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16. Hunger

  2 Essen am grünen Tisch    3 Der Haken mit dem Fisch     4 Hilfsprogramme     

Die zunehmende Kluft zwischen Habenden und Habenichtsen dürfte letztlich den Untergang der Überflußgesellschaft herbeiführen.  -Lloyd Berkner-

 

 1  Künstliche Nahrung   

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In zwanzig Jahren wird ein saftiges Steak wohl zu den Genüssen zählen, die man sich nur ein- oder zweimal im Jahr leistet, und Fleisch wird zu einem Luxus wie heute Fasan oder Wildbret. Es könnte so weit kommen, daß die Lokale Fleisch nur an einem oder an zwei Tagen der Woche anbieten, wie das zur Zeit des letzten Krieges üblich war. In einigen Ländern wird man für Fleisch wieder Lebens­mittel­karten ausgeben. Da an den Todesursachen bei Amerikanern zu 50% überfette Ernährung schuld ist, wird sich durch diese Verknappung die Lebenserwartung erhöhen.

«Die Welternährungskrise ist schon über uns gekommen», erklärt der Präsident der amerikanischen Standard Milling Company, «wir stehen bereits kurz vor der Panik.» Die jüngsten, noch zögernden Anstiege in den Nahrungsmittelpreisen sind bereits erste Anzeichen der neuen Ära des Mangels. Und es geht schon nicht mehr um das Fleisch allein. Im Frühjahr 1974 hatten Kaffee, Kakao, Zucker und andere Waren Rekordpreise erreicht: 576 Pfund Sterling für die Tonne Kaffee, 595 Pfund für die Tonne Kakao, 209 Pfund für Zucker. 

In dreien der am dichtesten besiedelten Länder der Erde werden Lebensmittel bereits rationiert. Noch vor Ende des Jahrhunderts wird man mit gutem Grund ein Ansteigen der Lebensmittelpreise bis zum Vier- oder Fünffachen ihres heutigen Niveaus erwarten können. Und das ist noch ohne Einkalkulierung der inflationsbedingten Preisanstiege. Um die Verknappung auf dem Lebensmittelsektor auszugleichen, wird man darangehen, den Anbau nicht eßbarer Pflanzen wie Gummi, Sisal und Hanf zu beschränken, so daß eine Verknappung mancher Textilien erfolgen wird. Nur wenn keine Lücken in der Ölversorgung bestehen, werden synthetische Fasern als Ersatz herhalten können.

Forschungen hinsichtlich der «Schweinchen-Pille», die es ermöglichen soll, daß jeder nach Herzenslust ißt, ohne dabei Nährstoffe aufzunehmen, dürften sich dann als ebenso uninteressant fürs Geschäft erweisen, wie sie heute schon unverantwortlich sind.

Diese unerfreulichen Verknappungen werden allerdings durch den enorm gesteigerten Verbrauch von Proteinersatz und Füllzusätzen wettgemacht werden, vor allem durch Proteine, die aus der Sojabohne und anderen Hülsenfrüchten gewonnen werden. Solche Ersatzspeisen für das Fleisch sind bereits häufiger im Gebrauch, als zumeist angenommen wird, und bilden gut ein Drittel der zahlreichen Fleischpasteten, Fleischbällchen, Wurstwaren und dergleichen. Da das Gesetz es noch nicht vermocht hat, die Art des zu verwendenden Proteins genau zu bestimmen, liegt die Grenze für die Anwendung solcher Eiweißstoffe gewöhnlich an der Aufmerksamkeit und der empfindlichen Zunge des Konsumenten. Bald werden in Amerika Hamburgers verkauft, die aus den Eiweißstoffen der Erdnuß hergestellt sind, wie die Lebensmitteluntersuchungsabteilung des Stanford Research Institute meldet, dazu dann «Hühnchen» aus Baumwollsamen, «Schinken» aus Sojabohnen.

Auf zweierlei Weise versuchen die Chemiker das aus solchen Pflanzen gewonnene geschmacklose Eiweißpulver in etwas Fleischähnliches zu verwandeln; bei der einen Methode wird eine Art Schaum erzeugt, der dann gefärbt und mit Geschmacksstoffen versehen wird, bei der anderen findet eine Aufbereitung zu fädiger Substanz statt, die sich tatsächlich in eine Masse umwandeln läßt, die dem faserigen Fleisch ähnelt. Das bei den Nylonwerken Courtaulds hergestellte «Kesp» ist ein Beispiel für die zweite Art von Ersatzfleisch. Trotz der Auffassung Dr. Herbert Stones, daß vor wenigen Jahren derartige Produkte zwar den Geschmack der Herkunftspflanze noch verraten hätten, heute aber «ihr Geschmack wie ihre Beschaffenheit sie tatsächlich vom Fleisch nicht mehr unterscheiden läßt», bleibt das <British Nutrition Journal> skeptisch. 

Die Beschaffenheit gerät allzu leicht ins Schleimige oder Zähe, und mit dem Bohnengeschmack ist man meist auch gleich jeglichen Geschmack losgeworden. Der Kantinenchef eines britischen Industriewerks, in dem diese Produkte eingeführt worden waren, äußerte sich dazu wie folgt: «Jetzt muß man alles mit Hilfe der Soßen rauskitzeln. Man kann's allerdings nicht verkochen, man kann's nur so lange kochen, bis der Geschmack von der Soße drin ist.» Die Zeit, die er auf die Zubereitung der Soßen verwenden müsse, setzte er hinzu, zehre jegliche Zeiteinsparung wieder auf, die man dadurch zu gewinnen glaubt, daß aus dem Kunstfleisch kein Fett und keine Sehnen herausgeschnitten werden müssen.

Diese Pflanzenproteine sind so behandelt worden, daß sie wie Steaks, Rippchen, Schinken, Hühnchen oder sogar wie Fisch (dann wohl Artifisch zu nennen) aussehen, aber die Kosten für eine solche Nahrungsmittelschminke sind hoch, und in der Hauptsache wird man diese Substanzen wohl nur für Klopse, Hackbraten, Haschee und deutsches Beefsteak verwenden können.

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Im vergangenen Jahr wurden von Engländern 1000 Tonnen solchen Kunstfleisches verzehrt. Aber für das Jahr 1980 rechnet eine Schätzung bereits mit einem gesamteuropäischen Verbrauch von 750.000 Tonnen jährlich. Bis zum Jahr 2000, so eine andere Schätzung, wird ein Viertel des Eiweißbedarfs der USA auf diesem Wege gedeckt werden. 

Nach seinem Ursprung etwas ganz anderes ist Kunstfleisch auf der Basis von Pilzen (Mykoprotein). Es ist fädig und in der Beschaffenheit echtem Fleisch noch näher. Außerdem kann Mykoprotein wie Reis oder Mais gepufft werden. Es läßt sich aber auch Fleisch aus auf Methanol gezogenen Hefen oder von auf Methan gezüchteten Bakterien herstellen — und sogar von im Nährbottich zu ziehenden Pflanzen wie der Tropischen Wasserpest. 

