbeitsausschuß eingesetzt wurde, der Gegenmaßnahmen erwägen soll.

In alledem sehen wir einen Mangel an Gewissen. An vielen Fällen von Warenhausdiebstählen waren Mutter und Tochter gemeinsam beteiligt — das elterliche Vorbild hatte hier also zum Gegenteil einer Gewissensbildung geführt. Doch während solche Fälle noch als Vergehen gewertet werden, bei denen die Betreffenden «sich eben nicht erwischen lassen dürfen», hat mittlerweile bereits ein ungleich bedenklicherer Entwicklungsgang begonnen: die offene Befürwortung asozialen Verhaltens als eines moralisch gerechtfertigten Verhaltens.

 

   3  Die Anti-Kultur       ^^^^  

Wiewohl viel über die Notwendigkeit «neuer Wertmaßstäbe» zu hören ist, sehen wir in der Gesellschaft doch nur eine Anti-Kultur entstehen, die sich an der Umkehrung aller bestehenden Werte orientiert. Der Wunsch, das Alte zu zerstören, scheint oft stärker als der Wunsch, Neues zu schaffen. Diese Motivation erscheint verdächtig; sie scheint mehr auf Haß als auf Liebe zu beruhen — der Haß auf das Alte ist entscheidender als die Liebe zum Neuen.

Seit je spiegeln sich innere Haltungen in der Kleidung wider. Wer die Kultur ablehnt, geht bis ins Extrem, um die Formgebundenheit seiner Eltern zu verneinen, und er versucht, Erbitterung oder Angewidertsein dadurch zum Ausdruck zu bringen, daß er in alten Uniformen oder bizarren Kombinationen alter und neuer Kleidungsstücke daherkommt. Tabus zu brechen macht ihm Spaß, etwa was Nacktheit oder den Gebrauch obszöner Wörter angeht. Besonderen Spaß macht ihm das Haschischrauchen, weil er weiß, daß es Emotionen weckt. Etwas masochistisch lehnt er sogar gutes Essen, saubere Kleider, Komfort und geregelte Lebensführung als bürgerlich ab.

Dieser Trend zeigt sich noch schärfer in der Ablehnung ehrlichen Verhaltens. «Das Stehlen von Büchern aus Bibliotheken sollte nicht ausgeschlossen werden», tönt ein Magazin, das vom Antistudent Pamphlet Collective herausgegeben wurde. «Es gibt im College nichts zu stehlen, was nicht vom Volk gemacht und zuerst ihm gestohlen worden ist», erklärt der <Antistudent> mit Entschiedenheit. «Auf Biegen oder Brechen» solle man sich der Einrichtungen des College bemächtigen, der «Fotokopiergeräte, Druckpressen, Vervielfältiger, Projektoren, Episkope, Kameras, Tonbandgeräte, Schreibmaschinen, Frankiermaschinen, der mechanischen, elektrischen, elektronischen, und chemotechnischen Einrichtungen und Laborbestände». 

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So wörtlich. Und für den Fall, daß die gestohlenen Güter allzu deutlich zu identifizieren wären, warnt er blitzschlau: «Es empfiehlt sich, Austauschaktionen mit Leuten an anderen Orten vorzunehmen.»

Unter solchen Vorzeichen geht es dann weiter: «... um sicherzustellen, daß eure Energien in ihrem Spiel nicht angezapft werden [soll wohl bedeuten: durch Lernen], muß man auch ein bißchen guten, ehrlichen Betrug organisieren.» So empfehle es sich, Abhandlungen aus den Arbeiten vergangener Jahre zu sammeln und in den Vorlesungsbetrieb einzuschleusen, um dann mit vorbereiteten Antworten in die Prüfungen zu gehen, wo man auf jede Frage gleich das Entsprechende bereit hätte. Besser aber sei es, sich überhaupt jeglicher Prüfung zu verweigern. Dies sei Rechtens, «weil jedes Examen ehrlichem Lernen hohnspricht».

