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Teil 3

Historische
Rückblende

Kapitel 7
Warnendes 
Beispiel Rom

 4  Wiederholt sich die römische Katastrophe? 139

 3  Der Lebenszyklus einer Kultur  137

   2 Zwischen Anarchie und Diktatur  132

Vor euch sind Reiche dahingegangen.
Gehet im Lande umher und sehet, was
jenen widerfuhr, die dem Boten
kein Gehör schenkten. --Koran

 

   1  Der Niedergang Roms   

  127-142

Kurz vor dem Ende des 4. Jahrhunderts n. Chr. begannen römische Senatoren Klage darüber zu führen, daß es nicht mehr möglich sei, in Sicherheit zu Fuß über die Poebene zu gehen. Indes war damals die Situation bereits schlimmer, als sie glauben mochten. 

Im Jahr 395 zerbrach das Römische Reich in zwei Hälften. Innerhalb weniger Jahre hatten die Barbaren Afrika und die Balkanprovinzen überrannt, hatten sie Frankreich besetzt. Im Jahr 407 zogen die römischen Legionen aus Britannien ab. 409 brach der Westgotenkönig Alarich in Italien ein, brandschatzte 410 Rom, die Hauptstadt des Imperiums, das Zentrum der antiken Welt. 

Zwar kämpfte die westliche Reichshälfte bis zum Jahr 476 — erst damals wurde der letzte römische Kaiser abgesetzt —, aber diese Schonfrist war weniger das Ergebnis beherzten Widerstands als vielmehr die Folge des Zögerns der Angreifer, die nicht recht wußten, was sie an die Stelle der von ihnen zerstörten Macht setzen sollten. 

Im Grunde aber brach sich die große Welle der antiken Kultur bereits zu jenem Zeitpunkt, als die römischen Senatoren über die Unsicherheit in der Poebene zu klagen begonnen hatten. 

Die Parallelen zwischen dem Niedergang der griechisch-römischen Zivilisation und dem Niedergang der europäisch-amerikanischen sind so augenfällig und selbst im Detail noch so stimmig, daß es sich lohnt, sie genauer zu untersuchen, um daraus Lehren zu ziehen.

Auf ihrem Höhepunkt — etwa um das Jahr 100 n. Chr. — war die römische Kultur durch einen Grad an Wohlhabenheit und Sicherheit gekennzeichnet wie kaum eine andere Kultur vor ihr. 

Der Historiker Edward Gibbon war es, der sagte, nie seien die Völker Europas glücklicher gewesen als unter den «fünf guten Kaisern». 

Die Landwirtschaft stand in Blüte. Getreide, Öl, Wein und Töpferwaren wurden aus den Kernländern des Reiches über ganz Europa hin gehandelt. Im Austausch gegen römische Waren kamen Textilien von der Donau; Papyrus, wichtiges Schreibmaterial, aus Ägypten; Lederwaren aus dem Vorderen Orient; Wollenwaren, Stahl und Espartogras aus Spanien. Die Bürger des Römischen Reiches bewegten sich ungehindert über ein vorzügliches Verkehrsnetz durch alle Provinzen, fanden Gasthäuser und Herbergen und waren vor Wegelagerern und Piraten geschützt. In sechzehn Wochen reiste man damals nach Indien.

Unnötig, hier die großen Aquädukte und Thermen, die Sammlungen von Statuen und Bildern, den ganzen römischen Luxus zu beschreiben. Ein Zitat von Gibbon mag genügen: «In ihrer Kleidung, ihren Tafelvergnügungen, ihren Wohnungen und ihrem Hausrat vereinten diese Lieblinge des Glücks jegliches Raffinement an Bequemlichkeit, an Eleganz und Pracht, wo immer dies ihrem Stolz Genüge gab oder ihren Sinnen gefällig war.» 

Teppiche aus Babylonien, Bernstein von der Ostsee, Pelze aus den Wäldern des Libanons. Alljährlich segelte eine Flotte von 120 Schiffen nach Ceylon und zur Malabarküste und brachte von dort Silber, Duftstoffe und Edelsteine mit. Perlen von Ormuz und Kap Kormorin, Diamanten aus Bengalen wurden im Austausch gegen Bernstein, Bronze, Zinn, Blei, Korallen, Chrysolit, Storax, Glas, Gewänder und — versteht sich — Gold und Silber eingeführt.   wikipedia  Peridot  

Die Währung war stabil, auf dem Goldwert begründet. Der römische Aureus wurde nahezu überall, von Skandinavien bis Ceylon und China, gern in Zahlung genommen. Kredit war leicht erhältlich: Die Banken verliehen bereitwillig zu Zinssätzen um 6 %. Die römische Post beförderte Briefe über Strecken von 70 Kilometern am Tag.

Über die Bevölkerungszahl Roms ist viel geschrieben worden. Carciofino setzt 1,2 Millionen an, von denen die meisten eng gedrängt in mächtigen Wohnblöcken lebten. Die Bevölkerung des gesamten Imperiums dürfte zu Beginn der christlichen Zeitrechnung zwischen 50 und 60 Millionen Menschen betragen haben, von denen 5 Millionen römische Bürger waren.

Aber der ganze Reichtum beruhte darauf, daß man zuerst dort war, wo es etwas zu holen gab, und daß die Wirtschaft des Reiches die Möglichkeit zur Ausdehnung besaß. Als diese Wachstumsmöglichkeit nach der Saturierung des Reichs nicht mehr gegeben war, begann die Wirtschaft abzubröckeln. Sie beruhte eben allzusehr auf Expansion mit dem Wachstum des Reiches, auf dem militärischen Erwerb neuer Märkte. Technisch wurden nur wenige Neuerungen entwickelt. Auch die Produktivität der einzelnen Arbeitskraft erfuhr kaum eine Steigerung. Es war letztlich die Aussaugung eroberter Gebiete, die zur Hebung des Lebensstandards beitrug. 

Als sich später dann die ersten Risse im Gebäude des Imperiums zeigten, ging der Verfall daher rasch voran. Vor allem hatten die Kolonien gelernt, mit dem italienischen Kernland in Konkurrenz zu treten, ja es vielfach zu übertreffen. 

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Neue Schwerpunkte der Öl- und Weinerzeugung (Öl war sowohl Nahrungsmittel als auch Brennstoff für Lampen) waren in der Provence entstanden, Nordafrika war zur ersten Kornkammer des Reiches geworden, die Töpferei fand in Aquitanien* ihr neues Zentrum. An der Donau stellte man Ziegel und Glaswaren her. Aus den orientalischen Provinzen kam der Schmuck. Damals wurden Klagen laut, daß der Markt mit Gewandfibeln von Gallien her überschwemmt sei. Langsam verschob sich das Gleichgewicht des Handels. Es dauerte nicht lange, bis eine Energiekrise eintrat. 

