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18. Was den einzelnen angeht 

Die Krisis der Gewalt ist eigentlich 
die Krisis des Menschen.
M.Gilula und G.Daniels

   1  Psychologische Hilfen 

325-441

 Es gibt eine Zielsetzung möglichen Fortschritts, die hinlänglich Raum für engagierte Tätigkeiten läßt: Die Eindämmung jener Kräfte, die schuld an der Verderbtheit und seelischen Verkrüppelung von Menschen sind und die sie gewalttätig, kriminell und antisozial werden lassen. 

Nach über einem halben Jahrhundert eingehender und vielschichtiger Untersuchungen wissen wir heute mehr als genug, um bei verfügbaren Mitteln hier wirklich voranzukommen.

Zudem haben bahnbrechende Verfahrensweisen, wie sie in verschiedenen Ländern auf diesem Gebiet entwickelt wurden, den Beweis erbracht, daß die meisten Menschen auch bei schwerer Schädigung ihres Sozialverhaltens und entsprechender Verhärtung ihrer Charakterstruktur ins Kriminelle sich wieder resozialisieren lassen. Es gibt zahlreiche Menschen guten Willens, die sofort bereit wären, hier mitzuwirken, sofern nur die abgestumpften Individuen, welche in der Gesellschaft zu bestimmen haben, zur Bereitstellung der entsprechenden Mittel und zur Gewährung der nötigen behördlichen Unterstützung das Ihre beitragen wollten.

Statt dessen aber wird nach verschärfter Strafe, längerer Haftzeit, nach der Wiedereinführung der Auspeitschung oder der Todesstrafe gerufen. Zwar mögen derartige Strafen einigen unserer Mitbürger eine gewisse Befriedigung bieten, auch ihnen das Gefühl geben, der Gerechtigkeit sei Genüge geschehen; aber die Tatsachen zeigen ganz klar, daß hierdurch die Häufigkeit von Verbrechen und Straftaten nicht im geringsten vermindert wird. 

Die Fakten sprechen eine unmißverständliche Sprache: Jugendliche, die in einer Erziehungsanstalt waren, werden mit höherer Wahrscheinlichkeit wieder straffällig als andere, die es nicht gewesen sind. Kriminelle, die durch Auspeitschung bestraft wurden, führen mit höherer Wahrscheinlichkeit ein Leben gegen das Gesetz als Menschen, die nicht ausgepeitscht worden sind. 

Gefängnisse sind wahre Schulen des Verbrechens.

Sicher hindert die Todesstrafe einen Menschen an einer weiteren Straftat — auf die Häufigkeit der Morde hat sie dagegen keinen Einfluß. In den Vereinigten Staaten finden wir sogar in jenen Staaten, wo die Todesstrafe noch gesetzlich ist, eine höhere Anzahl von Mordfällen als in den anderen Staaten, welche die Todesstrafe abgeschafft haben. Auch Südafrika, das die Todesstrafe ohne Einschränkung und Skrupel praktiziert, vermochte Gewaltverbrechen hierdurch nicht einzudämmen.

Andererseits hat es viele recht erfolgreiche Versuche sozialer Rehabilitation gegeben, wenn auch stets nur in kleinem Rahmen. Öffentlich sind sie nie honoriert worden, und man hat auch diese Ansätze nicht weiterentwickelt. Wissenschaftler der Universität von Kansas gründeten vor einiger Zeit eine Schule für Jungen im Alter von 11 bis 16 Jahren, die zu Problemfällen in ihren Schulen geworden waren. Der Unterricht orientierte sich an den Richtlinien, wie sie der Lerntheoretiker Burrhus Frederic Skinner entwickelt hatte: Belohnung für erwünschtes Verhalten, aber auch so gut wie keine Bestrafung unerwünschten Verhaltens. Schüler dieser Schule nahmen viel lebhafter am Unterricht teil als Problemkinder, die in Heimschulen saßen oder auf Bewährung unterrichtet wurden.

(Die Erfolgsrate für Teilnahme am Unterricht lag bei den Schülern nach der Skinner-Methode bei 90 %, bei den Schülern der Heimschulen bei 9%, bei den auf Bewährung unterrichteten Schülern bei 37 %. Das Schuljahr mußte nur von 6 % der Schüler wiederholt werden, und die Schule á la Skinner war weitaus billiger zu erstellen und zu führen als die Heimschulen.)

