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11 - Elite ohne Charisma 

 

    1 Verlust der Legitimation     2 Wähler ohne Illusionen      3 Stämme statt Staaten?   

  4 Leitfaden des Regierens      5  Gründe mangelnder Legitimation      6 Offener oder heimlicher Faschismus   

 

Ja, welch ein Wahn, dem Staate Geld zu geben! Dann lieber gleich es in die Gosse schmeißen. (--A. P. Herbert--)

 

    1 Verlust der Legitimation  

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Am Rathaus so mancher europäischen Stadt prangt eine kunstreich erdachte Uhr, die nicht nur die Stunde des Tages, sondern auch die Mondphasen anzeigt und deren Werk außerdem zu bestimmten Tageszeiten eine Spielmechanik in Gang setzt. 

So versammelt sich stets um die Mittagszeit eine Menge von Schaulustigen vor diesen Rathäusern, um sich mit Glockenklang die Mitte des Tages verkünden zu lassen und die Figurenspiele zu bewundern, welche diesen zeitlichen Einschnitt nach dem Willen des Konstrukteurs augenfällig markieren. Da öffnen sich dann Schlag zwölf kleine Türen, aus denen Herolde mit einer Verbeugung ins Freie treten, während Trompeter zu blasen beginnen, Zimmerleute Holz sägen, alte Männer ihre Humpen leeren, Pärchen im Tanz sich drehen — und rasch zieht die Sonne über ihnen dahin, die da unbesorgt ihrer Arbeit wie ihrem Vergnügen nachgehen.

Unsichtbar bleibt, wie hinter diesen Figuren und ihrem eitlen Treiben die großen rostigen Zahnräder sich knirschend drehen, wie verzogene Holzbalken gegen­einander gleiten und sich ruckartig bewegen, wie Bleigewichte herabsinken, während gebrechliche Hemmungsräder surren und schwirren, als sängen da verstörte Vögel in einem Käfig.

Diese Art von Uhren erinnert an viele demokratische Regierungen: 500 Jahre alt nach Machart und Erscheinungsbild, kaum brauchbar für moderne Erfordernisse, stets in Gefahr, morsch und rostzerfressen in sich zusammenzufallen — ein Wunder, daß sie überhaupt noch funktionieren. 

Aber es gibt schon Anzeichen, daß einige nicht mehr lange so gehen werden wie bisher.

In vielen Ländern steht die Unzufriedenheit mit dem Staatssystem (nicht zu verwechseln mit der Unzufriedenheit, die sich gegen eine bestimmte Regierung richtet) vor dem Punkt ihrer Entladung. Die Bestrebungen regionaler Gruppen, sich aus dem Staatsverband zu lösen und Eigenstaatlichkeit zu gewinnen, sind teilweise unter diesem Aspekt zu sehen. Aber das Vertrauen in die Fähigkeit der Regierungen zur Bewältigung der anstehenden Probleme ist selbst bei gestandenen Bürgern dahingeschwunden, von Extremisten ganz zu schweigen. 

Es ist ein Zeichen der Zeit, wenn Männer aus dem lokalen Verwaltungsapparat die Regierung eines Landes offen kritisieren, und dies nicht etwa unter Parteigesichtspunkten, sondern nach allgemeinen Kriterien. 

So hat der Vorsitzende des Komitees für Allgemeinbelange des Rats von Groß-London, Dr. Stephen Hasler, öffentlich verlautbart, daß sich auf lokalpolitischer Ebene «zunehmend eine Haltung der Ablehnung gegenüber der Gleichgültigkeit der Staatsführung in bezug auf die alarmierenden Probleme» breitmache, mit denen sich das Land konfrontiert sehe. Und er rief die Politiker auf, ihre «unerträgliche und leichtfertige Fixierung auf Parteiklüngelei im Stile von Anno Tobak» zu beenden.

Nicht anders sieht es in Amerika aus. «Überall herrscht Unzufriedenheit mit der größten und am schnellsten wachsenden Institution dieser Art, dem modernen Staatsapparat, aber auch Zynismus hinsichtlich seiner Effizienz», stellte Peter Drucker in seinem Buch «Age of Discontiwity» fest, das er lange vor Watergate geschrieben hatte.

Toynbee hat gezeigt, wie Kulturen zusammenbrechen, wenn ihren Eliten das Charisma verlorengegangen ist. Zynismus und Zweifel machen sich dann breit, und dies nicht allein in bezug auf die Fähigkeiten, sondern mehr noch hinsichtlich der Zielsetzungen. Wieweit stehen wir tatsächlich noch hinter den Entscheidungen, die unsere gewählten Volksvertreter in unserem Auftrag und für unsere Interessen doch zu fällen scheinen? 

Immer häufiger begegnet man in Leitartikeln der Redewendung «fehlende gesellschaftliche Legitimation». Wo solche gesellschaftliche Legitimation zu fehlen scheint, besteht die hohe Wahrscheinlichkeit, daß neue politische Führer auf den Plan treten, um ein Programm zu präsentieren, das zumindest bei oberflächlicher Betrachtung sich mehr im Einklang mit populären Zielvorstellungen befindet. Ein dramatischer Wechsel in der Führung ist dann nicht ausgeschlossen. Vielleicht hat die Abenddämmerung der Demokratie bereits begonnen. 

 

   2 Wähler ohne Illusionen   

 

Während der Frühjahrswahl 1974 sagte ein pensionierter Geschäftsführer im Londoner Osten zu einem Reporter: «Von der Politik hab ich die Nase voll. Immer dasselbe. Wenn die Leute erst mal 'ne Zeit an der Macht sind, dann vergessen sie die Menschen, für die sie eigentlich anstehen sollten.» Und ein anderer alter Mann fand: «Ich seh gar nicht, wozu 'ne Regierung überhaupt gut sein soll.» 

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Dick Taverne, der während der Nachwahl in Lincoln von Haus zu Haus ging, berichtete von ganz ähnlichen Äußerungen. «Besonders auffällig war die Enttäuschung über die beiden großen Parteien. <Denen kann man ja kein Wort glauben>, hieß es immer wieder.» So Taverne.

Meinungsumfragen lassen erkennen, daß in einigen Ländern die Wähler meinen, es sei gleichgültig, welche Partei sich an der Macht befinde. Zumindest in Großbritannien ist die Zahl der so Denkenden in den letzten fünfundzwanzig Jahren immer größer geworden. Im Jahr 1951 waren nur 20% der Wähler dieser Auffassung; 1959 betrug ihr Anteil bereits 38%; 1964 war er auf 49% gestiegen; 1966 glaubten das über die Hälfte der Befragten. Eine analoge Befragung in Deutschland erbrachte ähnliche Ergebnisse.

Jüngste Umfragen lassen die Gründe dieser Ablehnung der Regierung in ihren Einzelaspekten hervortreten. Dr. Mark Abrams, Direktor des British Social Survey, stellte eine Anzahl von Fragen hinsichtlich der allgemeinen Lebenszufriedenheit der Menschen — also über Gesundheit, Wohnverhältnisse, Ausbildung und Erziehung, finanzielle Lage, menschliche Kontakte, Familienleben — und fand dabei heraus, daß der niedrigste Grad an Zufriedenheit sich auf eine Frage bezog, die lautete: «Wie zufrieden beziehungsweise unzufrieden sind Sie alles in allem mit dem Stand der Demokratie im heutigen Großbritannien?» Am größten war die Unzufriedenheit bei jungen Leuten, vor allem bei solchen, deren Ausbildung sich bis zum 18. Lebensjahr und darüber erstreckt hatte. Bei Auffächerung der Frage in sechs Teilaspekte ergab sich, daß die meiste Kritik an dem allzu geringen Einfluß der Wähler auf Regierungsführung und Verwaltungspraxis geübt wurde und daß es selbst gebildeten Leuten schwerfiel, politische Vorgänge wirklich zu verstehen.

