Teil 4    Gefahrenmomente      Start    Weiter

  8  Vom Chaos zur Tyrannei      Taylor-1970

   1 Die Theorie der Massengesellschaft     2  Magie des Totalitarismus        3  Gründe des Zerfalls    

"So glaube ich denn, daß jene Art der Unterdrückung, von der demokratische Nationen bedroht werden, völlig anderer Natur ist als irgend etwas, das es zuvor auf dieser Welt gegeben. ... Vergeblich suche ich nach einem Ausdruck, der geeignet wäre, genau den Umfang der Idee wieder­zugeben, die ich mir darüber gebildet habe; die herkömmlichen Wörter Despotie und Tyrannei treffen nicht: die Erscheinung selbst ist neu."   ( Tocqueville *1805)

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  1  Die Theorie der Massengesellschaft 

Vieles, was uns an der Gegenwart undurchschaubar erscheint, wird klar, wenn wir uns mit einer Idee beschäftigen, von der gesagt worden ist, sie sei die «folgenreichste Theorie seit dem Marxismus»: die Idee der Massen­gesellschaft. Anders als der Marxismus ist sie leider ziemlich vernachlässigt worden. 

Aber der zentrale soziale Prozeß der Gegenwart ist die Herausbildung von Massengesellschaften — von Massengesellschaften, deren Tendenz zur Diktatur noch aufzuzeigen sein wird. Massengesellschaften unterscheiden sich grundsätzlich von gewachsenen Gesellschaften, weshalb wir zunächst die letztgenannten darstellen wollen.

Das wesentliche Kennzeichen gewachsener Gesellschaften besteht darin, daß sie aus einer Vielzahl einander überlagernder Gruppen bestehen, die auf verschiedenen Organisationsebenen zwischen der Familie und dem Staat angesiedelt sind. So bestehen die meisten vorindustriellen Gesellschaften ab einer gewissen Größe aus Stämmen, die sich ihrerseits wieder in Clans und Untergruppen scheiden. Zusätzlich spalten sie sich oft in Gruppen auf, die durch Zwischenheiraten der Familien verbunden sind. 

Zudem bestehen oft Altersgruppen mit fest umrissenen Verpflichtungen und Ritualen, ferner auch nicht minder gut abgegrenzte Geschlechtergruppen. In den bereits weiter entwickelten Sozialstrukturen des europäischen Mittelalters finden wir nicht nur Zünfte, religiöse Orden, Genossenschaften und andere Gruppen, sondern auch die Aufteilung der Macht zwischen diesen Körperschaften. Da gibt es Fragen, in denen der Abt entscheidet, andere, wo der Truchseß das Sagen hat, wieder andere, in denen der Gutsherr bestimmt, noch andere, die in die Zuständigkeit des Pfarramts fallen.

 wikipedia  Truchsess 

Der britische Sozialhistoriker G. Trevelyari sagt: «Die Struktureinheit der mittelalterlichen Gesellschaft war weder die Nation noch das Individuum, sondern etwas zwischen diesen — die Körperschaft.» Die Stellung eines Mannes war festgelegt durch die Körperschaft, der er angehörte. Diese Verteilung der Macht wird oft «Pluralismus» genannt, und Tocqueville hat diese Art der Sozialstruktur in den Vereinigten Staaten der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts festgestellt.

Unbestreitbar schränkt diese Aufteilung der Macht die Möglichkeiten irgendeines einzelnen ein, diktatorisch zu handeln, und sie widersetzt sich Versuchen ausschließlicher Machtergreifung.