Energie — das waren im alten Rom die Muskeln der Sklaven. Bücher wurden vervielfältigt, indem ein Manuskript vor einer Reihe von Schreibsklaven laut vorgelesen wurde — oft saßen gut hundert nebeneinander und schrieben das Vorgelesene nieder. Die Sklaven waren die Töpfer, sie waren die Ruderer der Schiffe. Wie riesig diese Arbeitsheere der antiken Sklaven waren, ist nicht immer bekannt. Auf dem Sklavenmarkt der Insel Delos wurden an einem einzigen Tag manchmal Zehntausende «umgesetzt». Aus dem Testament eines Freigelassenen wissen wir, daß er 4000 Sklaven hinterließ. In einem großen Haushalt konnten bis zu 200 Sklaven beschäftigt werden. Solange Rom noch immer neue Gebiete hinzueroberte, war auch für den Nachschub an Sklaven gesorgt.

Ernster aber sollte sich die Ernährungskrise auswirken. Die Methoden des Ackerbaues waren damals noch nicht sehr weit entwickelt. Der Pflug vermochte damals den Boden noch nicht tiefgründig umzuackern, weshalb es nötig war, ihn mehrmals über das Feld zu ziehen. Mangelhafte Düngung führte zur Erschöpfung der Böden, und die Unterpflügung von Klee zur Erhöhung des Stickstoffgehalts war noch nicht üblich. 

Allzu intensive Waldnutzung bewirkte schließlich Kahlschläge, wodurch der Grundwasserspiegel sank und Brunnen austrockneten, so daß Bodenerosion um sich griff. Die Abgaben der bäuerlichen Bevölkerung waren aber nicht nach dem jeweiligen Verkaufsertrag ihrer Produkte bemessen, sondern bestanden einfach in einer starr festgesetzten Menge von Naturalien. Als die Erträge geringer wurden, blieb somit für die Erzeuger selbst immer weniger übrig, bis schließlich das Existenzminimum unterschritten war. Überall begannen nun die Bauern ihren Grund und Boden aufzugeben und zogen in die Städte oder traten, wo dies möglich war, in den Dienst der großen Grundherren, die noch über Ländereien mit unerschöpftem Boden verfügten. Andere gingen zum Heer oder traten in Mönchsorden ein. Nach und nach entstanden neben den Städten neue Gemeinwesen, die eine gewisse Autarkie besaßen, die aber nur um den Preis einer Senkung des Lebensstandards und des Kulturniveaus zu erreichen war. 

*  (d-2012:)  wikipedia  Aquitanien  

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In den Städten aber wuchs ein landloses, entwurzelten Proletariat heran, das wenig vom Leben zu erwarten hatte. Die Behörden waren bemüht, durch freie Vergabe von Lebensmitteln und Niedrighaltung der Weinpreise sowie durch Zirkusspiele diese Massen einigermaßen von ihrem Elend abzulenken. Denn unzufrieden waren sie allemal, und ihre Verbitterung stellte ein gefährliches Potential der Gewalt dar. Natürlich mußten unter solchen Verhältnissen die Verbrechen zunehmen. Das Räuberwesen wurde zu einem ernsten Problem, und die Sicherheit auf den Straßen war nicht länger aufrechtzuerhalten, trotz verstärkter Überwachung aller Verkehrswege durch neu gebildete Polizeistationen mit mehr Bemannung.

Das Bevölkerungsproblem, bereits durch die verheerende Pest der 60er Jahre des 2. Jahrhunderts jäh verschärft, wurde zusehends kritischer. Anders als im 20. Jahrhundert war es nicht der Anstieg der Bevölkerung, sondern ihre Abnahme, die Besorgnis erregen mußte. So verödeten ganze Städte, verfielen Straßen und öffentliche Bauten, weil niemand mehr ihre Instandhaltung übernehmen konnte. Die Bevölkerung des Reichs sank um etwa 20 Millionen Menschen. Als Gegenmaßnahme wurden Ansiedlungen Fremder aus Randprovinzen eingeleitet; altgediente Legionäre, nicht selten von jenseits der Grenzen des Imperiums stammend, erhielten in den Kernlanden Grund und Boden zugewiesen. Im Norden Italiens rückten illyrische Bevölkerungsgruppen aus der Balkanhalbinsel nach, um die von der gallo-römischen Vorbevölkerung entleerten Räume einzunehmen. 

Ebenso wie die einsickernden Germanen konnten diese Fremdstämmigen keine Bindung gegenüber römischen Traditionen und der römischen Staatsidee empfinden.

Die Kaiser versuchten, mit allen diesen Problemen fertig zu werden, wobei es vor allem darauf ankam, das nötige Geld für den Staatssäckel zu sichern — eine Aufgabe, die ohne eine große Beamtenschaft nicht zu leisten war. Aber jede Bürokratie tendiert unter ähnlichen Verhältnissen zur Korruption. Augustus hatte privates Unternehmertum gefördert. Nach und nach aber war der Staat selbst zum größten Unternehmer geworden; in seiner Hand befanden sich die Werften, die Waffenherstellung, die Lebensmittelversorgung, der ganze Bergbau mit den anschließenden metallverarbeitenden Industrien, dazu die Bauindustrie. 

Die Interessen von Industrie und Militär waren eng verflochten. Gleichzeitig wurde in vielen Gewerben die Mitgliedschaft in gewerkschafts­ähnlichen Organisationen zur Pflicht, ja manchmal sogar zur erblichen Bedingung. (In einigen Fällen waren sogar nur noch Heiraten zwischen Familien der gleichen Gewerkschaft erlaubt, eine Entwicklung, die bei uns noch aussteht.) 

Wer in den staatlichen Münzstätten tätig war, vollzog seine Arbeit unter militärischer Aufsicht. Arbeiter in Bergwerken und Waffenwerkstätten wurden zwecks leichterer Identifizierung gebrandmarkt. Im 4. Jahrhundert «bestand vollständige Kontrolle über den einzelnen im ganzen Reich».