Wie schnell das Vertrauen ausgehöhlt wird, zeigt eine Untersuchung vom April 1974, bei der das Opinion Research Centre die gleichen Fragen stellte, die es genau ein Jahr zuvor gestellt hatte. Die Anzahl der Personen, die großes Vertrauen in das Parlament bekundet hatten, war von 31 auf 27% zurückgegangen. Fast drei Viertel der Bürger haben also kein großes Vertrauen in die politische Führung! Das ist nun gewiß eine Zahl, die zu denken geben muß. Sie rechtfertigt die Frage, wie lange ein Land auf einer so geringen Vertrauensbasis noch regiert werden kann. Übrigens war das Vertrauen in die lokalen politischen Führungskräfte noch geringer — es fiel von 27 auf 24%, während das Vertrauen in die ach so gepriesene Verwaltung von nicht eben beeindruckenden 34 % auf noch weniger ansehnliche 29% zurückging. (Dabei sollte nicht vergessen werden, daß das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Gewerkschaftsführungen von 23 auf bloße 11% zurückfiel, woraus vielleicht gefolgert werden kann, daß ihr Einzug in die politische Arena diesen Kurssturz bewirkt hat.)

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Nichts hat wohl zur Desillusionierung der Wähler mehr beigetragen als das Fernsehen, das die Volksvertreter gewissermaßen «nackt» den Augen des Publikums präsentiert. Worte, die auf einer Wahlversammlung recht eindrucksvoll klingen mögen, wirken auf dem Bildschirm häufig prahlerisch und unseriös. «Das Fernsehen bringt sie uns in die Wohnungen, und da kann man nun wirklich sehen, was das für schreckliche Typen sind und wie sie sich widersprechen und sich gegenseitig anmaulen», sagte eine Ipswicher Hausfrau zu Penny Symon von der <Times>. «Früher hat man ja nur gelesen, was die da gesagt haben, aber jetzt sieht man sie in ihrer lächerlichen Wirklichkeit, und es ist klar, daß die sich um das Land überhaupt nicht kümmern, sondern nur um sich selber.» Penny Symon bemerkt dazu: «Dies war eine typische Ansicht, die man häufig in ähnlicher Form in den Straßen dieser Stadt von 127.000 Einwohnern hörte.» Und sie zieht die Summe: 

«Die Vertrauenskluft ist zu einem tiefen Abgrund geworden, und immer wieder hört man: <Ich hab die ganze Bande satt!> ... Zweifellos hat die satte Selbstzufriedenheit dieser Fernsehdarstellungen, was immer die Darsteller selbst dagegen erwidern mögen, zu diesem Überdruß bei den Wählern geführt, hat Abwehrhaltungen und Ernüchterung wach werden lassen.»

Nicht viel anders liegen die Dinge in den Vereinigten Staaten. Um die Mitte des Jahres 1974 veranstaltete das Institute of Social Research der University of Michigan eine Umfrage, aus der hervorgehen sollte, welche Institutionen für die USA nach Meinung der Befragten besonders von Nutzen seien. Von 8 möglichen Punkten erzielte der Präsident mit seiner Verwaltung nur 3,3; die Bundesregierung nur 3,86. (Die oberste Grenze erreichten die Streitkräfte mit 5,5 Punkten!) Peter Drucker schreibt: «Die Stimmung ist übel. Die arbeitende Bevölkerung verharrt in mißmutiger Passivität. Sie fühlt sich von Politikern, Intellektuellen und Arbeiterführern im Stich gelassen.» Laut <Times> charakterisierte der demokratische Gouverneur Jimmy Carter die Wähler wie folgt: «Sie halten Ausschau nach etwas Stabilität und suchen ein wenig Vertrauen in die Regierung, aber zu sehen haben sie in dieser Hinsicht noch nichts bekommen.» 

Durch Watergate und die damit verbundenen Enthüllungen von Rechtswidrigkeiten aller Art vom Präsidenten bis hinunter in die Stäbe hat die bittere Verachtung der Politik noch weitere Kreise ergriffen. Endlich beginnen auch die Politiker unscharf wahrzunehmen, daß sie in den Augen weiter Kreise der Bevölkerung jegliche Achtung verloren haben, wiewohl es einige Zeit dauerte, bis diese Säure der Selbsterkenntnis die Schutzschicht ihrer Selbstgefälligkeit durchdrang. 

Weil die Menschen geradezu verzweifeln müssen, wenn sie die Parlamente draufloswursteln sehen, sind überall Interessengruppen entstanden. Der Labour-Minister Anthony Wedgwood Benn schrieb darüber 1970 eine besorgte Flugschrift für die Fabian Society (eine Vereinigung englischer Sozialisten); darin heißt es: 

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«Tausende solcher Interessen- oder Initiativgruppen sind in Erscheinung getreten: Gemeindeverbände, Freizeitgestaltungsvereine, Zusammen­schlüsse von Einzelhändlern, Konsumentenverbände, Gruppen für Kampagnen auf dem Gebiet des Schulunterrichts, Organisationen, welche die Hilfe für alte Menschen, Obdachlose, Pflegebedürftige, für arme oder unterentwickelte Gesellschaften auf ihre Fahnen geschrieben haben, militante Gemeindeorganisationen, Studentengruppen, Anti-Lärm-Ligen und so fort.»

Hinzufügen ließe sich: Naturschutzvereinigungen, Gruppen für Geburtenkontrolle und Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs, Kampfgruppen, Bewegungen für die Befreiung der Frau und gegen die Diskriminierung der Homosexuellen, dazu die jeweils wechselnden politischen Interessengruppen.

Wo aber Bevölkerungsgruppen durch eine gemeinsame Kultur verbunden sind — vor allem dann, wenn klare Grenzen sie von anderen Gruppen scheiden —, bietet sich die Möglichkeit an, der Unzufriedenheit durch politischen Abfall Ausdruck zu geben und eine eigene Regierung zu bilden. Es ist charakteristisch, daß Austritte aus einem Staatsverband heutzutage breitere Zustimmung finden als je zuvor.

 

   3  Stämme statt Staaten?   

 

In meinen jungen Jahren war es eine verbreitete Vorstellung, daß die Welt sich zu immer größeren politischen Einheiten zusammenschließen werde, weshalb eines Tages ein Weltstaat mit einer Weltregierung zu erwarten sei. Der Friede auf der ganzen Erde schien dann gesichert. Damals bildeten sich Bewegungen — die Federal Union war wohl die bekannteste —, deren Ziel es war, diesen Prozeß zu beschleunigen.

Aber wer sich heute etwas umsieht, kann sich wohl kaum darüber hinwegtäuschen, daß eine gegensätzliche Entwicklung immer mehr um sich greift: Große politische Einheiten zerfallen in kleinere, und diese neigen zu weiterer Aufsplitterung. Als Indien aus dem Britischen Empire ausschied, zerfiel es in zwei Staaten: Indien und Pakistan. In der Folge wurde Pakistan geteilt durch den Abfall von Bangladesh. Nepal hätte sich gern von Indien ganz gelöst, wurde aber mit Gewalt in der Vormundschaft des großen Bruders gehalten. In ähnlicher Weise sind die großen territorialen Einheiten Afrikas, die vor fünfzig Jahren noch bestanden, durch die Entkolonialisierung in eine Vielzahl neuer Staatsgebilde auseinandergefallen, deren neue Namen kaum noch zu behalten sind. Und viele dieser neuen Staaten sind eifrig dabei, separistischer Neigungen verdächtige Minderheiten — und in einem Fall auch Mehrheiten — aus ihren Positionen gewaltsam zu verdrängen: die Sanwi, die Ewe, die Ovambos. Biafra ist noch frisch in Erinnerung. In Äthiopien hat sich die Provinz Eritrea in den Kampf für eine Loslösung begeben, ebenso streben die Somalis im Süden nach Autonomie. 