Ihren inneren Zusammenhalt gewinnen diese verschiedenen Gruppen durch Bande der Loyalität, also durch gefühlsverhaftete, in langen Zeiträumen aufgebaute Beziehungen vor dem Hintergrund gemeinsam gemachter Erfahrung. Die Kraft solcher Loyalitätsbeziehungen wird deutlich an den zahlreichen Gruppierungen von Menschen, die einmal zusammen intensiv irgend etwas betrieben haben: Kameradschaften aus dem Wehrdienst, Sportvereine, die «Ehemaligen» einer Schule oder eines Ruderklubs. Sie sitzen noch zusammen, wenn auch der ursprüngliche Zweck ihres Zusammenkommens längst hinfällig geworden ist. Diesen Zusammenhalt verstärken allerlei Symbole wie Uniformen, Flaggen, eine spezielle Art, sich auszudrücken, der Gebrauch nur in der Gruppe vertrauter Wörter, auch eigene ritualisierte Verhaltensweisen.  

Truppenbefehlshaber, die vor der Aufgabe stehen, aus einer Masse zusammengewürfelter Menschen eine zusammenhängende Einheit aufzubauen, wissen ziemlich viel über die Mittel, mit denen Korpsgeist erzeugt wird, wobei sie sich bewußt solcher Mittel bedienen, die in der Gesellschaft als Ganzer unbewußt zur Wirkung gelangen.

Im Gegensatz dazu ermangelt eine Massengesellschaft derartiger «vermittelnder Strukturen» und der emotionalen und durch gemeinsames Verhalten geknüpften Bindungen. Wenn man zehntausend Menschen von der Straße wegholt und sie in ein Fußballstadion bringt, erhält man eine Masse. Läßt man ihnen Zeit, so werden sie nach und nach soziale Strukturen entwickeln. Anführer werden in Erscheinung treten, Gruppen sich formen, anerkannte Verhaltens­normen Zustimmung finden. Der Niedergang Roms und die Krisis unserer Tage führt uns die Umkehrung eines solchen Prozesses vor Augen. 

Eine auf Jagd und Landwirtschaft basierende Gesellschaft setzt sich aus einzelnen Gruppen zusammen. Wenn aber infolge der Industrialisierung die Menschen in die Städte strömen, werden Massen geschaffen. Die Menschen gehören dann keiner fest umrissenen Gruppe an, haben keine Symbole oder Rituale gemeinsam, kennen keine Autorität vermittelnden Strukturen.

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Die westlichen Gesellschaften sind auf dem Weg zur Massengesellschaft bereits ziemlich weit fortgeschritten, zunächst wegen der Stadtflucht der Land­bevölkerung, doch schließlich auch aus anderen Gründen, so wegen der zunehmenden Mobilität und der Tendenz zur Machtkonzentration. Doch ehe wir uns mit dem Mechanismus dieser Wandlung befassen, seien die Auswirkungen in den Blick gerückt. 

 

Die Mitglieder einer Masse fühlen sich zuallererst unsicher und unerwünscht. Es war der französische Soziologe Emile Durkheim, der nach dem Studium Tausender von Selbstmordfällen plötzlich zu der Erkenntnis kam, daß der gemeinsame Nenner all dieser Fälle nicht so sehr in der pathologischen Persönlichkeits­struktur der einzelnen lag als vielmehr in der pathologischen Form des Soziallebens einer atomisierten Gesellschaft.

Während einige darauf mit Verzweiflung reagieren und ihre Aggression gegen sich selbst wenden, greifen andere die Gesellschaft an oder sagen sich von ihr los. Ihre Haltung heißt dann: Wenn ihr mich nicht wollt, brauche ich auch euch nicht. Und weil sie so entfremdet sind, glauben sie sich über soziale Normen und Regeln hinwegsetzen zu können und also auch die Freiheit zu haben, ihre Ziele mit gesellschaftsfeindlichen Mitteln zu erreichen. Dieser Zustand der Dinge wird mit einem griechischen Ausdruck Anomie («Regellosigkeit») genannt. In den folgenden Kapiteln werden wir uns damit noch näher befassen.