Am meisten verspricht da die Hefe. Es werden in Europa Herstellungswerke gebaut, die jährlich 100.000 Tonnen Hefeeiweiß auf der Basis von Petroleum­derivaten erzeugen sollen. Japan hatte sich für 1974 eine Erzeugung von 150.000 Tonnen vorgenommen. Rußland möchte 1 Million Tonnen im Jahr erreichen. Da aber Petroleum krebserregende Substanzen enthält und das Produkt zudem reich an Purinen ist, die Gicht hervorrufen, dürften einige Vorbehalte doch angebracht sein, wenngleich Tierversuche ermutigend verliefen. Hefeeiweiß kann sehr billig produziert werden - man rechnet mit Kosten zwischen 50 Pfennig und 1 Mark für das Kilo -, und so könnte das Hefefleisch mit dem Viehfutter konkurrieren. Da Masttiere ziemlich viel Fisch (in Form von Fischmehl) verbrauchen, der auch dem Verzehr durch den Menschen zugeführt werden könnte, werden künftig Kunstproteine verfüttert werden. Die Firma British Petroleum Co. Ltd. bringt bereits derartiges Futter unter dem Markennamen Toprina auf den Markt. Allgemein werden finanzschwache Konsumenten - Rentner und Schulkinder - als erste dieser neuen Segnungen der Wissenschaft teilhaftig werden. In den USA sind bereits die Gesetze dahingehend geändert worden, daß für Schulspeisungen das verwendete Fleisch bis zu 30 % durch künstliche Proteinpräparate ersetzt werden darf.

All diese Fleischersatzstoffe unterscheiden sich vom echten Fleisch durch das Fehlen von Fett. Das mag in den Augen auf Schlankheit bedachter Menschen als ein Vorteil erscheinen; in Wahrheit aber liegen die Dinge komplizierter. Die sogenannten strukturellen Fette können vom Körper nicht entbehrt werden; sie formen 60 % der Trockenmasse des Gehirns. (Daher haben wohl auch Pflanzenfresser soviel kleinere Gehirne als Fleischfresser). Nur die gesättigten Fettsäuren sind entbehrlich, und diese sollen auch von Leuten mit Gewichtsproblemen weitgehend vermieden werden. Beim Fehlen der essentiellen Fettsäuren in der Nahrung kann es aber zu einem Mangelzustand kommen, der einem regelrechten Verhungern gleicht.

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Leider gibt es noch keine Wundersorte der Sojabohne, die für die USA bereits der größte Devisenbringer geworden ist. Diese Pflanze verlangt nämlich viel Sonne, und sie kann gegenwärtig nur in einem schmalen Anbaugürtel innerhalb der Vereinigten Staaten gepflanzt werden. Brasilien hat allerdings seine Anbauflächen vergrößert, und man versucht die Züchtung genetischer Varianten, die sich auch in Australien und Europa anbauen lassen.

Selbstverständlich wird der Trend zu Ersatznahrungsmitteln nicht beim Fleisch allein haltmachen. In dem Maße, wie Weideland unter den Pflug kommt, damit die Getreideernten erhöht werden, dürfte die Milch knapper werden. Sei's drum: Amerika kennt schon seit langem sein Coffeemate, England hat jetzt sein Plamil. Coffeemate erhebt gar keinen Anspruch auf Ähnlichkeit mit irgendeinem Molkereiprodukt; es wird auf der Basis von Natriumkaseinat hergestellt. Plamil wird aus Sojabohnen und Sonnenblumenöl gewonnen. Eine Milch, bei der das natürliche Butterfett gegen pflanzliche Fette ausgetauscht worden ist, wird für Schlankheitsbewußte angeboten und zeigt uns, welche Möglichkeiten es für die Hexenmeister der Lebensmittelindustrie gibt. Umwandlungsprozesse für die Milch werden zweifellos zur gängigen Praxis werden: Weil Milch hauptsächlich aus Wasser besteht, werden gegenwärtig enorme Geldmengen dafür ausgegeben, um Tonnen von Wasser von einem Ort zum anderen zu bringen. 

Die Peter Paul Company in den USA ist dazu übergegangen, Süßigkeiten «mit einer geheimgehaltenen Masse zu überziehen, deren <Aufbewahrdauer> die der Schokolade übertrifft». Das Auftauchen dieser Masse erfolgte auffälligerweise zur gleichen Zeit, als der Preis für Kakaobohnen auf dem Weltmarkt stieg. Der Aufsichtsratsvorsitzende des Unternehmens, Lloyd W. Eiston, gab über die braune Überzugsmasse an, daß sie «in der Hand, auf der Zunge und vor den Augen» von Schokolade nicht zu unterscheiden sei. «Der Unterschied liegt mehr in der Herstellungsmethode», beteuerte er.

Wenn infolge von Energieknappheit und der durch Luftverschmutzung eingetrübten Atmosphäre die Gartenbaubetriebe unrentabel werden, dürfte wohl auch versucht werden, Gemüse und Früchte künstlich herzustellen - Salat und Stachelbeeren aus Stroh ließen sich denken. Schließlich wird auch der Geschmack ganz auf chemischer Manipulation beruhen, denn die Geschmacklosigkeit der Kunstprodukte fordert dazu heraus. Es gibt eine Geschmackskombination, Interchicken genannt, die aus natürlichen und künstlichen Substanzen zusammengesetzt ist und die man den Brathähnchen aus den Hühnerfarmen einspritzt, ehe sie geschlachtet werden; sie schmecken dann angeblich wie reife Freilandhühner. Tests im Supermarkt haben gezeigt, daß die Kunden gern etwas mehr zahlen, wenn sie Geschmacksvergleiche anstellen können; sie zahlen dann 3 Penny pro Pfund für die Geschmacksspritze, die den Hähn-chenparfümierer nur 1 bis 2 Penny kostet. 

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Es gibt aber auch andere Geschmacksvarianten, etwa mit Paprika- oder Curry-Aroma. Jetzt will man gleiches bei größeren Schlachttieren versuchen. Der Chefchemiker der Laboratorien der White-Tomkins-Werke, Alec Gordon, verkündete hierzu: «Wir arbeiten an der Darstellung des Geschmackskomplexes der gekochten Tomate, um sie Fleischwaren beizumengen ... Damit wir eine Geschmacksrichtung herausbekommen, müssen wir oft auf Substanzen zurückgreifen, die es im natürlichen Vorbild gar nicht gibt.» 

Entwickelt wurde auch künstlicher Räuchergeschmack für Räucherlachs und Schinken. Ebenso haben die Chemiker schon ihr Auge auf die Alkoholika gerichtet: Gin-Aroma ist entwickelt worden, beim Whisky wird's noch etwas dauern. Das Gin-Aroma ist vorläufig allerdings nur für den Export bestimmt, doch Asienreisende, so warnt der <Farmers Weekly Guide to Synthetic Food>, sollten sich lieber an den Whisky halten. (Der genannten Zeitschrift verdanke ich übrigens einen Großteil der hier angeführten Fakten.)

Die Gründe für die der westlichen Welt bevorstehende Nahrungsmittelverknappung sind im Grunde durch drei Faktoren bestimmt. 

Zunächst stehen wir vor der Tatsache, daß die Welt der Entwicklungsländer sich nicht länger damit zufriedengeben will, der billige Lieferant der Industrieländer für Agrarerzeugnisse zu sein. Schon beginnen sich dort die Produzenten zusammenzutun, um durch Produktionsdrosselung die Preise nach oben zu schrauben. So taten es jüngst die Kaffeeländer, wobei Brasilien seine Anbaugebiete für die Kaffeebohne derart eingeschränkt hat, daß es nun - kaum glaublich, aber wahr - selbst auf Kaffeeimporte angewiesen ist. Zuckerproduzierende Länder, insgesamt 75 Nationen, kamen 1973 für einen Monat in Genf zusammen, um ein neues Abkommen auszuhandeln, vermochten sich aber nicht zu einigen. Der französische Landwirtschaftsminister Chirac sagte damals: «Eine ernste Zuckerverknappung wird in den kommenden Jahren kaum zu vermeiden sein.» (Die Situation könnte sich allerdings ändern, wenn ein wirklich unbedenklicher Süßstoff gefunden würde.) Überdies dehnt sich der Handel der Dritten Welt jetzt aus. Sollten dann Tauschgeschäfte Zucker gegen öl betrieben werden, so bekäme der freie Markt bald nicht mehr Zucker genug.