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Die eritreischen Guerillas, in Libyen ausgebildet, haben dem Kupferbergbau Äthiopiens einen Schaden zugefügt, der in die Millionen Pfund Sterling geht. Im Nahen Osten wiederum sind die Kämpfe der Kurden um Autonomie gegenüber Bagdad eher schlecht als recht beigelegt worden.

Europa bietet kein wesentlich anderes Bild. 

In Großbritannien gewinnen Bewegungen, die eine Lösung Schottlands und Wales' von der Krone anstreben, gegenwärtig an Stärke. Irland ist längst aus dem Staatsverband ausgetreten. Ulster scheint kurz davor zu stehen. Jetzt erheben sich in Cornwall separistische Stimmen. In Frankreich befestigen heute Bretonen ein «B» an der Rückfront ihrer Autos und erheben damit Anspruch auf Anerkennung als kulturelle Gemeinschaft. Als der französische Außenminister Messmer 1974 Korsika besuchte, trug die Menge Transparente mit der Aufschrift: «Franzosen raus!» 

In Belgien zieht sich der Streit zwischen der flämischen und der wallonischen Volksgruppe schon seit Jahrzehnten hin und zeigt keine Zeichen einer Versöhnung. Die Basken Spaniens kämpfen für ihre Selbständigkeit. Kanada sah sich durch die starke französische Separatistenbewegung in der Provinz Quebec bedroht. In der Schweiz erhielten die Jurassier einen eigenen Kanton.

Allen diesen Bewegungen liegt das Bewußtsein einer besonderen kulturellen Gemeinsamkeit zugrunde. Aus eigener Kenntnis der Verhältnisse kann ich sagen, daß die Unabhängigkeitswünsche der Schotten und der Waliser nicht allein darauf zurückzuführen sind, daß hier geglaubt wird, eine Regionalregierung sei besser in der Lage, den örtlichen Problemen gerecht zu werden. Mehr noch geht es diesen Leuten darum, daß sie ihre Eigenart bedroht sehen, auf die sie so stolz sind. Aus diesem Grunde bestehen die Waliser so hartnäckig auf dem Gebrauch des Gälischen, ebenso schottische und irische Nationalisten. 

Wenn sich die Waliser gegen die zunehmende Besiedelung ihres Landes durch Engländer zur Wehr setzen, so geschieht dies aus der Angst vor Überfremdung und schließlichem Identitätsverlust. Ähnliche Ängste werden im Norden Schottlands laut, wo große Ölvorkommen gefunden wurden. Dieser Eigenstolz erstreckt sich nicht nur auf die Sprache, sondern auch auf andere Eigentümlichkeiten kultureller Art, so etwa auf bodenständige Speisen und Trachten (Porridge und Kilt in Schottland) oder auf kulturspezifische Ausdrucksformen wie Volkslied und Volkstanz (Dudelsack oder die Waliser Harfe). 

Es ist wichtig, sich klarzumachen, daß der Verlust von dieser Art bodenständiger Identität als ein Verlust individueller Identität empfunden wird. Der Mann, der einem Engländer gegenüber sich stolz als Schotte bekennt, will dadurch auch ein höheres Maß an Individualität gewinnen. Er ist dadurch doch etwas weniger bloße Nummer in unserer immer anonymer werdenden Welt.

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Diese psychologische Notwendigkeit erklärt auch manches an dem Widerstand, der sich in vielen Ländern gegen Überfremdung regt, so in der Schweiz, wo in einer Bevölkerung von 6,3 Millionen über 1 Million Ausländer leben, oder in anderen Ländern mit Restminderheiten aus der Kolonialzeit und neuen Minderheiten durch die Gastarbeiter. Wenn irgendwo in einer Gemeinde die nicht zur angestammten Kultur gehörenden Fremden mit einem Anteil vertreten sind, der über 10% liegt, kommt es zu Spannungen. Da in England viele Fremdeinwanderer Farbige waren, erscheint die Abwehr gegen Überfremdung oft im Gewand des Rassenvorurteils, das natürlich ohnehin schon vorhanden sein mag und dann die Situation verschärft. In der Schweiz aber sind die Zuwanderer meistens Italiener, in Wales Engländer, und hier kommen Rassenvorurteile nicht in Betracht. Sie genügen auch nicht zur Erklärung etwa des korsischen Separatismus oder der Unabhängigkeitsbestrebungen der Kurden.

Für mich besteht kaum ein Zweifel, daß die britische Zurückhaltung gegenüber der EG hauptsächlich aus dem Gefühl genährt wird, das Verbleiben in dieser Gemeinschaft könne die nationale Identität beeinträchtigen (und das ist ja nun auch tatsächlich der Fall), und die Entscheidungen würden künftig wegen der Gemeinschaft noch weiter ab von den heimischen Zentren gefällt werden — durch Leute, die noch weniger Ahnung von diesen tiefsitzenden und meist kaum recht zu artikulierenden Bedürfnissen haben.

Sezession ist aber nur dort möglich, wo eine kulturell abgegrenzte Gruppe auch durch klare geographische Grenzverläufe hinreichend separiert ist. Die Forderung der amerikanischen Neger nach Anerkennung ihrer kulturellen Identität läßt an einem deutlichen Beispiel die Bedingungen sichtbar werden, die für kulturelle Gruppen bestehen, die innerhalb einer größeren Gruppe zerstreut leben. Ein weiteres Beispiel böte die jüdische Diaspora. Kaum läßt sich daran zweifeln, daß die amerikanischen Neger, sofern sie nur in einem klar abgrenzbaren Gebiet lebten, schon längst ihre Unabhängigkeit gefordert hätten. Es erscheint nicht ausgeschlossen, daß künftig die Forderung nach abgegrenzten Siedlungsgebieten für Schwarze erhoben wird, was dann ein Spiegelbild der von Weißen erhobenen Forderung nach rein weißen Wohngebieten wäre. Vielleicht läßt sich auch die Prophezeiung wagen, daß Hawaii, als kulturell von den USA verschiedenes Gebiet, eines Tages um Unabhängigkeit einkommen wird.

In der Vergangenheit stand unzufriedenen Untergruppen die Auswanderung offen, da es in Amerika fruchtbare und noch relativ menschenleere Gebiete gab. Eine solche Lösung ist heute nicht mehr zur Hand. So brauen sich allerorten Schwierigkeiten zusammen.

Die Vereinigten Staaten sind von jeher ein Einwanderungsland gewesen, und ihre kulturelle Geschichte ist vergleichsweise kurz. So hat man dort mehr Erfahrungen als anderswo machen können hinsichtlich der kulturellen und sozialen Unvereinbarkeit kleiner Gruppen, und dies ist

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auch der Grund, warum hier der Grad sozialen Fehlverhaltens insgesamt größer ist als in Europa, worüber die Verbrechensstatistik Auskunft gibt. Andererseits führt dies auch dazu, daß Amerikaner, an kulturelle Buntscheckigkeit gewöhnt, oft nicht recht begreifen wollen, warum etwa Europa mit seiner Vereinigung solche Umstände macht.

Die Neigung, Eigenständigkeit zu bewahren, ist etwas abschätzig als «Rückkehr zu den Stämmen» bezeichnet worden. Gemeint ist, daß hier die Rückkehr in einen primitiveren Zustand der gesellschaftlichen Organisation angestrebt werde, ein Anschwimmen gegen den Strom der Geschichte, eine Art sozialer Maschinenstürmerei.

