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17. Vorschläge zur Gesellschaft Taylor-1975
1 Festen Boden unter die Füße 2 Technopolismus und seine Metaprobleme 3 Gesellschaftspolitik 4 Regierungsreform 5 Ein Gefühl der Hilflosigkeit
1 Festen Boden unter die Füße
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Jüngst zeigte eine Karikatur einen Mann, der aus einem Raum herauskam, über dem «Denkbunker» zu lesen stand, und dessen Faust ein Bündel Lochstreifen voll Computerdaten umklammerte. Er rief seinen Kollegen zu: «Rennt in die Berge!» Die gegenwärtige Stimmung hat der Zeichner genau getroffen, aber die Warnung aus dem Denkbunker käme wohl zu spät. Wer daran denkt, die Luken dichtzumachen, bis sich der Sturm wieder verzogen hat, sollte jetzt schnell handeln und sich auf eine lange Zeit des Ausharrens vorbereiten.
Er sollte sich einen Zufluchtsort weitab von den Städten einrichten, ihn mit einer unabhängigen Energiequelle versehen, ein kleines Medikamentenlager anlegen und Bücher für praktische Fragen sowie Handwerkszeug organisieren.
Seine Ernährung müßte sich möglichst auf Eigenbau stützen, und es wäre ihm von Nutzen, sich den Lebensstandard der Schotten im 18. Jahrhundert zu vergegenwärtigen, die bekanntlich fast ausschließlich von Hafermehl lebten (es ist erstaunlich, was sich aus Hafermehl alles machen läßt).
Nach ein bis zwei Eingewöhnungsjahren werden sich manche Probleme — etwa der Art, wie man aus geerntetem Hafer das Mehl bereitet — zufriedenstellend lösen lassen. Unerläßlich — aber wer denkt schon daran — ist die Mitnahme eines ganzen Päckchens von Nadeln, denn die lassen sich kaum in Handarbeit herstellen.
Auch Backhefe sollte man nicht vergessen. Da das Feuermachen eine mühselige Angelegenheit ist, wenn schließlich die Zündhölzer ausgegangen sind, wird man wohl wieder wie in alten Zeiten eine Art heiliges Feuer auf einem Herd unterhalten müssen, von dem nach Belieben Glut genommen werden kann. Ein Vergrößerungsglas als Brennglas wäre ebenfalls eine nützliche Anschaffung.
Kleine Gruppen üben sich in vielen Ländern im autarken Leben, und eine wahre Schwemme von nützlichen Büchern zu den damit verbundenen Fragen kommt gegenwärtig auf den Markt, was mich weiterer Ausführungen zu diesem Thema enthebt.
Ich schlage jedoch noch zusätzlich vor, daß ein derartiger Zufluchtsort mit Wall und Graben umgeben wird, damit die weniger auf vorsichtige Vorausplanung Bedachten abgeschreckt werden, wenn sie aus den Städten ausschwärmen, um Sicherheit und einen Lebensunterhalt zu suchen. Ich möchte außerdem die Bildung von Wohltätigkeitsfonds anregen, mit deren Geldern die Erprobung dieser Lebensweise in großem Stil geübt wird.
Aber diese Vorschläge zum Überleben dürften sich im Ernstfall als unverläßlich und wirklichkeitsfremd erweisen, da die Regierungen sehr wahrscheinlich all diese halbautarken Einheiten schnell unter ihre Gewalt zu bringen versuchen, zumindest aber ihre Vorräte und ihre Ausrüstung für eigene Zwecke beschlagnahmen würden, sofern ein solches Refugium nicht durch neidische Dritte oder Kriminelle zerstört wird.
Außerdem würden Krieg, eine kleine Eiszeit oder ein großer Unfall mit radioaktivem Material einen solchen Versuch ohnehin durchkreuzen. Es ist also schon besser, man bleibt im Geschehen und versucht für eine Politik zu kämpfen, welche die Katastrophe unwahrscheinlicher macht.
Die vordringlichste Maßnahme wäre — ich wies bereits darauf hin —, sich jene kurzsichtigen und entschlußlosen Regierungen vom Hals zu schaffen, unter denen die meisten westlichen Länder zu leiden haben, und dies bedeutete gleichzeitig eine Anhebung der ganzen Verwaltung auf ein bescheidenes Niveau der Kompetenz. Aber nur legitime Gewalt, in irgendeiner Form und auf irgendeiner Ebene, kann die Reformen ausführen, die für uns nötig sind. Ehe nicht die Verwaltung wieder Sachkompetenz erlangt haben wird, ist auch jeder Vorschlag, wie sich das Chaos vermeiden ließe, pure Zeitverschwendung.
Was sich im nationalen Rahmen vorerst tun ließe, wäre, durch entsprechende vorläufige Maßnahmen aller nur denkbaren Art die Situation abzusichern, bis langfristige Planungen wirksam werden können. Ich denke da etwa an Einsparungsmaßnahmen bei Rohstoffen und Energieträgern, an ein Recycling, wo immer dies möglich ist, an die Entwicklung von alternativen Energiequellen. Auf dem Gebiet der Ernährungswirtschaft bedeutete dies: Getreidereserven für den Notfall, Weiterarbeit auf dem Gebiet der Ernährung mit künstlichem Eiweiß und der Hydrokultur sowie Umstellung auf eine weniger energiezehrende Landwirtschaft. Die Notwendigkeit solcher Schritte wird längst zugegeben, wenn auch noch wenig zu ihrer Verwirklichung geschehen ist.
Das Problem muß freilich auch in weltweiten Zusammenhängen gesehen werden. Wahrscheinlich sollten die Industriestaaten wieder etwas mehr nach wirtschaftlicher Autarkie streben, statt weiter den Welthandel aufzublähen. Sich an den großen Mechanismus des Welthandels anzuschließen, ist recht und gut, solange dieser Mechanismus funktioniert; kommt er aber ins Stottern, dann hat das gefährliche Rückwirkungen für die daran Angeschlossenen.