Bereits 1950 waren in einem ähnlichen Experiment in New Jersey zwanzig Jungen in einer Atmosphäre unterrichtet worden, in der ein Mindestmaß von Zwang gegeben war. Dieser Gruppe stellte man eine andere gegenüber, die in einer Besserungsanstalt üblichen Zuschnitts in Annandale (Minnesota) lernte. Schüler, die ein Schuljahr wiederholen mußten, gab es in der ersten Gruppe 16,5 %, in der zweiten Gruppe 48,9 %. Bei den Schülern in New Jersey genügten Aufenthaltszeiten von Monaten statt von Jahren, und die Kosten pro Kind lagen hier um ein Drittel niedriger.

Selbst hochgradig gewalttätige und verhärtete Kriminelle lassen sich wieder in die Gesellschaft eingliedern, wie die Dänen in Herstedvester gezeigt haben, wo ein Versuchsgefängnis nach dem Gesichtspunkt geführt wird, daß der Verurteilte wieder seine Selbstachtung zurückgewinnen muß — eine Einrichtung, die von Kriminologen aus aller Welt als vorbildlich anerkannt wurde. Zwar werden ausgesprochen psychopathische Delinquenten nicht aufgenommen, aber unter den Gefangenen befinden sich Sexualtäter, Alkoholiker, Gelegenheitsdiebe, Streuner und Straffällige mit ähnlicher Vergangenheit. 

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Die Einsitzenden werden auf Ehrenwort entlassen, wenn man den Eindruck gewonnen hat, es werde ihnen eine Wiedereingliederung ins Alltagsleben glücken, können aber bei Nichtgelingen wieder zurückkehren, um dann erneut auf Ehrenwort entlassen zu werden, sobald man noch mehr Vertrauen in ihre Resozial­isierbarkeit gewonnen hat. Zehn Jahre nach der Gründung befanden sich nur noch 10 % der ursprünglichen Insassen in Haft. Allerdings braucht ein solches Gefängnis einen großen Stab geschulter Mitarbeiter: Auf 200 Gefangene kommen 199 Betreuer. Da andererseits die Haftzeit kürzer als in normalen Gefängnissen ist, würden sich die Zahlen auf lange Sicht doch in einem günstigeren Verhältnis von Aufwand und Erfolg darstellen.

Fast dreißig Jahre nach den Dänen unternahmen Engländer in Grendon Underwood ein ähnliches Experiment. Ein weiterer englischer Versuch folgte — und hier ließ man die Gefangenen ihr Gefängnis selbst erbauen, wobei 2,5 Millionen Pfund Sterling gespart wurden, ja zuletzt noch ein Gewinn zu erzielen war.

Diese Beispiele stehen für die zahlreichen ermutigenden Versuche einer Rehabilitierung, wie sie in mehreren Ländern unternommen wurden. Unglücklicher­weise aber bleiben die meisten Strafanstalten nach wie vor Einrichtungen, die ihre Insassen im Kern ihrer Persönlichkeit brechen. Die Vorstellung, man könne einen Menschen dadurch wieder in die Gesellschaft zurückführen, daß man ihn mit drei anderen Kriminellen zusammen in eine Zelle einsperrt, ist dermaßen aberwitzig, daß man kaum versteht, wieso ein solches System nicht schon längst abgeschafft worden ist. 

Jeder Staat beklagt sich über allzu dicht belegte Gefängnisse, und in England werden jährlich 60 Millionen Pfund Sterling für Gefängniserweiterungen ausgegeben. Aber ein Drittel der Insassen sind Leute, die noch auf ihr Verfahren warten und die zu zwei Dritteln ohnehin nicht zu Haftstrafen verurteilt werden. Die ganze Situation ist einfach nichts weiter als ein öffentlicher Skandal. Zu wünschen bleibt natürlich, daß junge Leute gar nicht kriminell werden, und darauf sollten sich die Bemühungen vor allem richten.