Der zweite Faktor ist das Ansteigen des Einkommensniveaus in der Dritten Welt, und bekanntlich beginnt die Hebung des Lebensstandards mit besserer Kost. Niemand lebt freiwillig von einer Schale Reis am Tag; etwas Fisch oder Fleisch als Bereicherung der Mahlzeit ist durchaus erwünscht. Die Menschen wollen Zucker in ihren Brei und Marmelade aufs Brot. 

Wie stark solche Wünsche sind, illustriert am eindrücklichsten das Beispiel Japan. Während der letzten zwanzig Jahre ist dort der Reisverbrauch stark zurückgegangen, während der Konsum von Weizen, Eiern, Milch, Fleisch, Bier und anderen «westlichen» Luxuslebensmitteln steil anstieg. (So aß der Durchschnittsjapaner 1934-1936 etwa 1,8 Kilogramm Fleisch im Jahr, 1963 aber 10,3 Kilogramm. In der gleichen Zeit war der Milchverbrauch um mehr als 800 % angestiegen.)

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Den Hintergrund all dieser Entwicklungen bildet jedoch nach wie vor die weltweite Knappheit an Lebensmitteln, hauptsächlich an Weizen und Reis. Sollte sie gelöst werden, so wäre dies zum Nachteil der westlichen Welt, die eben abzugeben hätte. Doch ungeachtet dessen, ob sie gelöst wird oder nicht, spricht vieles dafür, daß sie so oder so «in einer Explosion der Gewalt» endet, «die Millionen von Menschen in Mitleidenschaft zöge». Dies sagte der Generaldirektor der FAO, Addeke H. Boerma. Da der Versuch, das Problem durch arbeitsintensive Anbaumethoden westlicher Prägung zu lösen, eine Flut entwurzelter Existenzen in die ohnehin übervölkerten Städte spülen wird, die kein ausreichendes Arbeitsangebot bereithalten, muß es zwangsläufig zu Entladungen kommen. Eigentlich aber sollten landwirtschaftliche und industrielle Entwicklung Hand in Hand gehen.

Es wird uns in keinem Falle erspart bleiben, wenigstens zu versuchen, die Weltbevölkerung ausreichend zu ernähren. Wie steht es aber mit den dahin zielenden Bemühungen? Dürfen wir wirklich mit großen Nahrungsmittelüberschüssen für die Zeit nach 1975 rechnen, wie von Optimisten behauptet worden ist?*

 

   2  Essen am grünen Tisch   

 

Als ich 1969 mein Buch «Das Selbstmordprogramm» schrieb, war die Situation ernst. Heute ist sie verzweifelt. Laut <Economist> vom April 1974 «war die Gefahr für die Lebensmittelversorgung der Welt noch nie so groß. Noch vor zwei Jahren waren unsere Silos bis oben voll mit Getreide. Heute kann man fast schon den Boden sehen.» 

W. David Hopper, der Präsident des International Development Research Center, gesteht, daß die Entwicklungen der letzten Monate in ihm die Vorahnung «eines drohenden Weltuntergangs» hätten aufkommen lassen.

Noch 1970 produzierten die Hauptweizenländer Kanada, USA, Australien und Argentinien Ernteüberschüsse, wenn auch in den armen Ländern das Gleichgewicht zwischen Bevölkerungszunahme und landwirtschaftlicher Produktionssteigerung nur noch mit Mühe gehalten werden konnte. Immerhin betrugen die Weltreserven 40 Millionen Tonnen. Wenn es in Asien Mißernten gab, vermochten sie die Lücken zu füllen. Heute sind diese Reserven faktisch aufgezehrt, weil es auf der ganzen Welt eine Reihe von Mißernten gegeben hat. 

* Laut Herman Kahn und B. Bruce-Briggs in «Things to Come» können wir jedoch «verläßlich voraussagen, daß sich eher ein Weltüberschuß an Nahrungsmitteln als eine Verknappung für die Mitte der 1970er Jahre ergeben wird».

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Im April warnte Hopper die Regierungen:

«Wie ich meine, kann die Welt sich nicht länger in der Hoffnung wiegen, daß die Nahrungsmittelreserven der vier großen Getreide-Exportländer für alle Zeiten in der Lage sein werden, die kurzfristigen Versorgungsschwierigkeiten auszugleichen, denen sich die am dichtesten bevölkerten Gebiete der Erde gegenübersehen.»

Das Ausbleiben des Monsuns in Indien während einer Reihe von Jahren, die russische Mißernte von 1972, die Überschwemmungen von 1974 in Kanada und die ins gleiche Jahr fallende Trockenheit in den USA haben dazu geführt, daß trotz der Rekordernten von 1973 die Vorräte zusammenschmolzen. Im Juni 1974 betrugen die Vorräte nur noch ein Drittel der Vorräte von vier Jahren zuvor - aber 300 Millionen Menschen mehr mußten davon satt werden. Der Anstieg der ölpreise, der den Preis für Düngemittel verdoppelt und den Betrieb landwirtschaftlicher Maschinen verteuert hat, verschärft die Lage. Die indische Dauerdürre hat große Ausfälle an hydroelektrischer Energie verursacht, die zum Betrieb der Bewässerungspumpen unerläßlich ist. Einige Wasserkraftwerke mußten völlig stillgelegt werden. Noch zu Ende der 1960er Jahre schien die landwirtschaftliche Erzeugung in der Dritten Welt schneller zuzunehmen als die Bevölkerung. Das Magazin <Time> schrieb 1970: «Die <Grüne Revolution) hat klar gezeigt, daß die Schlacht um die Nahrungsmittelproduktion zu gewinnen ist.» Und beim Welternährungskongreß in Den Haag im gleichen Jahr stand das Problem des Überflusses zur Debatte. Doch in den Jahren 1971 und 1972 verdüsterte sich die Szene. Die Weizenvorräte fielen von 49 Millionen Tonnen Mitte 1972 auf weniger als 30 Millionen Tonnen Mitte 1973. Und im Juni 1974 erklärte Dr. Boerma vor den Mitgliedern des Rates der FAO, daß er die hoffnungsvolle Einschätzung der Lage vom vergangenen Februar nun nicht mehr aufrechterhalten könne. Die Weizenernte könne vermutlich nicht einmal «den niedrigst veranschlagten Weizenbedarf der Saison 1973/1974 decken», zumal mit dem Fehlen von 2 Millionen Tonnen Reis gerechnet werden müsse. Bis zum großen Katastrophenfall sind nur noch zwei, drei Jahre Zeit.

Im April 1974 meldeten bereits die Schlagzeilen: «Welt vom Hunger bedroht». Um Indien zu helfen, das so gut wie keine Getreidevorräte besaß, wandte sich die Weltbank an die Sowjetunion, die fast alle Weizenvorräte der USA aufgekauft hatte. Indien sah sich genötigt, bis zum Oktober 2 Millionen Tonnen Getreide zu kaufen und für mindestens weitere vier Jahre alljährlich 2 Millionen Tonnen. Man hofft die Getreideproduktion bis auf 108 Millionen Tonnen steigern zu können - die gleiche Menge wie 1971, nur daß dann 40 Millionen weitere Esser davon satt werden sollen. Ursprünglich aber hatte man 115 Millionen Tonnen zu erreichen gehofft. Indien bekam dies nicht allein zu spüren. In Äthiopien starben 1973 nach UN-Schätzungen zwischen 50.000 und 100.000 Menschen den Hungertod. 

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In Dessye, der Hauptstadt der Provinz Wollo, ertranken im Juni bei Überschwemmungen Menschen in den Straßen, weil sie, durch Hunger geschwächt, ihre Köpfe nicht über Wasser zu halten vermochten. Die offiziellen Stellen rechneten für 1974 mit dem Tod von mindestens 200000 Menschen. Nach Aussagen von an den Hilfsaktionen beteiligten Ausländern sind aber eine halbe Million Äthiopier verhungert.