Selbstverständlich muß unter globalen Gesichtspunkten auch entschlossener darauf hingearbeitet werden, die Kluft zwischen den reichen und den armen Völkern zu verringern, wobei die Entwicklungsländer davor zu warnen wären, die Fehler des Westens zu wiederholen. All dies weiß man wohl. Vergessen wir indes nicht, daß dies kaum mehr sein könnte als ein Holzpflock ins Leck eines Schiffes. Die Segel aber bleiben noch zu flicken.
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2 Technopolismus und seine Metaprobleme ^^^^
Welche Linien wir auch weiterverfolgen — sie führen uns stets zum gleichen Punkt zurück. Versuchen wir, die Energiekrise durch die Entwicklung der Kernenergie zu beheben, so verheddern wir uns sogleich in die Probleme der Abwärmeschäden und der Lagerung radioaktiven Abfalls. Allerdings könnten wir mehr Nahrungsmittel produzieren, wenn wir über mehr Energie verfügten. Der Ölverknappung ließe sich etwa begegnen, indem wir Pflanzen züchteten, aus deren Destillation sich wiederum Alkohol als Ersatztreibstoff gewinnen ließe — aber wir brauchen die Äcker andererseits dringend zum Anbau von Nahrungspflanzen. Das sind nur wenige Beispiele.
Wenn wir auf eine Gruppe von Problemen stoßen, bei der die Lösung des einen Problems sofort schon das nächste Problem um so dringlicher werden läßt, können wir daraus auf das Vorhandensein eines gemeinsamen Problems schließen, das all diesen Problemen zugrunde liegt: eines «Metaproblems», wie die Philosophen sagen würden. Die aufscheinenden Probleme sind also bloß Symptome eines tiefer anzusiedelnden Kernproblems. In unserem Falle ist das Metaproblem, wie wir immer klarer erkennen, die gesamte Lebensweise, die sich an unsere überkomplizierte, im weitesten Sinne technisch verfaßte Gesellschaft knüpft. Als handlicher Terminus für diese Art Lebensverfassung sei hier der Begriff «Technopolismus» verwendet.
Technopolismus ist der Boden, auf dem nicht allein die materiellen Probleme des Rohstoffraubbaues, der Umweltverschmutzung und ähnliches hochgeschossen sind, sondern nicht minder auch die sozialen Probleme wie Gewalt und fehlender Zusammenhalt. Selbst wenn es möglich wäre, die ganze Erdoberfläche im Zuge eines sich immer weiter steigernden Materialverbrauchs und zwecks weiteren Gewinns von Rohstoffen und Energie völlig aufzuarbeiten, wie einige optimistische Vogelstraußmeier meinen, so sprächen doch soziale Gründe dafür, mit dem Technopolismus Schluß zu machen. Der Technopolismus sprengt unsere Gesellschaft auseinander. Im Bewußtsein dieser Tatsache wurde dieses Buch geschrieben.
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Schon beginnen wir zu ahnen, daß der Technopolismus gegenwärtig uns in zweifacher Hinsicht bedroht. Nicht nur zerreißt er die sozialen Strukturen und die Ideengebäude, auf denen eine stabile Gesellschaft beruht. Durch die Schnelligkeit, mit der er stets nach Neuerungen verlangt, macht er das Leben unüberschaubar, läßt Pläne veralten, noch ehe sie ganz zu Ende entworfen sind, und läßt die sozialen Anpassungsprozesse, die der Überbrückung zwischen den Generationen dienen, hoffnungslos schwierig werden. Es wäre ratsam, das Maß der Neuerungen einzuschränken, aber selbst wenn dies vollkommen gelingen könnte, wäre eine Gesellschaft, die sich aufwendigem Konsum und rapidem Rohstoffverbrauch verschrieben hat, sozial nicht lebensfähig.
Wiewohl die Natur der Erkrankung nun diagnostiziert wurde und die Behandlung vorschreibbar geworden ist, weiß niemand, wie der Patient zur Befolgung des ärztlichen Ratschlags veranlaßt werden könnte. Die Profitscheffelmaschine scheint nicht imstande zu sein, sich aus sich selbst heraus zu ändern oder in eine sozial tragfähige Form überzugehen. Tagtäglich lesen wir in der Zeitung von Fällen, in denen die Profitgier einzelner zum Schaden aller führt — das Leerfischen der Gewässer ist hierfür ein Beispiel. Umweltverschmutzung und Rohstoffraubbau sind weitere Beispiele, und sie lassen erkennen, daß staatliche Versuche zur Eindämmung privaten Profitstrebens gewöhnlich halbherzig, verspätet und nur teilweise wirksam ins Geschehen eingreifen. (Wie verschiedene Untersuchungen gezeigt haben, werden regulative Institutionen wie etwa die Federal Communications Commission in den USA oder das Alkali Inspectorate in Großbritannien nach und nach zu Anwälten der Industrie, zu deren Überwachung sie doch eigentlich ins Leben gerufen wurden.)
Auf jeden Fall aber verrät ein System, in dem eine Gruppe von Leuten etwas versucht, was eine andere Gruppe von Leuten wieder zu verhindern trachtet, kein sehr eindrucksvolles Konzept. Das wäre doch eine unsinnige und schwierige Art, ein Auto zu fahren, wenn man wegen eines eingebauten Mechanismus, der das Rad konstant nach links einschlagen läßt, beim Fahren ständig rechts gegenzusteuern hätte.
Unter diesem Gesichtspunkt zumindest gewinnt die verbreitete Idee rebellisch gesinnter Geister, es sei das «System» an allen Übeln schuld und daher zu stürzen, einen Kern an Wahrheit. Doch die bloße Tatsache, daß das private Profitstreben zu einem Raubbau an den Rohstoffen führt, kann eine Ablehnung des Systems allein nicht tragen. Das eigentliche Problem liegt darin, daß dieses System ohne die Weckung neuer Bedürfnisse gar nicht existieren kann, daß es den Verschleiß maximieren muß, weil sonst die Räder der Produktion stillständen. In dieser Zwangslage machen die Regierungen, die Arbeitslosigkeit vermeiden wollen, gemeinsame Sache mit der Industrie, die nicht nur aus Profitgründen, sondern auch wegen des Prestiges nach Expansion strebt. Jeder weiß das, kein Wort weiter darüber. Ich rede von diesen Dingen bloß, weil ich von ihnen her zu Alternativerwägungen gelangen möchte.