Nach Auffassung von Professor F. W. Walbank entsprach diese Gesellschaftsstruktur weniger dem Sozialismus als dem Korporationsstaat, wie ihn später Mussolini wiederbeleben sollte. Dieser Staat war totalitär.  wikipedia  Korporatismus  

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Zur dreifältigen Krise der Verknappung von Energie, Lebensmitteln und menschlicher Arbeitskraft trat die Krise der Finanzen. Solange Rom noch in Ausdehnung begriffen war, hatte sich das Heer aus den Erträgen der beutereichen Feldzüge selbst finanziert. Nunmehr aber wurde es zur Last. Die angewachsene neue Bürokratie war gleichfalls zu besolden, so daß mit dem Versiegen der Beutegelder zunehmend höher und umfassender besteuert werden mußte. 

Damals ging das Wort um, ein Provinzstatthalter müsse sich drei Vermögen zusammenraffen: eines für sich selbst, eines für den Steuereinnehmer und ein drittes zur Bestechung seiner Richter, wenn er der Auspressung der Provinz angeklagt werde. 

Wer seine Steuern nicht zu bezahlen vermochte, wurde in den Bankrott getrieben, eingekerkert und gewaltsam enteignet. Versteht sich, daß hierdurch die Zahl der Arbeitslosen anwuchs.

Aber selbst durch solche rigorosen Maßnahmen ließen sich die Staatsfinanzen nicht wieder in Ordnung bringen, weshalb die Herrscher auf eine andere Methode zurückgriffen, die auch heute noch im Schwange ist: Sie setzten den Wert der Währung herab, indem sie dem Silber einen höheren Anteil unedler Metalle beimengten oder indem sie die umlaufenden Münzen um einen bestimmten Gewichtsanteil beschnitten. Der Silberdenarius zirkulierte nun bald nicht mehr außerhalb der Reichsgrenzen wie einst, und selbst innerhalb des Reiches gab es Banken, die ihn nicht zur Zahlung annahmen — was Wunder, da er nur noch schäbige fünf Hundertteile Silber enthielt. 

Auch der Aureus, die Goldmünze, einst eine Universalwährung der ganzen damaligen Welt, hatte längst seinen Glanz verloren, so daß Konstantin sich genötigt sah, eine neue Münzeinheit, den Solidus, prägen zu lassen. Zu jener Zeit galt ein Solidus 1389 Denare. Im Jahr 338 war der Solidus aber bereits 150.000 Denare wert, und nicht lange, so galt er 275.000 Denare. Jetzt endlich wurden diese Münzen als wertlos eingezogen. Da die Reichen hauptsächlich in Gold zahlten, die Armen aber in schlechtem Silber und Kupfer, machte diese Inflation des Silbers zugunsten des Goldes die Armen ärmer, die Reichen aber reicher.

Zu Beginn des 4. Jahrhunderts versuchten die Kaiser die Einführung von Lohn- und Preiskontrollen, um die Inflation zu stoppen. Spekulation und Hortung, die üblichen Begleiterscheinungen einer Inflation, waren dadurch aber nicht unter Kontrolle zu bringen. Jetzt sahen die Leute nur noch nach Sachbesitz. Große Landgüter wurden als Geldanlage aufgekauft, obwohl ihre Besitzer weder willens noch in der Lage waren, eine geregelte Bewirtschaftung durchzuführen. Schon Plinius hatte in gelinder Übertreibung gesagt, daß ganz Nordafrika sechs Leuten gehöre. 

  wikipedia  Plinius_der_Ältere     wikipedia  Plinius_der_Jüngere  

Ersichtlich wird aus diesem Blick in die Geschichte Roms, daß wir uns in einer durchaus ähnlichen Phase der Entwicklung befinden, wie sie damals erreicht war. Was aber geschah dann?

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    2 Zwischen Anarchie und Diktatur    

 

Gegen Ende des 2. Jahrhunderts finden wir ein militärisches Regime der Linken, das sich bewußt auf die Zustimmung der Massen stützt — auf Bauern und Soldaten. Die soziale Rolle der Soldaten in Rom mag mit jener verglichen werden, die heute von den Gewerkschaften wahrgenommen wird — bei ihnen lag in letzter Instanz die Macht. 

Sie konnten sich gegen die Gesetze stellen, besondere Vorrechte verlangen, dem Senat ihre Überzeugung aufzwingen, ja selbst durchsetzen, daß der Senat mit ehemaligen Offizieren besetzt wurde. 

Natürlich bedurften die Kaiser der Unterstützung der Armee; Solderhöhungen waren fast bei jeder Thronbesteigung fällig; 'Verdienten Soldaten' wurden Sonderzuwendungen und andere Privilegien garantiert.

Das sozialistische Programm, wie es unter Septimius Severus — einem Mann, der sich selbst ein großes persönliches Vermögen sicherte — begonnen worden war, wurde durch seinen Nachfolger Caracalla (einen Brudermörder aus Staatsräson) noch weitergeführt. Caracalla buhlte um die Gunst der Massen und zeigte seine Verachtung für die begüterten Klassen wie für die Intelligenz, indem er systematisch versuchte, sie durch drückende Besteuerung und die Verdoppelung der Erbschaftssteuer ausbluten zu lassen.   wikipedia  Septimius_Severus *146 in Lybien bis 211 (64)

Seinen egalitären Bestrebungen folgend, hob er auch das römische Bürgerrecht mit seinen Privilegien auf, indem er nunmehr nahezu jeden als römischen Bürger gelten ließ. Weiter wurde der einst wichtige Unterschied zwischen Bauer und Soldat verwischt, indem die Bauernschaft militarisiert und Land an Soldaten verteilt wurde. Dies wurde nicht nur in Italien verwirklicht, sondern ebenso in Afrika und Germanien. (Vielleicht müssen wir in Übertragung solchen Geschehens auf unsere Zeit auch eine Gesellschaft erwarten, in der die Zugehörigkeit zu einer Gewerkschaft Pflicht ist, gleichgültig, ob der Betroffene mag oder nicht.)

Die Landeigentümer zogen sich auf ihre Güter zurück, befestigten sie und lebten fürder mit ihren Sklaven und Gefolgsleuten soweit wie möglich in wirt­schaft­licher Autarkie. 

Das war die Geburtsstunde des Feudalsystems.

Die Maßnahmen der Kaiser waren dazu gedacht gewesen, die Basis der Militärdiktatur zu festigen; in Wahrheit aber glitt dieses System immer tiefer in die Anarchie. Die Soldaten wurden immer eigenmächtiger, neigten zum Verrat und konnten mit nichts mehr zufriedengestellt werden. Ein Kaiser nach dem anderen wurde von ihnen auf den Schild gehoben; oft dauerte es nur wenige Monate, bis er ermordet war.

In nicht fünfzig Jahren sah das Reich etwa dreißig Kaiser- und Thronprätendenten. 