Die «Grüne Revolution» — der Ausdruck wurde in den USA als ein zugkräftiger Werbeslogan für die Anpreisung der eigenen Getreide-Wundersorten ersonnen - hat sich bloß als ein weiterer Verkaufsgag von jenseits des Ozeans erwiesen. Die Optimisten hatten behauptet, daß nicht nur eine Weltbevölkerung von 3,75 Milliarden ernährt werden könne, sondern auch Weltbevölkerungen von 15 oder gar 30 Milliarden - und in einem Augenblick der Euphorie hatte sich jemand sogar zu der Zahl 157 Milliarden verstiegen. Wer auf mögliche Gegengründe aufmerksam machte, wurde als Untergangsprophet abgestempelt, der sich antisozialem Pessimismus überlasse.

Man kann darauf verzichten, im einzelnen die Irrtümer in den akademischen Berechnungen der Optimisten nachzuweisen. Die Fakten genügen schon. Die FAO stellt Indizes zusammen, welche über die Nahrungsmittelerzeugung pro Kopf der Bevölkerung Aufschluß geben und aus denen sich klar ersehen läßt, ob die Nahrungsmittelproduktion mit dem Bevölkerungswachstum Schritt hält oder nicht. Hier seien die Jahre 1961 und 1971 miteinander verglichen. In diesem Zeitraum steigerten die reichen Völker (Europa, Sowjetunion, Nordamerika, Australien, Neuseeland) die Nahrungsmittelproduktion pro Kopf von 97 auf 115, während die armen Völker (Lateinamerika, Afrika, Naher und Ferner Osten) bloß von 100 auf 101 kamen-so gut wie kein Fortschritt also in zehn Jahren der Anstrengungen. Betrachtet man die Habenichts-Länder im einzelnen, so erhält man mitunter noch alarmierendere Zahlen, da einige von ihnen sogar zurückgefallen sind. Während Sri Lanka seine Pro-Kopf-Lebensmittelproduktion absolut um 44 % steigerte, Costa Rica sogar um erstaunliche 102% (unter Berücksichtigung des Bevölkerungswachstums um 14 beziehungsweise 40%), fiel Kuba um 14% zurück, Afghanistan um 16%, Syrien um 14%, Irak um 18%, selbst Argentinien um 7 %. Erstaunlicherweise produzierte sogar Dänemark 5 % weniger. Im Jahr 1972 sahen die Zahlen dann noch ungünstiger aus.

Das Lieblingskind der Optimisten war Mexiko, wo dank massiver ausländischer Hilfe und Beratung die Nahrungserzeugung pro Kopf von 89 auf 142 kletterte. Doch 1974 sah sich selbst Mexiko zu Getreideimporten gezwungen.

Der Richtlinienplan der FAO geht von einem jährlichen Zuwachs von knapp 4 % aus. Von dieser Zahl wichen jedoch verschiedene Länder ab. Tatsächlich produzierten von 92 Ländern 6 am Ende des Zeitraums 1961—1971 absolut weniger. Weitere 36 Länder hatten in ihrer Nah-

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rungsmittelproduktion mit dem Bevölkerungszuwachs nicht Schritt zu halten vermocht. Dies bedeutet also, daß in über der Hälfte der fraglichen Länder die Nahrungsmittelerzeugung mit der Bevölkerungsentwicklung nicht mitgekommen war. Bloß 21 Länder erreichten die vom Richtlinienplan vorgesehenen Zuwachsraten. «Diese Ergebnisse geben zu großer Beunruhigung Anlaß», kommentiert der letzte Bericht der FAO. «Es hat sich gezeigt, daß nicht nur eine kleine Anzahl von Ländern auf dem Gebiet der Landwirtschaft eine besonders langsame Entwicklung aufweisen, sondern wohl die Mehrzahl der Länder sich in dieser Lage befinden.»

«Die gesamte Getreideproduktion in jedem Gebiet nahm langsamer zu, als die Richtlinien der FAO vorsahen ... in Lateinamerika kam es zu einem erheblichen Rückstand.» 

Auch mit dem Fleisch stand es nicht viel besser. «Die Produktion von Rind- und Kalbfleisch nahm langsamer zu, als es die Zielvorstellungen für jede Region gefordert hätten, ausgenommen im Fernen und im Nahen Osten sowie in Nordwestafrika . . . der Nahe Osten und Nordwestafrika waren die einzigen Regionen, die über die ursprünglich für den Viehbestand bis 1975 vorgesehenen Quoten hinauskamen.» ^^^_^_ __

Wie war es möglich, daß sich die Optimisten so täuschen konnten? 

Ohne hier langwierigen Einzelfragen nachzugehen, will ich doch einige Punkte aufzählen, die von ihnen übersehen worden sind:

1. die Klimaveränderungen,

2. die Düngemittelverknappung,

3. die Tatsache, daß die Hälfte aller Ernten durch Schädlinge, Pilzbefall, Verderbnis bei der Speicherung usw. verlorengeht,

4. Korruption bei Verwaltungsbeamten und Regierungsmitgliedern,

5. Auswirkungen von Kriegen und inneren Unruhen,

6. Wassermangel,

7. Mangel an Einrichtungen für Bodenuntersuchungen und an geschultem Fachpersonal,

8. fehlende Straßen, Scheunen, Silos, Traktoren; keine Infrastrukturen zur Vermarktung der Agrarprodukte,

9. starres Festhalten an bestimmten Ernährungsformen,

10. fehlende Kaufkraft bei den prospektiven Konsumenten,

11. zunehmende Verfütterung von Getreideprodukten an Schlachtvieh bei den reichen Nationen.

Vor allem der erste und der letzte Punkt schlagen zu Buche. Doch argumentierten die Optimisten vielfach nicht objektiv. Sie verwiesen beispielsweise auf kleine Gebiete, die außergewöhnlich günstige Ergebnisse vorweisen konnten, oder verglichen Jahre mit außergewöhnlich geringen Ernteerträgen mit solchen, die ungewöhnlich reiche Ernten eingebracht hatten. Man kann diese Beschöniger von einer moralischen Verantwortung nicht freisprechen.

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Als ich «Das Selbstmordprogramm» schrieb, war der Anspruch zu hören, daß jedes Industrieland bis 1975 über einen Nahrungsmittelüberschuß verfügen werde. Bei einer Konferenz des Jahres 1968 hatte Lester Brown erklärt, daß für die freie Welt bis 1975 eine ausreichende Versorgung mit Lebensmitteln sichergestellt sei - die Staaten der südamerikanischen Westküste ausgenommen. Heute sagt er, wir könnten Zeugen einer «fundamentalen Umwandlung der ganzen Nahrungsmittelsituation» werden, und fügt hinzu: «Die Dringlichkeit des Ernährungsproblems wird unterstrichen durch die sich häufenden Berichte über Hungersnöte in den südlichen Randgebieten der Sahara und über Lebensmittelunruhen in Asien.»