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Eine Reduzierung der Arbeitsstundenzahl, wie oft vorgeschlagen, würde zwar den Rohstoffverschleiß drosseln, die sozialen Probleme aber nicht lösen. In einer Freizeitgesellschaft müßten die Menschen das Fehlen des Gefühls, gebraucht zu werden, und den Mangel an kollegialer Anerkennung noch schmerzhafter empfinden, als sie das jetzt ohnehin bereits tun. Denn zumindest der Arbeitsplatz bietet Möglichkeiten zwischenmenschlichen Kontakts, und eine Gehalts- oder Lohnaufbesserung gibt doch ein Gefühl der Wichtigkeit und des Erfolgs (solche Motivationen stehen zweifellos letztlich real hinter einem Großteil der industriellen Leistungen). Zudem läßt sich hier in manchen Fällen die persönliche Geschicklichkeit entfalten. Ein anderer Vorschlag ging dahin, die Gesellschaft in zwei Gruppen zu unterteilen, in «Arbeiter» und «Drohnen», wobei letztere von einer Art Grundrente des Staates zu leben hätten. Sofern das überhaupt zu verwirklichen wäre — es könnte nicht lange so bleiben, weil für Müßiggänger bekanntlich bald der Teufel die Arbeit aussucht.
Wenn ich das System der Profitmacherei kritisiere, so plädiere ich damit keineswegs für Staatskapitalismus oder Kommunismus. Denn auch diese Systeme streben nach Produktionsmaximierung, wie die Russen nur allzu deutlich gezeigt haben. Zudem arbeiten sie mit Verfolgung und Unterdrückung und können nicht die Mängel verbergen, die einem solchen System entspringen. (Es ist wahrhaft seltsam, wie Rußland wiederholt just jene Maßnahmen ergriffen hat, die andere Völker von einer Übernahme des Kommunismus abschrecken mußten; fast möchte man meinen, es sei ihnen daran gelegen, ihr System als einzigartig für sich zu behalten.) Die chinesische Variante scheint noch weniger Freiheitsspielraum zu bieten.
Wie ich an anderer Stelle — in <Das Experiment Glück> — gezeigt habe, gibt es eine dritte Alternative: Vielfalt der Motivation. In den Gesellschaften der älteren, schlichteren Machart wurde das Tun und Lassen nicht allein unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten gesehen, sondern ebenso gleichzeitig unter menschlichen und religiösen. Unsere Gesellschaft aber legt wirtschaftliche Entscheidungen in die Hände von Menschen, die von den sozialen oder persönlichen Konsequenzen ihrer Entscheidungen gar nicht betroffen werden. Was Wunder, daß sie diese dann entweder gering einschätzen oder gar völlig ignorieren. (Mir hat jüngst ein Vorschlag großen Eindruck gemacht, daß alle Justizbeamten vor Aufnahme ihrer Tätigkeit erst einmal für achtundvierzig Stunden selber in einer Gefängniszelle einsitzen müßten, damit sie am eigenen Leibe erführen, zu was sie andere Menschen verurteilen. Gelegentlich wird dies in den USA praktiziert, wo neugewählte Richter sich ihrer Kleider entledigen und all ihre Habseligkeiten ganz wie ein Gefangener aushändigen müssen, damit sie verstehen, was es heißt, seine Identität zu verlieren. Diese Idee, die Bewunderung verdient, sollte weitere Verbreitung erfahren:
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Wer in einem Sozialberuf tätig ist, sollte bloß einmal eine Nacht zusammen mit hundert anderen Leuten in einem überfüllten Schlafsaal eines der überalterten britischen Irrenhäuser verbringen, und die für Wohlfahrt zuständigen Beamten sollten einmal versuchen, sich eine Woche lang von Armenunterstützung zu ernähren. Ebenso müßten Vorsitzende von örtlichen Wohlfahrtskomitees alleine in einem Haus wohnen, das man mit Vorbedacht unbewohnbar gemacht hat, ohne Telefon öder irgendeine der anderen besonderen Einrichtungen, die nach den Bestimmungen aus dem Jahr 1970 eigentlich kranken und behinderten Personen dauernd zustehen sollten, von vielen Komitees aber immer noch nicht vorgesehen werden.)
Um eine Gesellschaft mit vielfältiger Motivation zu schaffen, in der materieller Gewinn überall durch soziale und individuelle Wertmaßstäbe reguliert wird, bedürfen wir eines besseren Bewertungssystems. Es muß Regulationen geben, die berücksichtigen, daß wir zwar eine bestimmte Sache hoch einschätzen können, nicht aber andere Sachen ebenso einschätzen müssen, nur weil sie zu der ersten führen.
Einen Lichtstrahl sehe ich in einer jüngst in Japan ergriffenen Initiative. Auf Ersuchen des Ministerpräsidenten wurde eine Sonderkommission ins Leben gerufen, die unter Leitung von Dr. Miyohei Shinohara die «Nettolebensqualität» des Landes untersuchen sollte. Ziel dieser Untersuchung war es, einen neuen Index auszuarbeiten, mit dessen Hilfe ausgedrückt werden sollte, in welchem Umfang die japanische Wirtschaft qualitativen Bedürfniszielsetzungen entspricht, und gleichzeitig Vorschläge zu unterbreiten, welche Änderungen in den Bewertungsnormen unter diesem Aspekt angezeigt erschienen.