(Als Decius zum Kaiser gewählt worden war, dachte er zunächst an Ablehnung dieser risikoreichen Würde, nahm aber doch an, als seine Soldaten ihn wissen ließen, sein Tod sei im Falle einer Ablehnung gewiß.)  wikipedia  Decius Kaiser *200 auf Balkan bis 251 in Bulgarien 

Gelegentlich regierten auch mehrere Kaiser gleichzeitig nebeneinander, weil verschiedene Fraktionen der Armee verschiedene Kandidaten unterstützten.

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Rom war Schreckensherrschaft zwar nicht ganz unbekannt, aber diese erreichte nun eine bis dahin unerhörte Intensität. 

Unter dem verschleierten Namen von «Geschäftsagenten» wurde eine Geheimpolizei aufgestellt, deren Aufgabe es war, von der Steuerhinterziehung bis zur Desertion aus dem Heer und zur Weigerung, sich für ein öffentliches Amt zur Verfügung zu stellen, alle relevanten Vorfälle den Behörden zur Kenntnis zu bringen. 

(Öffentliche Ämter scheinen damals bereits solche Belastungen und Gefahren mit sich gebracht zu haben, daß sich niemand mehr danach drängte.) 

Es war nicht mehr ungewöhnlich, daß geachtete Bürger über Nacht verschwanden und dann plötzlich wieder aus dem Kerker unter ihre Mitmenschen traten, verstümmelt oder zusammengeschlagen, sofern sie überhaupt noch einmal freigekommen waren. 

Die Folter, die lange als unmenschlich verworfen war, wurde wieder eingeführt — bei freien Männern, denn Sklaven, Kriegsgefangene und jene, die bestimmter Verbrechen wie etwa des Hochverrats überführt worden waren, standen ohnehin außerhalb der Gesetze.

Mit der Verschlechterung der Situation wurden Arbeitsverweigerung und Rebellion immer häufiger. Politische Schmähschriften wanderten von Hand zu Hand. Sie wurden mit Rücksichtslosigkeit unterdrückt. Immer mehr ehemalige Soldaten drangen in die Bürokratie ein, die zusehends korrupter wurde und Geld und Güter aus der Mittelklasse herauspreßte. 

Aristides ließe sich hier zitieren, der in einem Appell an einen neuen Herrscher zwecks Besserung der Lage gesagt hatte: 

«Die Provinzen lagen zitternd in Fesseln. Von Stadt zu Stadt zogen die Ausspäher und horchten, was die Leute redeten. Kein Mensch konnte mehr frei reden oder denken. Alles, was an der Freiheit gerecht und vernünftig war, wurde unterdrückt, und jedermann schrak vor seinem eigenen Schatten zusammen.»

wikipedia  Aristides_von_Athen   *100 in Griechenland bis 150

Die Aristokratie wurde in ganzen Sippen zu Tode gebracht, nicht nur in Rom, sondern auch in Afrika und anderswo. Weil Straßenräuberei überhand genommen hatte, bildeten sich Trupps von Wächtern zur Unterstützung der Polizei. Auch wurden eigene Einheiten gegen das Brigantentum gebildet. 

Stadt und Land lagen sich feindselig gegenüber, und nicht selten wurden Städte von Landleuten überfallen und zerstört. Fleisch begann knapp zu werden. Reiche Männer wurden aus ihren Wagen gezerrt und mußten hinterherlaufen, während ihre Sklaven auf ihrem Sitz Platz nahmen. Die Bauern erhoben sich gegen ihre Grundherren, Sklaven gegen ihre Besitzer.

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Unter den Menschen wuchs die Verzweiflung. Sie warteten auf einen Heiland und Befreier. Einige richteten ihren Blick auf ein glücklicheres Leben jenseits des Grabes und wandten sich ganz der Religion zu. Neu ins Land gekommene Religionen — der Mithraskult aus Persien, Parsismus, Gnostizismus und Christentum — traten nach und nach an die Stelle der älteren griechisch-römischen Kulte. Es war die Blütezeit der orientalischen Geheimweihen und der Mysterienreligionen. Astrologie, Wahrsagung und Zukunftswissen fanden Zuspruch. Auch die Kaiser beeilten sich, aus diesem Trend Vorteile für die eigene Position zu schlagen, und erklärten sich selbst zu Göttern.

Religiöse Intoleranz ist indes noch erbitterter als politische: Das Christentum zwang den Staat, Andersdenkende zu verfolgen. Wenn ein Bauer nach der Sonne sah, konnte ihm dies eine Verfolgung wegen Verehrung des Mithras an den Hals bringen. Jeder hegte Haß gegen den anderen: gegen die Steuereinnehmer, die Polizei, vor allem aber gegen das Heer. Ein Autor wie Cyprianus spricht von einer völligen Erschöpfung von Mensch und Natur.  

«Eine Bewegung, die durch Neid und Haß getragen war und durch Mord und Zerstörung vorangetrieben wurde», schreibt der bedeutende Wirtschaftshistoriker Michael Rostovtzeff, «endete in einer solchen Bedrücktheit des Bewußtseins, daß irgendeine stabile Ordnung der Verhältnisse den Menschen besser schien als endlose Anarchie. So schickten sie sich bereitwillig in die durch Diokletian herbeigeführte Stabilisierung, wiewohl diese für die Masse der Bevölkerung des Römischen Reiches keine Besserung ihrer Lage brachte.» Diokletians Lösung war die Schaffung einer noch mächtigeren Bürokratie, überwacht von einer noch effizienter arbeitenden Geheimpolizei, die Stopfung einiger Löcher in der Steuerverwaltung und die Verdoppelung der Armee.

Rostovtzeff stellt deutlich heraus, daß die Hauptursache für diese Entwicklung in der «revolutionären Bewegung der Massen» zu sehen sei, «die auf die Einebnung der ganzen Gesellschaft zielte», auf eine Einebnung der Standards wie der Klassen. Während der Zeit wirtschaftlichen Wohlstandes hatte eine vermögende Bürgerklasse nach und nach die alte Aristokratie aus ihren Positionen verdrängt. Unter dieser stieg die kleinbürgerliche Schicht der Ladeninhaber und kleinen Händler nach oben. Was die neuen Herrscher der Unterschicht taten, war, daß sie Soldaten, Bauern und die Massen der Städte gegen diese Mittelklasse aufbrachten.