Aber der Widerstand der Menschen gegen das Aufbrechen der kulturellen Einheit eines Gebiets findet seine Entsprechung in dem Widerstand gegen das Aufbrechen noch kleinerer gesellschaftlicher Einheiten, bei dem die Bewahrung von Gruppenstrukturen und lokalen Loyalitätsbeziehungen zum primären Motiv wird. Es ist ein ermutigendes Zeichen, daß normale Bürger sich zunehmend der hohen sozialen und persönlichen Kosten bewußt werden, die durch das Auseinanderbrechen lokaler gesellschaftlicher Strukturen entstehen, und daß sie sich dagegen zur Wehr setzen. Offiziellen Plänen zur Führung von Autobahnen durch dichtbesiedelte Gebiete begegnet nunmehr starker Widerstand. Ebenso erhebt sich entschlossener Einspruch gegen den Bau neuer Flugplätze in der Nähe von Wohnzentren.

Wenn ein Mensch krank ist und alle Kräfte zur Wiedergewinnung der Gesundheit aufbietet, so sagen wir ihm auch nicht, daß er in der Vergangenheit zu leben versucht oder in ein Goldenes Zeitalter zurückkehren möchte, das längst entschwunden ist. Wir suchen ihn auch nicht zu überreden, sich mit seiner zusehends schlechter werdenden Gesundheit abzufinden, da dies nun einmal der unvermeidliche Preis sei, der für den Fortschritt entrichtet werden müsse. Schließlich ist sozialer Zusammenhalt nicht etwas, was man unbedenklich opfern oder preisgeben könnte. So wird nämlich das ganze Problem verzerrt und die Schlüsselfrage hinwegeskamotiert, die lautet: Läßt sich tatsächlich auf die Dauer eine inkohärente Gesellschaft anders zusammenhalten als durch eine Diktatur?

Weltweite Aufsplitterungserscheinungen stellen also einen wahrscheinlicheren Trend unserer Entwicklung dar als die seit langem erträumte «Bruderschaft der Menschen, der Staatenbund der Welt», wie ihn Tennyson visionär kommen zu sehen meinte. 1940 gab es 90 Staaten in den Vereinten Nationen, heute sind es 132. Wann werden wir 200 zählen? Eine typische Entwicklung wird das Auseinanderbrechen der Europäischen Gemeinschaft sein. Aber vielleicht wird zuvor noch ein neuer Eroberer den Trend umgekehrt haben, um eine Pax Russorum oder Pax Sinorum über die halbe Welt zu verbreiten.

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  4   Leitfaden des Regierens   

 

Damit eine Regierung auch legitimiert sei, müssen drei Bedingungen zutreffen. Da sie nicht immer ganz verstanden werden, auch von Regierungen nicht, seien sie im folgenden aufgeführt.

Zunächst muß es die Aufgabe eines politischen Führers sein, den Menschen günstige Rahmenbedingungen für die Erfüllung ihrer Wünsche und Bedürfnisse zu sichern. (Zynisch ist dieser Sachverhalt auch so darzustellen, indem ein Politiker als ein Mensch definiert wird, der eine Menschenmenge die Straße hinunterrennen sieht, sich an ihre Spitze setzt und «Mir nach!» ruft.) Unsere derzeitigen politischen Führer glauben, daß das einzige Ziel des Menschen im materiellen Wohlstand liege. Darin stimmen Linke wie Rechte ziemlich überein, und strittig ist nur, wer jeweils wieviel zu bekommen habe. «So gut wie heute haben es die Leute noch nie gehabt» — mit solchen Feststellungen werben sie um Bewunderung. 

Natürlich: Materieller Wohlstand ist wichtig, und der materielle Lebensstandard spielt für uns alle eine zentrale Rolle. Aber es gibt auch noch andere, vielleicht weniger eindeutig formulierte, nichtsdestoweniger aber machtvolle Bedürfnisse: nach Freiheit, nach Würde, nach nationalem Stolz, nach schöner Umgebung, nach öffentlicher Sicherheit und nach vielem anderem mehr. Und genau in diesen Dingen versagen unsere politischen Führer. Diese mit Geld nicht aufzuwiegenden Bedürfnisse werden von den unzähligen Freizeitgestaltungsvereinen und Interessengruppen wahrgenommen, die überall entstanden sind, und ihre Nichtbeachtung durch die Berufspolitiker schlägt sich in der öffentlichen Meinung kritisch nieder.

Einige Politiker der extremen Linken haben die Behauptung gewagt, daß hinter solchen Forderungen nichts anderes stecke als eine besondere Form des mittelständischen Egoismus — aber dies hieße, die Humanität der ärmeren Schichten in beleidigender Weise zu unterschätzen. Der Arme kann gezwungen sein, sich damit abzufinden, daß sein Haus durch die Abgase eines chemischen Werks schmutzig verfärbt wird oder daß er wegen einer darüber hinweggeführten Schnellstraße unter unerträglicher Lärmbelästigung leben muß. Zustimmen kann er solchen Zuständen nicht. Und der Wunsch, vorher gefragt zu werden, hat mit der Klasse nichts zu tun.

Noch weniger Verständnis herrscht bei Regierungen dafür, daß Menschen den etwas dunklen Wunsch in sich fühlen können, ihre angestammte Kultur auch zu bewahren. Regierungen sind blind gegenüber solchen Empfindungen oder betrachten sie als hoffnungslos überholt, sonst würden sie nicht immer wieder durch ihre Eingriffe gewachsene kulturelle Zusammenhänge zerstören und für alles ihre standardisierten Muster in Anwendung bringen, vom Telefonhäuschen bis zu Altersheimen.

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Aber unter allen Bedürfnissen der Menschen ist das fundamentalste, aber auch am schwierigsten zu artikulierende der Wunsch nach einem erfüllten und sinnvollen Leben. Indes ist alles, was die Linke wie die Rechte da anzubieten haben, nur immer wieder dies: mehr Wohlstand, mehr Bruttosozialprodukt. Das ist nicht der wahre Jakob.

Alle Maßnahmen der Regierungen spiegeln nur ihre Willfährigkeit gegenüber der Wachstumsideologie, genauer: dem Wunsch der Geschäftswelt nach Profiten. Daher ihr Zögern, wenn es geboten wäre, schwere Transportmittel aus dem Verkehr zu ziehen, weil sie Leben und Eigentum zerstören (Supertanker etwa, wenn sie Schiffbruch erleiden, oder schwere Laster, die in kleinen Orten mit engen Straßen Unfälle und Hausschäden verursachen).

Aber selbst dort, wo es nur um materielle Dinge geht, können die Regierungen sich kaum jemals wirklich in die Erwartungen der Regierten hineindenken. Umfragen in den meisten Ländern haben gezeigt, daß Preisstabilität und bessere Wohnmöglichkeiten den Leuten weitaus wichtiger erscheinen als etwa technische Großprojekte wie der Kanaltunnel seligen Angedenkens oder der Eintritt in den Gemeinsamen Markt, die Verstaatlichung der Industrie oder all der Papierkram, der den Tag unserer Gesetzgeber ausfüllt. 

Ein gewitzter Politiker könnte sein Verantwortungsgefühl für die Menschen dadurch dokumentieren, daß er die Bedingungen auf dem Wohnungsmarkt verbessert. Zunächst würde er die öffentliche Meinung mobilisieren, dann die Bauunternehmer und die beteiligten Gewerkschaften samt den Planern und Financiers an einen Tisch bringen, damit ein Plan erstellt und die Mittel verfügbar gemacht werden, und dann ginge es an die Ausführung. Sollten irgendwo Materialknappheiten auftreten, so müßte sich die Aufmerksamkeit darauf richten, Maßnahmen zur Behebung einzuleiten. Aber in der Realität verliert in den meisten Ländern der Wohnungsbau an Volumen.