Nach einer von Japan der OECD übermittelten Denkschrift hat sich die Sonderkommission auf vier Hauptperspektiven der Betrachtung konzentriert, von denen jede für ein Regierungsorgan erstaunlich neuartig erscheint:
1. Das Bruttosozialprodukt soll nach sozialen Zielsetzungen eine neue Bewertung erfahren. Gegenwärtig bezeichnet das Bruttosozialprodukt nur die Menge der angeschafften Güter, gibt aber keine Auskunft darüber, für welche Zwecke sie gekauft wurden. In die Zahlen des Bruttosozialprodukts geht Napalm ebenso ein wie Antibiotika oder Lebensmittel.
2. Das Bruttosozialprodukt soll als Index für die Lebensqualität in Erscheinung treten. In der Summe des Bruttosozialprodukts erscheinen heute unterschiedslos Gelder, die infolge von Verkehrsunfällen ausgegeben wurden, Gelder, die für die Eindämmung von Umweltverschmutzung sowie für Ersatzleistungen bei Umweltschäden aufzuwenden waren, oder Ausgaben für Fahrten zum Arbeitsplatz im Gefolge der Ausdehnung der Städte, obwohl all diese Geldaufwendungen vom Standpunkt der Lebensqualität aus einer negativen Bewertung unterliegen müßten. In den Betrag eines herkömmlich errechneten Bruttosozialprodukts kann sogar Umweltverschmutzung als positiver Faktor eingehen. Andererseits erscheint eine Verkürzung der Arbeitszeit als negativer Faktor des Bruttosozialprodukts, während er für die Lebensqualität ein positiver Faktor ist oder doch zumindest sein kann.
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3. Übergang von einer Warenfluß-Wirtschaft zu einer Werte-Wirtschaft. Unter «Werten» versteht die Sonderkommission nicht nur Werte im üblichen kaufmännischen Sinne, sondern zum Beispiel auch Gruppen von Menschen mit besonderen Fähigkeiten wie Ärzte und Lehrer; gesellschaftliche Sachwerte wie Wohnhäuser, Straßen, Parks; Werte privaten Gebrauchs wie Kleider und Alltagsgerät; Naturwerte wie saubere Luft und sauberes Wasser oder landschaftliche Schönheit; Kulturwerte wie Gemäldesammlungen, Orchester, Kommunikationsmedien; Sozialwerte institutionalisierter Art wie etwa die Sozialversicherung. Eine ziemlich reichhaltige Liste. Gegenwärtig halten wirtschaftliche Verlautbarungen fest, wieviel Geld hereinkam und wieviel Geld ausgegeben wurde. Sie sind Feststellungen über die Relation zwischen Einkünften und Ausgaben, nicht aber Feststellungen von Errungenschaften. Die Sicherung von Errungenschaften, vor allem sozialer Errungenschaften, ist aber das, was hier zählt.
4. Ein Index der Lebensqualität ohne monetäre Bewertungsskala. Viele wichtige Gesichtspunkte der Lebensqualität lassen sich schwerlich auf der Vergleichsbasis des Geldes ausdrücken. Zwar läßt sich die Kostensumme einer ärztlichen Behandlung beziffern, nicht aber Gesundheit sich in Werteinheiten festlegen. Dies gilt im allgemeinen auch für die Güte des Essens, das Niveau der Erziehung, für Freizeit und Sicherheit. Wenn aber diese Dinge sich einer Bewertung durch ein monetäres Äquivalent entziehen — könnten sie dann nicht in irgendeiner anderen Form bewertet werden?
Diese bemerkenswert eigenständigen und weitzielenden Vorschläge wurden von der europäischen und der amerikanischen Presse wie auch von Wirtschaftsfachleuten aus einsichtigen Gründen so gut wie ignoriert. In Japan jedoch hat man den Wirtschaftsplan für 1967—1975, der eine Verdoppelung der Einkommen vorsah, schon vom Tisch genommen, und an seine Stelle trat das Ziel einer Verdoppelung der Nettolebensqualität. In der übrigen Welt werden weiterhin Gartenzwerge aus Plastik als Bereicherungen des Lebensstandards angesehen, werden sie immer noch zum Bruttosozialprodukt pro Kopf der Bevölkerung gerechnet. In Wahrheit aber gibt das Bruttosozialprodukt nur Aufschluß über die im Lauf eines Jahres verbrauchten Rohmaterialien. Wie Philip Brachi, dessen Berechnungen ich diese Fakten entnahm, es umschrieben hat: «Da wird zusammengeschmissen, was gut und schlecht ist und was in den Augen britischer Wirtschaftstheoretiker, deren Herabsteigen aus den distanzierten weißen Elfenbeintürmen in die Dümmlichkeit ihrer realen Existenz dringend zu wünschen wäre, unterschiedslos alles das gleiche ist.»
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Ein ausschließlich wirtschaftswissenschaftlicher Standpunkt bietet immer nur eine Teilantwort. Dank der japanischen Initiative wird das ganze Spektrum des Problems ausgebreitet, werden die Fehleinschätzungen sichtbar, wiewohl wir auch hier nicht erfahren, wie dem abzuhelfen wäre. Das Problem hat seine zwei Seiten: Die Gesellschaft muß geändert werden, aber ihre Menschen auch. In diesem Kapitel behandle ich den ersten Punkt, im nächsten den zweiten.
Wenn auch Landwirtschaft, Fischerei und eine Reihe anderer Gewerbe in Norwegen rein wirtschaftlich immer weniger abwerfen, so wollen die Norweger sie doch gern beibehalten, damit die abgelegenen Landesteile weiterhin bewohnt bleiben und der besondere Lebensstil des Landes nicht aufgegeben wird. Wenn sie gegen den Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft gestimmt haben, so deshalb, weil sie durch einen Anschluß eine Zerstörung dieser herkömmlichen Berufstätigkeiten und Lebensformen befürchten mußten. Gegenwärtig kommt ernste Sorge auf wegen der Auswirkung der Erdölfelder in der Nordsee.