Wie Arnold Toynbee gezeigt hat, orientieren sich in der expansiven Phase einer Gesellschaft die unteren Klassen am Vorbild der Oberklasse und herrschenden Elite, deren Rechtschaffenheit und Befähigung ihnen Respekt abnötigen. Die Niedergangsphase hingegen wird durch eine Umkehrung dieses Anpassungs­vorgangs gekennzeichnet. Die Elite hat nun ihren Elan verloren und klammert sich dafür recht und schlecht an alte Privilegien, wobei sie aber gleichzeitig Normen und Verhaltensweisen der Mittelklasse übernimmt und um deren Gunst wirbt. Es tagt nun die Epoche des «gemeinen Mannes».

Gewiß war dies so in Rom, wobei selbst der Kaiser nicht abseits stand.

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Caracalla, ein «Unmensch, dessen Leben menschlicher Natur hohnspricht», war bekannt dafür, daß er in Kleidung und Gebaren sich wie ein gemeiner Legionär zu geben wußte, solange er im Kreis seiner Soldaten weilte, von denen er auch jede Vertraulichkeit durchgehen ließ, wiewohl sonst sein Verhalten von äußerster Hochnäsigkeit zu sein pflegte. Commodus stellte nicht nur öffentlich sein Geschick als Tierkämpfer zur Schau — eigens für ihn wurden Wildtiere aus fernen Gegenden nach Rom gebracht —, sondern trat zu jedermanns Überraschung auch als Gladiator in der Arena auf. Da es ja nicht gut anging, den Kaiser vor aller Augen in den Staub zu werfen, mußte mancher patriotische Gladiator seine Loyalität dadurch beweisen, daß er ohne Gegenwehr den tödlichen Hieb empfing.

Die neue Mentalität war den intellektuellen Errungenschaften der Oberklassen nicht günstig, und ebensowenig waren dies die Religionen, sofern nicht Kunst und Literatur in ihren Dienst genommen werden konnten. In einem solchen Zeitalter blieb für den Künstler und Kunsthandwerker wenig Spielraum. Es steht außer Zweifel, daß während des 3. Jahrhunderts die künstlerischen Maßstäbe in beklagenswertem Maße verlorengingen. Es genügt, hier einfach die künstlerische Qualität eines Basreliefs von der Säule des Mark Aurel mit einem Relief des Konstantinsbogens zu vergleichen, um den Unterschied evident werden zu lassen. 

In der Literatur finden wir einen analogen Abfall — es war Protestliteratur, hauptsächlich von Autoren der Provinz geschrieben. Was auf dem Büchermarkt im Schwange war, befaßte sich mit Sachen und Fakten — Enzyklopädien, Bücher zum Erlernen bestimmter Fertigkeiten, Sachbücher also. Die Tage schöpferischer Literatur und intellektueller Neuerung waren dahin. Auch auf dem Gebiet der Technik, in der Wirtschaft und in der Verwaltung zehrte man nur noch von der Substanz.

Rostovtzeff faßt zusammen: «Doch bleibt wie ein Gespenst das zum Schluß sich stellende Problem, das überall aufleuchtet und doch sich immer wieder der Beantwortung entzieht: Ist es möglich, höhere Bildung den unteren Klassen mitzuteilen, ohne daß dabei ihr Rang darunter leidet und ihre Qualität dahinschwindet? Ist es nicht jeder Zivilisation bestimmt, unterzugehen, sobald sie die Massen zu durchdringen beginnt?»

Entgegen verbreiteter Meinung stimmen die Fachleute darin überein, daß es nicht die Angriffe der Wandalen, Goten und Hunnen gewesen sind, die das Römische Reich zu Fall brachten. In Wahrheit stießen diese Völker nur in ein Machtvakuum vor. Die Wandalen waren sogar große Bewunderer Roms, und der Wandale Stilicho, Befehlshaber der Legionen, vertrieb die Westgoten aus Griechenland und vereitelte ihre Versuche, nach Italien einzudringen. Der Historiker S. Dill schreibt hierzu:

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«Das Römische Reich war den Barbaren kein verhaßter Gegner. Im Gegenteil, sie waren sehr darauf bedacht, in römische Dienste genommen zu werden, und nicht wenige germanische Häuptlinge wie Alarich oder Ataulphus (Atawulf) hatten kein anderes Ziel, als in die höchsten militärischen Kommandostellen berufen zu werden. Dem entsprach durchaus die Bereitschaft der Römer, barbarische Söldnertruppen für ihre Kriege anzuwerben.» 

Die Besetzung Roms durch den Westgoten Alarich dauerte bloß drei Tage und war bei relativ begrenzten Plünderungen keineswegs das Greuelstück, als das sie oft dargestellt wird. Alarich war übrigens Christ, wies seine Soldaten aber gleichwohl an, auf keinen Fall Tempel zu plündern. Genommen wurde von der Bevölkerung nur, was die an Hunger leidenden Germanen unbedingt brauchten, und auch hier wurde erst zur Selbsthilfe gegriffen, als alle Versuche einer gütlichen Einigung gescheitert waren. Erst die Plünderung Roms durch den Wandalen Geiserich war wirklich eine Ausplünderung bis zum Letzten, so daß seither das Wort «Wandalismus» für mutwillige Zerstörungswut schlechthin steht.

Um zusammenzufassen:  

Aus geschichtlichen Fakten ergeben sich einige überzeugende Beispiele, aus denen wir sehen können, daß auch unsere eigene Krisis mehr ist als nur eine materielle Krisis, bei der es um nichts anderes ginge als um die Erschöpfung von Rohstoffen. Die geschichtlichen Tatsachen legen es nahe, hierin einen Prozeß der gesellschaftlichen Entwicklung — um nicht zu sagen: des gesellschaftlichen Verfalls — zu erblicken, der kaum aufzuhalten sein dürfte und den das gegenwärtige politische Klima beschleunigt. 

Selbstverständlich gibt es genug Unterschiede. So verfügten die Römer so gut wie gar nicht über die Befähigung zu technischen Neuerungen, die so charakteristisch für unsere Kultur ist. Außerdem fiel im alten Rom die Bevölkerungszahl, während sie in unserer modernen Welt ansteigt. Die Antike kannte zudem keine Denkmodelle, nach denen sich etwa ein wirtschaftliches Geschehen wie die Inflation hätte verstehen lassen. 