 

   2  Austobenlassen   

  

Dr. Mia Kellmer Pringle, die Leiterin des britischen National Children's Bureau, hat unübertrefflich knapp die Bedürfnisse genannt, deren Nichtachtung zu Ausbrüchen von Gewalt führen: «Es sind dies das Bedürfnis nach Liebe und Geborgenheit, nach neuen Erfahrungen, nach Lob und Anerkennung, nach Verantwortung.» Und sie führt dazu aus: 

«Diese Bedürfnisse müssen vom Beginn des Lebens an erfüllt werden, und sie müssen mehr oder minder bis zum Ende des Lebens weiter erfüllt werden. Wenn irgendeines dieser Grundbedürfnisse ungestillt oder ungenügend gestillt bleibt, dann kommt es zu einer Reaktion, die sich in zwei Formen manifestieren kann: in Flucht oder Aggression, im Angriff oder im Ausweichen.»

2  Austobenlassen  327


Wenn eine Gruppe junger Männer sich irgendwo am Rande einer Straße herumtreibt oder ziellos Geld in irgendwelche Automaten einer Spielhalle wirft, dann sehen wir zweifellos Leute vor uns, die keine Verantwortung tragen, die keine Anerkennung erhalten und die auch keine neuen Erfahrungen machen. Es sollte uns nicht überraschen, bei ihnen auf Anzeichen gleichgültigen oder aggressiven Verhaltens zu stoßen.

Ich möchte aber zur Aufzählung Frau Dr. Pringles noch zwei Punkte hinzufügen, die vor allem für Jungen wesentlich sind: das Bedürfnis, sich an einer Heraus­forderung zu bewähren, und das Bedürfnis, eine Aufgabe zu haben.

Anders als die untätigen oder unterbeschäftigten Jugendlichen in der modernen Stadt wird ein Junge in einer urtümlichen Gesellschaft nach Erweis seiner Tapferkeit und Selbstbeherrschung in den Initiationsriten ein «junger Krieger», der für seinen Stamm gegen die Feinde zieht und mit einem Skalp wieder zurückkehrt — und das erfüllt die beiden genannten Bedürfnisse. Wo aber können wir in der Zivilisationsgesellschaft einen vergleichbaren Ersatz finden, wenn wir nicht Krieg in Kauf nehmen wollen? Jugendliche, die einen Bandenkampf entfesseln oder an einem Einbruch teilnehmen, versuchen ganz eindeutig ein instinktives Bedürfnis abzureagieren. Derartige Unternehmungen ermöglichen es ihnen, Mut und Geschicklichkeit zu beweisen, geben ihnen auch für die Dauer der Unternehmung ein festes Ziel, dem sich alles unterordnet, bringen Verantwortung mit sich und neue Erfahrung.

Wie aber ließen sich konstruktivere Aufgaben als ein Bandenkampf oder ein Einbruch finden, die dennoch die gleiche bedürfnisstillende Wirkung hätten? Es sind in kleinerem Rahmen hier Versuche gemacht worden, die sich bewährt haben, etwa die Freilandlager oder die Abenteuerschulen in England oder die Campingreisen, wie sie von Sozialhelfern in den USA und Kanada organisiert worden sind. Die Instruktoren in diesen Lagern konnten sich zu ihrer Überraschung von der umstimmenden Wirkung einer Umgebung überzeugen, die Bewährung abforderte.

Leider werden mit solchen Bemühungen die Probleme nur zu einem kleinen Bruchteil abgedeckt. Wenn man sich einmal klarmacht, daß nahezu ein Viertel aller Schwerverbrechen und über 40 % der Einbrüche und Raubüberfälle in Großbritannien von Jugendlichen unter Siebzehn begangen werden, dann gewinnt man einen Eindruck von den sozialen Belastungen, die durch Ignorierung dieses Problems entstanden sind. Übrigens lauten die Zahlen für andere Industriestaaten nicht sehr abweichend.

2  Austobenlassen  328


Kann man mit Abenteuerlagern noch Kinder im Schulalter von Handlungen gegen das Gesetz ablenken, so wird das eigentliche Problem erst dann virulent, wenn der junge Mensch die Schule hinter sich gebracht hat — vor allem dann, wenn er keine Arbeit findet oder in einem öden Job dahinvegetiert, der an ihn keine wirkliche Anforderung stellt. Was not tut, sind Berufslaufbahnen, die auch von der Sache her als lohnend empfunden werden. 

