9 Unregierbarkeit Taylor-1975
1 Gewerkschaften am Hebel 2 Die neue Art zu streiken 3 Sprenglöcher im Fundament 4 Durchspielung eines Bürgerkriegs 5 Endspiel
Empörung brach aus in einer Stadt nach der anderen, und dort, wo die Empörung sich spät erhob, führte das Wissen vom bereits Geschehenen zu neuen Steigerungen der Empörungswut, was sich kundtat in der geschickteren Art, in der nunmehr der Griff nach der Macht versucht ward, und in den unerhörten Grausamkeiten, die um der Rache willen begangen wurden ... Machtgier, die sich der Habsucht und des Ehrgeizes bediente, war Ursache all dieses Übels. Hinzu trat die verbissene Wildheit, die nun zum Zuge kam, nachdem die Kämpfe ausgebrochen waren. Die Anführer der Parteien in den Städten versprachen, was gar wunderbar scheinen mochte, einerseits politische Gleichheit für die Massen, andererseits eine sichere und gesunde Herrschaft des Adels — aber indes sie beteuerten, dem öffentlichen Wohle zu dienen, trachteten sie doch nur danach, für sich selbst den Preis zu gewinnen. Und hierin wurden sie nicht abgehalten, weder durch die Anforderungen der Gerechtigkeit noch durch die Interessen des Staates. Ihr einziges Maß war das Gutdünken und Wohl ihrer Partei zum jeweils gegebenen Zeitpunkt. /Thukydides, Der Peloponnesische Krieg
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1 Gewerkschaften am Hebel
Im Jahr 1920 weigerten sich britische Hafenarbeiter, ein Schiff zu beladen, das Waffen und Ausrüstung für die britischen Truppen in Rußland aufnehmen sollte, die zusammen mit Amerikanern und Franzosen den Versuch machten, die revolutionäre Bewegung zu besiegen. Gleichgültig, ob dieser Streik nun das weitere Geschehen mitbestimmt hat oder nicht: Er war gewiß insofern historisch, als er in Großbritannien der erste war, der eindeutig politische Ziele verfolgte.
Seither haben sich die Dinge in dieser Richtung beachtlich weiterentwickelt, vor allem in Italien und Großbritannien. Dort verstoßen Gewerkschaften ungestraft gegen das Gesetz, nehmen für sich in Anspruch, Einmischung in die Politik der Regierung zu betreiben, und wagen selbst den Versuch, Regierungen zum Rücktritt zu zwingen.
Einen Gipfelpunkt erreichte diese Entwicklung 1973 in Großbritannien, als verschiedene Gewerkschaften sich weigerten, den Bestimmungen des Industrial Relations Act Folge zu leisten, sich auch weigerten, vor den mit der Verhandlung dieser Angelegenheiten betrauten Gerichten zu erscheinen, und schließlich noch die Strafgelder zu zahlen ablehnten. Dieser Kampf spitzte sich zu einem Streik zu, dessen politische Zielsetzung offen eingestanden wurde: Seine Initiatoren versuchten unverblümt, die gewählte Regierung zum Rücktritt zu zwingen.
Eine Gewerkschaft von etwa 250.000 Mitgliedern (von denen nicht wenige gegen diesen Streik waren) warf sich so zum Schiedsrichter über eine Regierung auf, die von Millionen von Wählern ins Amt gebracht worden war. Kurz darauf schaffte ein zwölftägiger Generalstreik in Nord-Irland das, was fünf Jahre des Bombenlegens, der Morde und der Gewalt nicht hatten fertigbringen können: den Zusammenbruch der von der Regierung vertretenen Politik in diesem Gebiet.
Diese dramatischen Ereignisse werfen ein Licht auf Entwicklungstendenzen, die nähere Prüfung verdienen.
Wer führt eigentlich im Staat?
In zunehmendem Maße werden die meisten grundlegenden Entscheidungen, welche die Zukunft der westlichen Wirtschaft abstecken, in privaten Diskussionen zwischen Industriebossen, Gewerkschaftsfunktionären und Regierungsvertretern beschlossen, während der betroffene Durchschnittsbürger ausgeschlossen bleibt und die Verhandlungen der Geheimhaltung unterliegen.
Unvermeidlich werden dabei Lösungen ausgehandelt, die für Arbeitnehmer wie Arbeitgeber ganz akzeptabel sein mögen, dies nicht aber notwendigerweise auch für einen weiteren Kreis gleichfalls davon betroffener Personen sind. Jedenfalls wird hier das demokratische Prinzip negiert, das ja darauf abzielt, die Machtausübung nur den gewählten Repräsentanten des Volkes zu gestatten.
In Großbritannien jedenfalls ist die letzte Machtinstanz nicht mehr die Regierung, sondern die organisierte Arbeitnehmerschaft, und die Regierung handelt nur noch mit deren Einwilligung. Die Verhältnisse in Großbritannien scheinen den Weg zu weisen; eine ähnliche Situation zeichnet sich für Italien ab und könnte unschwer auch für Frankreich Wirklichkeit werden.
Was dies aber in letzter Konsequenz bedeuten müßte, ist noch gar nicht abzusehen.
In Italien nahmen im Juni 1974 die Gewerkschaften für sich in Anspruch, die Wirtschaftspolitik des Landes zu bestimmen, wobei sie mit massiven Streiks drohten, falls die Regierung sich ihren Forderungen widersetze. Die Gewerkschaften verlangten ein Mitspracherecht in der Investitionspolitik der öffentlichen Hand und in der Standortplanung für neue Fabriken und Industrien, dazu auch noch Garantien gegen die Verminderung der Löhne infolge der Inflation. Die Gewerkschaften zeigten ihre Macht durch die Ausrufung eines Generalstreiks der Transportarbeiter Anfang Juni: Eisenbahn- und Busverkehr und dazu der ganze Luftverkehr kamen zum Erliegen.
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Die Gewerkschaften stellten sich gegen den Regierungsplan einer Neuausstattung der italienischen Eisenbahnen und verlangten statt dessen die vermehrte Einstellung von Arbeitskräften. Da der Staat gerade einer Verringerung der Arbeitswoche um vier Stunden zugestimmt hatte und deshalb eigens 20.000 Eisenbahner neu hatte einstellen müssen, wollte er nicht weitere Neueinstellungen vornehmen, zumal eine damals gerade veröffentlichte Untersuchung gezeigt hatte, daß etwa 20 % der Eisenbahner Mittelitaliens ihre Freizeit zur Übernahme von Nebenbeschäftigungen nutzten.
Die Gewerkschaften haben also einen grundsätzlichen Wandel erfahren, der genauer ins Auge zu fassen sein wird. Sie haben sich die Machtposition verschafft, von der aus sie in das Leben der ganzen Gesellschaft eingreifen, ohne aber dem Ganzen der Gesellschaft Rechenschaft schuldig zu sein.
Es ist die Empfindlichkeit der technischen Gesellschaft gegen jede Funktionsunterbrechung, die den Gewerkschaften die Macht zu Ansprüchen dieser Art verleiht. Die Waffe des Streiks entstand noch zur Zeit der Manufakturen, der kleinen Fabriken. Ein Streik übte damals Druck auf den Fabrikherrn aus, nicht aber auf die Öffentlichkeit, die sich an andere Lieferanten halten konnte, zumal außerdem ja noch die Vorräte des Großhändlers zur Verfügung standen.