Aber die wesentlichen Züge unserer Gesellschaft waren auch bereits in der römischen vorhanden: die Umformung einer strukturierten, traditionsgebundenen Gesellschaft in eine Massengesellschaft ohne Tradition; die Zerstörung der Ober- und Mittelklassen durch Steuerdruck und damit die Infragestellung ihrer Normen und Werte, die auch zum Wohl einer Klasse entwickelt worden waren, die sich mit unmittelbarer Befriedigung der Lebensbedürfnisse begnügte; der Griff nach der Gewalt, um mit den Frustrationen einer solchen Lebensform fertig zu werden; und die Hinwendung zur Religion aus Verzweiflung über irdische Zustände. Sogar die Ablösung eines lebenskräftigen Kapitalismus — mag uns dies nun gefallen oder nicht — durch die Eigentümerschaft des Staates und eine unersättliche Bürokratie finden wir im römischen Bild wieder.

So spricht vieles dafür, daß auch wir nicht nur mit kurzfristigen Problemen, sondern mit langfristigen historischen Trends konfrontiert sind. Tatsächlich sieht es ganz so aus, als ob wir auf dem absteigenden Ast wären. Viele Zivilisationen sind vor uns dahingegangen, und es mag unsere eigene Entwicklung in die rechte Perspektive rücken, wenn wir uns jetzt noch mit der Lebensspanne befassen, die einer Kultur gewöhnlich beschieden ist.

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   3  Der Lebenszyklus einer Kultur  

 

Zu einer Zeit, als Roms Blüte noch weit in der Zukunft lag, erkannte Plato, daß die Gesellschaften einen politischen Zyklus mit deutlich abgesetzten Phasen durchlaufen. Als erste Stufe sah er die Monarchie oder die Herrschaft eines Tyrannen, also eines einzigen Machthabers. Dem folgte die Stufe der Oligarchie, der Herrschaft weniger — einer Elite, um es modern zu formulieren. Aber diese zweite Stufe wurde wiederum von einer dritten abgelöst, der Demokratie, wo sich die Macht in den Händen vieler befand. Demokratie aber verfiel nach und nach zu Anarchie. Da aber Anarchie ein unerträglicher Zustand ist, war den Leuten bald ein Diktator willkommen, der die Ordnung wiederherstellte — und der Zyklus begann von neuem.

In der Geschichte der Neuzeit haben wir gesehen, wie die Oligarchie die Monarchie ersetzte und wie wiederum die Oligarchie der Demokratie weichen mußte. Wir bewegen uns gegenwärtig auf die Anarchie zu und können demnach mit Grund erwarten, daß beim Unerträglichwerden dieses Zustandes eine Diktatur vielen als wünschenswert erscheint. In Italien und Deutschland ist uns bereits vorexerziert worden, wie so etwas ablaufen kann. Die Zeit ist sicher nicht mehr allzu fern, wo ähnliches wieder eintreten mag.

Derartige Abläufe wurden gegen Ende des Zweiten Weltkriegs auf verblüffende Weise in einer Gemeinschaft von Kindern demonstriert, die wegen des Luftkriegs aus Edinburgh evakuiert worden waren, aber als allzu undiszipliniert galten, als daß man sie zu Pflegeeltern hätte geben mögen. So ließ man etwa fünfzig Jungen in einem Haus zusammen wohnen, das unter dem Namen Barns bekannt war. Die Leitung oblag einem Jugendführer der Quäker, David Wills.

Da unter den Kindern keine Disziplin zu halten war, verzichtete Wills von Anfang an auf einzuhaltende Regeln, abgesehen von einigen Vorschriften, welche die Sicherheit der Jungen betrafen — etwa Verbot des Schwimmens im Fluß oder Maßnahmen gegen das Fortlaufen. Es gab zwar Schulklassen, doch bestand kein Zwang, sie zu besuchen. Nach einer kurzen Zeit der Anarchie setzten sich die Jungen selber zusammen und bestimmten einen unter ihnen zum Anführer, der das Sagen hatte. Da dies aber auch nicht nach Wunsch funktionierte, bildeten sie eine Bürgervereinigung und versuchten es nun mit einer Art Kabinettsregierung. Sogar eine Art Steuersystem wurde eingeführt.

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In dem Maße, wie soziale Strukturen sich einspielten, fingen die Jungen auch an, den Unterricht zu besuchen, der sie nun plötzlich zu interessieren begann und wo sie mit Eifer bei der Sache waren. Leider wurde dieses vielversprechende Experiment durch die Erziehungsbehörden abgebrochen, die darauf bestanden, daß alle Jungen zum Unterricht müßten, ob sie dies wollten oder nicht.

 

In diesem Jahrhundert haben Historiker, gestützt auf ein ungleich umfangreicheres Material als das, welches Platos These zugrunde lag, den Versuch unternommen, die Lebenszyklen von Kulturen nachzuzeichnen. Es ist dem Verständnis unserer eigenen Probleme dienlich, wenn wir einen kurzen Blick auf diese Versuche werfen. Vor über fünfzig Jahren bewirkte das Erscheinen des Buches eines deutschen Kulturphilosophen eine Sensation; es handelte sich um Oswald Spenglers «Untergang des Abendlandes», ein Werk von immenser Belesenheit, mit vielen dunklen Stellen und befeuert vom nietzscheanischen Glauben an den «Übermenschen». 

Spengler entsprach Plato, indem er auf den Feudalismus die Aristokratie folgen sah und auf diese wiederum die Volksherrschaft — aber er fügte dem eigene Gedanken hinzu. Parallel zum Sieg des Volkes über die Aristokratie sah er den Sieg der Stadt über das Land, des Geldes über den Staatsgedanken, des Intellekts über die Tradition. Zuletzt aber siegt Gewalt über das Geld: Der Despotismus (Cäsarismus nannte er ihn) werde zunehmend über eine stets gestaltlosere Masse herrschen, bis irgendwann die Zivilisation wieder in die Barbarei zurücksinkt. Was England, Frankreich und die USA betrifft, so konstatierte Spengler «Rassenselbstmord», der schon lange im Gange sei.

Nach ihm hat Arnold Toynbee in zwölf umfangreichen Bänden das gleiche Feld beackert. Seine Analyse stellt die Lebenszyklen der Kulturen im Gegensatz von «Herausforderung und Antwort» dar. Jede Kultur sieht sich vor Herausforderungen gestellt. Zunächst antwortet sie auf diese kraftvoll und mit Erfolg und steigt so höher und höher. Doch mit der Zeit bewältigen ihre Antworten die Realität nicht mehr, und der Niedergang beginnt. Dieses Verlaufsschema sei aber nicht zwingend, räumt Toynbee ein. Oft seien über lange Zeit hin keine Herausforderungen gestellt, so daß eine Kultur trotz historischer Verkalkung Jahrhunderte auszudauern vermag, wie China seit der Han-Zeit. Manchmal könne auch eine entstehende Kultur mit einer unüberwindbaren Herausforderung konfrontiert sein, so daß sie nie zur Entfaltung gelange. Gleichwohl läßt sich sagen, daß in der Folge von kraftvoll-glücklicher Verwirklichung und schwindender Behauptungskraft ein allgemeingültiger Entwicklungstypus getroffen ist.