Anders in Schottland. Trotz großer Besorgnis vieler Gemeinden, so auf den Shetlandinseln oder den Orkneys, aber auch andernorts, über die Auflösung herkömmlicher Lebensweisen setzt sich die zentrale Regierungsbehörde über derlei unzeitgemäße Brauchtümelei hinweg und arbeitet nun mit allen Mitteln auf die Gewinnung von Erdöl hin, unbekümmert um soziale Folgen. Die ablehnende Haltung der Inselgemeinden beruht keineswegs auf Unwissenheit und Rückständigkeit. Die meisten der dort lebenden Menschen sind zu irgendeiner Zeit ihres Lebens an Orten gewesen, die wir so gern als «Zentren modernen Lebens» bezeichnen, und ihre Ablehnung erfolgt ganz bewußt in der Erkenntnis, daß eine Gemeinschaft mit festem Zusammenhalt und einfachen Ansprüchen an das Leben etwas zu bieten hat, was materielle Unzulänglichkeiten aufwiegt.
Norwegens Beispiel zeigt, daß selbst Regierungen sich gegen die auflösende Kraft des Technopolismus stellen können, mag dies auch nur selten geschehen. Hier sei jetzt einmal angenommen, daß alle Regierungen gleiche Einsicht beweisen: Was könnten sie dann tun? Aus den vorangegangenen Diskussionen ließe sich leicht der Rahmen dessen abstecken, was geschehen könnte. Hier sollen einige Schlüsselpunkte noch einmal zusammengefaßt ins Gedächtnis gerufen werden. Dabei muß die Notwendigkeit bewußt bleiben, daß die Gesellschaft sowohl gegen desintegrierende Kräfte im realen Zusammenleben wie in den wirtschaftlichen Prozessen geschützt werden muß, daß es vor allem darum geht, den sozialen Zusammenhalt wieder zu festigen.
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Vordringlich notwendig wären Maßnahmen zur Dezentralisierung — nicht der Bevölkerung, sondern der Macht. Dezentralisiert werden müßte auch die ganze materielle Basis, etwa die Erzeugung und die Verteilung von Strom, denn erst dadurch würde die politische Dezentralisierung sinnvoll. Eine Gemeinde besitzt keine Selbständigkeit, wenn andere es in der Hand haben, über ihre Grundbedürfnisse zu verfügen. Da immer nur der die Macht hat, der den Schnürbändel des Geldbeutels hält, müßte auch den örtlichen Gemeinden ein größerer Spielraum für Steuereinnahmen und Geldausgaben eingeräumt werden. Es wäre dafür Sorge zu tragen, daß durch geeignete Kontrollen Korruption und Unfähigkeit in Grenzen gehalten werden — aber diese Kontrolle müßte durch eine unabhängige Person, etwa vom Status eines Ombudsmans, ausgeführt werden, nicht in der Form einer Vorgesetztenkontrolle.
Gesellschaftlicher Zusammenhalt verlangt wohl auch eine Beschränkung der Mobilität, vor allem eine Beschränkung häufigen Wohnsitzwechsels. Eine Besteuerung solcher Ortsveränderungen ließe sich unverzüglich einführen. Ohnehin wird die Ölverknappung zu einer Begrenzung der Freizügigkeit führen.
Die Schaffung von gesellschaftlichen Zusammenschlüssen beschränkten Umfangs wäre zu ergänzen durch die Herausbildung innerer Strukturen, so durch Wiederherstellung einer lebensfähigen Familie, die so weit wie möglich Züge der alten Großfamilie annehmen sollte. Außerdem sollten durch vermittelnde Strukturen die Bande zwischen den Gemeinden gefestigt werden. Auch wären angemessene Rituale und Zeremonien zu schaffen. Zusätzlich müßte jede Anstrengung unternommen werden, damit das auf Geld sich gründende Status-System aufgehoben wird und an seine Stelle ein anderes tritt, das den Menschen nach seinem Beitrag für das Leben der Gesellschaft bewertet. Ein erster Schritt in diese Richtung könnte in der Wiederherstellung der «Patronage-Komitees» bestehen, die solchen Unternehmern ihre Anerkennung aussprachen, die das übliche Verhalten ihrer Klasse durchbrochen hatten, wobei durch gleichzeitige Anerkennung von Schlagerstars und Fußballern die Zustimmung des Publikums gesichert würde. Abzulehnen wäre hingegen ein Bewertungskatalog, wie ihn in England «The Prime Minister's List» darstellt und wie er in Spielarten auch in anderen Ländern vorkommt. Öffentliche Anerkennung ist eine viel zu ernste Sache, als daß man sie den Vorlieben eines Premierministers überlassen könnte.
Bei der Bewerkstelligung solcher Veränderungen sollten die Regierungen sich mehr auf den Rat der Anthropologen als auf den der Wirtschaftsfachleute verlassen, und anthropologische Untersuchungen wären nachdrücklich zu unterstützen — vor allem solche zur praktischen Erfassung menschlichen Verhaltens und zur Sozialpsychologie. Die Forschung sollte auch dort gefördert werden, wo sie sich der Maximierung der Leistungsfähigkeit kleiner Industriebetriebe widmet. Wie Volvo in Schweden gezeigt hat, läßt sich ein Auto in Serienfertigung mit bestem Erfolg ohne das übliche Fließbandsystem herstellen. Einige Montagewerke von Volvo beschäftigen nur wenige hundert Arbeiter und liegen im ganzen Land verstreut. Die Industrie der Kleinbetriebe muß als Konkurrenz nicht benachteiligt sein, wie allmählich eingesehen wird.
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In jedem Programm der Umstellung wäre die schwierigste Aufgabe gewiß die Rückführung sozial abgekapselter Gruppen in die Gesellschaft — vor allem der Supergruppen des Unternehmertums und der organisierten Arbeiterschaft. Solange die Regierungen sich unter dem Einfluß solcher Wucherungsgebilde der Gesellschaft befinden, wird es wohl keinen Fortschritt in Richtung auf eine organisch sich selbst regulierende Gesellschaftsstruktur geben. Amerikanische Autoren, so etwa Galbraith, haben eine Politik der «Ausgewichtung» befürwortet, bei der eine mächtige gesellschaftliche Organisation durch eine zweite, nicht minder mächtige in Schach gehalten wird. Angesichts des warnenden Beispiels der gegenwärtigen Kämpfe zwischen Kapital und Arbeit wird klar, daß zwei derartige Monstergruppen nicht genug sind. Die Methode schlägt nämlich nur dann ein, wenn mehrere rivalisierende Interessengruppen bestehen. So wäre es gut, weitere Interessengruppen aufzubauen: Die Konsumenten, die Jugendlichen, die Berufstätigen könnten sich zu festen Verbänden zusammenschließen, und im Falle einer religiösen Erweckungsbewegung kämen die Kirchen dazu.