Gezeigt haben dies Ann Link und Mitarbeiter von der Universität Birmingham im Jahr 1971, als sie Möglichkeiten aufwiesen, wie sich Menschen ohne zufriedenstellende Aufgabe doch engagieren können. Die erste Ausgabe ihres «Directory of Alternative Work» («Handbuch für alternative Arbeit») war schon nach wenigen Wochen vergriffen, und eine neue Auflage von 2000 Exemplaren wurde schnellstens in Heimarbeit zusammengeheftet. Jetzt werden 6000 Exemplare jährlich verkauft. Unter den angegebenen Tätigkeitszielen sind die Errichtung von Unterkünften für Ausgeflippte, örtliche Zentren für geistig leicht gestörte Erwachsene, Heime für in Schwierigkeiten befindliche Frauen, demokratisch geführte Fabriken usw. Ann Link und ihr Mann erhalten jährlich etwa 3000 Anfragen. Immer mehr Menschen zeigen sich an alternativer Arbeit interessiert. Mindestens zwei britische Universitäten sind jetzt bemüht, den Studenten bei der Suche nach alternativer Arbeit zu helfen, wenngleich die meisten ihre Tätigkeit in diesem Rahmen nur als befristeten Erfahrungsgewinn betrachten.

 

Die Organisation Community Service Volunteers (CSV), hervorgegangen aus dem Voluntary Service Overseas, hat in zwölf Jahren Aufgaben für freiwillige Helfer entwickelt; diese können ein Jahr Gemeinschaftsdienst in einem Heim für schwer erziehbare Jugendliche, in einem Kinderheim, in einem Zigeunerlager oder bei Einwandererkindern machen. Unter den Freiwilligen sind selbst Einwanderer, ehemalige Häftlinge, auch Blinde. Einige lokale Behörden erkannten sofort die Vorteile. «Im Londoner Stadtteil Camden hat man zum Beispiel schon bald die Entlastung des Budgets und die günstigen Auswirkungen auf soziale Notsituationen gesehen. Man stellte zwei freiwillige Mädchen ein, die drei kleine Jungen versorgten, deren Mutter in der Klinik lag und zwei Jahre nicht nach Hause kam. Die einzige Alternative wäre gewesen, die Kinder in ein Heim zu geben. 

Im Stadtteil Islington sind 27 Freiwillige auf verschiedene Weise tätig. Diese Helfer erhalten freie Wohnung und Verpflegung, dazu 3 Pfund wöchentlich als Taschengeld, das auf verschiedene Weise ausgezahlt wird und unter CSV-Verwaltung steht.» So berichtet Caroline Moorehead, und sie fährt fort: «1965 erkannte man bei der Polizei den Wert dieser Art Ausbildung auch für Polizeischüler, und viele machen heute drei Monate Gemeinschaftsdienst, der als fester Bestandteil der Ausbildung gewertet wird. Chefinspektor John Harrison aus Hampshire ist der Ansicht, daß drei Monate auf der anderen Seite des Zauns, etwa in einer Heilanstalt oder unter schwer erziehbaren Kindern, recht gute Wirkung tun. Er nimmt in Kauf, daß einige der Polizeischüler sich so stark engagieren, daß sie aus der Polizei ausscheiden und nach Verlauf ihrer drei Pflichtmonate weiter im CSV-Dienst bleiben.»

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Leider hat die Industrie noch wenig Hilfe geleistet. Sie könnte manche Apparatur, so etwa elektronisches Gerät für die Behandlung Schwachsinniger, zur Verfügung stellen. Eine Organisation, das Action Resource Centre, wurde eigens gegründet, um derartige gemeinsame Vorhaben zu verwirklichen, und gegenwärtig bildet sie fünfzig junge Männer aus Westindien aus, die unter Assistenz von Facharbeitern und eines von der Industrie abgestellten Herstellungskoordinators verschiedene Übungsgeräte herstellen. Die Managerschulen könnten eigentlich auch einen Lehrgang zu diesen Fragen in ihr Programm aufnehmen. Selbstverständlich wäre auch die Hilfe von Personen im Ruhestand erwünscht.