Eine ganz andere Situation entsteht dann, wenn durch einen Streik etwa die Stromversorgung unterbrochen wird - Strom läßt sich ja nicht auf Vorrat speichern. Es ist auch etwas anderes, wenn die gesamte Bevölkerung betroffen wird, und noch mehr Schaden wird angerichtet, wenn unter dem Streik die ganzen Verwaltungs- und Dienstleistungssysteme leiden: Banken, Post und Telefon, Rechtsprechung, Polizei, die Regierung selber. Der Gesundheitsdienst bietet ein weiteres Beispiel eines Lebensbereichs, in dem Arbeitsniederlegung ganz andere Folgen hat als jene, die dem Streik in seiner klassischen Form zum Ziel gesetzt waren.
Hegel hat darauf hingewiesen, daß die Dinge bei Veränderung ihrer Größenordnung auch ihr Wesen ändern. Ein Zimmerbäumchen im Topf ist etwas anderes als ein ausgewachsener Eichbaum im Zimmer.
Die Gewerkschaften haben einen nahezu sakrosankten Status erreicht, in dem jegliche Kritik in Gefahr gerät, als voreingenommen oder undankbar zu gelten. Handlungsweisen, die als unmöglich kritisiert würden, sofern sie sich ein Unternehmer erlaubte, werden gutgeheißen, wenn eine Gewerkschaft sie praktiziert. Wir dürfen uns nicht durch frühere Verdienste der Gewerkschaften um bessere Entlohnung und bessere Arbeitsbedingungen den Blick verstellen lassen: In der heutigen, total gewandelten Situation können sie großen Schaden stiften. Als die Unternehmer noch machtvoll waren, schien es nur vernünftig, daß auch die Arbeiterschaft mehr Macht erhalten sollte. Sie gab, wie Galbraith sagt, ein «Gegengewicht politischer Kraft». Heutzutage aber sind die Gewerkschaften stärker als ihre Gegenkräfte und müssen Grenzen gesetzt erhalten wie damals die Unternehmer.
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Gemeinhin pflegen wir die wachsende Macht der Gewerkschaften als «Ergebnis einer Entwicklung» hinzunehmen. Es ist von Nutzen, dieses Phänomen von einem breiteren soziologischen Betrachtungsspektrum her anzugehen. In Kapitel 8 habe ich beschrieben, wie eine gewachsene Gesellschaft durch eine Vielzahl ineinander verzahnter Gruppen mittlerer Größenordnungen gebildet wird. Diese pluralistische Struktur bewirkt eine wahre Gewaltenteilung und läßt Tyrannei nicht hochkommen.
Die Gewerkschaften sind aber nun in das Vakuum vorgestoßen, das durch den Zerfall der «vermittelnden Strukturen» entstanden war. Es ist also notwendig, daß ihre Macht durch das gleichzeitige Bestehen anderer Loyalitätsbindungen ausgewogen wird. Im Grunde ist es ja nicht so, daß die Gewerkschaften zu stark sind — vielmehr sind ihre Gegenspielerorganisationen zu schwach oder gar nicht existent. Der Mensch als Konsument, als Arbeitender, als politisch Engagierter, als Lernender — er will in all diesen Erscheinungsformen vertreten sein und unterstützt werden durch verschiedene ineinandergreifende und gleichermaßen wirksame Systeme.
Das ist letztlich der Kern des ganzen Problems. Macht muß verantwortet werden. Aber die Gewerkschaften, die heute ihren Willen dem ganzen Land aufzwingen können, sind nur ihren Mitgliedern Rechenschaft schuldig. Und selbst hierdurch wird nicht unbedingt eine wirksame Machtkontrolle ausgeübt, weil viele Mitglieder gleichgültig sind, andere blind das Geforderte tun und weil durch das Blockwahlsystem die Delegierten der Gewerkschaft einen unverhältnismäßig großen Einfluß gewinnen können.
Politisch gesehen sind die Gewerkschaften keine Interessengruppe mehr, sondern eine Art Staat im Staate - eine Gruppe, die ihre Macht nur für die Interessen einer bestimmten Untergruppe einsetzt, und zwar außerhalb der vorgesehenen politischen Verfahren, die eine Änderung herbeizuführen geeignet sind. Die Geschichte hält warnende Beispiele bereit, daß Länder, die solche Gruppen mit eigengesetzlichem Streben sich entwickeln ließen, in Gefahr gerieten. (In Italien sieht sich die Macht der Gewerkschaften immerhin mit dem Gegengewicht der Kirche konfrontiert.)
Im ganzen gleicht die Situation durchaus jener, die für den Verfall des Römischen Reiches typisch war. Damals wurde das Heer zu einer Gruppe mit Eigengesetzlichkeit und eigenen Loyalitätsbindungen, aber ohne rechten Zusammenhalt mit der übrigen Gesellschaft, die es bloß rücksichtslos ausnutzte. Da die Macht beim Heer lag und durch Waffengewalt notfalls behauptet wurde, vermochte sich keine Kraft dagegen zu stellen, und den Kaisern blieb nichts anderes übrig, als mit Schmeichelei und großzügiger Besoldung nebst Privilegien sich die Gunst der Soldaten zu erkaufen.
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Heutzutage hat die industrielle Macht die militärische Macht ersetzt, im übrigen aber ist die Situation gleich. So wie Rom auf seine Soldaten angewiesen blieb, so bleiben wir angewiesen auf unsere Industrie und ihre Dienste. Ein Machtmonopol bedeutet den Tod der Demokratie. Nichts scheint dafür zu sprechen, daß dieser Trend umkehrbar ist.
Geht man von der römischen Parallele aus, so scheint es möglich, daß eines Tages die organisierte Arbeiterschaft offen oder verschleiert Ministerpräsidenten und Staatsoberhäupter ernennen oder doch zumindest über die Eignung eines Kandidaten zu solchen Ämtern befinden wird. Dabei könnten, wie dies ähnlich in Rom der Fall war, rivalisierende Gewerkschaften verschiedene Kandidaten und selbst verschiedene Ministerpräsidenten ernennen - natürlich dann wohl meist Gewerkschaftler —, und es müßte zu heftigen politischen Rivalitäten zwischen den führenden Persönlichkeiten in den einzelnen Gewerkschaften kommen. Unser Blick sei daher auf die Art und Weise gerichtet, in der die organisierte Arbeiterschaft ihre Methoden und ihren Wirkungsbereich zu ändern im Begriff ist.
2 Die neue Art zu streiken
Fast unmerklich haben gewerkschaftliche Aktionen ihren Charakter geändert, sind sie zu etwas anderem geworden als das, was sie einmal waren. Ein Streik ist zunächst einmal die Weigerung, weiter unter bestimmten Bedingungen zu arbeiten. Wenn man nicht zufrieden ist mit den gebotenen Bedingungen, dann legt man eben die Arbeit nieder. Dagegen ist überhaupt nichts einzuwenden.
Heutzutage beschränken sich Streiks aber keineswegs auf die Verweigerung von Arbeit, sondern nehmen hochaggressive Formen an. So sperrten in den Ferodo-Werken bei Caen in Frankreich streikende Arbeiter drei Mitglieder der Firmenleitung ein, bis diese willens waren, einen Arbeiter wieder einzustellen, der entlassen worden war, weil er einen der leitenden Angestellten geschlagen hatte. Dies ist mitnichten der erste Fall dieser Art.