Während die Mitglieder einer Massengesellschaft einen größeren Spielraum des Handelns haben als die Mitglieder von Gruppen, birgt diese Freiheit in sich den Keim zur Selbstzerstörung. Das Mitglied einer Gruppe steht unter dem Zwang der Anpassung. Es kann andere Mitglieder seiner Gruppe nicht ernstlich vor den Kopf stoßen, da es später ja ihre Hilfe vielleicht nötig hat; zieht es sich ihre Feindschaft zu, so können sie ihm das Leben sehr schwer machen, es schlimmstenfalls um sein Leben bringen. Daran aber liegt es, daß die Verbrechenshäufigkeit in Städten mit aufgelockerter Gruppenstruktur stets höher ist als auf dem Lande. Am höchsten aber ist sie da, wo sich die Bevölkerung in einer Art ständiger Fluktuation befindet, so etwa in Häfen und in den Zentren großer Städte. Ein gleicher Zusammenhang läßt sich für die Häufigkeit psychischer Erkrankungen feststellen.

In Europa wie in Amerika vollzog sich die massenbildende Verstädterung am schnellsten im 19. Jahrhundert, in dem auch die Verbrechenshäufigkeit rapide anstieg. Heute sehen wir in der Dritten Welt eine Wiederholung dieser Entwicklung.

Weil gesellschaftlicher Zusammenhalt aber nicht nur durch Sozialstrukturen, sondern auch durch die Gemeinsamkeiten einer Kultur bewirkt wird, läßt sich Entfremdung auch als das Fehlen der kulturellen Identität darstellen. Der Schotte unterscheidet sich vom Engländer durch seinen Haferbrei, seinen Dudelsack, seinen Schottenrock und seine hart rollende Aussprache, außerdem durch das Bewußtsein seiner Clanzugehörigkeit mit geschichtlichem Hintergrund — und daraus bezieht er ein Maß für seine Identität. Das Mitglied einer Massengesellschaft verfügt nicht über solche Hilfen kultureller Identitätsfindung.

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In einer pluralistischen Gesellschaft besteht aber die Gefahr, daß irgendeine Gruppe, die in sich selbst über festen Zusammenhalt verfügt, mit der übrigen Gesellschaft aber nur ganz locker verbunden ist, sich langsam völlig abspaltet oder versucht, die übrige Gesellschaft im eigenen Gruppeninteresse zu beherrschen. So wollen die Waliser oder die Basken, die in sich geschlossene Gruppen darstellen, die durch gemeinsames Kulturerbe und auch durch familiäre Bindungen zusammengehalten werden, sich von England bzw. Spanien lossagen. Man hat beobachtet, daß Gesellschaftsgruppen mit innerem Zusammenhalt — etwa Bergwerkssiedlungen —, die aber mit einer gewissen Distanz zur übrigen Gesellschaft leben, auch zur aktiven Absetzung tendieren. Sie beklagen sich dann meist, zu den Benachteiligten zu zählen, und leiten davon ab, daß die übrige Bevölkerung verachtungsvoll auf sie herabschaue. Solche Spaltgruppen mögen wir heute in England in den Gewerkschaften sehen, da sie auch in einer derartigen Abgrenzungshaltung verharren.

Durkheim sieht die Gefahren deutlich: Sekundärgruppen, meint er, «sind nicht immer in der Lage, ihre Mitglieder fest in der Hand zu halten und nach Belieben auszurichten». Es muß dann also eine Autorität in Erscheinung treten, die solche Gruppen zu der Erkenntnis kommen läßt, daß sie Teil eines Ganzen sind und in dessen Rahmen zu bleiben haben. Weil andere Gruppen nicht existieren, die für sich ebenfalls Loyalität beanspruchen könnten, ist die Macht der Gewerkschaften unverhältnismäßig angewachsen, wie ich in einem der folgenden Kapitel noch ausführen werde. Letztlich ist es der enge gesellschaftliche Zusammenhalt der Bergarbeitergemeinden, der den Bergarbeitergewerkschaften ihre außerordentliche Kraft verleiht.