Ein kurioses Periodikum, illustriert mit Karikaturen, wird unter dem Titel <Y-Front> für Schulkinder herausgebracht. Die Beiträge, absichtlich in unmöglicher Orthographie, stammen offensichtlich ebenfalls von Kindern, und sie fordern die «Schulkinter» auf, sich unter dem Banner der Schools Action Union der National Union of School Students zusammenzuschließen. «Da wir zu der Erkenntnis gekommen sind, daß unser Erziehungsprozeß bloß ein einziger langer, mechanischer, mit Examen gepflasterter Schlauch ist, gelangen wir zu dem großen Problem [sic!]: WIE KÖNNEN WIR DAS SYSTEM ÄNDERN?» Sechsunddreißig Lösungsvorschläge werden geboten, beginnend mit dem Verstecken der Tafelkreide (das haben Kinder allerdings auch schon vor den Empfehlungen der SAU gemacht) bis zum «Gebrauch von Chemikalien aus der Chemiestunde für inoffizielle Zwecke». (In meiner Schulzeit war es ein beliebter Zeitvertreib, Urin durch Chemikalien grün zu färben.) Besonders reizvoll ist Anweisung Nr. 18: «Züchtet Mäuse und laßt sie an Schulbesichtigungen, beim Schulkonzert, beim Schulanfang oder wann immer unter die Leute.»

Weniger freundlich liest sich der Aufruf: «Reform oder Revolution? Ein direkter Angriff. Trefft sie, wo es weh tut. Scheißt auf das System, wo es auf euch scheißt. Unterschiedslose und heftige Angriffe auf ihr Eigentum . . . Wir sind Millionen gegen sie. Kämpft weiter — wir werden gewinnen. Ihr habt nichts zu verlieren als eure unbeschriebenen Zeugnisblätter.» Weiter heißt es auch: «... stehlt von ihrem Brötchengeber, reißt die Supermärkte auf, scheißt auf die Produktion, schafft kulturelles Chaos . . . wir können nicht verlieren — wir stehen alle zusammen in dieser Sache — in dieser Verschwörung.» Dem «Guerilla Pupils Manual», aus dem diese Zeilen stammen, wird eine offizielle Distanzierung vorangestellt: «Es besteht nicht die Absicht, jemanden zur Begehung illegaler Handlungen oder zu ihrer geheimen Planung anzustacheln oder gar ihn zu legalen Maßnahmen durch illegale Mittel zu verleiten.»

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Die Anti-Kultur ist aber nicht nur revolutionär gesinnt — sie lehnt auch den Gedanken eines parlamentarischen Systems durch Volksvertreter als hierarchisch ab. Ebenso verwirft sie marxistische Lösungen als allzu autoritär; Anarchie ist ihr lieber. Eine von Murray Bookchin unter dem Titel <Listen, Marxist!> veröffentlichte Polemik verwahrt sich dagegen, ein Handbuch der Revolution zu sein. «Mit dieser Schrift sollen alle Handbücher gegenstandslos werden, weil sie die Notwendigkeit hervorhebt, daß der revolutionäre Kampf seine ihm eigene spontan-organische Form finden muß; weil sie ferner hervorhebt, daß alle Menschen, ohne Belästigung durch Bestimmungen und Doktrinen von oben, wahrhaft visionäre Wege wechselseitiger Beziehungen finden können ...» Visionär scheint hier ein Reizwort zu sein.*

Diese geballte Absage an jegliche Autorität führt dazu, daß hier nicht nur die Autorität von Lehrern, sondern die der Kultur insgesamt zurückgewiesen wird, weil sie als etwas Aufgezwungenes erscheint. Der Lehrbetrieb einer Universität stellt sich nicht als ein wahrzunehmendes Privileg dar, sondern als ein Versuch der Indoktrinierung, dem es Widerstand zu leisten gilt, weil damit ein Teil des Systems bekämpft und zerstört werden kann. Die pathologischen Züge eines solchen Extremismus liegen auf der Hand. Gewaltanwendung wird hier nicht nur empfohlen, sondern zur Tugend hochgejubelt.

Bei einer Untersuchung über die inneren Bedingungen unserer Kultur sieht Michael Lerner von der Yale University die Hippies als den Kern der Anti-Kultur, wobei er die «weitverbreitete Sanktionierung taktischer Gewalt» konstatiert und weiter feststellt, daß einige der jungen Leute, die sich «in einem Gewaltstadium» befinden, auch zum handgreiflichen Aggressionsakt tendieren, der für die Schlägertrupps faschistischer Färbung typisch ist. Er spricht über die Auffassung, daß gewaltsame Auflehnung «in irgendeiner Weise geheiligt» sei, möchte aber zu bedenken geben, daß dies nicht eine Verirrung darstelle, sondern im Zusammenhang steht mit der Wieder­herstellung der Liebesfähigkeit. 