In einem Werk der Tonbandgerätefirma Ampex in Belgien brachten die Streikenden 10.000 Tonbandkassetten in ihren Besitz und drohten, sie zum Einkaufspreis loszuschlagen, falls die Firma nicht bereit sei, ihnen für zwölf Arbeitsmonate noch ein dreizehntes Monatsgehalt dazu-zuzahlen. In Belgien geht die Militanz der Gewerkschaften aber noch weiter. Die Arbeiter einer bankrotten Firma für Elektrozubehör bei Lüttich drohten, den ganzen Stadtteil Houblonnieres in die Luft zu sprengen, falls die Regierung nicht genug Geld zur Wiederinbetriebnahme der Firma bereitstelle. In Dänemark wurde eine Firma, die während einer Streikwelle die Arbeit weitergehen ließ, durch drei verschiedene Bombendrohungen zur Arbeitseinstellung gezwungen.
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An die Stelle der bloßen Weigerung, unter bestimmten Bedingungen weiterzuarbeiten, tritt heute häufig der Versuch, bewußt der Firmenleitung Verluste zuzufügen, indem die Arbeitsvereinbarungen zwar dem Buchstaben nach, nicht jedoch sinngemäß eingehalten werden — so etwa durch einen Bummelstreik und «Arbeit nach Vorschrift». Dadurch bleibt den Arbeitern der Lohn erhalten, man beschneidet aber den Profit der Firmenleitung oder zwingt sie zum Arbeiten mit Verlust. In der Regel nimmt der Anteil an Maschinenschäden und Ausschußproduktion in solchen Zeiten auf mysteriöse Weise zu. Bei Aedes and Pollock in Oldbury, wo Stahlrohre hergestellt werden, fanden sechshundert Vorarbeiter eine neue Art der Obstruktion, als sie sich weigerten, Anweisungen mündlich oder über Sprechanlage entgegenzunehmen, und statt dessen verlangten, alle Anweisungen seien schriftlich zu geben und würden auch nur schriftlich beantwortet werden. Ein Sprecher der Gewerkschaft für technisches Personal sagte hierzu: «Es ist eine erstaunlich wirksame Taktik, die auch anderswo gut angewandt werden könnte.»
Ein anderes Mittel, der Firmenspitze Verluste zuzufügen, ist das Sit-in, doch haben manche Gewerkschaften es jüngsthin dienlicher gefunden, die technische Kompliziertheit der modernen Industrie insofern auszunutzen, als sie nur ganz bestimmte Arbeiter oder Angestellte in Schlüsselpositionen in den Ausstand treten ließen. Als einige tausend Arbeiter mit der Elektronikfirma Plessey Meinungsverschiedenheiten hatten, wurde nicht etwa ein Streik aller Arbeiter ausgerufen, vielmehr ließ die Gewerkschaft bloß siebzig Leute aus dem Auslieferungslager in Nottingham die Arbeit niederlegen. So konnte Plessey die Lieferverpflichtungen nicht einhalten und verfügte bald nicht mehr über genügend flüssige Mittel. In gleicher Weise haben Gewerkschaften herausgefunden, daß es zur Lahmlegung eines ganzen Flugplatzes genügt, wenn man die Feuerwehr zum Ausstand veranlaßt.
Eine viel ernstere Entwicklung ist jedoch darin zu erblicken, daß die Gewerkschaften nunmehr auch ihre Macht benutzen, Druck auf Dritte auszuüben und sogar die Rechte eines Zensors wahrzunehmen sowie Rassendiskriminierung zu betreiben. Jüngst haben in Großbritannien Arbeiterführer mit Streik gedroht, falls nicht gewisse Karikaturen und Leitartikel zurückgezogen würden.
Einige Gewerkschaften versuchen Komitees aufzustellen, deren Aufgabe in der Beeinflussung der Presse besteht. Dies sollte sich eigentlich von selbst verbieten, denn die Gefahr, daß solche Komitees von Extremisten oder Klüngelinteressen beherrscht werden, ist nicht auf die leichte Schulter zu nehmen. Eine Variante stellt der Boykott durch eine Gewerkschaft dar: In Yorkshire wurden fünfhundert Mitglieder der örtlichen Beamtengewerkschaft angewiesen, eine Woche lang die <Yorkshire Post> und das dazugehörende Abendblatt nicht mehr zu kaufen, weil sie es gewagt hatten, die Gehälter einiger Gewerkschaftsfunktionäre zu veröffentlichen.
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Auch zum Boykott von Rundfunkstationen ist es schon gekommen. In Australien weigerten sich Gewerkschaftsmitglieder, ein Flugzeug aufzutanken, in dem der Schlagersänger Frank Sinatra saß, da sie mit seinen Äußerungen über ihr Land nicht einverstanden waren!
Ein weiterer Schritt mit bedenklichen Folgen wurde getan, als die Betriebsräte der British Airways die sofortige Entlassung des Geschäftsführers Henry Marking forderten und dazu eine Prüfung der übrigen Mitglieder des Verwaltungsrats verlangten. Die Luftfahrtgesellschaft befindet sich aufgrund der Ölpreiserhöhung in den roten Zahlen, und die Geschäftsführung hatte geäußert, daß man sich an die Regierung wegen einer Anleihe wenden wolle, um drei Monate später auch die Gehälter und Löhne zahlen zu können.
Oft werden Streiks ausgerufen, um Druck auf Dritte auszuüben. So erinnere ich mich an einen Streik vor über zwanzig Jahren, bei dem sich Bergarbeiter beklagt hatten, daß in den öffentlichen Bussen, mit denen sie zur Arbeit fuhren, keine Nichtraucherabteile eingerichtet waren. Finsterer scheint die Entwicklung, wenn Pfleger in einer psychiatrischen Klinik sich weigern, den Patienten bestimmte Medikamente zu verabfolgen, wie dies am Glenside Mental Hospital in Bristol geschehen ist. Da psychisch Kranke häufig durch genau dosierte Gaben von Psychopharmaka in einem Zustand relativer Ruhe gehalten werden, kann die Auslassung einer einzigen Dosis (so im Fall von Patienten mit L-dopa-Therapie) eine so schwere Krisis auslösen, daß alle Chancen einer künftigen Besserung vertan sind.
Die Streiks von Röntgenassistenten, Krankenschwestern und anderem Krankenhauspersonal zwang die Londoner Klinik, alle Operationen am offenen Herzen zu verschieben und den Betrieb der Intensivpflegestation einzuschränken. Im Juli warnte der Vorsitzende der West Midland Health Authority, der größten derartigen Institution in England, die Regierung, daß «durch gewerkschaftliche Aktionen die Gefahr von Todesfällen oder dauernder Schädigung bei Krankenhauspatienten gestiegen ist. Ein sofortiges Eingreifen auf politischer Ebene war notwendig ...» Auch für den geregelten Ablauf der Bluttransfusionen bestand Gefahr, da wichtige Computerberechnungen in Frage gestellt waren.
Schließlich werden heute auch Streiks ausgerufen, um die Politik der Regierung zu ändern. Einige Gewerkschaftsführer haben den Streik schon seit langem zu diesem Zweck genutzt, wie ich gezeigt habe. Neu aber ist, daß kleine Gruppen organisierter Arbeiter innerhalb der Gewerkschaften versuchen, ohne Rücksicht auf die gewählte Regierung ihren Willen der Gesellschaft aufzuzwingen.