Urtümliche Gesellschaften sind nahezu auf der ganzen Welt stets bestrebt gewesen, den Übergang von der Kindheit zum Erwachsenendasein möglichst klar durch ein öffentliches Zeremoniell abzugrenzen. In der Kindheit herrscht Freiheit von Verantwortung, doch gleichzeitig Abhängigkeit. Die einzige Anforderung, die gestellt wird, ist ein gewisses Maß an Zusammenarbeit mit jenen Menschen, die das Kind ernähren und betreuen. Als Mann steht jeder auf seinen eigenen Füßen, trägt Verantwortung für das, was er tut, und ist auch gegenüber der Gesellschaft verpflichtet. 

Die Unsicherheit junger Leute resultiert heute zu einem Teil aus der Verwischung dieser Übergangssituation. Ist man denn nach Schulabschluß wirklich ein Erwachsener? Dann müßte doch die Gesellschaft den Schulentlassenen brauchen und zu etwas heranziehen, müßte sie deutlich machen, was sie von ihm erwartet. In agrarischen Gesellschaften braucht man die Hilfe der Kinder schon vom frühestmöglichen Zeitpunkt an. Auch unsere Gesellschaft braucht Aufgaben für die Heranwachsenden, entweder in der Sozialhilfe oder auch in einigen Bereichen der Produktion. Und Rechte wie Pflichten des erwachsenen Mannes — etwa in bezug auf bürgerliche Ehrenämter, Wehr- und Zivildienst, Wahlen, Arbeit — sollten gleichzeitig beim Eintritt ins Erwachsenenleben jedem einzelnen zufallen. Ich möchte selbst so weit gehen und vorschlagen, daß irgendein äußeres Symbol — ein Abzeichen, besondere Kleidung, Haartracht oder was immer — den sozialen Übergang sichtbar macht, damit auch die anderen wissen, welche Erwartungen und Forderungen an einen Menschen gestellt werden können.

Die Langeweile, von der ich im Kapitel 5 sprach, resultiert aus dem Fehlen einer sinnvollen Aufgabe, entsteht, weil der Jugendliche «nichts zu tun» hat. Klar ist, daß Arbeitslosigkeit dieses Gefühl unerfüllten Dahinlebens verstärkt. Der an der Schwelle zum Erwachsenenleben stehende Jugendliche möchte — vielleicht erst nach einer Zwischenphase des Suchens und Herumexperimentierens — nicht nur einen Geldjob, sondern eine Aufgabe, die sein ganzes Leben weiterbringt. 

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Was er braucht, ist nicht bloß Verdienst und Förderung: Er will tätig teilhaben an einer Sache, die mehr ist als er selbst, damit er auch für etwas arbeitet, das seiner Anstrengung wirklich wert ist. Nur so verwirklicht er sich selber. Auch aus diesen Gründen stellten die Hitlerjugend und die Braunhemden der SA für die Arbeitslosen der Weimarer Republik eine so starke Verlockung dar. Und vor diesem historischen Beispiel sollte die gesellschaftliche Gefahr gesehen werden, die heute durch die Massen arbeitsloser junger amerikanischer Farbiger droht; keine vernünftige Regierung kann sie außer acht lassen. Wenn infolge einer großen Weltwirtschaftskrise die Arbeitslosigkeit in Europa und Japan ansteigen sollte, dann wäre die Gefahr des Totalitarismus in aller Schärfe da. Schon heute können wir beobachten, wie die Zugehörigkeit zu einer aktivistischen politischen Gruppe für Menschen in langweiligen Lebensumständen all das sichert, was Frau Dr. Pringle als Grundbedürfnisse aufgezählt hat: das Gefühl, gebraucht zu werden, Verantwortung, Lob und Anerkennung sowie neuartige Erfahrungen. Der studentische Protest erfüllt eine ähnliche Funktion.

Wenn die Gesellschaft keine Rollen anzubieten hat, dann fühlt sich der Jugendliche ihr entfremdet, ja geradezu zurückgestoßen. Seine Antwort ist dann: «Zum Teufel mit der Gesellschaft — wenn sie mich nicht haben will, dann will ich sie auch nicht.» Dieses Gefühl kann selbst bei einem Menschen virulent werden, der einen Beruf hat, sofern dieser Beruf ihm irgendwie nicht angemessen und ohne Anforderung an sein mögliches Können ist, sofern er nur als Arbeitsmaschine bewertet wird. Beim Arbeitslosen aber gewinnen solche Gefühle noch ungleich größere Dynamik. Der Psychiater S. L. Halleck bemerkt: «Verstöße gegen das Gesetz unter Jugendlichen nehmen ab, wenn diese Gelegenheit erhalten, sich einem sinnvollen Bemühen anzuschließen.»