Für Toynbee wird der Niedergang bedingt durch einen Kompetenzverlust eines Teils der «dominierenden Elite», die für ihn außer der politischen Führerschicht auch die Stifter neuer Ideen umfaßt. Anfangs gewinnen diese ihre Position durch Verdienst. Nach geraumer Zeit bleibt nur noch das Bestreben, sich fest an die Positionen zu klammern, denen sie längst nicht mehr gewachsen sind. 

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Zunächst gehen die Leute da noch willig mit. In einem späteren Stadium der Entwicklung aber wendet sich die Masse der Menschen von ihnen ab, und die Elite verbraucht den ihr gebliebenen Rest an Initiative in dauernden Bekundungen ihrer Loyalität. 

Gleich, ob derartige Ablaufmuster universale historische Geltung beanspruchen dürfen oder nicht — für Toynbee jedenfalls wiederholen sie sich in allen großen Kulturen der Welt —: Schon daß solche Prozesse überhaupt möglich sind, müßte als Warnung dienen. Toynbee zögert nicht, rundheraus zu sagen, daß «vielleicht der Einebner Tod auch seine eisige Hand auf unsere Zivilisation legen wird». Unvermeidbar freilich ist das nicht, und Toynbee hofft, der Westen möge sich selbst durch eine neue religiöse Erweckung retten — in seiner Formulierung: «wieder in die Arme der Kirche unserer Väter zurück­finden». Aber er sieht doch Unheil in unserer Zeit, die vielfältigen Zeichen der Sterilität, die Hybris einer überspezialisierten Technik, die Aufgabe jeglichen «tradierten Stils».

Er führt den Historiker Edwyn Bevan an:   en.wikipedia  Edwyn_Bevan *1870 in London bis 1943

«Ich sehe als Gefahr vor uns nicht den Anarchismus, sondern den Despotismus, den Verlust der geistigen Freiheit, den totalitären Staat, der vielleicht ein Weltstaat sein wird ... lokal und temporär mag es in einer Übergangsphase Anarchismus geben ... Dann könnte die Welt in eine Periode der geistigen Versteinerung geraten, eine entsetzliche Ordnung, die für die höheren Aktivitäten des menschlichen Geistes tödlich sein müßte.»

 

 

   4  Wiederholt sich die römische Katastrophe?   

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Die Parallelen zwischen der römischen Geschichte und unserer Gegenwart sind inzwischen wohl deutlich genug geworden, aber es seien hier noch einmal die einzelnen Punkte aufgeführt: 

  1. Zusammenbruch des Kleinbauerntums, der zur Abwanderung in die Städte und zur Bildung einer «Massengesellschaft» führt, wobei starke Fremdeinwanderung als ein weiterer kulturell desintegrierender Faktor hinzukommt;

  2. politisch-administrativer Zusammenbruch des Reiches und Herausbildung einer negativen Handelsbilanz;

  3. Gewährung von Almosen und Gunstgeschenken an die städtischen Massen und deren Hang zu Konflikten und Gewaltanwendung;

  4. Machtverlagerung auf die wichtigste funktionale Sozialgruppe, das Heer (vergleichbar in unseren Tagen: die Gewerkschaften), und unverantwortlicher Machtgebrauch durch diese Gruppe;

  5. Zusammenbruch der Aristokratie unter dem Druck der aufstrebenden Mittelklasse, gefolgt von Zerstörung der Mittelklasse im Interesse der unteren Klasse;

  6. stetig anwachsende Inflation, dazu aber wachsende Steuerlasten zwecks Unterhaltung einer immer größer und anspruchsvoller werdenden Armee und Bürokratie; 

  7. Verfall der öffentlichen Sicherheit durch das Entstehen bewaffneter Banden aus der Mittel- und Unterklasse, die ihren Lebensunterhalt außerhalb der gesellschaftlichen Normen zu finden versuchen;

  8. Umkehrung des Rollenverhaltens von Unter- und Oberklasse (die Unterklasse sieht nicht länger in der Oberklasse ihr Vorbild, sondern die Oberklasse gleicht sich der Unterklasse in Sitte und Kleidung an);

  9. weitere Konzessionen an die Massen und Erklärung des Grundsatzes von der Gleichheit aller Menschen;

  10. Zunahme des Aberglaubens, der Astrologie usw. und Hinwendung zur Jenseitswelt mit dem Versuch, dort das Heil zu erlangen, das die Diesseitswelt vorenthält;

  11. Regiment des Terrors, in dem Spionieren, Denunzieren, Foltern und Gewaltanwendung alltäglich sind, und Vermögenseinschätzung mit Konfiszierung des Eigentums;

  12. ständiges Anwachsen von außen drohender Gefahren, etwa jener, daß die Versorgung mit Lebensmitteln wegen Fehlschlägen in der Bewässerung, Bodenerosion und der Entschlossenheit auswärtiger Lieferländer, ihre Produkte in eigener Regie zu verbrauchen, nicht mehr sichergestellt ist;

  13. Verfall der künstlerischen und technischen Leistungsfähigkeit; 

  14. Zunahme von Korruption und Intrigantentum in bislang unerhörtem Ausmaße. 

 

Alle diese Parallelen bilden eine starke Stütze für die Vermutung, daß unsere eigene Gesellschaft, vor allem in Großbritannien, wo diese Trends am weitesten fortgeschritten sind, sich in der Abschwungphase eines noch nicht ganz durchschauten sozialen Großprozesses befindet. 

Trifft dies zu, so müßten wir uns auf eine Zeit extremer politischer Gewalt gefaßt machen (deren Kennzeichen dann wohl der Mord wäre), auf eine Zeit der Inflation und der Steuerbedrückung, der allgegenwärtigen Gewalttätigkeit und Unsicherheit, die in einer Schreckensherrschaft kulminieren müßte und in der intellektuelle und schöpferische Fähigkeiten wenig Entfaltungsraum hätten. 

Und weil die moderne Welt so eng ineinander verzahnt ist, so dürfte auch die Vermutung richtig sein, daß andere Nationen, allen voran Italien, dem Weg Großbritanniens folgen werden.

Industriegesellschaften haben aber Probleme zu meistern, von denen das alte Rom verschont blieb; sie müssen sich in einer Welt von Wirtschaftsmächten und politischen Kräftefeldern zurechtfinden.