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Besorgnis mußte das Beispiel erregen, das hier durch die Krankenschwestern verschiedener britischer Kliniken gegeben wurde, als sie sich weigerten, Patienten zu versorgen, die auf Privatstation lagen und sich von jenen unterschieden, die kostenlos durch den Nationalen Gesundheitsdienst behandelt wurden. Die Möglichkeit zur Wahl zwischen beiden Behandlungsformen war im Parlament ausführlich diskutiert worden, als das Gesetz verabschiedet wurde, und das Parlament entschied aus einer Reihe von Gründen, nicht zuletzt wegen der beträchtlichen Summen, die dadurch dem Gesundheitsdienst zufließen mußten, eine solche Lösung zu ermöglichen. Daraufhin zahlten viele Leute den Krankenhausversicherungen hohe Prämien, damit ihnen im Fall ihrer Erkrankung die Behandlung auf Privatstation gesichert wäre. Als aber ein paar hundert Krankenschwestern, die da anderer Ansicht waren, diese ihre Auffassung nun durchzudrücken versuchten, kroch die Regierung plötzlich zu Kreuze und sagte, es sei stets ihr Ziel gewesen, dieses Privileg abzuschaffen.
Schließlich beeinträchtigt Arbeitsniederlegung die verwaltungstechnischen Vorgänge, ohne die eine Gesellschaft nicht existieren kann. Und dies ist in mancher Hinsicht die gefährlichste aller Entwicklungen. Erst jüngst wurden infolge eines Streiks der Verwaltungsbeamtenschaft die Stadtgemeindewahlen in London vertagt: Es gab niemanden, der die Stimmzettel hätte auszählen können. Während ich dies niederschreibe, verhindert ein Streik in den Regierungsdruckereien, daß Berichte über Parlamentsdebatten, daß Pensionsbücher sowie Texte neuer Parlamentsakte in den Druck gehen.
Eine Gesellschaft, in der alle normalen Funktionen von Aufhebung bedroht sind, ist sicher nicht in Ordnung. Das ist nicht mehr eine Frage der Lohnansprüche oder der gerechten Verteilung des Nationaleinkommens. Es ist vielmehr eine Frage der Machtverhältnisse in der Gesellschaft. Nach britischem Gesetz ist Arbeitsniederlegung nur gestattet, «wenn sie sich im Gefolge einer Lohnstreitigkeit ergibt». Zudem bestehen für den Fall eines Bruchs von Vereinbarungen gesetzliche Strafen. Aber die Gewerkschaften brechen immer wieder Lohnvereinbarungen, die in gegenseitiger Übereinkunft geschlossen wurden, und wie wir gesehen haben, entstehen viele Streiks keineswegs im Gefolge einer Lohnauseinandersetzung.
Aber die Versuche, das Streikrecht gesetzlich einzugrenzen, sind gescheitert - und betroffen waren davon in erster Linie die Arbeitgeber und nicht die Arbeitnehmer, denn erstere mußten ja irgendwie sehen, wie sie dann noch über die Runden kamen. Kaum je haben Arbeitgeber versucht, eine Gewerkschaft vor Gericht zu bringen, etwa wegen ungesetzlicher Handlungen während eines Sit-ins. Und die Versuche von seiten der Regierung, Rechtspositionen auch durchzudrücken, sind erfolgreich vereitelt worden. Man kann nicht einige tausend Menschen gleichzeitig einsperren oder auch nur mit Strafen belegen, ohne daß man damit den Ausbruch eines zweiten Streiks riskiert. Mit einer solchen Situation ist nicht mehr fertig zu werden.
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Während in den 1950er Jahren Anzahl wie Umfang der Streikaktionen abnahmen, so daß die amerikanischen Professoren Arthur Ross und Paul Hartmann vorschnell bereits das Verschwinden des Sozialphänomens Streik verkündeten, hat sich heute die Tendenz längst umgekehrt. Zwar glauben einige Autoren an wachsende öffentliche Unlust gegenüber Streiks und befürworten das Eingreifen der Regierung mit starker Hand, aber es bleibt nicht recht erfindlich, was die Regierungen wirklich tun können; die Aufbietung von Militär mag vielleicht noch die Kohlenförderung in Schwung halten, aber Soldaten können nicht an die Stelle von spezialisierten Facharbeitern treten, auch nicht Krankenschwestern oder Verwaltungsbeamte ersetzen.*
Was an dieser Situation so entmutigend ist, beruht nicht darauf, daß die Gewerkschaften überhaupt solche Forderungen stellen, sondern auf der von einigen Gewerkschaftsführern geschürten Atmosphäre des Hasses in Fabriken und Büros, in der Industrie insgesamt. Natürlich haben sie ein massives Interesse daran, Unzufriedenheit lebendig zu halten. Bedenklich aber erscheint, daß ihre Aktionen weniger von der Sorge um ihre Mitglieder bestimmt werden. Sie versuchen gar nicht wirklich, zu einem Modus vivendi zu gelangen - sie wollen die Konfrontation. Aber eine moderne Gesellschaft kann nicht auf der Basis gegenseitigen Hasses existieren.
* Es wird manchmal geltend gemacht, daß die Zahl der durch Streiks verlorenen Arbeitstage zeige, wie gering die Auswirkung auf die Industrie sein müsse. Aber heutzutage ist eben der Generalstreik eine seltene Ausnahme. Sit-in, Bummelstreik und die Beschränkung von Ausständen auf Schlüsselpersonal halten die Anzahl der verlorenen Arbeitstage insgesamt gering, nicht aber die Auswirkungen solcher Arbeitsniederlegungen auf die Produktion. Der Verlust am Sozialprodukt ist nicht am Ausfall von Arbeitstagen zu messen. Denn es kommt hinzu, daß ein Streik in einem bestimmten Industriezweig sich zum Hemmnis für andere, abhängige Industriezweige entwickelt, wie das vor allem bei Ausständen in der Energieversorgung und im Transportwesen der Fall ist. Noch schwerwiegender können die Verluste werden, wenn es zu Auseinandersetzungen kommt, die nicht einmal die Form von Streiks annehmen müssen. So blieb ein für 12,5 Millionen Pfund Sterling erbauter Getreidesilo im Hafen von Liverpool zwei Jahre lang ungenutzt stehen, weil sich die Hafenarbeiter weigerten, dort Getreide zu verladen. Durch die Verwendung dieses Supersilos könnten die Kosten pro Tonne um 5-9 Pfund gesenkt werden. Die Verzögerung in der Inbetriebnahme dürfte die Firma Merseyside etwa 6 Millionen Pfund gekostet haben, ganz abgesehen davon, daß einige Firmen, die sich in Liverpool hatten niederlassen wollen, nun ihre Pläne geändert haben. Und ansässige Firmen denken bereits an einen Standortwechsel.
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3 Sprenglöcher im Fundament
Oft wird behauptet, die meisten Streiks seien das Ergebnis kommunistischer Agitation. Trifft dies zu? Darauf kann kurz geantwortet werden, daß dies nicht zutrifft.
Manche Streiks werden von draufgängerischen Betriebsräten geschürt, die im Einzelfall Kommunisten sein mögen, deren gemeinsames Kennzeichen aber vor allem darin besteht, daß sie sich durch die Organisation eines Streiks als Arbeiterführer hervortun wollen. Einige Streiks, und darunter die größten und schädlichsten, waren allerdings als Mittel zur Unruhestiftung geplant, und bei ihnen diente die Frage nach dem Lohn in der Tat nur zur Bemäntelung für in Wahrheit politische Zielsetzungen.
Die übertriebene Bereitschaft mancher Antikommunisten, Rote unter jedem Bett lauern zu sehen, hat nur die wahren Gefahren verschleiert, die in England immer stärker zur Auswirkung gelangen.