Schließlich bedürfen wir einer intensiven Unterrichtung über die Motivationen und die Strukturen des gesellschaftlichen Zusammenhalts auf allen Altersstufen. Praktische Erprobung der Selbstregierung, wie im Barns-Experiment (vgl. S. 137) vorgezeichnet, ließen den Leuten das Verständnis einiger Probleme leichter fallen. Die Idee vom Staat als einem Universalvater müßte der Idee der wechselseitigen Hilfe weichen. In den USA hat man immer Teilaspekte dieser Konzeption lebendig gehalten, die für urtümliche Gesellschaftsformen typisch ist. In den Zeremonien des «barn-raising» bei Errichtung neuer landwirtschaftlicher Gebäude finden wir einen Nachhall des gemeinsamen Ins-Wasser-Lassens der Boote oder der gemeinsam unternommenen Jagdexpeditionen kleiner Menschengruppen. Aber diese großartige Idee der Gemeinsamkeit ist zersetzt worden durch das im 19. Jahrhundert entstandene Bild vom Menschen als einem bloßen Atom, einem in Kämpfe verstrickten Einzelgänger.
Fraglos müßten derartige Veränderungen für viele Menschen eine Herausforderung bedeuten, und sie kämen gewiß als autoritäre Maßnahmen in Verruf. Jede Beschränkung individueller Freiheit gilt ja als autoritär, als ob es zwischen Totalitarismus und Chaos gar keine Mittelzustände gäbe. In Wirklichkeit aber muß die Frage lauten: Mit wieviel Chaos können wir noch leben? So wird denn ein langwieriger Erziehungsprozeß erforderlich sein, bevor die Menschen die Notwendigkeit derartiger Veränderungen einsehen. Viel Zeit allerdings haben wir nicht mehr.
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Alles hängt davon ab, wieweit sich die Regierungen dazu bewegen lassen, Einsicht in die Notwendigkeit einer Entwicklung im hier umrissenen Sinne zu gewinnen, da Veränderungen dieser Größenordnung nicht ohne ihre Zustimmung und Unterstützung durchgeführt werden können. Der Ansatzpunkt für den Beginn der Reform ist daher die Verwaltung selbst.
Wenn die Annahme schon unrealistisch sein mag, daß Regierungen von sich aus solche Maßnahmen einleiten, so wäre es noch unrealistischer zu glauben, man könne sie zu solchen Maßnahmen irgendwie zwingen. Wer sollte sie dazu auch zwingen? Niemand kann einer Regierung etwas vorschreiben, und Regierungen beweisen gegenüber den eigenen Fehlern ein enormes Maß an Toleranz. Gleichwohl: Nur um darzulegen, was getan werden könnte, seien hier einige Vorschläge gemacht.
Dreizehnpunkteprogramm für die Modernisierung der Regierungen
Auswahl der Kandidaten unter Umgehung der Parteien in Direktwahl,
Wahl mittels einer fakultativ übertragbaren Einzelstimme,
Schaffung eines gleichgewichtigen Zweikammersystems,
Einsetzung unabhängiger Kontrollpersonen (Ombudsman), die über Untersuchungsvollmachten verfügen,
Kontrolle der Funktion des staatlichen Systems durch eine gemischte Kommission von Ausländern,
zeitgemäße Verwaltungsapparate für beide Kammern,
Trennung der Exekutive (Kabinett) vom Parlament,
zeitliche Begrenzung der Parlamentszugehörigkeit,
Prüfung der Volksvertreter vor Amtsaufnahme sowie Weiterbildung auf ihnen nicht geläufigen Sachgebieten,
weitgehende Aufhebung der Geheimhaltung in Verwaltungsmaschinerie und Exekutive,
kein Erlaß eines neuen Gesetzes ohne Abschaffung eines alten,
intensive Untersuchungen über die Mängel der Bürokratien sowie entsprechende Maßnahmen zu ihrer Behebung,
Einführung der Verfassungs- und Gesetzesinitiative für Bürgergruppen (wie sie in der Schweiz und einigen US-Staaten existiert).
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Vor allem besteht die Notwendigkeit zur Schaffung einer Kontrollinstanz, die den Gesetzgebern etwas Respekt einzuflößen vermag. Die Parlamente versuchen ja nicht im geringsten, ihre Abgeordneten an die Leine zu nehmen; eher zeigen sie die Tendenz, Kontrollinstanzen abzubauen (aus ähnlichen Gründen, wie Schulkinder gern ihre Lehrer loswerden möchten).
Leider haben die Parlamente ohnehin eine ganz falsche Auffassung von ihrer Aufgabe. Sie neigen dazu, sich als Produktionsstätte der Gesetzgebung zu verstehen und ihre Leistung an der Anzahl der Gesetze zu bemessen, die sie in einer Legislaturperiode durchbringen konnten. Die Folge davon ist, daß jedes Land von neuen Gesetzen förmlich zugeschneit wird, die nun aufs Wort festlegen, was besser traditioneller Übereinkunft überlassen bliebe. (Ein alter Indianer sagte zu der Anthropologin Ruth Benedict: «Es hat bei uns nie Streit wegen der Jagdgebiete gegeben, bis wir Gesetze über ihre Aufteilung erhielten.»)