Es ist eine Tatsache, daß die seit langem vorhergesagte weltweite Hungersnot da ist. Einzig in China, wo Vorratshaltung auf nationaler, provinzieller, kommunaler und kollektiver Ebene mit dem Erfolg einer Ansammlung von 40 Millionen Tonnen Getreide getrieben wurde, erlaubt die Situation einige Zuversicht. Aber in jenen Ländern, wo der Hunger anfängt zu herrschen, werden Gewalt und politische Unruhen die unausbleibliche Folge sein. Über Unruhen in Indien, bei denen die Polizei einige der verantwortlichen Personen kurzerhand erschießt, wird immer häufiger berichtet. Der Ärger über Teuerung und Arbeitsplatzmangel schüttet weiter öl in die Glut. Der Preis für Brotgetreide ist innerhalb von zwei Jahren um 50 bis 90 % gestiegen, nicht aber die Einkünfte. Auf den Philippinen, wo die Menschen bereits gezwungen sind, ihren gewohnten Reis mit Mais und Nudeln zu strecken, wurden Lebensmittel rationiert, und Militär wacht darüber, daß die Lieferungen auch in die Haushalte gelangen und nicht auf dem schwarzen Markt versickern. Noch ist die Entwicklung nicht in ihr schlimmstes Stadium getreten.

Die Verwendung von Kunstdünger auf den Reisfeldern der Philippinen belastet die angrenzenden Teiche und Seen und führt dort zum Aussterben der Fische. Auf Java verschlammen die Kanäle, welche die Reisterrassen bewässern. Überweidung und Abholzungen haben in Pakistan zu einer Verlandung von Stauseen geführt. Je mehr die Nachfrage eine Erweiterung des Anbaues erzwingt, desto häufiger wird allzu steiles oder allzu trockenes Gelände unter den Pflug genommen, das im Grunde gar nicht zu bebauen ist. Die Folge ist eine Erosion des Bodens. Wie vor zwei Jahrtausenden im Nahen Osten durch landwirtschaftliche Überbeanspruchung sich Wüsten bildeten, so jetzt in anderen Weltgegenden: Etwa ein Drittel des Ackerlandes der Vereinigten Staaten dürfte bereits Erosionsschäden aufweisen. Arthur Bourne äußerte bei einer Konferenz über Fragen des Verhältnisses von Bevölkerung zu Nahrungsproduktion 1973 die Ansicht, die Landwirtschaft der Welt sei «am Zusammenbrechen».

Was können wir in dieser Lage tun? 

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Die Getreidevorräte der Welt wären ja eigentlich ausreichend, sofern man sie nur gleichmäßiger verteilte. Aber in den USA verbraucht man pro Kopf 2000 Pfund Getreide, in Indien 390. Bei gleicher Verteilung entfielen pro Kopf 695 Pfund. Schuld an diesem Mißverhältnis ist, daß im Westen das meiste Getreide als Viehfutter verwendet wird, weil Fleisch auf den Tisch kommen soll. Der Fleischverbrauch hat erheblich zugenommen: von 55 auf 73 Kilogramm pro Kopf in Europa, von 81 auf 92 in den USA, von 36 auf 44 in der Sowjetunion, von 7 auf 19 in Japan. Von den 1000 Pfund Getreide pro Kopf, die in den Industrieländern verzehrt werden, entfallen 880 Pfund auf die Viehmast. Rußlands große Weizenaufkäufe, durch die im Westen die Speicher geleert wurden, dienten auch der Steigerung der Fleischproduktion — wenn nicht der Schwächung der amerikanischen Position als Helfer von Entwicklungsländern.

Die USA sehen nun mögliche Märkte hinter dem Eisernen Vorhang und wollen daher dort ihre Position auf Kosten der Dritten Welt stärken. Französische Bauern warfen Fleisch ins Meer, damit die Preise für Futtergetreide weiterhin oben blieben. «Diese heilige Kuh einer gemeinsamen Agrarpolitik der EG-Länder ist ein Beispiel für fortgeschrittene Irrationalität», sagte Dr. Boerma. «Manchmal habe ich das Gefühl, daß die in Brüssel so sehr in ihre eigenen Probleme versponnen sind, daß sie für die Weltprobleme gar keinen Blick mehr haben.»

Die Stromebenen von Indus, Ganges und Brahmaputra bilden die von der Natur am meisten begünstigte Region für eine Hochleistungslandwirtschaft in der nichtkommunistischen Welt. Es wäre möglich, hier 1 Milliarde Tonnen Getreide jährlich zu erzeugen - das Zehnfache der heutigen Erträgnisse. Alle angrenzenden Staaten - Nepal, Pakistan, Bhutan, Sikkim, Bangladesh - könnten sich mit Indien zu gemeinsamer Arbeit bei der vollen Nutzung dieses Gebiets zusammenschließen. «Es wäre die großartigste Aufgabe, die je durch ein Zusammenwirken mehrerer Völker dieser Welt gemeistert worden ist», sagt Hopper, «und es bedürfte dazu gar nicht einmal allzu vieler Unterstützung durch die übrige Welt.»

 

   3  Der Haken mit dem Fisch  

 

Natürlich gibt es noch eine weitere wichtige Quelle für Eiweiß: den Fisch. Die Optimisten sprechen von einer Erhöhung der Weltfangmenge von den heutigen 60 Millionen Tonnen auf 100 Millionen Tonnen. In der Praxis aber erweist es sich als schwierig, die Fangerträge weiter zu steigern, weil die Gewässer schon ziemlich leergefischt sind. Seit 1968 schwanken die Fangergebnisse auf nicht voraussehbare Weise, und viele Meeresbiologen glauben, daß wir das Maximum des eben noch Möglichen bereits erreicht haben. 

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Immerhin hat sich in drei Jahrzehnten das Weltfangergebnis verdoppelt. «Thunfisch ist nahezu überall stark überfischt worden, ebenso Kabeljau und Goldbarsch im Nordatlantik. Im westlichen Pazifik hat man fast die ganzen Grundfische ausgefischt, im Beringmeer die Schollen, im Nordatlantik den Seehecht, um nur einige zu nennen», schreibt Carle O. Hodge vom Environment Research Labo-ratory der Universität von Arizona. Die Sardinenindustrie Kaliforniens mußte aufgegeben werden, wie wir weiter erfahren - und wir können hinzusetzen: wie die des Mittelmeers auch. Der Lachs der pazifischen Nordwestküste und der Kabeljau der Barentssee nehmen rapide ab. «In weiteren zwei Jahrzehnten werden keine größeren Fischbestände mehr existieren, an denen nicht Raubbau getrieben wurde ...» Wenn aber eine Art dezimiert wird, so werden davon ganze Nahrungsketten betroffen. Große Fische leben von kleineren und diese wieder von ganz kleinen - wenn also die ganz kleinen ausgerottet werden, dann ist es auch um die größeren Fischarten geschehen.

Es wird auch immer vergessen, daß weniger als 1 % des auf der Welt gefangenen Fischs aus dem offenen Ozean stammt, der eine Wasserwüste darstellt. In nennenswerter Anzahl kommen Fische nur über den Festlandschelfen vor, also in küstennahen Flachwassergebieten, und so leben auch sie im gefährlichen Auswirkungsbereich der Abwassergesellschaft. Wasser, das ein Badegast noch verträgt, kann für manche Meereslebewesen bereits tödlich sein. Eine vom National Research Council der USA eingesetzte Studiengruppe zur Untersuchung dieser Fragen hat das bestätigt: «Der Menhaden [ein Heringsfisch], auf dem traditionell der Schwerpunkt der amerikanischen Fischerei gelegen hat, wird in seinen frühen Lebensstadien durch Wasserverschmutzung und später durch intensive Ausfischung seiner Vorkommensgebiete bedroht. Auch diese Art bedarf dringend einer umsichtigen Nutzung. Andere Arten, die bereits bedrohlich abgenommen haben, sind die Gelbschwanzflunder, der Hering, der amerikanische Hummer sowie der Schellfisch im Nordwestatlantik.» Die berühmten Fischgründe der Neufundlandbank geben immer geringere Fänge her.