Dies bringt uns zu der zweiten Forderung, durch deren Erfüllung sich ein Politiker legitimieren sollte: Er müßte über Kompetenz verfügen. Edward Heath stolperte aus dem gleichen Grund, aus dem auch Salvador Allende fiel — beiden gelang nicht die Lösung der vordringlichsten Probleme. Gutes gewollt zu haben ist nicht genug. Nun mag ein Politiker über einem einzelnen ungelösten Problem zum Sturz kommen — die anhaltende Unzufriedenheit mit Regierungen allgemein spiegelt deren Unfähigkeit, mit den anstehenden Problemen wie Krieg, öffentlicher Sicherheit, Umwelterhaltung und anderen der hier besprochenen Probleme fertig zu werden.

Drittens — und das wird oft übersehen — wollen die Menschen an ihrer Spitze Persönlichkeiten, zu denen sie bewundernd aufschauen können, also Persönlichkeiten, die nicht nur ehrenhaft, sondern auch selbstlos sind. Bei allen seinen Wunderlichkeiten war General de Gaulle allgemein geachtet, da er ohne Zweifel Frankreich und Frankreichs guten Namen über alle persönlichen Erwägungen stellte.

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Seine eigene Popularität, öffentliche Ehrungen, Einkünfte waren für ihn Nebensächlichkeiten, wie selbst seine schärfsten Kritiker zugeben mußten. Politische Führer sind Vaterfiguren: Sie können launisch, unfair, sogar arrogant sein, vorausgesetzt nur, sie leben ganz dem Wohlergehen ihrer Kinder. Sie müssen sich tapfer und entschlossen zeigen. Sie können sogar ihre Mucken haben, sofern sie niemals niederträchtig handeln.

Aber die politischen Führer von heutzutage unterliegen zu allem noch dem kapitalen Irrtum, daß die Gesellschaft bloß aus zwei Gruppen bestehe: dem Wahlvolk und den Erwählten, den Massen und der Elite. Und daher sei es ihre Aufgabe, in irgendeiner Weise mit den Massen ins Gespräch zu kommen. Aber wie wir gezeigt haben, besteht eine Gesellschaft mit Zusammenhalt aus einer Anzahl ineinander verzahnter Gruppen; die Entscheidungsbefugnisse sind über alle Gruppen verteilt und werden auf verschiedenen Ebenen wahrgenommen. Wie Patricia Elton Mayo hierzu bemerkt, sind unsere sozialen Probleme nicht eine Frage «des Eigentums an Gütern, sondern eher eine Krisis in der Theorie und Praxis des Regierens. Nahezu alle modernen Regierungen . . . sind derart einbetoniert in eine zentralisierte Bürokratie, daß sie den Grundaufbau der Gesellschaft aus einzelnen Zellen überhaupt nicht mehr wahrhaben wollen.»

Was die Menschen am intensivsten anstreben, ist Mitbestimmung in Fragen, die sie direkt betreffen. Gern überlassen sie komplizierte Fachfragen wie etwa Wirtschaftspolitik den Experten, weil sie sich darin ohnehin kein Urteil zutrauen, so, wie sie auch nichts mit dem Betrieb des Kraftwerks zu tun haben wollen, das ihnen den Strom liefert.* Nur wenn irgendwelche Dinge schieflaufen, beginnen sich die betroffenen Leute zögernd mit den Dingen zu befassen. So sind sie zumeist auch gern bereit, die örtlichen Verwaltungsorgane sich selbst zu überlassen. Die in Amerika so populäre Idee, daß alle Entscheidungen öffentlicher Beurteilung unterliegen sollten (heutzutage dann über das Fernsehen), beruht auf einem Mißverständnis.

Hinzu kommt, daß Fragen, die den Bürger direkt betreffen, häufig Fragen lokaler Natur sind, etwa die Trassenführung einer neuen Straße. Je mehr derartige Fragen aber auf oberster Ebene des Staatsapparates zur Entscheidung kommen, desto hilfloser muß sich der einzelne fühlen. Da nützen dann auch jene von oberster Behörde inszenierten Anhörungen der betroffenen Öffentlichkeit nichts, denn von Anfang an neigt sich da die Waagschale zugunsten jener, die Zeit und Geld haben, sich auf den Auseinandersetzungsfall sorgfältig vorzubereiten.

* Die Frage stellt sich, wieso Menschen von komplizierten Fachfragen der Wirtschaftspolitik nicht direkt betroffen sein sollten — die tägliche Erfahrung zeigt, daß dies der Fall ist. Auch die Erzeugung des Stroms ist jüngst — so beim Kernkraftwerk Wyhl — von einer großen Zahl von Bürgern zum Gegenstand lebhafter Diskussionen gemacht worden. (AdÜ)

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Höhere Verwaltungsorgane und ihre Beamten, die heute zumeist Entscheidungen fällen, wiegen sich natürlich gern in dem Glauben, sie seien lokalen Stellen an Kompetenz überlegen. Außerdem sitzt in ihnen ganz tief der Hang, alle Fragen nach gleichen Maßstäben zu erledigen — über einen Kamm zu scheren. Demokratie bedeutet aber, daß auch die Freiheit bestehen sollte, gelegentlich eine falsche Entscheidung zu treffen, und bedeutet zweifellos auch, daß jedermann das Recht hat, über seine eigenen Angelegenheiten in einer Weise zu entscheiden, die abweichen mag von vergleichbaren Entscheidungen in ähnlicher Situation unter anderen Menschen.

Durch zentralisierende und uniformierende Verfahrensweisen haben die Regierungen nicht nur die Demokratie untergraben und sich um ihre Legitimation gebracht — sie haben auch den sozialen Zusammenhalt zerstört und wirkliches Regieren fast schon unmöglich gemacht. Sie haben einen Zustand der Unregierbarkeit geschaffen.

Wie sind sie in diese Lage hineingeraten, in der nahezu alle Maßnahmen versagen müssen?

 

   5  Gründe mangelnder Legitimation   

 

Im ersten Entwurf, den ich zu diesem Kapitel niederschrieb, hatte ich mit einem Aufwand von vielen Tausenden von Wörtern die Defekte im Regierungs­apparat geschildert und abschreckende Beispiele zitiert. Ich sprach von der Scheinheiligkeit, die darin liege, Verträge auszuhandeln, sie dann aber nicht zu ratifizieren — oder sie zwar zu ratifizieren, aber dann doch nicht einzuhalten. Ich erwähnte den Wahnsinn, Waffen an Länder zu verkaufen, die möglicherweise einen Konflikt vom Zaun brechen könnten, in den der Lieferant dann selbst mit hineingezogen würde. Ich gab Beispiele von Unehrenhaftigkeiten und gebrochenen Versprechungen (ein britischer Politiker, auf diesen Punkt hin angesprochen, gab entrüstet zur Antwort, daß doch die Öffentlichkeit ohnehin nicht erwarte, Versprechungen auch eingehalten zu sehen!). 

Einen ganzen Abschnitt widmete ich der Manie der Geheimniskrämerei und den Versuchen, Politik nach Möglichkeit auch ohne öffentliche Debatte durchzudrücken — nicht einer der unwesentlichsten Gründe für das Mißvergnügen der Öffentlichkeit am politischen Leben. Auch von der Unfähigkeit war die Rede, von der leichten Hand, mit der das von allen erarbeitete Geld in Projekte gesteckt wird, die eigentlich niemand so recht will, während Dinge darüber vernachlässigt bleiben, die vielen am Herzen liegen (Überschallflugzeuge statt Wohnungsbau).

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Ich befaßte mich mit der regelmäßigen Tendenz zur Bevorzugung der einen oder anderen Großgruppe der Gesellschaft — entweder des Kapitals oder der Arbeiterschaft —, statt im Interesse aller zu regieren. Es machte mir wirklich Spaß, so vom Leder zu ziehen, und als ich am Ende des Kapitels war, hatte ich einen ganzen Stapel noch unverwendeter Notizen, die es mir unschwer ermöglicht hätten, nochmals ein solches Kapitel von gleicher Länge und nicht minder ätzender Schärfe zu schreiben.