Das Bild einer Gesellschaft, die als eine komplexe Struktur einander überschneidender und übergreifender Gruppen gesehen wird, steht in scharfem Kontrast zu dem gängigeren Bild einer Gesellschaft, die in Herrschende und Beherrschte zerfällt oder, nach marxistischer Auffassung, in Kapitaleigner und Lohnarbeiter. Der marxistische Standpunkt beruht darauf, daß die wirtschaftlichen Gegebenheiten als entscheidendes Kriterium gesetzt werden — eine Optik, die unter den Bedingungen des 19. Jahrhunderts verständlich war. Aber andere Kriterien, so etwa die politischen Machtverhältnisse, sind zumindest ebenso wichtig, und die Inhaber der politischen Macht sind nicht mit Notwendigkeit auch die Eigner des Kapitals, denn diese müssen sich meist mehr politischen Präferenzen fügen, als daß sie die Politik in ihrem Sinne zu gestalten vermögen. Jedenfalls ist die marxistische Sicht heute überholt, da auch Arbeiter Kapitaleigentümer sind und viele Kapitaleigner zur Arbeit gehen. Die Dauerhaftigkeit dieser extrem unangemessenen Analyse ist ein Tribut an die Macht des Mythos.

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Doch während die marxistische Unterteilung der Gesellschaft sich immer weiter vom Faktischen entfernt, gewinnt Machiavellis Unterscheidung zwischen Herrschenden und Beherrschten zunehmend an Relevanz, da die Macht immer mehr zentralisiert wird. Nicht zu seinem geringsten Teil ist daher das Problem der sich weitenden Kluft zwischen Herrschenden und Beherrschten in eins zu setzen mit der sozialen Desintegration, worauf noch einzugehen sein wird. Wieweit aber betreffen uns diese Phänomene heute?

 

    2  Magie des Totalitarismus    

 

William Kornhauser hat in seinem wichtigen Buch <Politics of Mass Society> dargelegt, daß Massengesellschaften besonders anfällig für eine Durch­dringung mit totalitären Ideologien sind, gleich, ob von links oder von rechts, und ebenso für das Demagogengeschrei poujadistischer oder McCarthistischer Prägung. Aus Mangel an eigenen Loyalitätsbindungen sind entfremdete Individuen ziemlich leicht durch politische Bewegungen zu erfassen, die ihnen das Gefühl vermitteln, gebraucht zu sein, und ihnen jenes Bewußtsein der Zielhaftigkeit und der Gruppenzugehörigkeit zuteil werden lassen, das sie so bitter nötig haben. Untersuchungen in Deutschland und Italien haben gezeigt, daß es gerade die entfremdeten Bevölkerungsgruppen — ehemalige Offiziere, entwurzelte Bauern, erfolglose Intellektuelle, Arbeitslose und sich selbst als Versager empfindende Personen — waren, die von totalitären Bewegungen angezogen wurden. Wenn in weiten Kreisen überhaupt keine Hoffnung mehr besteht, dann ist eine höchst gefährliche Lage gegeben.

Die Politiker können heute in einer Weise die Massen ansprechen wie nie zuvor. «Noch nie hat es eine Zeit gegeben, die in diesem Maße technische Möglichkeiten bereithielt, ein ganzes Volk in eine Masse zu verwandeln und es in diesem Zustand zu halten», urteilte Emil Lederer bereits 1940. Das kann heute mit noch größerer Entschiedenheit behauptet werden.

In einer gewachsenen Gesellschaft bedeutet die Existenz von Zwischenstrukturen, die vom einzelnen zum Staat vermitteln, daß hier unterscheidende Elemente wirksam sind, die in einem gewissen Sinne durchaus Klassencharakter mit statuszuweisender Funktion besitzen, andererseits aber auch die Errichtung einer Tyrannei erschweren. Oder wie Tocqueville es formuliert hat: «... Adel und Besitzende bilden von Natur Gemeinschaften, die zum Mißbrauch der Macht ein Gegengewicht bieten.»

Franz Neumann, dieser Erforscher des Totalitarismus, hat dargelegt, wie die Verflachung der sozialen Pyramide der Diktatur vorausgeht. Daraus folgt, daß aus der gegenwärtigen Forderung nach Gleichheit ein erhöhtes Risiko für die Freiheit abzuleiten wäre, denn eine total egalitäre Gesellschaft müßte mit Notwendigkeit eine Massengesellschaft sein.