Man schätzt, daß gegenwärtig 175 Kommunisten als hauptamtliche Funktionäre allein in der Ingenieurssektion der Amalgamated Engineering Union tätig sind, von denen 40 eingeschriebene Parteimitglieder, der Rest Sympathisanten darstellen. In der Leitung der Transportarbeitergewerkschaft werden 15 von 36 Funktionären prokommunistische Neigungen nachgesagt, während in der Gewerkschaft der Bergarbeiter 6 der 27 Mitglieder der obersten Führung Kommunisten sein dürften und 5 weitere als Linksextremisten gelten. (1971 waren hingegen erst 6 Sitze in der Hand von Extremisten.) Inwieweit sie Hilfe von der UdSSR erhalten, bleibt dunkel, doch konnte man 1974 durch Radio Moskau erfahren, daß eine sowjetische Gewerkschaft Geld überwiesen habe, um britische Arbeiter im Arbeitskampf zu unterstützen.
Die extreme Linke fühlt sich nicht an demokratische oder andere Spielregeln gebunden. Sie folgt dem Rat Lenins, «alle Arten des Vorgehens zu nutzen, Täuschungsmanöver, illegale Methoden, Ausweichmanöver und Ausflüchte, nur um in die Gewerkschaften hineinzukommen, in ihnen zu bleiben und in ihnen um jeden Preis kommunistische Arbeit zu leisten».
Die Struktur des Gewerkschaftssystems in Großbritannien bietet sich für solche Schachzüge an. Die Gewerkschaften kontrollieren 88 % der Stimmen auf dem Parteitag der Labour Party, auf dem die Politik dieser Partei gemacht wird. Der Parteitag und die Gewerkschaften haben das Recht, 17 von 24 Sitzen im Nationalen Exekutivkomitee zu besetzen. Schließlich steuern die Gewerkschaften etwa vier Fünftel des Parteifonds bei. So ist die Labour Party in hohem Maße eine Kreatur der Gewerkschaften.
Die Kommunisten versuchen, in den Ortsgruppen und in der Gewerkschaftsleitung führend zu sein, was ihnen durch das Wahlsystem erleichtert wird. Nur etwa 10 % der Gewerkschaftsmitglieder gehen nämlich zur Wahl. So wurde der Feuerfresser Hugh Scanion mit den Stimmen von nur 7 % der mehr als 1 Million zählenden Mitglieder der Amalgamated Union of Engineering Workers gewählt. Zudem ist Wahlbetrug durch Stimmzettelfälschung in einer Reihe von Fällen, vor allem bei der Elektrogewerkschaft, aufgedeckt worden.
3 Sprenglöcher 161
Kommunisten lassen es sich einiges kosten, gemäßigte Gegner durch faire oder faule Mittel in Mißkredit zu bringen. So werden Entschließungen im voraus gesteuert. Ein beliebter Trick ist dabei, eine gemäßigt klingende Entschließung auf dem Podium verlesen zu lassen, während Vertrauensleute eine weitaus schärfere unter der Zuhörerschaft verteilen. Das Podium erklärt dann in eleganter Manier, dem «Willen der Basis» nachzugeben, und stimmt der radikaleren Version zu. Ein anderer Trick ist, daß man eine kleine Versammlungshalle mietet und sie rechtzeitig mit Anhängern füllt. Wenn dann die gemäßigten Mitglieder dazukommen, können sie in der Halle keinen Platz mehr finden, können aber auch nicht mehr mitstimmen, weil als Stimmen nur die Handaufhebungen in der Halle gewertet werden.
Hauptziel ist es stets, die Versammlung dahin zu bringen, «sich auf einen hohen und spezifischen Lohnanspruch zu versteifen. Ist erst einmal eine bestimmte Summe akzeptiert, so ist den Extremisten damit in jedem Fall ein Prügel in die Hand gegeben, mit dem sie auf die Gewerkschaftsleitung einhauen können. Zeigt sich die Gewerkschaftsspitze bei der Verfechtung der Forderung nämlich nicht hartnäckig genug, so erhält sie eine Flut kritischer Resolutionen der Ortsgruppen, während jeder Kompromißvorschlag auf eine niedrigere Summe als «Ausverkauf) gebrandmarkt werden kann.»
Nicht viel Federlesens wird mit der Zielsetzung im großen gemacht: «Sturz der Regierung», wie ein Gewerkschaftssekretär auf dem 33. Parteitag offen bekannte. Die Strategie hat zwei Leitplanken: Zum einen soll die Regierung in Mißkredit gebracht werden, indem man sie mit unlösbaren Problemen konfrontiert und so den Eindruck schafft, als ob das System am Zusammenbrechen sei; zum anderen legt man es darauf an, starke Gegenmaßnahmen zu provozieren, die dann als Unterdrückung hingestellt werden können. So fordern die Gewerkschaften Lohnerhöhungen, von denen sie genau wissen, daß sie die Inflation anheizen müssen, weshalb sie sicher mit ihrer Ablehnung rechnen können. Wenn 30 % gefordert, aber nur 7,5 % zugestanden werden, so läßt sich dies als knauserig hinstellen. Gleichzeitig widersetzen sich die Gewerkschaften Produktionsvereinbarungen, da diese den inflationären Effekt dämpfen müssen. Sie hoffen, daß eine Situation erreicht wird, in der die Öffent- j lichkeit den Eindruck gewinnt, mit den traditionellen Institutionen sei nicht mehr weiterzukommen, weshalb sie dann schließlich geneigt sein könnte, einem drastischen Machtwechsel zuzustimmen.
Die Gefahr eines absichtlich hervorgerufenen plötzlichen Zusammenbrechens der sozialen Ordnung in Großbritannien sollte mithin nicht unterschätzt werden. In Italien und Frankreich sind die Kommunisten mindestens ebenso schlagkräftig; sie scheinen sich aber derzeit noch zurückhalten zu wollen, um die Lage in ihrem Sinne heranreifen zu lassen. Wenn aber, wie es inzwischen den Anschein hat, Portugal der erste kommunistische Staat in Westeuropa werden sollte, wird auch die Möglichkeit ähnlicher Machtergreifungen in Frankreich, Italien und Großbritannien in unmittelbare Nähe rücken.
3 Sprenglöcher 162
4 Durchspielung eines Bürgerkriegs
Mächtige britische Gewerkschaftsführer machen kein Hehl daraus, daß sie nach dem Sturz einer konservativen Regierung sich auch einen Verwaltungsapparat aufbauen wollen, der ihren Vorstellungen entspricht, und daß «dies dann auch so bleiben» solle. Hier wird eine Perspektive sichtbar, die zu bedenken ist. Angenommen, daß bei der nächsten Wahl eine konservative Mehrheit an die Regierung zurückkehrt und daß, sobald ein geeigneter Vorwand gegeben ist, massive Streiks ausgerufen werden; angenommen ferner, daß die politisch organisierte Arbeiterschaft, die nun dagegenhalten will, sich einfach weigert, die Entscheidung der Wählerschaft anzuerkennen — was passiert dann?
Entweder schlägt der Streikaufruf fehl, wodurch die Demokratie erhalten bliebe, oder die Konservativen werfen das Handtuch, und an die Stelle der Demokratie tritt nun ein Einparteiensystem wie in Rußland. Oder aber die Regierung entschließt sich zum Kampf, komme, was mag. Sie appelliert also über Radio und Fernsehen (sofern diese noch in Betrieb sind) an die Öffentlichkeit und gibt bekannt, daß sie von ihrem Notstandsrecht Gebrauch machen werde. Alle Anführer des Streiks, alle Agitatoren werden festgenommen und unter Bewachung auf eine abgelegene schottische Insel gebracht. Ausgangssperren werden verhängt, Nahrungsmittel und Treibstoff rationiert, und die Armee wird die Instandhaltung lebenswichtiger Dienste übernehmen.