Eine umfassende Regelung des Fischereiwesens und der Fangquoten ist nach Ansicht der Studiengruppe unerläßlich, und sofern derartige Regulative nicht zustande kämen, müßte dies «zu einem Absinken der Fischereierträge auf lange Sicht führen». Die Studiengruppe betont auch die Rolle der Verschmutzung und weist darauf hin, daß Insektenvertilgungsmittel, Industrieeinleitungen, Abwässer, ins Meer geschwemmte Düngemittel usw. nicht nur Fische töten oder in ihrer Fortpflanzungsfähigkeit beeinträchtigen können, sondern sie auch so zu schwächen vermögen, daß sie leicht Krankheiten oder Raubfischen zum Opfer fallen.

Im kleinen könnten bereits Maßnahmen getroffen werden: die Einrichtung von Laboratorien zur Diagnose von Fischkrankheiten mit gleichzeitiger Errichtung eines Registrierzentrums, die Herausgabe eines brauchbaren fachlichen Handbuchs - alles einfache Sachen, die aber noch nicht angepackt wurden.

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«Die Menschen haben seit je im Meer ein unerschöpfliches Füllhorn gesehen», sagt hierzu Hodge, «ein ehrwürdiger, aber irriger Glaube.» 

All die Phantasiespielzeuge der Techniker - Sonar, elektrische Felder zum Zusammenhalten von Fischschwärmen, Quecksilberdampflampen usw. - werden die Lage nur verschlimmern statt verbessern. Ein weiterer Vorschlag der Techniker geht dahin, die Fischfangmethoden zu ändern: Feste Fangplattformen sollen errichtet werden, an die Fische mit den genannten Mitteln angelockt werden - am besten in solchen Mengen, daß man sie gleich auf das Trockene pumpen kann (das erübrigt Netze). Im Golf von Mexiko sind Experimente angestellt worden, die den Anschein geben, als könnten so Erträge bis zum Sechsfachen der mit herkömmlichen Methoden erzielten Fänge eingeheimst werden. Berücksichtigt wird allerdings nicht, daß dann an vielen anderen Orten die Fischer wirtschaftlich ruiniert werden, weil man mögliche Fänge von ihnen fortlockt. Fische können ja wie Schafe mittels einer Lichtquelle aus ihren Fischgründen fortgeführt werden - und das wäre dann so etwas wie Viehdiebstahl auf See.

Eine konstruktive Möglichkeit böte die Fischzucht. In Teichen, Seen, Strömen und Ästuarien lassen sich viele Fischarten züchten. Überhaupt vermag das gleiche Areal, das nur wenige hundert Pfund Rindfleisch erzeugt, eine Tonne Fisch oder hundert Tonnen Muscheln zu erzeugen. Die Japaner sind da schon weit. 

Die Chinesen - Fischzüchter seit dem 5. Jahrhundert v. Chr. - haben ihr ganzes Land mit derartigen Zuchtteichen übersät und produzieren dadurch 1-1,5 Millionen Tonnen. Im US-Staat Washington verhilft eine Aquafarm den verarmten Lummi-Indianern zu bescheidenem Wohlstand. In Bayern verwendet die Bayernwerk AG gereinigte Abwässer zur Anreicherung des Nahrungsangebots in Karpfenteichen. Großbritannien hat kürzlich Pläne für den ersten Großversuch einer Fischfarm angekündigt, wobei warmes Wasser aus den Kühlsystemen des Kernkraftwerks von Hunterston das Wachstum der geschätzten Speisefische Seezunge und Steinbutt begünstigen soll. Die Kosten liegen bei 500 Pfund pro Tonne. 

In den Industrieländern schlagen die Arbeitskosten hoch zu Buche, aber in der Dritten Welt besteht ja kein Mangel an Arbeitskräften - allenfalls mangelt es an der Ausbildung. Auch muß von Beginn an die richtige Fischart gewählt werden, weil gar nicht alle Fischarten in den engen Verhältnissen eines Fischzuchtbeckens zu leben vermögen. Allerdings ist auch hier die Umweltverschmutzung die größte Gefahr; sie kann Salzgehalt, Sauerstoffspiegel, Temperatur und Reinheitsgrad beeinflussen. Vor allem Muscheln reagieren da sehr empfindlich. 

Zwar sollte man die Voraussagen der Technomanen über eine künftige Eiweißgewinnung aus dem Meer für eine Weltbevölkerung von 30 Milliarden Menschen ruhig beiseite lassen. Aber vernünftigerweise kann man immerhin annehmen, daß sich die Fischbestände für die menschliche Versorgung während der nächsten drei Jahrzehnte verdoppeln und vielleicht gar verdreifachen lassen. Dazu wären freilich entschlossenere Anstrengungen als gegenwärtig nötig.

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Die Entwicklungsländer brauchen Hilfe. Der dringendste Schritt in diese Richtung wäre die Schaffung einer Weltgetreidereserve oder doch zumindest die Koordinierung der einzelstaatlichen Vorräte, um Ernteausfällen wirksam zu begegnen. Dies könnte jedoch nur eine Sofortmaßnahme zur Abwendung ärgster Not sein. Die Dritte Welt braucht aber Geld zur Anschaffung der Maschinen und Werkzeuge sowie der ganzen spezialisierten Ausrüstung, um imstande zu sein, Arbeitsplätze für städtische Bevölkerungsgruppen zu schaffen und die notwendigsten Zivilisationsgüter wie Wasserleitungen, Elektrokabel, Wasserhähne, Schalter und Haushalsgeräte herzustellen. Nur so läßt sich der Lebensstandard über die Armutsgrenze anheben.

Wir machen uns kaum eine Vorstellung davon, in welch bitterer Armut die Menschen der Dritten Welt leben. Es ist «eine so extreme Armut, daß sie das Leben der Menschen unter die bescheidensten Maßstäbe würdigen Menschentums drückt», wie Weltbankpräsident Robert McNamara formuliert hat. So ungeheuerlich ist diese Armut, daß 20 bis 25 % der Menschen noch vor Erreichen des fünften Lebensjahrs sterben. Diese absolut Armen bilden keineswegs eine kleine Minderheit; es sind vielmehr 800 Millionen. Ihr Durchschnittseinkommen liegt bei 75 Pfennig täglich.

Ein neuartiger und konstruktiver Weg zur Lösung des Problems wäre folgender. Für je fünfzehn Menschen in den Entwicklungsländern wird alljährlich ein Kind geboren. Aus den jährlichen Ersparnissen dieser fünfzehn muß also das ganze Geld kommen, das zur Beköstigung, zur Bekleidung, zur Gewährleistung von Wohnung und zur Ausbildung aufzuwenden ist. Aber im folgenden Jahr werden ihre Ersparnisse bereits von einem weiteren Esser in Anspruch genommen. Harold Dunkerly, ein britischer Berater der Weltbank, hat ausgerechnet, daß die durchschnittlichen jährlichen Ersparnisse dieser fünfzehn Menschen nicht über eine Summe von 360 Pfund Sterling hinausgehen könnten - es reicht also nicht für einen Platz in der Schule, nicht für eine Wohnung nach modernen Maßstäben (800 Pfund) oder für die zu einem höheren technischen Beruf nötigen Werkzeuge (600 bis 2400 Pfund). Deshalb halten wir uns hier an die elementaren Lebensbedürfnisse, also an Wasserversorgung und Kanalisation (40 Pfund) und die Ausrüstung für einen Arbeitsplatz herkömmlich handwerklicher Art (160 Pfund). Alles, was darüber liegt, kann somit nur als Geschenk oder Leihgabe von den reichen Völkern kommen.

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Die Weltbank-Experten haben die reichen Nationen gedrängt, 1 % ihres Bruttosozialprodukts den armen Völkern zur Verfügung zu stellen. Aber da hatten sie schon zuviel gefordert. Gegenwärtig erhalten sie durchschnittlich etwa 0,6 %, und die großartige Zahl von 7 % ist immerhin als ein anzustrebendes Ziel ins Auge gefaßt worden. Man möchte wohl annehmen, daß die reichsten Völker mehr als die weniger reichen geben - doch das ist gegenwärtig keineswegs der Fall. 