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Von Plato bis Burke und bis in unsere Tage haben politische Denker die Gefahren der Gleichheit stets unterstrichen. So schrieb Tocqueville: 

«Ich meine, daß es leichter falle, ein absolutes und despotisches Regiment unter Menschen zu errichten, unter denen die gesellschaft­lichen Bedingungen gleich sind, als unter einer anderen Herrschaftsform; und ich denke, daß im Falle der Errichtung eines solchen Regiments die Menschen nicht nur unterdrückt würden, sondern auch wohl ohne Ausnahme einiger der höchsten Werte der Humanität beraubt wären.» 

Plato zielte auf einen anderen Punkt, vor allem darauf, daß in einer Demokratie ein wirksames und weises Regieren unmöglich werden müsse wegen des Drucks der uneinsichtigen und sich fälschlich ein Urteil anmaßenden Massen. «In Athen hat das Unheil seinen Anfang genommen», klagt er, 

«als die Ungebildeten sich daranmachten, ihre eigene Meinung über die Musik und das Drama für gleichgewichtig zu halten wie die Meinung der Gebildeten, und als dieselbe Verirrung alsbald auch auf Fragen der Politik übergriff. Athen ist heute darum auch keine wirkliche Demokratie, sondern eine <Theatrokratie> von unwissenden Sensationshaschern.»

 

In einer totalitären Gesellschaft konzentriert sich die Macht in einem einzigen Zentrum, und keine Opposition bietet ihr ein Gegengewicht. Die in der Zentrale getroffenen Entscheidungen werden mittels einer weitverzweigten Bürokratie ausgeführt. Die allmähliche Abgabe von Entscheidungs­befugnissen lokaler Autoritäten und Körperschaften an zentralere Stellen, die wir überall im Gange sehen, bereitet der Diktatur den Boden. Wo Entscheidungen auf lokaler Ebene gefällt werden, wissen die Beteiligten mehr von der konkreten Situation und gehören zur gleichen Gruppe wie diejenigen, die von der Entscheidung betroffen sind. Sie können also nur umsichtig vorgehen, da sie andernfalls mit den Folgen zu leben hätten. Anders die zentralisierte Bürokratie, deren mangelnde Fähigkeit, sich in lokale Belange einzufühlen, ja bereits sprichwörtlich ist. Max Weber, der Vater der modernen Soziologie, fand im Wachstum der Bürokratie, nicht im Klassenkampf das Schlüsselgeschehen der modernen Welt.

 

    3  Gründe des Zerfalls    

 

Viele Kräfte sind heute am Werk, welche die vermittelnden Strukturen der Gesellschaft abbauen und dadurch die Entwicklung zur Massengesellschaft beschleunigen. Ein bedeutender Faktor ist etwa die Einwanderung von Ausländern und die starke Bevölkerungsfluktuation wegen häufigen Wohnungs­wechsels aus beruflichen oder anderen Gründen. Bis zu einem gewissen Grad rührt die Abwehrhaltung gegenüber Einwanderern aus einer unscharfen Ahnung dieser Zusammenhänge her.

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Hinzu kommt das stetige Wachstum der Bürokratie, die Bildung stets weiter ausgreifender Industriefirmen, die weitab von den Lebensnotwendigkeiten der davon tatsächlich Betroffenen ihre Entscheidungen fällen. Vor allem aber sind soziale und wirtschaftliche Wandlungsprozesse entscheidend, die den Menschen ihren Status und ihren Lebenszweck rauben — Arbeitslosigkeit und Bankrotte. Hitler ist in der schrecklichen Verzweiflung nach Inflation und Wirtschaftskrise an die Macht gekommen. In den 1920er Jahren wandte er sich an die kleinen Geschäftsleute, die vom Großkapital an die Wand gedrückt wurden, an die infolge der Abrüstung Deutschlands aus ihrer Laufbahn geworfenen Offiziere, an die jungen Menschen, die nie eine Arbeit oder eine Aufgabe gefunden hatten — an alle, die sich übergangen fühlten.