Diese «Wertverschiebung» (ein glanzvoll leerer Begriff) lasse sich auch an dem Faktum erkennen, daß Charles Manson, der die Ermordung Sharon Tates und ihrer Freunde befahl, nicht völlig verdammt werde, sondern als «ein Held und Symbol der Revolte» gelte. 

* Das Pamphlet macht einen visionären Versuch, sich beim Leser einzuführen, indem es mit den Worten beginnt: «Der ganze alte Kram der dreißiger Jahre kommt wieder hoch: die Scheiße über die <Klassenschranken>, die <Rolle der Arbeiterklasse>, die <geschulten Kader>, die <Partei der Vorhut> ... Progressive Formierung der Arbeiterschaft ist nicht das einzige Beispiel, es ist nur das schlimmste. Man riecht die gleiche Scheiße im ... Nationalen Büro des SDS, in den verschiedenen marxistischen und sozialistischen Klubs auf dem Campus, nicht zu reden vom <militanten Forum der Arbeit>, von den Klubs der unabhängigen Sozialisten und der Jugend der Kriegs- und Faschismusgegner.» Damit sollten sich allerdings einige Freunde gewinnen lassen.

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Durch ähnliche Unterschiebungen von Begriffen läßt sich auch Verbrechen als läßliches Tun hinstellen. «Da ich nun schon drei Jahre in einer Strafanstalt der Vereinigten Staaten sitze, kann ich nur sagen, daß ich im modernen Amerika keine ehrenwertere Stellung in der Gesellschaft mehr bekommen kann als die eines Kriminellen», schrieb ein Anarchist namens David Harris. Eine viel gespielte Platte von «The Band» trug den Titel: «Gut so, ich bin ein Dieb». Dazu Lerner: «Dieses Annehmen der eigenen Kriminalität steht im Zusammenhang mit dem durchgängigen <Nein>, mit dem die Anti-Kultur der herrschenden Kultur Konfrontation bietet.» Ein Aspekt dieses durchgängigen «Neins» ist die Ablehnung der modernen Technik.

Kennzeichen dieser Ablehnung sind die Absage an jegliche Disziplin zugunsten der Spontaneität, an den Sinn für das Maß zugunsten der unbedenklichen Verausgabung, an den Gedanken zugunsten der Emotion. Aber leider kann die Gesellschaft ohne ein gewisses Maß an Disziplin nicht existieren; sie bedarf des Gedankens an die Zukunft und eines bestimmten Maßes an Rationalität. Selbst der überzeugteste Hippie könnte wohl kaum wünschen, daß der Chirurg, der seinen Wurmfortsatz entfernt, die Klammern nicht sorgfältig zählt oder daß der Mechaniker an seinem Auto beim Ölwechsel einen Verschluß festzuschrauben vergißt. Der Pilot eines Flugzeugs, der Mann von der Fernsehreparatur, die Leute, die Milchflaschen sterilisieren — sie alle müssen ihre Arbeit mit Aufmerksamkeit tun.

Natürlich möchte niemand mehr einen Grad von Selbstdisziplin praktiziert sehen, der die Persönlichkeit ernstlich beengt, wie dies leider nur zu oft im vergangenen Jahrhundert der Fall war. Ein guter Mittelweg zwischen Spontaneität und Zügelung, zwischen Verausgabung und Maßhalten wäre anzustreben. Viele Werte haben diesen bipolaren Charakter; zwischen ihnen muß ein Kompromiß gefunden werden. Für den Hippie aber ist «Kompromiß» ein schmutziges Wort. Als denkerische Position läßt sich eine derart extreme Haltung nicht aufrechterhalten.

Vor allem wird hier das Ideal mit der Realität durcheinandergeworfen. In einer idealen Welt wäre totale Freiheit natürlich möglich, totale Freiheit, ohne Gedanken an ein Morgen. In ihr wäre es möglich, sich allen Impulsen zu überlassen, ohne sie der Kontrolle durch ein Über-Ich zu unterwerfen. In der wirklichen Welt aber bringt Impulsivität oft Nachteile, und die Zügelung durch ein Über-Ich bleibt unerläßlich, mag sie auch nicht selten unausgewogen oder irregeleitet sein.