Bei diesem Stand der Dinge wird sich die Bevölkerung in zwei Lager teilen. Einige werden sich auf die Seite der Regierung stellen: Bereitschaftsgruppen werden gebildet werden, ebenso Arbeitsgruppen für den Notdienst. Natürlich wird dann zu hören sei, dies sei Faschismus, und die Zeit sei nun reif für eine Revolution. Es wird also eine Gegenpartei sich bilden, die lebenswichtige Einrichtungen zu zerstören versucht, wo immer dies möglich ist, damit die Bestrebungen der Regierung nach Möglichkeit durchkreuzt werden.
Bombenselige Revolutionäre werden ihren Festtag haben. In vielen Gebieten werden Lebensmittel nicht mehr verfügbar sein. Der Strom wird abgeschaltet werden. Hungernde werden die Läden zu plündern anfangen und hinaus aufs Land drängen, um dort an der Quelle Eßbares aufzutreiben. Die Abwasseranlagen werden nicht mehr funktionieren, und in den Städten wird die Gefahr von Seuchen auftreten. Die Armee wird die Städte abriegeln und jeglichen Zivilverkehr ohne Genehmigung zu unterbinden suchen. Während dieser Zeit wird die Regierung in ihren unterirdischen Befehlszentralen für den Kriegsfall sitzen, und die einzelnen Teilgebiete des Landes wären mehr oder weniger ihrer Lokalverwaltung überlassen; zumindest die regionalen Untergrundzentren würden tun, was in ihrer Macht steht, um ihre Vorbereitungen für die entscheidende Auseinandersetzung weiter voranzutreiben.
4 Durchspielung 163
Ist eine solche Durchspielung wirklich ganz unglaubwürdig?
Offenbar ist sie das nicht nach der Auffassung vieler Menschen, die in solchen -Fragen ihre Erfahrungen haben. Generalmajor R. F. K. Goldsmith, bis 1968 ein Gutachter in der Inneren Sicherheit, hält dafür, daß «die Militanz der Industriearbeiterschaft die Grenze erreicht haben dürfte, jenseits derer sie nicht länger mit bloßer Duldung rechnen dürfe», wobei er darauf hinweist, daß die britischen Polizeikräfte in keinerlei nationaler oder regionaler Befehlshierarchie stünden, wiewohl ihre Stärke nunmehr bei 100.000 Mann liege, ungerechnet der von lokalen Polizeibehörden eingestellten Sonderbeamten. Die Polizei verfügt aber über keine Massentransportmittel in eigener Regie, ist also völlig auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen. Es gibt keine ein ganzes Gebiet abdeckende Organisationsform, die geeignet wäre, polizeiliche Maßnahmen zu koordinieren, und man darf fragen, ob derartige Althergebrachtheiten noch länger angemessen sind.
Ein Zusammenbruch der Grunddienstleistungen, so etwa der Versorgung mit Treibstoff und Lebensmitteln, wird von General W. Walker vorausgesehen, der früher die Alliierten Streitkräfte in Nordeuropa befehligte. Gleicher Ansicht ist Oberst David Stirling, der Begründer des Special Air Service, der eine Studie darüber verfaßt hat, welche Möglichkeiten für eine Aufrechterhaltung der wichtigsten Versorgungsleistungen im Falle eines Generalstreiks gegeben seien. «Es gibt in England jetzt viele Leute, die glauben, daß es bald zum großen Knall kommen wird», läßt er verlauten. Zu Beginn des Jahres 1973 wurde das Unison Committee for Action gegründet, in dem sich Rechtsanwälte, Industrielle und andere Interessenten zusammenschlössen, um Pläne für den Fall eines Zusammenbruchs von Gesetz und Ordnung auszuarbeiten, die dem Land eine Aufrechterhaltung normaler Lebensverhältnisse gestatten sollen.
Irgendwann im Verlauf solcher Entwicklungen wird eine grundsätzliche Entscheidung fallen: Entweder bleiben Armee, Luftwaffe und Marine auf der Seite der Regierung, oder einige Verbände lehnen es ab, gegen Streikende und ihren Anhang vorzugehen. (Ich vermeide es bewußt, zu sagen, «gegen die Arbeiter vorzugehen», da eine nicht geringe Zahl von Arbeitern die Maßnahmen der Regierung billigen wird, während andererseits eine ganze Anzahl <Nichtarbeiter> vor allem die intellektuelle Linke, sich in den Kampf gegen die Regierung stürzen wird.)
4 Durchspielung 164
Sofern die Streitkräfte loyal zur Regierung stehen, dürfte eine solche Revolte langsam abebben. Zwar werden die Extremisten das Wasser am Kochen halten wollen, wie dies in Nord-Irland der Fall war, aber nach und nach werden sich die Dinge wieder einem Normalzustand annähern. Wenn aber auch nur ein Teil der Armee nicht bei der Stange bleibt, könnte dies längeren Bürgerkrieg bedeuten. Schlägt sich das Gros der Streitkräfte auf die Seite der Revolution, so hätte die Regierung nichts mehr zu melden, und ihre unterirdischen Befehlsstände wären dann nur noch Fallen, aus denen es kein Entkommen gäbe, es sei denn in Handschellen. Eine kommunistische britische Regierung wäre dann denkbar.
Indes wäre eine derartige Entwicklung stark von zwei Faktoren bestimmt. Einerseits davon, ob die Regierung ihre Nerven behält und eine Persönlichkeit vorzuweisen hat, die dem Volk Zuversicht einzuflößen vermag, ihm auch die Gewißheit geben kann, daß nach Beendigung der Feindseligkeiten den Bedürfnissen aller Genüge getan wird. Ebenso wäre auf der Gegenseite ein Mann erforderlich, der in der Lage wäre, einen solchen Kampf auch über längere Zeit hin organisatorisch zu bewältigen. Andererseits käme es darauf an, inwieweit andere Länder unterstützend oder hindernd einzugreifen bereit wären. So könnten kapitalistische Länder eventuell mit Nahrungsmitteln und Treibstoff die Regierungsseite unterstützen und solche Hilfeleistungen nicht von bestimmten Gegenleistungen abhängig machen.
Kommunistische Länder würden eventuell versuchen, in Bürgerkriegstaktik ausgebildete Agenten einzuschleusen und Waffen und Munition aus der Luft abzuwerfen. (Da wäre dann die Loyalität der Luftwaffe ein entscheidender Faktor.) Sie könnten aber auch - so wie die Vereinigten Staaten in Vietnam - Ratgeber und Verwaltungsfachleute ins Land bringen. Sollte sich dann der Kampf zugunsten der revolutionären Kräfte entscheiden, so könnten diese Ratgeber als die Avantgarde einer Machtübernahme in Erscheinung treten und die Errichtung einer «Provisorischen Regierung» nach kommunistischem Muster in die Wege leiten.
Hypnotisiert vom Gedanken an einen kommunistischen Umsturz, hat sich die britische Armee bei ihrer Eventualplanung bislang mehr auf die Möglichkeit eines Guerillakriegs gegen bewaffnete, zu allem entschlossene Gruppen konzentriert, weniger aber Massenunruhen und Arbeitsniederlegung in ihr Kalkül einbezogen. Für einen Guerillakrieg sollen allerdings, wie verlautet, Aktionspläne in der Schublade liegen.