Aber ich sagte bereits, daß Entfremdung nicht nur den einzelnen Bürgern, sondern auch ganzen Gruppen auf der Ebene ihres kulturellen und symbolischen Selbstverständnisses widerfahren kann.

Ein Mensch wird auch entfremdet, wenn er nichts über Geschichte und Leistungen seines Landes erfährt, wenn sein Essen wie seine Kleidung völlig standardisiert und ohne ausreichende Merkmale sind, wenn er keine Verhaltensrituale kennt, die ihm Teilnahme gestatten, so daß er sich als Mitspieler in einem gemeinschaftlichen Vorgang erfahren kann.

In unserer Gesellschaft sind jene Gelegenheiten tätiger Anteilnahme an einem für alle wichtigen Vorgang — Einbringen der Ernte, Wassern eines Bootes — durch die massenhafte Teilnahme an Fußballspielen und ähnlichen Veranstaltungen ersetzt worden, bei denen aber die Teilnehmer in der Mehrzahl nur als Zuschauer auftreten. Und das ist ein großer Unterschied.

Im Grunde gibt es zwei Faktoren, die den sozialen Zusammenhalt zerstören.  

Zum einen ist das die Mobilität der Menschen, die zur Bildung sozialer Konglomerate führt, die in sich uneinheitlich sind und keine gemeinsame kulturelle Wurzel besitzen. 

Die Vereinigten Staaten waren und sind mit diesem Problem in extremer Weise konfrontiert, und tatsächlich finden wir dort ein ungleich größeres Maß an Verbrechen und sozialen Mißständen als in Europa. Zum anderen wirkt nun ein Faktor, der sich als Reaktion auf solche Verhältnisse entwickelt und durch die Bedingungen moderner Massenproduktion sehr gefördert wird: die Entstehung einer Universalkultur auf materieller und selbst auf geistiger Ebene. Überall in der Welt der industriell entwickelten Länder finden wir das gleiche Essen, die gleichen Kleider, die gleichen Verhaltensregeln — ja die gleichen Bücher, Schallplatten, Ideen. 

Wie Toynbee ausführt, wäre die Entstehung eines erdumspannenden Einheitsstaates das Vorspiel zu einem unvermeidlichen Zusammen­bruch.

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In Verstärkung dieser alles niederwalzenden Entwicklung sind die Regierungen noch eifrig dabei, den Zusammenhalt ihrer eigenen Gesellschaften zu untergraben, indem sie großzügig ganze Bevölkerungsgruppen in Bewegung setzen und örtliche Unterschiedlichkeiten im Namen einer Standardisierung oder «Verfahrens­vereinheitlichung» einebnen. So werden Entscheidungen zentral erledigt, die früher lokal getroffen wurden, so zerreißt man gewachsene Beziehungen durch den Wechsel von Ortsnamen und örtlichen Grenzverläufen. Für den Administrator sind Menschen zahlenmäßig erfaßte Einheiten, deren Verhalten der Regulierung bedarf, und er betrachtet solche Lösungen als «zweckmäßig», die ihm Zeit und Scherereien ersparen. Jeder Verwaltungsbeamte sollte zur Vermeidung dieser Haltung obligatorisch an einem Kursus in Sozialanthropologie teilnehmen. Dazu die Soziologin Patricia Elton Mayo: «Fast alle modernen Regierungsapparate haben sich mit einem Panzer zentralistischer Bürokratie umgeben, der sie vergessen läßt, daß soziale Organisationen aus lebendigen Zellen hervorgegangen sind.»

Auch dem Schulsystem ist der Vorwurf zu machen, daß es dort versagt, wo es darum gehen sollte, den Schülern die Augen über die wahre Natur ihrer Kultur zu öffnen.

Im weiteren soll noch mehr darüber die Rede sein.