Der Glaube an Freiheit, Spontaneität, Gleichheit und ähnliche Ideale als absolute Werte entspringt einer rational nicht zu rechtfertigenden Wertsetzung. Wirken solche vorgefaßten absoluten Wertsetzungen in das weitere Verhalten hinein, so wird eine Geisteshaltung eingenommen, die ich als «mythisches Denken» bezeichnen möchte.

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Was den einzelnen als psychologisches Wesen angeht, so liegt auf der Hand, daß diese Einstellung zu tun hat mit der Autoritätsverschiebung in der Familie, in der der Vater gegenüber der Mutter zurücktritt, so daß die obersten Werte durch die Mutter als das wahre Familienoberhaupt geprägt werden. Diese Verlagerung in der Familienstruktur vom Patrismus zum Matrismus infolge der Abwesenheit des Vaters während der entscheidenden kindlichen Entwicklungsjahre dürfte zu Genüge diesen Trend in der psychologischen Formung junger Menschen erklären und zeigt uns auch Möglichkeiten einer Trendumkehr, falls wir sie herbeiführen wollten.*

Entsprechend seiner matristischen Charakterprägung neigt der Jugendliche zum «Weichen Ich», wie ich diese Persönlichkeitsstruktur genannt habe. Vorwaltend sind bei ihm das Gefühl des Einsseins mit anderen und mit der Natur sowie eine Zurückdämmung des Verstandesmäßigen zugunsten intuitiver Impulse. «Verstehen» kann also nur als Vorgang empfunden werden, der sich jenseits verbal-intellektueller Kategorien vollzieht. Daraus folgt, daß eine Verständigung begrifflicher Art als Irrweg angesehen wird. Hingegen erscheinen Drogen als ein besserer Weg zur Selbstfindung, da sie neue Erfahrungsräume aufschließen. Zusammenwirkend vereinen sich die matristische Absage an alle Autorität und die Allseligkeit des «Weichen Ichs» zu einem Medium, in dem die träumerische Vorstellung vom gemeinschaftlichen harmonischen Wirken der Menschen ohne organisatorischen Zwang gedeiht und wo in der konfliktlosen Übereinkunft aller sämtliche Dinge unschwer erreichbar scheinen. Auch dies ist unrealistisch. Damit will ich nicht sagen, daß eine autoritätshörige und in Isolation von Mitmenschen verharrende Charakterstruktur besser sei. Aber in einer unvollkommenen Welt müssen wir den besten Kompromiß zwischen den beiden Extremen anstreben.

Weil dies so ist, empfindet der matristisch geprägte Charakter die praktische Welt als unerträglich, weshalb er ihre Auslöschung wünscht. Sein Idealismus verleiht ihm die Überzeugung, daß man nur die vom Menschen geschaffenen Strukturen zerstören müsse, damit ohne weitere Anstrengungen sich die wahre Gestalt der Natur entschleiere. In dieser Geisteshaltung versucht er, Dinge mit bestimmter Funktion ihrer Funktion zu entkleiden und sie als Dinge für sich zu «verstehen». Dies ist die Anschauungsweise, aus der die Pop-art hervorgegangen ist. Musik und mehr noch der Tanz werden dem Labor improbus vorgezogen, den die Verwirklichung einer Plastik, einer Orchesterkomposition oder eines literarischen Plans erfordert.

* Eine Erklärung der Begriffe Matrismus und Patrismus wird im Nachtrag gegeben. 

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Solche einseitige Hingezogenheit kulminiert in einer Leugnung aller Dualismen: Geist und Körper sind eins; Mensch und Natur sind eins; Mann und Frau sind eins. Charles Frankel, Professor für Philosophie und Gesell­schafts­wissenschaft an der Columbia University, New York, hat im Wissenschaftsmagazin <Science> folgende Darstellung gegeben:  en.wikipedia  Charles_Frankel  1917-1979

Dem heutigen radikalen Denken liege vielfach die Annahme zugrunde, daß das Universum eigentlich total und vollkommen mit den menschlichen Bedürfnissen übereinstimme. Schwierigkeiten rührten allein von unvoll­kommener Einsicht her. Bei besserer Einsicht müßten alle Formen der Vereinzelung und Trennung sowohl zwischen Individuen als auch zwischen der subjektiven und der objektiven Welt verschwinden. Frankel faßt die Analyse dieser Tendenz unter der begrifflichen Klammer «Irrationalismus» zusammen, wobei er diesem Irrationalismus fünf Voraussetzungen in der Auffassung seiner Träger zugrunde legt:

1. Das Universum scheidet sich in Schein und Wirklichkeit. 
2. Die Menschen halten den Schein aufgrund kultureller und praktischer Voreingenommenheit fälschlich für Realität.
3. Der Mensch lebt im Widerstreit seiner zerebralen und emotionalen Antriebe.
4. Es besteht ein Gefühl der Schuld, wenn Trennung von anderen Menschen oder Entfremdung von der Natur oder ein Zwiespalt im eigenen Inneren auftritt.
5. Alle menschlichen Probleme sind folglich auf einen Verlust der Harmonie zurückzuführen.

Ich möchte nicht so weit wie Frankel gehen und diese Haltung als völlig irrational hinstellen, als etwas, das man einfach vom Tisch wischen könnte. Ich sehe darin vielmehr eine gute Idee, die bloß in ein absurdes Extrem getrieben wurde. Die Position des «Harten Ichs», in der der Mensch als von Gesellschaft und Umwelt isoliert und ohne Harmonie mit ihnen erscheint, ist nicht weniger falsch als das Gegenbild. Auch da hätte das Pendel einfach zu weit ausgeschlagen.

Auf solche Weise wird dann selbst die Rationalität verdächtig, und Irrationalität erscheint so leicht besser als Rationalität. Der Anti-Student möchte eine Anti-Kultur errichten, in der Unehrlichkeit, Irrationalität, Vorurteil, Intoleranz, schlechtes Benehmen, Gewalt und Zerstörung als primäre Wertsetzungen gelten, während Ehrlichkeit, Vernunft, Unparteilichkeit, Toleranz, gutes Benehmen, Sorgfalt, Leistung und schöpferische Arbeit verteufelt und zu Anti-Werten erklärt werden. Eine derartige Umwertung aller Werte ist in der Geschichte der abendländischen Kultur ohne Vorbild.

Wir können das nicht ernst genug nehmen. Die Anstrengungen der Radikalen werden durch die Möglichkeiten der modernen Technik verstärkt, die ihnen vor allem Mittel zur leichten Verbreitung ihrer Ideen an die Hand gibt. Ihre extremen Ansichten sind nicht - und man sollte dies stets betonen - als unbedeutende Verirrungen abzutun. Denn hier kommt nur verstärkt zum Ausdruck, was in abgemilderter Form von vielen ziemlich normalen Mitbürgern ebenfalls vage empfunden wird.

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   4  Die moralische Krisis des Westens      ^^^^  

Solschenizyn hat die Situation in einer genauen, wenn auch nicht gerade modischen Formulierung gekennzeichnet, als er den Westen eine «schwere moralische Krisis» durchlaufen sah. Die Extreme der Anti-Kultur sind nur die dramatische Zuspitzung einer Gesamttendenz unserer ganzen Gesellschaft. Der Gedanke an einen Gesellschaftsvertrag, wie Rousseau ihn entwickelte, ist verlorengegangen. Daß der Mensch persönlich in der Schuld seiner Gesellschaft stehe, wird überhaupt nicht mehr gesehen. Jeder pocht heute auf seine persönlichen Rechte, betont, was die Gesellschaft ihm schuldig sei. Aber Rechte ohne Pflichten kann es nicht geben.

Selbstlosigkeit, früher bewunderte Tugend, gilt längst nichts mehr. In einer Untersuchung über altruistische Verhaltensweisen, welche die beiden amerikanischen Soziologen J. Darley und B. Latane vornahmen, verdeutlichen sie diesen Punkt durch die Geschichte eines armen Mannes, der einen Geldsack gefunden hatte, welcher vom Transportauto einer Bank gefallen war. Er brachte das Geld der Bank zurück, wo alles sehr erstaunt war, da man den Verlust noch gar nicht bemerkt hatte. «Zwar wurde er öffentlich als Held gefeiert, erhielt aber laufend Anrufe und Briefe, die ihm unter Drohungen und Beschimpfungen vorwarfen, was für ein Narr er gewesen sei, und es dazu an Ermahnungen nicht fehlen ließen, in Zukunft doch auch mehr auf den eigenen Vorteil bedacht zu sein.»