Einer der in diesen Fragen führenden Theoretiker der Armee, Brigadegeneral Frank Kitson, beschreibt in seinem Buch <Low-Intensity Operations> (Krieg auf kleiner Flamme), wie die Armee einer solchen Situation begegnen solle. In den Lehrgängen des britischen Generalstabs wird bereits Ausbildung in kontersubversiver Kriegführung erteilt, ebenso in der Infanterieschule. Und dies, so gibt der Autor zu verstehen, in einem vor zehn Jahren noch für undenkbar gehaltenen Umfang. Dennoch meint Kitson, daß der Problematik «von Gegenaktionen gegen kleine terroristische Gruppen vor allem in Stadtgebieten immer noch weniger Aufmerksamkeit geschenkt wird, als eigentlich angebracht wäre».
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Die Armee hat einen Übungsplatz, der eigens auf Verhältnisse des Straßenkampfs zugeschnitten ist (Close Quarter Battle, Urban), eine getreue Nachbildung von Straßenlabyrinthen mit Geschäften, Wohnhäusern und Einkaufszentren. «Wenn sich eine Patrouille durch dieses Übungsgelände bewegt, werden durch Kontrollpersonen, die alle Vorgänge aus der Distanz überwachen, die Geräusche einer aufgebrachten Menge, von Bombenexplosionen und Beschuß durch Heckenschützen simuliert.» Die «International Defence Review» teilt in ihrer Oktobernummer von 1973 mit, daß die britische Armee viele der elektronischen Vorrichtungen übernommen habe, die die heimliche Annäherung von Gegnern anzeigen und die in Vietnam erstmals angewandt worden waren, darunter Sensoren, die auf Körperwärme oder Vibrationen ansprechen.
Offensichtlich sind auch die Pläne für eine Aufrechterhaltung des Nachrichtenwesens und des Rundfunks bereits weiter gediehen, und geheime Verteidigungsräume, durch Mikrowellen untereinander in Kontakt stehend, sind längst in jeder Gegend Englands angelegt worden. Ihre Erfahrungen in Nord-Irland gestatten es der Armee, neue Techniken zur Kontrolle von Aufständen zu entwickeln und zu erproben, wobei auch unkonventionelles Gerät zur Anwendung gelangt, das von kampfunfähig machenden Gasen bis zu Schallschockern und Flimmerlichtern reicht, durch die ein Mann auf der Stelle zu Boden geworfen werden kann, weil bei ihm dadurch eine Art epileptischer Anfall ausgelöst wird. Minipanzer für den Polizeigebrauch, mit solchen Geräten ausgerüstet, sind in Amerika hergestellt worden und können «ab Lager» bezogen werden.
Kitson führt aus, daß Maßnahmen zur Unterdrückung von Unruhen auch als Mittel zur «Bevölkerungsbestrafung» herhalten können. Das heißt, sie können die Verhältnisse «merklich unangenehm für die Bevölkerung in ihrer Gesamtheit» machen, was dann die Bevölkerung dazu bringen könnte, den militanten Gruppen ihre Unterstützung zu entziehen.
«Wirklich, als ein Freund vom Verteidigungsministerium mir sagte, daß dort Pläne vorlägen, wie man die Bevölkerung der großen Städte im Falle einer Hungersnot am Ausbrechen hindern könne, mochte ich es nicht glauben», sagte ein leitender Angestellter einer Computerfirma beim dritten europäischen Manager-Seminar 1973 zu Vanya Walker-Leigh, «aber jetzt bin ich überzeugt, daß sie in zwanzig Jahren oder so in den Straßen von New York, London und Paris Menschenfleisch essen werden.»
Mit erstaunlicher Genauigkeit beschreibt Kitson, wie die Franzosen in Algerien ihre Kontrolle über die Zivilbevölkerung ausdehnten, «indem sie Gruppen in die Städte und aufs Land schickten, deren Aufgabe es war, eine lückenlose Kette von Ausschüssen und Zellen zur Unterstützung der Regierung zu bilden, die ganz jenen glichen, die auch der Feind etabliert hatte.
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Auf diese Weise durchdrangen sie die ganze Bevölkerung, und durch die Einführung von Identitätskarten und die Brandmarkung des Viehs mit der Identitätskartennummer ihrer Eigentümer (in England würde man den Autos Kennkartennummern geben) sowie durch andere, ähnliche Methoden hatten sie bald ein dichtes Kontrollnetz über die gesamte Bevölkerung gelegt.»
Der Autor gibt aber zu, daß die Verwirklichung eines solchen Programms in Großbritannien nur dann möglich schiene, wenn es bereits zur Anwendung von Gewalt gekommen wäre, da die nötigen Gesetze nie durchkämen, «ehe nicht etwas passiert ist». In den USA jedoch, stellt Kitson nicht ohne Neid fest, seien bereits solche Gruppen für den Bedarfsfall gebildet worden. Die Franzosen und die Italiener verfügen über eine paramilitärische Polizeitruppe, die für die Niederschlagung von Aufständen ausgebildet und ausgerüstet ist.
In einem jüngst abgehaltenen Seminar für Verteidigungsfragen bei der Royal United Services Institution machte das Parlamentsmitglied John Biggs Davison klar, um was es geht: «Wenn wir in Belfast verlieren, dann werden wir in Brixton oder Birmingham kämpfen müssen . . . So, wie Spanien in den dreißiger Jahren nur den Auftakt für einen weiter gespannten europäischen Konflikt bildete, so könnten vielleicht auch die Vorgänge in Nord-Irland nur der Auftakt für den Krieg einer Stadtguerilla sein, der in ganz Europa, besonders aber in Großbritannien ausgetragen werden wird.» Davison ist ein Konservativer vom äußersten rechten Flügel, aber seine Worte machen die Linie klar, welche die Rechte ihrem Handeln zugrunde legen will.
Ich möchte damit nicht prophezeit haben, daß die Ereignisse in der beschriebenen Form auch tatsächlich eintreffen werden. Ich glaube aber, daß vor allem bei der Wahl einer konservativen Regierung in Großbritannien (oder einer antikommunistischen in Italien) sehr schnell eine Radikalisierung erfolgen wird. Die Lohnforderungen werden zunehmen, die Inflation wird weiter fortschreiten, die Gewerkschaften werden noch mehr politischen Einfluß gewinnen wollen, der ohne gesetzliche Verankerung bleibt, und all dies wird zunehmend eine chaotische Situation heraufbeschwören.
Sollte zum Beispiel in Großbritannien der Versuch unternommen werden, Privatkliniken für jene Patienten einzurichten, die für eine Behandlung als Privatpatienten zu zahlen bereit sind, so könnte ein solches Unterfangen boykottiert werden: Die Röntgenassistenten weigern sich dann einfach, Aufnahmen zu machen; die Pathologen geben keine Analysen von Körperflüssigkeiten mehr ab - und so weiter. Ein Versuch dieser Art würde als Ausrufung eines Klassenkampfes betrachtet werden.
Darf man nach der Androhung des Führers der hier zuständigen Gewerkschaft urteilen, der kundgab, auf ärztliche Sachverständige «zu scheißen», so kann man durchaus den Eindruck gewinnen, daß Menschen, die nicht in einer Atmosphäre willentlich geschürten Hasses leben möchten, wie er ähnlich gegen die Juden in Nazideutschland geschürt wurde, doch am besten gleich unser Land verlassen sollten.