Aber jeder, der täglich die Zeitung liest, kennt das ja alles schon längst — und in der Tat ist es ja der Hauptfehler der Politiker, daß sie glauben, niemand nähme wirklich Notiz von ihrem Tun und Lassen.

Ich habe mir's dann überlegt und kam zu dem Ergebnis, daß es der Sache dieses Buches dienlicher sei, auf zwei oder drei allgemeine Tendenzen im Wesen und Wirken des Staates hinzuweisen, die den Schluß geradezu erzwingen, Regierungen seien zusehends weniger fähig, ihre Aufgaben zu erfüllen — selbst dann, wenn sie noch die volle Unterstützung der Bevölkerung genießen.

Zunächst haben die obersten Organe der Staaten immer mehr Macht an sich gezogen. Das begann schon damit, daß Regierungen sich Vorrechte anzumaßen begannen, die früher von Universitäten, Gilden, Äbten, Lehensträgern wahrgenommen wurden. Das war gegen Ende des Mittelalters, wurde damals aber begrüßt, weil es den aufstrebenden Bürgern mehr Freiraum zu schaffen versprach. Aber dieser Prozeß ist seither einfach weitergegangen, und heute nehmen Regierungen für sich in Anspruch, jeden Bereich des Lebens unter ihre Jurisdiktion zu stellen

— und die Öffentlichkeit gesteht diesen Anspruch zu, wiewohl es darüber keine Diskussion gegeben hat und niemand je gefragt worden ist. So nahmen die Regierungen die Streitkräfte und die Post in eigene Regie, die früher der Initiative der Bürger überlassen waren. Die Regierung kümmert sich um die Schulung der Bürger und um die Steuer — einst Vorrechte lokaler Körperschaften. Eine neuere Entwicklung hat ferner dahin geführt, daß die Regierung das Land auch in der Gemeinschaft der Nationen aller Welt vertritt.

Wie Peter Drucker ausgeführt hat, behalten sich heute Behörden selbst in Friedenszeiten das Recht auf Unterdrückung oder Zensierung von Nachrichten vor. Sie nutzen ihre Macht, um die Rentabilität ganzer Gewerbezweige zu fördern oder zu verringern, um Privilegien abzuschaffen oder neu einzuführen, Eigentum zu beschlagnahmen, ja zu schaffen oder abzuschaffen, wie wir dies am Beispiel der Fischereigerechtsame, der Patente und in anderen Fällen erlebt haben. Selbst dann, wenn eine Regierung Entscheidungsbefugnisse an nachgeordnete lokale Stellen delegiert, so ist dies doch jederzeit widerruflich. (Und so kommt es, daß etwa Basken oder Schotten sich gegen die unqualifizierte Ausbreitung eines solchen übermäßigen Machtanspruchs verwahren.)

5  Gründe  203


Leider haben nun die obersten Staatsbehörden weder die Zeit noch das Geschick — und häufig noch nicht einmal den Willen —, ihre Macht auch wirklich auszuüben. «Kein Staatsapparat funktioniert auf angemessene Weise», bemerkt hierzu Peter Drucker, gleich, ob er sozialdemokratisch, liberal, kommunistisch oder demokratisch geführt wird. Im Management der Industrie hat es sich längst herumgesprochen, daß man delegieren können muß, wenn man nicht im Wust der anfallenden Erledigungen untergehen will. Aber Staatsorgane verfügen kaum über geeignete Möglichkeiten zur Delegierung von Aufgaben; sie haben bloß die ausgezehrten Lokalverwaltungen und die örtlichen Dienststellen. Die Technik hat zu dieser Auszehrung nicht nur durch die Zerschlagung lokaler gesellschaftlicher Gruppenstrukturen beigetragen, sondern auch durch die Schaffung städtischer Ballungsgebiete, deren Struktur ihre Behandlung als eine einzige Großeinheit verlangt, die aber in Wahrheit schon viel zu umfangreich für eine von der Basis her funktionierende Demokratie sind. Diese unbarmherzige Zentralisierung ist es, die beim Wahlvolk ein Gefühl der Hilflosigkeit und Verlassenheit erzeugt — es fühlt sich übergangen und ohne Kontakt mit «denen da oben».

 

Und damit kommen wir zum zweiten Faktor: dem nimmer endenden Wachstum der Bürokratie. Zunehmend werden Entscheidungen nicht mehr in Parlamenten und Senaten gefällt, wo zumindest ein gewisses Maß an Öffentlichkeit gewährleistet ist, sondern in Ausschüssen und Kommissionen, wo die Sachbearbeiter und glatten Bürokraten entscheiden, ohne daß sie sich dazu äußern müssen, ohne daß eine öffentliche Diskussion vorangegangen wäre. «Vertrauliche Behandlung» wird hier zu einer Waffe der Abwehr gegen eine Kritik, die sich auf Informationen stützen müßte, und entschieden wird von einer «Koalition zwischen den Ministern und den vielleicht 3000 Mitgliedern der Verwaltungsgarde in den Ministerien und nachgeordneten Behörden». 

Dabei beruft man sich auf «Rechte des Parlamentariers» und auf die angebliche Unverletzlichkeit der vertraulichen Behandlung der Vorgänge und Akten. Jeder, der Gelegenheit hatte, sich mit Männern der herrschenden Elite zu unterhalten, gewinnt den Eindruck, daß sie völlig davon überzeugt sind, sie würden den Laden schon hinkriegen, wenn nur die Leute, über die sie herrschen, es sich freundlichst abgewöhnen könnten, stets mit Gegenargumenten angerückt zu kommen. Schließlich sollten die Dinge auch gemacht werden können, ohne daß sich Widerspruch meldet. Vater weiß es doch am besten. Das ist so eine Art kryptoautoritären Verhaltens.

Max Weber, dessen Analysen über das Thema Bürokratie diesen Ausführungen zugrunde liegen, hat bereits gezeigt, daß der Amtsschimmel nicht umzubringen und stets noch im Wachsen begriffen ist. Ein Militärputsch kann etwa die jeweils Herrschenden aus ihren Positionen jagen, aber die Apparatur der Herrschaft hat ihre Eigengesetzlichkeit. Niemand weiß, wie diese Entwicklungstendenz sich umkehren ließe. Niemand weiß auch, auf welche Weise sich Bürokratien im Hinblick auf menschliches Wohlergehen (weniger freilich unter dem Gesichtspunkt ihrer «Wirtschaftlichkeit») tatsächlich zu wirksamen Instrumenten machen ließen. Es geht ja wirklich nicht um wirtschaftliche Maßstäbe für Leistungsfähigkeit.

5  Gründe   204


 Dostojewski verwies auf den springenden Punkt: 

«Und wie können diese Neunmalklugen wissen, daß Menschen für sich etwas Normales oder etwas Tugendhaftes entscheiden wollen? Was hat sie auf den Gedanken gebracht zu glauben, daß der Mensch eine nach der Vernunft ihm zum Vorteil gereichende Entscheidung treffen will? Was die Menschen wollen, ist einfach eine unabhängige Entscheidung, was auch immer diese Unabhängigkeit kosten mag und wohin immer sie führt.» 

Da haben wir den Grund, warum es sezessionistische Bewegungen gibt und warum Kommunen entstanden sind. Und das ist auch etwas, das sozialistische Reformer nicht recht verstehen wollen.

Während der soziale Prozeß allmählich im Sumpf der Selbstzufriedenheit versickert, zwingt der stets rascher werdende Gang der Ereignisse diesen aufgeblähten Herrschaftsstrukturen die Notwendigkeit zur Veränderung weitaus schneller auf, als dies früher der Fall gewesen war. Ich habe hier nicht politische Krisen im Auge, sondern den sozialen Wandel. Ein Beispiel: In England fuhr man damit fort, Isolierstationen für Tbc-Kranke zu errichten, nachdem durch die Anwendung moderner Pharmaka die Tuberkulose längst nahezu zum Verschwinden gebracht worden war. 