Die vor allem in Amerika dominierende Haltung, daß der Mensch sich selbst helfen müsse, um in der Welt voranzukommen, gibt natürlich kein gutes Klima für selbstloses Verhalten, wie Berkowitz durch experimentelle Untersuchungen gezeigt hat. Er weist ferner darauf hin, daß Philosophien der «Selbst­verwirklichung», wie sie etwa in den Schriften von Abraham Maslow dargelegt werden, zur Selbstbezogenheit beitragen. Tatsächlich hat eine Autorin wie Ayn Rand den Altruismus als eine der größten Fehlhaltungen unseres Zeitalters verurteilt und mit Nachdruck die Auffassung vertreten, daß die Menschen ohne Rücksicht auf andere ihren eigenen Zielen und Gefühlen leben sollten. Miss Rand hat sogar ein Institut zur Verbreitung ihrer Lehre gegründet.

Von den Soziologen hören wir M.Lerner seine Auffassung darlegen: «Wir möchten gern daran glauben, daß wir in einer Welt leben, wo den Menschen zuteil wird, was ihnen zusteht — oder besser noch, wo ihnen zusteht, was ihnen zuteil wird.» Klar, daß diese Art von Individualismus den gesell­schaftlichen Zusammenhalt ebenso untergräbt wie der Wunsch der Hippies nach totaler Gemeinsamkeit, wenn dieser hierdurch auch leichter verständlich wird.

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Schließlich ist es auch nicht unwichtig, sich klarzumachen, daß die permanente Infragestellung von Autorität gerade die unbewußte Suche nach Autorität anzeigt. (Ein achtzehnjähriger Arbeiter sagte Clancy Sigal: «Ich liebe die kommunistische Partei. Sie hat Macht... Ich bewundere Rußland... Wenn die sagen, daß sie was tun, dann tun sie es auch. Nicht so wie wir.») 

Die gegenwärtige Absage an Autorität bereitet einer Renaissance des Totalitarismus den Boden.

Ich muß gestehen, daß mich meine Einbildungskraft im Stich läßt, wenn ich versuche, gegenwärtige Strömungen in ihrer zukünftigen Fortentwicklung mir vorzustellen. Während der mittelalterlichen Pest­epidemie hat es eine Welle der Unzucht auf den Altären der Kirchen gegeben. Aber dies war wohl einfach eine Eruption des Satanismus bei Menschen, denen der Gedanke unerträglich war, Gott könnte so grausam sein und die Menschheit mit einer derartigen Seuche heimsuchen. Aber auch in unserer Zeit hat sich der Satanismus zu einer kleinen Bewegung ausgewachsen, und von der Entweihung von Friedhöfen zur Entweihung von Kirchen ist nur ein kleiner Schritt.

Da alle ursächlichen Faktoren immer stärker zur Wirkung gelangen und immer mehr Bereiche der Gesellschaft erfassen, die bisher noch ziemlich unberührt geblieben waren, muß es als ziemlich sicher gelten, daß asoziales Verhalten zunimmt. In der westlichen Welt haben wir Gebiete wie Nordschottland und Alaska, wo eine lokale gesellschaftliche Gruppenstruktur einigermaßen intakt geblieben ist, die aber jetzt «aufgebrochen» wird, weil sie den Anforderungen der Industriegesellschaft genügen soll, ungeachtet aller Proteste, in denen sich Sorge um den Verlust von Eigenart und Sicherheit ausspricht. 

Ein schottischer Fischer sagte zu mir in einem Boot vor der Insel Skye: «Mag wohl sein, daß wir jetzt das elektrische Licht auch schneller kriegen und daß die Touristen Geld bringen, aber so wie früher wird das Leben dann auch nicht mehr sein, und hier ist keiner, der das nicht schade findet.» In den Entwicklungsländern ist die Lage natürlich ähnlich, wenn auch nicht so weit fortgeschritten. 

Bislang hat es die Welt noch vermocht, mit ihren Belastungen einigermaßen fertig zu werden. Wenn aber der größte Teil der Erdbevölkerung nur noch Massengesellschaft statt Kulturgesellschaft ist, dann mag dies vielleicht nicht mehr gelingen. 

Die Mißachtung fremden Eigentums kann noch verschärfte Formen annehmen. In Südfrankreich — und nicht nur dort — brechen Hippies in leerstehende Häuser ein, schlafen darin eine Nacht, bedienen sich, wenn sie etwas zum Essen und Trinken finden, lassen wohl auch tragbare hübsche Dinge von Wert, wie etwa ein Tonbandgerät, mitgehen, rauben aber nicht nach der Manier professioneller Diebe die ganze Wohnung aus. 