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Bis jetzt haben die Mittelklassen die Aushöhlung ihrer sozialen Position ziemlich apathisch hingenommen. Das Blatt könnte sich aber auch schnell wenden. Es wird dann wohl nicht mehr an der Frage vorbeigegangen werden können, ob ein größeres Maß an Verantwortung, die zielbewußte Zügelung von Wünschen und größere Fähigkeiten nicht auch ein Mehr an Anerkennung verdienen, und wenn dem so ist, wie groß dieses Mehr dann zu sein habe.
Wie einst im alten Rom wird dann von Zeit zu Zeit ein Mann der starken Hand den Versuch machen, ein gewisses Maß an Ordnung wiederherzustellen. Und einige solche Versuche werden vorübergehend auch erfolgreich sein. Im Lauf der Zeit aber wird die Lage der einzelnen Länder immer stärker abhängig werden vom desolaten Zustand der übrigen Welt. Gerade weil ich davon so überzeugt bin, will ich nicht verabsäumen, eine projektive Studie vorzunehmen, anhand deren gezeigt werden soll, wie brüchig die Strukturen der Demokratie bereits sind. Allerdings scheint es mehr Wahrscheinlichkeit für sich zu haben, daß wir langsam auseinanderbröckeln, als daß wir mit einem Schlag zusammenbrechen.
5 Endspiel
Gleich, ob nun das Debakel erfolgt oder nicht - wir müssen damit rechnen, daß die Streikwaffe immer bedrohlichere Formen annehmen wird. Wir müssen uns ebenso an den Gedanken gewöhnen, daß die Streiks subtiler gehandhabt werden und empfindlichere Auswirkungen zeigen. Den Kanalarbeitern ist heute klar, daß sie eine Flut auslösen können; die Müllmänner wissen, daß ohne sie Seuchen ausbrechen müßten.
Gegen Ende des Jahres 1974 versuchten verschiedene Gewerkschaften, in einer koordinierten Aktion die Stadt Glasgow von der Lebensmittelversorgung abzuschneiden. Der nächste Schritt in dieser Entwicklung könnte nun sein, durch gezielte Streiks den Zusammenbruch ganzer Industriezweige herbeizuführen. Oder wir werden erleben, wie gleichzeitig alle Verkehrsmittel stillgelegt werden. Die englischen Gewerkschaftsführer hatten Unterredungen mit Gewerkschaftsführern anderer europäischer Länder, um gegebenenfalls Streiks auf dem ganzen Gebiet des Gemeinsamen Markts durchzuführen. Vielleicht werden wir auch noch den interkontinentalen Streik erleben oder den Hemisphärenstreik oder den weltumspannenden Ausstand.
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Gleichzeitig werden Gruppen, die bislang gewerkschaftlich nicht organisiert waren, sich ebenfalls aus Gründen des Selbstschutzes zu gewerkschaftlicher Organisation genötigt fühlen. Gewerkschaftliche Organisationsformen greifen bereits auf alle Rangstufen wissenschaftlich Arbeitender, lokaler Beamtenschaft und leitender Angestellter über, während Berufsverbände immer gewerkschaftsähnlicher werden. Großbritannien sah seinen ersten Staatsangestelltenstreik 1974. In Italien haben sich die Richter in einem über das ganze Land verbreiteten Verband zusammengeschlossen, der jüngst zu einem zweitägigen Streik aufrief, nicht allein um höhere Besoldung zu erwirken, sondern auch um eine Reform des Rechtsprechungssystems in die Wege zu leiten. In den Gerichtsgebäuden wurden Protestversammlungen abgehalten, zu denen Presse und Parlamentsmitglieder Einladungen erhalten hatten. In England drohten fachärztliche Berater des Gesundheitsdienstes mit Einstellung ihrer Tätigkeit, wobei sie sich gegen die Arbeitsverweigerung des Krankenhauspersonals wandten, das zahlende Patienten nicht mehr pflegen wollte. Also ein Streik gegen den Streik! Das kann zur Regel werden. Rationale Diskussion wird zusehends abgelöst von energischen Maßnahmen.
Wir müssen auch den letzten Wahnsinn erwarten: Streik gegen die Gewerkschaften. Die Angestellten der Amalgamated Engineering Union haben jüngst um höhere Gehälter gestreikt, weil nach ihrer Auffassung der Gewerkschaftsvorsitzende Hugh Scanion als Arbeitgeber «unmöglich» war.
Abgesehen von der Streikmanie sehe ich voraus, daß die Gewerkschaften zusehends einen feudalen Charakter annehmen werden. Vielfach zeigen sie sich bereits heute für die Wohlfahrt ihrer Mitglieder auch außerhalb der Lohnkampfsphäre verantwortlich, betreiben Sparvereine, organisieren Ausflüge und halten andere Vergünstigungen bereit. Auch werden sie im Interesse einzelner Mitglieder beim Gesundheitsdienst oder bei den öffentlichen Verkehrsmitteln vorstellig - wobei sie selbst manche Ärzte unter Druck setzten. So fangen sie langsam an, Feudalherren zu gleichen, die gegen Gefolgschaftstreue Schutz vor Feinden boten. Wenn die Gesellschaft sich feudalisiert, dann aus dem gleichen Grund wie bereits im Mittelalter: weil bestehende Institutionen zerbrochen waren.
Für die Vereinigten Staaten, wo sich die Gewerkschaften noch auf das Aushandeln von Tarifverträgen beschränken, dürfte eine solche Darstellung als nicht realitätsgerecht erscheinen. Aber die Amerikaner sollten zumindest diesen Trend in Europa aufmerksam verfolgen, da er auch auf sie übergreifen mag. Gegen solche Tendenzen läßt sich nur schwer angehen, denn dies bedeutete bereits eine Umstrukturierung der ganzen Gesellschaft; der Trend resultiert aus der Verbindung von Massentechnologie und der Macht politischer Massen. Allein durch Dezentralisierung der Macht und die Einbeziehung von Arbeitsverantwortung in andere gesellschaftliche Verantwortungsbereiche könnte eine wirkliche Lösung erzielt werden.
Die Gewerkschaften wären dadurch in ihrem Ausdehnungsvolumen beschränkt und stünden nicht nur in Wechselbeziehung zu Industrie und Produktion, sondern fänden einen weiteren sozialen Rahmen. Bei uns im Westen sind derartige Gedanken aber heute undenkbar.
In einer mehr auf Vernunft bauenden Welt erhielten die Schulkinder im Unterricht Aufschluß nicht nur über die Aufgaben einer Gewerkschaft, sondern auch über die Art und Weise, in der sozialer Zusammenhalt sich verwirklichen läßt - ganz zu schweigen von der wahren Bedeutung der Produktivität.
In einer nach Vernunft sich richtenden Gesellschaft wären landesweite Streiks ebensowenig denkbar wie Aussperrungen, und dies aus denselben Gründen.
Zum gegenwärtigen Zeitpunkt aber ist es zumindest ebenso wahrscheinlich, daß wir infolge einer weltweiten Finanzkatastrophe zusammenbrechen, wie daß wir durch die Eigennützigkeit der Gewerkschaften untergehen. Und solch eine Finanzkatastrophe müßte alle Klassen gleichermaßen betreffen und zu verbreiteter Unruhe in allen Kreisen führen.
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Gordon Rattray Taylor (1975) Zukunftsbewältigung