Nimmt man nun die anthropologischen und soziologischen Gesichtspunkte zusammen, so können wir abschließend gesellschaftlichen Zusammenhalt als eine Frage der Interaktion und des Vertrauens zwischen den Beherrschten und den Herrschenden sehen. In unserer Gesellschaft ist man dahin gekommen, die fraglose, blindgläubige Annahme des Gegebenen, die für vorindustrielle Gesellschaften kennzeichnend war, durch allgemeine Bildung zu zerstören. Mehr noch: Wir halten junge Leute zur Kritik an, ermuntern sie, Ideen auf die Probe zu stellen und nach neuen Wegen Ausschau zu halten, auf denen die Dinge sich voranbringen lassen. Wir reden der Anpassung an wechselnde Gegebenheiten das Wort (nicht der Übereinstimmung mit einer Tradition), und dann quittieren wir es mit einem Lächeln des Erstaunens, wenn solche Ratschläge in die Praxis umgesetzt werden und Kritik an Gesellschaft und Verwaltung laut wird. Wenn wir uns noch ein paar Fasern des Zusammenhalts retten wollen, dann sollten wir das besser sein lassen und wieder ein gewisses Maß an Konformität lehren — was beileibe nicht heißen soll, ich wolle mich für den totalen Konformismus starkmachen.

Kritik hat ihre Verdienstlichkeit, aber Zusammenhalt auch. Daß man beide Dinge zugleich hundertprozentig haben könnte, ist einfach in der Realität nicht gegeben. Wie immer, so muß auch hier ein Kompromiß zwischen zwei Wertsetzungen getroffen werden.

Es ist gesagt worden, daß Zusammenhalt so lange wirksam ist, wie Menschen seine moralische Berechtigung einsehen — was ich so verstehe, daß sie das Empfinden haben müssen, die Gesellschaft komme ihren Bedürfnissen in der großen Perspektive entgegen, sofern dies nach Maßgabe der Umstände möglich ist. 

Wenn also die Verantwortlichen den Zusammenhalt gewahrt sehen wollen, müssen sie nicht nur entschlossen die festgestellten Defekte der Gesellschaft angehen, sondern auch sichtbar werden lassen, daß sie damit so schnell wie möglich Erfolg haben. Dies vor allem aber tun sie gerade nicht. Und das gilt selbst für so grundlegende Fragen wie die der Wohnraumbeschaffung. Es ist einfach nicht möglich, jemanden, der nun schon seit zehn Jahren auf der Warteliste steht, davon zu überzeugen, daß das Land wirklich nicht in der Lage war, ihm ein Heim zu verschaffen, weil es Überschall­flugzeuge bauen und seine Energien in die Raumfahrt oder andere Trivialitäten stecken mußte. 

Darüber hinaus wäre es Aufgabe der Regierungen, der Öffentlichkeit zu zeigen, wo sie Dinge verlangt, die miteinander unvereinbar sind, etwa die gleichzeitige Forderung nach Freiheit und nach Gleichheit. Sie sollten eine öffentliche Diskussion über solche Unvereinbarkeiten anregen, die mit einigem Glück doch zu einer Art Consensus führen könnten.

Zweifellos werden einige Leser darauf verweisen, daß es unmöglich sei, die alte Gruppenstruktur der Gesellschaft wiederzubeleben, daß dies die Uhr zurückdrehen hieße, daß hier das Maschinenstürmertum der Ludditen fröhliche Urständ feiere.

Träfe dies zu, dann wären die Aussichten finster. Denn in einer nicht gewachsenen Gesellschaft kann Zusammenhalt nur durch Totalitarismus erzielt werden.

Im folgenden seien nun Überlegungen angestellt, wie sich die Dinge in der Realität auswirken mögen. Es gibt, wie ich glaube, drei Gefahrenmomente: die Zunahme von Spaltungserscheinungen in der Gesellschaft, wie sie etwa durch rigorose Gewerkschafts­forderungen bewirkt werden können; dann Finanz­katastrophen; schließlich die Schwäche demokratischer Regierungsmethoden überhaupt.

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Gordon Rattray Taylor (1975) Zukunftsbewältigung