Eine Verwaltung, die Korrekturen an Entwicklungen vornimmt, die sich bereits selbst auf ein neues Gleis begeben haben, wie das auf dem Gebiet der Wirtschaft nicht selten vorkommt, verschlimmert dadurch nur die Zustände. Die Schwankungen, die in Großbritannien in der Atomenergiepolitik zu registrieren waren, sind hier geradezu ein Paradefall. Da hatte man zunächst Pläne fallenlassen, die einen Ausbau von Kraftwerken mit Öl als Heizstoff vorsahen, weil die Ansicht herrschte, die Kernenergie werde den Hauptanteil am Energiebedarf bis zu den 1970er Jahren decken. Diese Pläne wurden jedoch wiederaufgegriffen, als sich herausstellte, daß man hier einem Irrtum aufgesessen war. Allerdings wurde gerade zu dieser Zeit das Öl teurer, und so ließ man diese Pläne dann zum zweitenmal fallen.

Die Lebensspanne eines Parlaments ist kurz, verglichen mit den zwanzig oder mehr Jahren, in denen sich die meisten sozialen Umstrukturierungen vollziehen. Zwangsläufig müssen Volksvertretungen also uninteressiert an Wandlungen sein, die sich erst längst nach ihrem Abtreten von der Bühne in den Reaktionen der Wähler auszahlen könnten.

Da Parlamente soviel zu bewältigen haben und dabei stets unter dem Zwang rascher Entscheidungen stehen, könnte man wohl meinen, sie hätten sich und ihren bürokratischen Stäben schnittige Formen der Problembewältigung erarbeitet. Aber selbst in ihren einfachsten Verrichtungen sind sie altmodisch geblieben. Da werden Stimmen noch mit dem Zeigefinger gezählt, wo sich dies doch elektronisch viel schneller erledigen ließe. 

5  Gründe   205


Kein großes Unternehmen wäre denkbar, in dem die Angestellten mit derart erbärmlichen Kommunikationsmitteln, Büroeinrichtungen und verstaubtem Zeremoniell sich herumzuschlagen bereit wären, wie dies die europäischen und amerikanischen Volksvertreter beim Regieren sind. Aber mag veraltetes Inventar noch hingehen — ernster ist doch der enorme Zeitverlust, der durch eine zeitfressende Prozedur gefordert wird.* Da können Monate intensiver Arbeit in eine Gesetzesvorlage gesteckt werden, die aber dann fallengelassen wird, weil die verfügbare Zeit überschritten wurde — ein Mißstand, der von Insidern humorvoll als «Bethlehemitischer Kindermord» charakterisiert wird.

Leider wird man von den Regierungen nicht erwarten können, daß sie ihre Fehler korrigieren. Jede andere Organisation hat irgendeinen Geschäftsprüfer, der sine ira et studio über die Verhältnisse urteilt. Aber wo ist die Autorität, die ein Parlament ein wenig auf Trab bringen könnte, die einmal untersuchen lassen würde, wie lange etwas dauert und welche Wege es geht, und die vielleicht dann auch Vorschläge auf Abhilfe zu machen befugt wäre. Die zweiten Kammern oder Oberhäuser, die ja gelegentlich milde Kritik laut werden lassen, werden in ihren Kompetenzen ständig beschnitten durch die parlamentarischen Regierungen, die viel zu sehr von sich selbst überzeugt sind, als daß sie auch nur den geringsten Tadel einzustecken bereit wären. Die einzige Möglichkeit, ein Parlament zu kontrollieren, besteht in einigen wenigen Demokratien noch darin, mit dem Wahlzettel einen deutlichen Wink zu geben, daß es hier an Vertrauen gefehlt hat.

 

    6 Offener oder heimlicher Faschismus   

 

Gleich, ob meine Analyse nun im einzelnen zutrifft oder nicht: Unbestreitbar ist, daß die Regierungen insgesamt einen Legitimitätsverlust erlitten haben. Zusammen mit der zunehmenden Entfremdung vieler Menschen von der Gesellschaft als Ganzer konnte sich dieser Verlust als fatal erweisen. Ein System, das nicht in der Lage ist, führende Persönlichkeiten von größerer Integrität hervorzubringen als etwa Richard Nixon, kann wohl wenig Respekt für sich beanspruchen.

* In einer interessanten Fernsehsendung, die von der englischen Granada Television 1973 produziert worden war, wurde gezeigt, wie die Regierung die Vorlage eines Gesetzes über den Handel auf Jahrmärkten ungeachtet der kritischen Einwände der Parlamentarier durchzog, dabei aber geradezu skrupulös auf Einhaltung der Konventionen bei Prüfung und Debatte bestand. Keine der wesentlicheren Änderungsvorschläge, die zur Erörterung gekommen waren, fanden Berücksichtigung durch die Regierung, die das Gesetz nahezu in seiner ursprünglichen Form durchbrachte. «Haben Sie dann den Eindruck, daß Sie viereinhalb Monate umsonst gearbeitet haben?» fragte man Philipp Whitehead, ein Mitglied des Beratungs­ausschusses. «Ganz und gar!» gab dieser zur Antwort.

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Selbst wenn die Schwierigkeiten der industriellen Entwicklung nicht unmittelbar zu Zusammenbrüchen führen, so deutet doch vieles darauf hin, daß noch vor Ablauf dieses Jahrhunderts die verbliebenen demokratischen Regierungen ihr Mandat endgültig verlieren werden.

Eine der Möglichkeiten haben wir bereits diskutiert: daß eine Zeit wirtschaftlichen Chaos' anbricht, an deren Ende dann ein autoritäres Regime sich in den Sattel schwingt, um die Ordnung wiederherzustellen. Aber selbst wenn sich solch ein wirtschaftlicher Zusammenbruch vermeiden läßt, ist das Entstehen von Diktaturen zu befürchten (und das kann äußerlich auf legale Weise erfolgen, wie seinerzeit, als Hitler an die Macht kam); wahrscheinlicher aber bleibt eine «schleichende Diktatur», in der die zentralen Kontrollmechanismen unmerklich verstärkt werden, während die Freiheiten im Schwinden begriffen sind.

Wahrscheinlich könnte sich eine solche Entwicklung auf traditionelle konservative und rechtsgerichtete Kräfte stützen, doch lehrt uns das Beispiel Ceylons auch, daß eine schleichende Zunahme autoritärer Strukturen ebenso unter linken Vorzeichen möglich ist. Eine Entwicklung dieser Art beginnt meist damit, daß die Pressefreiheit eingeschränkt wird und die persönliche Bewegungsfreiheit des einzelnen durch Kontrollen Beengung erfährt. Die Macht, widerspenstige einzelne dadurch mundtot zu machen, daß man sie von Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten fernhält, ist überall da dem Staat gegeben, wo dieser der einzige oder hauptsächliche Arbeitgeber ist.

Die Geschichte zeigt, daß Linksbewegungen dort gewaltsam in Erscheinung treten, wo eine Arbeiterklasse unterdrückt wird, während Rechtsbewegungen sich dort durchzusetzen versuchen, wo eine Mittelklasse sich bedroht fühlt. In den am meisten entwickelten Ländern ist es heute die Mittelklasse, die am stärksten unter Druck steht, was die Vermutung nahelegt, daß künftige Verschiebungen eher nach rechts als nach links gehen werden. Die Mittelklasse fühlt sich nicht nur durch die Last der Steuern und Kosten bedroht. Vielmehr ist es die Infragestellung ihres ganzen Wertsystems, das heute oft scharf als «kleinbürgerlich» kritisiert wird, wodurch bei den Angehörigen dieser Schicht der Eindruck entsteht, sie müßten bald um Kopf und Kragen kämpfen. 