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Immerhin hören wir von Arnold Toynbee am Ende seiner Untersuchung von dreizehn Kulturen auch, daß Herausforderungen oft einen belebenden und kräftigenden Effekt zu haben vermögen. Nur dann, wenn eine Kultur nicht mehr in der Lage ist, auf Herausforderungen entsprechend zu reagieren, beginnt ihr langsamer Verfall. Wie kann aber die westliche Zivilisation auf die Vielzahl der ihr gestellten Herausforderungen reagieren? 

Sicher nicht dadurch, daß sie nach Vogel-Strauß-Manier den Kopf in den Sand steckt. So soll in diesem Buch der Versuch gemacht werden, die Herausforderungen zu bestimmen, um einige angemessene Reaktionen darauf zu finden. Denn bislang reagieren wir mit Sicherheit nicht angemessen auf unsere Herausforderungen.

Viele Leute werden nicht glauben wollen, daß die westliche Zivilisation auf dem absteigenden Ast ist. Nun glaubt ja ein jeder, die Gesellschaft, in der er groß geworden ist, gut zu kennen. Schon Eltern und Großeltern haben dieser Gesellschaft angehört, und da kann sie ja wohl nicht untergehen. So haben viele Menschen überhaupt kein Organ dafür, daß eine Gesellschaft eine durchaus verletzliche und leicht zerstörbare Erscheinung ist. Wir pflegen nicht in Jahrtausenden zu denken. 

Aber eine Kultur braucht nicht einmal so lange, bis sie zugrunde geht. Wie Toynbee in seiner berühmt gewordenen Untersuchung zeigte, sind von den sechsundzwanzig Zivilisationen, welche die Welt gesehen hat*, sechzehn zugrunde gegangen, und von den übriggebliebenen liegen neun in Agonie. Bereits in den 1930er Jahren war Toynbee zu dem Schluß gekommen, daß sich unsere Gesellschaft im Vorstadium des Zusammenbruchs befinde.

Es erscheint daher angebracht, noch etwas länger bei dieser Konzeption zu verweilen, um ihre Umrisse kräftiger hervorzuheben. Was bedeutet eine Feststellung wie die Toynbees eigentlich für uns? 

Sicherlich ist damit nicht gemeint, daß nun die Länder und Staaten alle von der Landkarte verschwinden. Die antike griechische Kultur ist schon vor zwei Jahrtausenden dahingegangen, aber ein «Griechenland» gibt es immer noch, und Menschen wohnen dort auch. Das Römische Reich hat sich aufgelöst, und dennoch existiert heute wieder ein Staat in Grenzen, die etwa auch das Römerreich einmal in der Frühphase seiner Ausdehnung besaß: Italien. Und von Städten in diesem Gebiet nahm ein Jahrtausend nach dem Zerfall Roms die Renaissance ihren Ausgang, deren Vorbild nachhaltig gewirkt hat. (Demgegenüber aber gab es auch ältere Kulturen, wie Babylonien und Assyrien, die völlig von der historischen Bildfläche verschwunden sind.) 

Mit «Zusammenbruch» einer Kultur meint Toynbee vor allem das Versagen in der historischen Realität und Praxis, weiter dann auch einen Verlust an Selbstvertrauen und schöpferischem Elan. Als Rom im Niedergang begriffen war, funktionierte das Postwesen nicht mehr, versäumte man notwendige Ausbesserungs­arbeiten an Bauten und Straßen, war das Geldwesen in Unordnung geraten, wurde die Justiz korrupt usw. 

* In einer späteren Ausgabe seiner «Study of History» erhöhte er diese Zahl auf zweiunddreißig.

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Im Bereich des Geistigen zeigte sich Rom unfähig, wirksame Ideen zu entwickeln, die Anleitung zur Meisterung der Situation hätten geben können. 

Es produzierte überhaupt keine neuen Ideen mehr, auch keine technischen Neuerungen oder ernst zu nehmenden Kunstwerke. Ähnliche Erscheinungen treffen ebenso auf andere Kulturen zu, die zugrunde gingen. 

Soll das nun also auch unser Schicksal werden?

Wenn uns das römische Beispiel überhaupt etwas zu lehren vermag, dann dies, daß uns wohl wieder ein neues dunkles Zeitalter von einem halben Jahrtausend Dauer erwartet, in dem ein jeder in Angst vor nackter Gewalt lebt, Kunst und Literatur dahinwelken, an die Stelle geschichtlicher Objektivität der Mythos tritt und originäres Denken keine Duldung erfährt. 

Im Falle Roms trat an die Stelle der Ruinen der alten Kultur eine neue, zunächst in der Provence, später, nach der Verfolgung der Albigenser, in Italien. 

Gewiß ist heute die Situation in mehr als einer Hinsicht verschieden. Entwicklungen gehen rascher voran, und es gibt auch noch eine Reihe von Zentren aufsteigender Kulturen, die zur Blüte gelangen dürften, noch ehe sich die amerikanisch-europäische Kultur wieder aus ihrer Asche erhebt. 

Staaten, die heute noch Diktaturen sind, können womöglich in zweihundert oder dreihundert Jahren Demokratien werden. 

Andererseits ist die Welt heutzutage viel enger verbunden, so daß der Niedergang des Westens auch für den Rest der Staaten schwerwiegende Probleme nach sich zöge. 

Auch bei einer möglichst optimistischen Einschätzung der Lage möchte ich doch glauben, daß zwei oder drei Generationen damit zu tun hätten, den Schock zu verarbeiten und dann neue Strukturen herauszubilden.  

Sieht man nun einmal von Eingriffen aus Bereichen ab, die außerhalb unseres gegenwärtigen Gesichts­kreises liegen, so dürfte meiner Meinung nach vor dem Jahr 2025 nicht allzuviel zu erhoffen sein.

Gewiß hat die östliche Reichshälfte Roms auch nach dem Zusammenbruch Westroms um ihr neues Zentrum Konstantinopel sich entwickelt und ein weiteres Jahrtausend überdauert, ja sie vermochte sogar nicht nur Nordafrika zu halten, sondern auch das alte Kernland Italiens den Ostgoten wieder zu entreißen und Teile Spaniens den Westgoten erfolgreich streitig zu machen. 

Übertragen auf unsere Verhältnisse, ließe sich so etwa denken, daß die britische Monarchie durch ihre Verpflanzung nach Australien die Kontinuität wahren könnte, selbst wenn Europa zu einer Wüstenei würde.

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Gordon Rattray Taylor   Zukunftsbewältigung   How to Avoid the Future   1975