Leider haben nur wenige Abgeordnete es der Mühe wert gefunden, sich klarzumachen, welch geringe Rolle die Gesetze für den sozialen Zusammenhalt spielen. Auf jeden Fall haben sie ein begründetes Interesse an ihrer gesetzgeberischen Tätigkeit, die sie als ein Monopol ausüben, und wie Monopolisten meistens, mißbrauchen sie ihre privilegierte Position.
Die Parlamentarier oder Mitglieder der zweiten Kammer gelten allgemein als eine Art Extrakt der Öffentlichkeit, als Sprecher für das Volk, welches sie repräsentieren, da die ganze Öffentlichkeit nicht immer von Fall zu Fall befragt werden kann. Das Parteiensystem zerstört indes diese demokratische Intention, und die professionelle Art, in der ein Abgeordneter nach langer Zugehörigkeit zum Parlament fungiert, macht ihn immer mehr zum Parlamentsmitglied und immer weniger zum Volksvertreter. Die inneren Zwistigkeiten der Politik werden ihm dann wichtiger als die realen Probleme. Gegenwärtig gemachte Vorschläge, Parlamentsmitgliedern keine anderen Einkünfte als ihre Abgeordnetendiäten zu gestatten, wären nur dann sinnvoll, wenn ihre Abgeordnetentätigkeit zeitlich befristet bliebe, andernfalls eine solche Regelung dem Professionalismus nur noch mehr Vorschub leisten müßte. Es hätte also das Ziel jeder Reform zu sein, diesen Professionalismus des Parlamentariers vor allen Dingen unmöglich zu machen. Wenn Parlamentarier weniger lange Gelegenheit haben, sich in ihren Aufgabenbereich einzuarbeiten, dann werden sie allerdings auch mehr Einweisung und Unterstützung nötig haben.
Ganz abzulehnen sind insbesondere das Parteiensystem und die wachsende Bereitschaft jeder Partei, im Interesse einer der großen Interessengruppen der Gesellschaft zu regieren — also entweder für das Kapital oder für die Arbeiterschaft —, wobei andere, kleinere Gruppen übergangen werden. Aber die parlamentarische Blockbildung kann nur dadurch überwunden werden, daß man die gesellschaftliche Blockbildung abbaut, die sich im Parlament nur spiegelt. Ein Anfang wäre aber bereits bei der Auswahl der Kandidaten zu machen. Überläßt man die Wahl Gruppen begeisterter Parteifreunde, dann wird das ganze System dadurch bereits vorbelastet, denn dieses Verfahren führt ja dazu, Männer von Augenmaß und unabhängiger Gesinnung auszuschließen. Die vernünftige Verfahrensweise, nach der auf britischen Universitäten Kandidaten abgelehnt werden konnten, verdient eine Wiederbelebung.
4 Regierungsreform 321
Ein Wort noch zur fakultativ übertragbaren Einzelstimme, die sich in vielen europäischen Ländern und auch in Nord-Irland bewährt hat. Durch sie wird die erstarrte Situation aufgelockert, die dadurch entsteht, daß Wähler, die mit den bestehenden Parteien unzufrieden sind, gleichwohl für eine dieser Parteien stimmen, da sie nicht sicher sind, ob eine neue Partei die Mindeststimmenklausel überspringt, ihre Stimmabgabe für die neue Partei mithin sinnvoll wäre. Die fakultativ übertragbare Einzelstimme macht es möglich, daß der Wähler auch eine zweite, ja selbst eine dritte oder eine vierte Wahl trifft. Eine Regelung dieser Art scheint mir wesentlich für die Aufbrechung des gegenwärtigen starren Wahlsystems in Großbritannien und anderen Ländern.
Dies sind nur einige Vorstellungen, die zeigen sollen, daß das derzeitige System nicht unveränderlich und sakrosankt sein sollte. Jedes Land wird seine eigenen Wege gehen müssen, und ich mache mich nicht anheischig, das Regierungssystem meines eigenen Landes oder gar das anderer Länder durch einen Gegenentwurf ersetzen zu können. Ich möchte hier nur auf wesentliche Dringlichkeitsaspekte der ganzen Problematik aufmerksam machen.
5 Ein Gefühl der Hilflosigkeit ^^^^
Trotz steigenden Lebensstandards ist ein wachsendes Gefühl des Unbehagens allenthalben wahrzunehmen, vor allem unter der jüngeren Generation, aber auch in anderen Gruppen der Gesellschaft. Dieses Gefühl des Unbehagens speist sich, wie ich glaube, aus zwei Quellen.
Zum einen empfindet wohl jeder, der in einer Massengesellschaft lebt, ein Gefühl der Hilflosigkeit. Man spürt, daß man als einzelner nur eine Nummer ist und daß man keine Macht hat, den Gang der Ereignisse zu bestimmen. Die Flut von Leserzuschriften, die an die Zeitungen gehen; der Wunsch, auch einmal kurz auf dem Bildschirm des Fernsehens zu erscheinen, um dort ein Wort zu sagen; der Zulauf zu organisierten Interessengruppen und anderen Vereinigungen, die Einfluß versprechen — all dies zeugt vom Wunsch der Menschen, an der Regelung wichtiger Fragen persönlich teilzunehmen. Wie es die Schreiberin eines Leserbriefs ausdrückte: «Ich glaube nicht, daß sich für meine Ansicht allgemeine Zustimmung finden läßt, aber ich möchte doch, daß man sie wenigstens in Betracht zieht.»
Dieses Gefühl der Hilflosigkeit beruht zu einem Teil auf der Unüberschaubarkeit der aufgeblähten Verwaltungsstrukturen, aber auch auf der Zentralisierung der Entscheidungsbildung und auf dem Fortfall der vermittelnden Organisationen und Strukturen. Um wieder auf Dostojewski zu verweisen: Es ist nicht die vernünftige Wahl, sondern die unabhängige Wahl zwischen Möglichkeiten, die von den Menschen wirklich gewünscht wird.