Die Amerikaner schmeicheln sich zwar gern, anderen Ländern generös zu helfen, in Wahrheit aber gehören sie zu den geizigsten unter den entwickelten Industrieländern und liegen auf Platz 15 unter 16 Staaten — übertroffen von kleinen Ländern wie Norwegen oder Dänemark, Österreich und Portugal. Hier die Liste:  

Von Industrienationen an Entwicklungsländer im Jahr 1975 geleistete Wirtschaftshilfe in % des Bruttosozialprodukts der Geberländer

Norwegen

0,75

Niederlande

0,72

Schweden

0,71

Belgien

0,70

Frankreich

0,65

nemark

0,61

Australien

0,60

Kanada

0,52

Portugal

0,45

Großbritannien

0,40

Japan

0,40

BR Deutschland

0,36

Schweiz

0,32

Österreich

0,25

USA

0,22

Italien

0,16

Ich stelle den Antrag, daß die anzustrebende Prozentzahl mit sofortiger Wirkung auf 5 % festgesetzt wird.

Es ist zudem so, daß viele der Zuwendungen, die von der Weltbank als «Finanzhilfe» ausgewiesen werden, noch mit besonderen Auflagen verbunden sind und sich in keiner Weise als Gabe der Hilfsbereitschaft verstehen lassen. Ganz gewöhnliche Staatskredite, die bei Vergabe an eine Industrienation niemals als «Finanzhilfe» deklariert würden, bilden fast die Hälfte der oben aufgeführten Anteile. Unter Berücksichtigung solcher Gegebenheiten und ähnlicher Doppelzüngigkeiten ist errechnet worden, daß von den 13 Milliarden Dollar angeblicher Hilfe nur 2,5 Milliarden wirklich Hilfe genannt werden können; das macht etwa 5 Pfennigfür je 25 MarkEinkom-men bei den Bürgern wohlhabender Länder.

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Und vieles davon wird für Waffen und für Prestigesymbole wie Düsenmaschinen, für Luxusgüter der Oberschicht oder im Staatsinteresse des Empfängerlandes ausgegeben (etwa wenn eine Eisenbahn angelegt wird, um Erz aus dem Binnenland zur Küste zu bringen, und man dabei einen Hafen ausbaut). Die Prinzipien, nach denen die Hilfe verteilt wird, sind widersinnig. So erhält ein relativ wohlhabendes Land wie Venezuela mit einem Bruttosozialprodukt etwa italienischer Größenordnung 6 Dollar pro Kopf der Bevölkerung, während Indien und Pakistan nur 2 Dollar erhalten; Liberia empfängt 21,50, Ägypten 0,50 Dollar. Viel bleibt auch in den Fingern der aufgeblähten Bürokratie hängen, die bereits bitter als «Kleptokratie» bezeichnet wird.

Da auch die Geberländer gern Einfluß auf die Ausgabe des von ihnen geliehenen oder geschenkten Geldes nehmen, wird die Entwicklungshilfe oft nur zu einer Art der Exportsubventionierung. Ein amerikanischer Beamter gab zu, daß nicht weniger als 93 % der Finanzhilfe der USA auch in den USA wieder ausgegeben werden. Die armen Länder werden so geradezu abgeschirmte Märkte für die reichen Nationen - die moderne Form des Kolonialismus. Es fällt auf, daß jene Länder, die wohl am meisten von reicheren Ländern Hilfe empfingen — Liberia, die Philippinen und Kolumbien -, alle mit Zahlungsschwierigkeiten zu kämpfen haben und unter einer hohen Arbeitslosenquote und sozialer Unruhe leiden. Da zudem der größte Teil solcher Hilfe aus Krediten besteht, die verzinst werden müssen, wird schließlich erreicht, daß die armen Länder alljährlich mehr in Zinsen zurückzahlen müssen, als sie an Hilfe überhaupt erhalten. Im Jahr 1977 sollen laut Professor Tibor Mende für je 100 erhaltene Dollar zurückgezahlt werden: von Afrika 121, von Lateinamerika 130, von Ostasien 134 Dollar.

Es liegt also auf der Hand, daß wir - falls wir wirklich helfen wollen (und wir müssen helfen) — die wirklichen Bedürfnisse der armen Länder erkennen sollten. Es wäre an uns, Pläne aufzustellen, um diesen Bedürfnissen gerecht zu werden; bloß mit der Geldgießkanne einmal kurz darübersprühen oder westlichen Krimskrams anbieten genügt nicht. Um nur ein Beispiel anzuführen: In Südamerika finden wir nur bei 3 % der im Berufsleben stehenden Akademiker Diplome in den agronomischen Disziplinen, wiewohl über 40 % der Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig sind. In Indien, wo über zwei Drittel der Bevölkerung in der Landwirtschaft arbeiten, liegen die Verhältniszahlen noch ungünstiger - nur 1,2% sind akademisch ausgebildete Landwirte. Auch die Zahlen für du*-Ingenieurwesen und die Medizin sind minimal. (Die hier genannten Zahlen stammen aus dem National Sample Survey von 1960/1961, sind heute also veraltet - aber die Probleme, für die sie stehen, sind immer noch unbewältigt.)

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Zwei Fragen stellen sich, deren Beantwortung man gern ausweicht: 

Inwieweit ist die Industrialisierung der Dritten Welt nach westlichen Maßstäben möglich, und wieweit ist sie erwünscht oder überhaupt wünschenswert? 

Als die industrielle Revolution in England begann, entstanden durch die Beschränktheit des damaligen Transportwesens lokale Monopole: Ein Mann, der eine kleine Fabrik aufmachte, um dort irgendein neuartiges Produkt herzustellen, konnte es in nächster Umgebung fast ohne Konkurrenz verkaufen. Der kleine Unternehmer aus der Dritten Welt sieht sich heute aber der Konkurrenz hochleistungsfähiger, automatisierter Betriebe des Westens gegenüber. Die benötigten Kapitalmengen sind ungleich größer. 

Man hat ausgerechnet, daß man um 1800 die Ausrüstung für einen Arbeitsplatz um den Gegenwert von vier Monatslöhnen des hierfür vorgesehenen Arbeiters kaufen konnte. Heutzutage müßte man in Indien mindestens zehn Jahreslöhne rechnen, für eine automatische Spinnmaschine sogar den Lohn für vier Jahrhunderte Arbeit. Ferner gab es damals in England genug zu essen, da die Landwirtschaft einen hohen Entwicklungsstand erreicht hatte. Aber die unterentwickelten Länder verfügen heute nur über Monokulturen wie Kaffee, Tee, Sisal usw., die allein zum Nutzen der reichen Völker angelegt worden sind, weshalb sie zu Lebensmittelimporten gezwungen sind. Das Erreichen eines westlichen Standards mag Jahrhunderte dauern oder sich gar als unmöglich erweisen.

Es gibt aber Anzeichen dafür, daß trotz einer gewissen Faszination, die das technische Spielzeug aus dem Westen ausübt, viele unterentwickelte Länder sich doch nur mit Vorbehalt den westlichen Einflüssen öffnen, weil sie Wege finden wollen, die ihnen die Beibehaltung ihrer kulturellen Eigenart erlauben. Es ist keineswegs das gleiche, ob man für «Entwicklung» im westlichen Sinne ist oder für die Bekämpfung von Hunger und Armut. Vor allem Amerikanern ist dieser Unterschied nur schwer begreiflich zu machen. Auf jeden Fall sollte man aufhören, das Wohlergehen eines Volkes am Bruttosozialprodukt zu messen. (Selbst in westlichen Staaten sehen wir ja, wie ein Absinken der Lebensqualität durchaus mit einem Anstieg des Bruttosozialprodukts einhergehen kann.) In den armen Ländern bestünde eine rationale Politik darin, daß man alles daransetzte, Bevölkerungsumschichtungen zu vermeiden, die zu einer Verschärfung des Gegensatzes von Stadt und Land führen müßten. Ein Schritt in diesem Sinne wäre die Errichtung von Einkaufszentren auf dem Land. 