Solche Verhältnisse treffen wir in den USA, wo starke Rechtsgruppen existieren und die Linke schwach ist. Beim Eintreten einer schweren wirtschaftlichen Rezession könnte der Ausbruch von Gewalt schnell immer ernstere Formen annehmen — die Tage der Ölknappheit haben uns da schon warnende Beispiele vor Augen geführt. Aber wo Gewalt sich breit macht, ertönt auch bald der Ruf nach «Recht und Ordnung».

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Professor Stanislav Andreski, der in den Vereinigten Staaten wie in Großbritannien gelehrt hat, schrieb über diese Perspektiven ein Buch unter dem Titel <Prospects of a Revolution in the USA>. Eine Revolution hält er in den USA für unwahrscheinlich. Die Studentenbewegung ist allzu undiszipliniert, um eine ernstliche Bedrohung darzustellen, und auch die Schwarzen sind wie sonstige benachteiligte Gruppen zu schlecht organisiert und viel zu zersplittert. Er glaubt, daß es der herrschenden Klasse nicht schwerfallen könne, ihre Stellung zu behaupten, doch mit Sorge hält er auf lange Sicht «ein allmähliches Abrutschen in den Totalitarismus» für möglich. Natürlich läßt sich in Amerika keine Partei denken, die ohne Berufung auf demokratische Traditionen auskommen könnte — sowohl die Weathermen als auch die John Birch Society, die als Extreme des amerikanischen politischen Spektrums nach links und rechts gelten können, stimmen in ihrem Bekenntnis zur Demokratie.....

Der Apparat für ein Regime der Unterdrückung steht bereit. Es bedürfte nur einer gemeinsamen Entscheidung der beiden großen politischen Parteien Amerikas — etwa in einem Notstand —, und schon ließe sich die ganze Bevölkerung unter Kontrolle bringen: mit Hilfe der in Computern niedergelegten Daten und Angaben zur Person und in gemeinsamem Vorgehen von FBI, CIA, Polizei und jenen privaten Sicherheitsorganisationen, die zumeist eine rechtsextremistische Färbung haben. (John Brunner hat die Details eines solchen Prozesses in seinem Buch «The Sheep Look Up» detailliert geschildert, so etwa Ausgangsbeschränkung, Einziehung aller Schußwaffen, Beschlagnahme von Lebensmittelvorräten, Zwangseinziehung zum Militärdienst usw.)

Die Erfassung einer Unzahl persönlicher Daten in Computern hat eine Lage geschaffen, die Kontrollmaßnahmen sehr erleichtern dürfte. Während ein Hitler noch umständliche Ermittlungsversuche anstellen mußte, um ungefähr ausfindig zu machen, wer vor der Machtergreifung gegen ihn gestimmt haben mochte, würden ihm heute die in Computern und Datenbanken niedergelegten Informationen leichtes Spiel bei der Eingrenzung feindlicher Bevölkerungsgruppen sichern. Ein Experte für Computersicherheit, Peter Hamilton, traf die Feststellung: «Die größte Gefahr, die durch den Mißbrauch von Computern eintreten kann, ist nicht etwa der Einbruch in die Privatsphäre, nicht die Möglichkeit von Betrügerei oder Industriespionage, sondern Subversion — der Umsturz der Demokratie.»

Ob die Regierungen nun im vollen Bewußtsein der Folgen ihres Handelns ihre Politik betreiben oder nicht: Sie bereiten den Boden für den Totalitarismus. Wie ich in Kapitel 8 gezeigt habe, ist das Vorhandensein einer «Masse», die durch eine «Elite» beherrscht wird, Bedingung für totalitäre Herrschaft. Durch eine Umverteilung von Reichtum und Einkommen im Sinne der Gleichheit; durch Schwächung örtlicher Autoritäten infolge einer Zentralisierung der Macht; durch das Aufbrechen kleiner Gesellschaftseinheiten im Namen von Stadtsanierungsprogrammen oder der «verkehrsmäßigen Neugliederung» eines Wohnviertels mittels durchgezogener Schnellstraßen; durch Einebnung der klassengegebenen und kulturellen Unterschiede — durch all dies ebnen die Regierungen auch der Diktatur den Weg.

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Ein weiteres Mittel dafür, dem Totalitarismus den Weg zu ebnen, ist laut Hannah Arendt die Verunsicherung der Bevölkerung durch ständige Änderungen an Gesetzen und Ausführungs­bestimmungen, so daß die in einem Jahr getroffenen Vorkehrungen sich im nächsten Jahr als nicht mehr angemessen erweisen. Besonders negativ ist unter diesem Aspekt eine rückwirkende Gesetzgebung zu beurteilen, die in England immer mehr in Erscheinung tritt. 

Die staatliche Gewalt neigt zusehends autoritären Praktiken zu und übergeht dabei bedenkenlos die öffentliche Meinung, wie im Falle der Einführung der Einheitsschule in Großbritannien, entgegen dem Willen der Eltern oder wie im Falle des Schülerbuszwangs in den Vereinigten Staaten. Ein noch schwer­wiegenderer Fall ist für England der Eintritt in die EG.

Noch jede Gesellschaft, von der wir wissen, hat es sich angelegen sein lassen, der jüngeren Generation die Haltungen zu vermitteln, die für einen Fortbestand des sozialen Zusammenhalts unerläßlich sind. Was Andreski ebenso wie mich sehr beunruhigt, ist der Umstand, daß zum erstenmal in der menschlichen Geschichte unsere technisch bestimmte Gesellschaft ein Sozialsystem entwickelt hat, 

«das nicht nur die Pflicht moralisch-ethischer Erziehung beiseite stellt, sondern darüber hinaus beträchtliche Mittel und eine bislang ungekannte Maschinerie der Überzeugungsbildung dafür aufwendet, die Lebensgewohnheiten, Normen und Ideale zu zerstören, die für das Überleben einer Gesellschaft unabdingbar sind. Und statt dessen werden zutiefst unsoziale Verhaltensweisen eingepflanzt, die unvereinbar mit jeglicher nur irgend denkbaren gesellschaftlichen Ordnung sind.» 

Andreski fügt abschließend hinzu: 

«Es grenzte ans Wunderbare, wenn eine Sozialstruktur, die ein derartiges Maß an massiver Gesellschaftsfeindlichkeit erlaubt, daran nicht schließlich zugrunde ginge.»

Diese Schlußfolgerungen decken sich völlig mit meinen eigenen, wenn ich auch glaube, daß England hier in der Entwicklung den Vereinigten Staaten voraus­gehen wird, und zwar deshalb, weil einesteils der Lebensstandard Großbritanniens viel anfälliger für Störungen ist als jener der USA und anderenteils der Zerfall der vermittelnden Gesellschaftsstrukturen auf der Insel weiter vorangeschritten ist als jenseits des Atlantiks, schließlich auch deshalb, weil die herrschende Elite in England zwar weniger korrupt als die amerikanische ist, diese dafür aber an Unfähigkeit übertrifft.

Die Bedingungen, unter denen unsere der Kompetenz ermangelnden Regierungen den äußeren Bedrohungen zu begegnen haben werden, die während der nächsten zwei Jahrzehnte auf uns zukommen, sind also vorgezeichnet durch soziale Gestörtheit. Welche Bedrohungen dies sein werden, ist mittlerweile nicht mehr unbekannt. 

Nach meinem Dafürhalten werden wir es zu tun bekommen mit zeitweiliger Rohstoffverknappung, mit schweren Krisen in der Dritten Welt infolge des Hungers und mit den Problemen der Umweltverschmutzung, die nach einer Lösung der Energiekrise sich erneut stellen werden. Diese Bedrohungen müssen nunmehr im Lichte der dazugewonnenen Einsichten neu überdacht werden.

209-210

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Gordon Rattray Taylor   Zukunftsbewältigung   1975