Es gibt Kommunen, wo Kleider und selbst Zahnbürsten Allgemeinbesitz sind, von den Betten nicht zu reden. Autos zu stehlen gilt bereits als Sport. Vielleicht wird diese Haltung einmal zur geltenden Norm, und niemand wird dann noch ein Recht haben, anderen die Teilnahme an seiner Habe zu verweigern, so, wie im Mittelalter und bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts hinein die Leute gehalten waren, den Inhalt ihrer Hausaborte als Dünger abzugeben.

Wie dem nun sei — Selbstlosigkeit wird jedenfalls kaum noch ermutigt. Die Idee der Verantwortlichkeit des Staates für seine Bürger hat die persönliche Hilfs­bereitschaft untergraben, folgenschwerer noch: Sie hat die gruppenspezifische Bereitschaft zur wechselseitigen Hilfe absterben lassen. Durch das Aufbrechen kleiner lokaler Sozialgruppen wurden die Kontrollen und gefühlhaften Beziehungen geschwächt, auf denen allein ein wirksamer Altruismus basieren kann. Der ganze soziale Zusammenhalt ist dadurch erschüttert worden.

Es ist eine auffällige Tatsache, daß in Japan, wo die Gesellschaft stark von engen Gruppenbindungen getragen wird, die Verbrechenshäufigkeit erstaunlich gering ist. So hat New York auf 100.000 Einwohner 1131 Einbrüche, Tokio aber nur 4,3. Und während wir in New York 18,6 Mordfälle auf 100.000 Einwohner im Jahr registrieren, zählen wir in Tokio nur 2,37 Morde.*

All dies macht deutlich, daß die Kräfte sozialen Zusammenhalts in der modernen Gesellschaft schwach sind und zusehends weiter geschwächt werden. Dadurch aber wird letztlich auch der Lebensstandard in Mitleidenschaft gezogen, weil jene, die der Gesellschaft mehr geben, als sie von ihr wieder dafür erhalten, zunehmend weniger gewillt sein dürften, für den Lebensunterhalt von Asozialen zu sorgen, die Hilfe beanspruchen und sich laut beklagen, wenn diese nicht ihren Maßstäben entspricht, sich dazu aber auch noch weigern, selbst irgend etwas zu tun, sofern sie nicht sogar zu Obstruktion und Zerstörung schreiten.

Die Geschichte warnt uns aber, daß beim Verlust sozialen Zusammenhalts leicht versucht wird, diesen mit totalitären Maßnahmen wiederherzustellen. Eine andere Möglichkeit läge darin, die gesamte Struktur unserer technischen Gesellschaft zu ändern.

Allerdings verschließt das Bewußtsein gegenüber düsteren Perspektiven gerne die Augen. Wir wissen zwar, daß andere Kulturen untergegangen sind, aber in unserem Fall scheinen die Dinge doch anders zu liegen. Es ist so wie mit den Autounfällen, die ja auch nur immer den anderen Leuten zustoßen können. Um also unsere Lage in einer schärferen Perspektive zu sehen, erscheint es nützlich, den Niedergang anderer Gesellschaften uns vor Augen zu führen. Dabei wird gleichzeitig ein Bild des sozialen Geschehens als Ganzes gewonnen, so daß nicht nur bloße Trends in die Zukunft extrapoliert werden. Das historische Phänomen, an dem ein solcher Vorgang sich im Ganzen anschaulich machen läßt, ist jene Kultur, die ihre Wurzeln im antiken Griechenland hat, aber in Italien zu höchster Entfaltung von Macht und Reichtum aufstieg: die Kultur des Imperium Romanum.

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* In Wahrheit liegen diese vom japanischen Justizministerium veröffentlichten Zahlen für die amerikanischen Verhältnisse unter den entsprechenden Angaben amerikanischer Behörden. Für das Jahr 1971 nennen diese 1820 Einbrüche auf 100.000 Einwohner (10 weitere Städte zählten über 2000 Einbruchsfälle), während die Zahl der Morde in einigen Städten der USA bei 38 auf 100.000 Einwohner lag.

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Gordon Rattray Taylor   1975