Wiewohl die Bevölkerung der Dritten Welt zu 70% auf dem Land lebt, fließt das Geld der ausländischen Helfer doch größtenteils in die großen Städte, wo pro Kopf zehnmal soviel zur Besserung der Lebensverhältnisse getan wird wie in der Provinz. Es müssen aber größere Anstrengungen unternommen werden, um den kleinen Bauern mit wenigen Hektar Land zu helfen. Diese kleinen Bauern produzieren wenig, und es steht kaum zu erwarten, daß sich dies ändern wird.

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Allerdings zeigt das Beispiel Japans, daß es nicht völlig unmöglich ist. Dort produzieren nämlich die Kleinbauern pro Flächeneinheit das Vierfache dessen, was die Kleinbauern in der Dritten Welt erzeugen. Kleinbauern brauchen Kredite, Wasserversorgung und Beratung sowie Institutionen, die sie auf ein höheres Produktionsniveau bringen können (etwa Landwirtschaftsschulen). Sie brauchen auch Preisstabilität sowie die soziale und ärztliche Betreuung, die ihnen ein wirksames Arbeiten ermöglicht.

Dr. Sen von der FAO vertritt schon seit langem die Meinung, daß zur Bannung der Hungersgefahr mehr Geld in die Taschen der Armen gelangen müsse. Aber gegenwärtig werden nur die ohnehin reichen Großbauern noch reicher, während die Armen weiterhin arm bleiben. Allein dem landbesitzenden Bauern fällt auch Profit zu. 

In vielen Ländern, vor allem in Südamerika, ist daher das zentrale Problem die Frage des Eigentums an Grund und Boden. 

Dort ist das Land in große Latifundien aufgeteilt, entweder als Weideland oder für Kaffeeplantagen, und häufig kümmern sich die Eigentümer überhaupt nicht darum. Natürlich ließe sich da viel Land sofort unter den Pflug nehmen, aber die Eigentümer widersetzen sich der Aufteilung ihrer Ländereien. Wenn aber Pächter zugelassen werden, dann meistens nur unter unglaublichen Belastungen; so muß mancher Pächter 50 bis 60% seiner Ernte dem Grundherrn überlassen. Die Millionen Kleinbauern in aller Welt besitzen bloß 20% des bebaubaren Landes.

Radikale Abhilfe ist hier notwendig. 

Die armen Länder werden ihre Probleme auch mit eigenem Bemühen lösen müssen: Verschwendung muß beseitigt, Korruption und Privilegierung abgeschafft werden. Die westlichen Länder können ihnen dabei vor allem durch Öffnung ihrer Märkte helfen, da Exporte in die Industrieländer sich zugunsten der Handelsbilanz der Entwicklungsländer niederschlagen. Sie müßten Schulden erlassen und nicht länger Koppelungsgeschäfte abschließen, bei denen Hilfeleistungen an industrielle Konzessionen gebunden sind. Sie müßten auch auf Konkurrenz gegen die Exporte der Entwicklungsländer verzichten. Sie müßten Alternativtechnologien wciterverfolgen, die sich zur Anwendung in unterentwickelten Ländern eignen. Sie müßten auf dem Erziehungssektor helfen. Professor Mende schlägt vor, Teams zu bilden, die keiner Regierung unterstellt sind und die sich bestimmte Problemkreise vornehmen sollten, wobei sie durch spontan zu bildende Unterstützungsfonds zu finanzieren seien. Dabei solle jeder Bürger, statt über die Steuer zu einem gemeinsamen Topf für Entwicklungshilfe beizutragen, jeweils einen Unterstützungsfonds seiner Wahl mittragen. So könnten Entwicklungsfonds für Nutzpflanzenforschung, für Bautechniken, für bewegliche Energiequellen, für kleine Düngemittelfabriken, für landwirtschaftliche Ausbildung und anderes mehr geschaffen werden.

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Vor allem sollten die westlichen Länder sich jeglicher Einmischung enthalten und nicht stets von neuem die Selbständigkeit der Entwicklungsländer zu untergraben versuchen; auch sollten sie endlich aufhören, sie im politisch-militärischen Schachspiel als Bauern einzusetzen und bei Bedarf zu opfern.

Nur — es ist unwahrscheinlich, daß sie dies tun werden. 

Die multinationalen Konzerne möchten die Dritte Welt ungleichgewichig, also mit Schlagseite entwickeln: Auf dem wohlhabenden Sektor sollen ihre Exportgüter gekauft, auf dem armen Sektor soll Arbeit in Bergwerken und auf Plantagen geleistet werden. Die Banken des Westens wünschen «ein Investitionen begünstigendes Klima». Westliche Regierungen verweigern internationalen Handelsabkommen ihre Unterschrift, obwohl diese in gemeinsamem Bemühen ausgearbeitet worden waren, und betätigen sich ganz groß im Waffengeschäft - meist nach beiden Seiten einer Konflikkonstellation. 

Man kann die Schlußfolgerung kaum abweisen, daß die Lage da notwendig schlechter werden muß. Mit der explosiven Entladung von Verbitterung ist zu rechnen. Wenn die Menschen in diesen Ländern die Geduld verlieren, werden sie sich zuerst gegen ihre eigenen Führer wenden, werden sie zuerst ihre eigenen Städte niederbrennen, auch wenn dadurch nur alles noch schlimmer wird. 

Schon stehen die Zeichen flammend an der Wand. So wurden 1973 in Beluschistan über 860 Soldaten getötet, die gegen Aufrührer und oppositionelle Gruppen im Einsatz waren. (Wiewohl diese Zahl amtlich ist, wurde sie doch nie veröffentlicht, und den Eltern der Gefallenen wurde der Tod ihrer Söhne verheimlicht, weil man die ganzen Vorfälle herunterzuspielen versuchte.) Junge Männer bewaffnen sich und bilden Widerstandsuppen. Nach der Aussage des Führers der Nationalen Awami-Liga stehen 16.000 Mann in Bereitschaft, um diese Revolte zu unterdrücken. 

Aber irgendwann wird die Dritte Welt dann schließlich ihre Blicke auf jene Länder werfen, die so viel besitzen. Der algerische Staatspräsident Boumedienne sagte der Reporterin V. Walker-Leigh, daß die Dritte Welt sich mit Europa zusammentun solle, um eine neue Welt aufzubauen, aus der Armut und Elend verbannt sein müßten und in der alle Menschen sich verwirklichen könnten, anderenfalls «noch so viele Atombomben nicht in der Lage wären, die Flut von Milliarden Menschen aufzuhalten, die eines Tages aus dem armen Süden der Welt in die noch etwas Raum bietenden Länder des reichen Nordens einbrechen werden, weil sie überleben wollen».

Auch diese Perspektive eröffnet den Blick auf einen möglichen Zukunftsverlauf. Und selbst dann, wenn Anwendung von Gewalt durch entfesselte Massen vermieden werden mag - wollen wir zusehen, wie Gewaltherrscher aus Süd und Ost durch das schiere Übergewicht der Zahl die zivilisatorisch weiter entwickelten, aber dann vielleicht zerfallenden Kulturen des Nordens und Westens beherrschen?

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Gordon Rattray Taylor  1975  Zukunftsbewältigung  How to Avoid the Future