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Der Psychiater S. L. Halleck hat dargelegt, daß dieses Gefühl der Hilflosigkeit dem Bewußtsein durch kompensatorische Aktivität verschleiert wird, denn das Handeln gibt doch wenigstens die Illusion, man habe die Dinge im Griff, und dieser psychologische Mechanismus ist entscheidend für die Entstehung kriminellen oder gewalttätigen Verhaltens. T. Melges und R.H. Harris haben dies so formuliert: «Das Gefühl, wenig Einfluß auf das eigene Leben zu haben, kann zu dem Versuch führen, sich selbst als aktiv Handelnder wieder ins Spiel zu bringen.»
Als Sozialarbeiter Leute, die erklärt hatten, sie seien unzufrieden mit der Gesellschaft, danach fragten, warum sie nichts unternähmen, um wenigstens die Dinge teilweise zum Besseren zu wenden (es ging um Großbritannien und die USA), erhielten sie von einem Drittel die Antwort, man glaube, eine Änderung liege gar nicht mehr in ihrer Macht. Franzosen und Schweden zeigten mehr Optimismus (etwa 17% der Befragten fühlten sich den Ereignissen ausgeliefert), während die Japaner pessimistischer waren und zu 73 % äußerten, jeder Versuch zur Änderung schiene ihnen sinnlos, wiewohl neun von zehn der Befragten zugaben, eigentlich doch verantwortlich zu sein.
Fundamentaler ist der zweite Faktor: der unerklärbare Drang des Menschen, seinem Leben eine übergeordnete Zielsetzung zu geben. Solange einer friert, hungert und ohne Heim ist, zehrt der Kampf um die Erreichung eines Zustandes jenseits dieser Versagungen alle Energien auf. Hat er solche Entbehrungen aber hinter sich gebracht, meldet sich eine luziferische Unzufriedenheit, eine existentielle Verzweiflung. Dies ist ein echtes Problem in der Welt der entwickelten Länder von heute. Am stärksten davon betroffen sind die jungen Leute, die an den Universitäten großzügige Förderung erfahren und die noch nicht selber im Existenzkampf stehen müssen — sie haben Muße, über ihre Unerfülltheit nachzudenken. Wer am Fließband steht, mag das Leben auch als ziellos ansehen, aber immerhin verdient er Geld, und so wird ihm dann doch die Erfüllung irgendwelcher Wünsche möglich. Die Erfüllung sexueller Wünsche oder die Erreichung familiärer Zielsetzungen bietet zumindest vorübergehend ebenfalls Zufriedenheit. Am stärksten aber werden oft Menschen getroffen, denen eine Stufe ihres Lebens gut geglückt ist (etwa die Gründung einer Familie) und die nun plötzlich nicht wissen, was als nächster Schritt kommen soll. C.G. Jung sagt, daß viele seiner Patienten Männer in den Vierzigern gewesen seien, die plötzlich sich zu fragen begonnen hätten, was sie aus ihrem weiteren Leben denn machen sollten.
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Es gibt drei klassische Möglichkeiten, sich solcher existentieller Ängste zu entledigen. Die eine ist, sich auf irgendein großes Projekt zu werfen — politisch, karitativ, künstlerisch — oder einfach nur den Kampf um persönliches Prestige und öffentliches Ansehen aufzunehmen. Die zweite Möglichkeit ist, sich ein Leben für den Augenblick zurechtzumachen, in dem man aus jeder Augenblickssituation ein Höchstmaß an Genüssen zieht und sich jeder sinnlichen oder emotionalen Regung überläßt. Die dritte Möglichkeit ist die Vorbereitung auf ein Leben in einer anderen Welt — die Wendung ins Religiöse.
Zweifellos brauchen wir heute eine neue Religion, und es müßte eine Religion matristischer Prägung sein, ein orgiastischer Kult, etwas wie die ekstatischen Dienste an Ischtar und Kybele. Viele junge Leute scheinen auf der Suche nach etwas Ähnlichem zu sein, aber es fehlen ihnen die zwingenden kultischen Bilder. Die ruhelose Suche, die aus solcher Unzufriedenheit entspringt, das Gefühl, man sei um etwas betrogen oder von etwas enttäuscht worden, trägt mit zur Unruhe und zur Rastlosigkeit bei, deren Zeugen wir heute sind und die auch in der Niedergangszeit Roms herrschend waren. Hier liegt die Erklärung für das plötzliche weite Interesse an Mystik, Astrologie, Magie und Okkultismus.
Hier liegt auch die Ursache des Glaubens an Besucher aus fernen Weltgegenden*, die entweder den Menschen sagen werden, wie sie alle ihre Probleme lösen können, um dann für immer in Glück und Frieden zu leben, oder der Menschheit ein Ende bereiten werden — so oder so wären damit alle Ängste getilgt.
Aus diesen Bedürfnissen erwächst auch der Utopismus: der Glaube an ein Goldenes Zeitalter, das in der Zukunft erreicht werden müsse — oder irgendwo in der Vergangenheit lag. Hierdurch wird eine Atmosphäre erzeugt, in der Revolutionäre mit handfesterer Zielsetzung ihren Weizen blühen sehen, wiewohl bei härteren Kraftproben die schwärmerischen Sympathisanten schnell das Feld räumen.
Wenn auch diese existentielle Unzufriedenheit zu einem Teil äußeren, sozialen Bedingungen entspringt, so kommt sie zu einem anderen Teil doch auch von innen. Um es genau zu sagen: Persönliche und soziale Erfahrungen lassen sich nicht trennen. So ist es nicht möglich, eine konstruktive Gesellschaft mit destruktiven Individuen zu errichten oder eine friedliche Gesellschaft mit aggressiven. Es gibt auch keine Zivilisation der Unzivilisierten. Eine Gesellschaft taugt so viel wie die einzelnen, aus denen sie besteht.
Inwieweit ist es da aber möglich, die Menschen zu «bessern»? Hierin liegt das schwierigste aller Probleme. Hier ist uns die dringlichste Aufgabe gestellt.
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* (d-2013:) Der Autor meint wohl "Außerirdische" mit "Weltgegend"
Gordon Rattray Taylor Zukunftsbewältigung How to Avoid the Future