Zu dem Gefühl, man werde nicht gebraucht, tritt das Gefühl der Hilflosigkeit, der «Unfähigkeit, den Lauf des eigenen Lebens oder gar den Lauf der Welt zu bestimmen». Aus solcher Hilflosigkeit entstehen Depressionen. Wer ein Verbrechen begeht, fühlt sich nicht mehr als bloßes Opfer — er hat selbst gehandelt. Und dieses Handeln bringt einem Ziel näher, real etwa wegen des geraubten Geldes, aber auch psychologisch. (Eltern, die ihre Kinder in Abhängigkeit und Hilflosigkeit halten, nähren solche Impulse noch zusätzlich.)

Hinter jedem Erwachsenen steht das Kind, das er selbst einst gewesen ist. In den ersten fünf Lebensmonaten werden Verhaltensmuster vorgeprägt, werden auch Wunden geschlagen, die in manchen Fällen die Persönlichkeitsstruktur in einer Weise deformieren können, daß zur Heilung die hier geschilderten Maßnahmen nicht mehr ausreichen. Eine Verbesserung der elterlichen Fähigkeiten — und das bedeutet mehr, als bloß für ein Kind zu sorgen — ist das A und O bei der Bewältigung des gesamten Sozialproblems.

2  Austobenlassen  331


3  Hintergrund Familie  

 

Wir verfügen heute über genügend psychologisches Wissen, um damit eine großangelegte Aktion gegen die familiären Bedingungen zu führen, durch die verbitterte und seelisch verkrüppelte Menschen mit Anfälligkeit für kriminelles und antisoziales Handeln hervorgebracht werden. (Es ist bezeichnend, daß 74% der eindeutig Kriminellen in Herstedvester zwar aus an sich intakten Familien kommen, aber in Säuglingsheimen oder ähnlichen Einrichtungen ihre erste Lebenszeit verbracht haben.

Es sind tatsächlich Tausende von Untersuchungen über gestörte und kriminelle Kinder vorgenommen worden, und dies in vielen Ländern (von entsprechenden Untersuchungen über Erwachsene gar nicht zu reden). Das Ergebnis all dieser Erhebungen ist umstritten. Wenn es ein Gebiet gibt, in dem wir in der Lage sind, etwas Wirkungsvolles zu unternehmen, dann ist es dieses. «Wenn wir fünf Jahre lang alle Forschung über Kinder stillegten und nur das anwenden wollten, was wir bereits wissen, dann ließe sich damit schon einiges erreichen», sagt hierzu Frau Dr. Pringle.

Vor einem Vierteljahrhundert fanden die beiden Gluecks, die auf diesem Gebiet bahnbrechend waren, daß «aggressive, antisoziale Personen aus einer Umgebung kamen, die gekennzeichnet war durch abweisende Haltung der Eltern, familiären Zwist, eine auf Bestrafung beruhende Disziplin und Unbeständigkeit der Verhältnisse». Diese an Kindern der unteren Sozialschichten gewonnenen Erkenntnisse wurden später durch Beobachtungen von Bandura und Walters an Kindern der Mittelklasse bestätigt. Es sind also nicht die Kinder aus durch Scheidung der Eltern auseinandergerissenen Familien, die die großen Probleme stellen, wie oft gemeint wird; problematisch sind vielmehr nach außen hin intakte Familien, in denen das Kind aber weder Liebe noch eine verläßliche Umwelt bekommt.

Häufig lassen gerade Familien an sich gutwilliger, beruflich stark beanspruchter Eltern mit hoher Intelligenz in dieser Hinsicht zu wünschen übrig, weil die Eltern gerade oft dann nicht anwesend sind, wenn das Kind sie besonders bei sich haben möchte — etwa bei den Mahlzeiten. Essen ist ja ein Symbol der Liebeszuwendung. Es genügt also nicht, daß bloß die Versorgung mit Nahrung sichergestellt ist. Es gehört für das Kind auch dazu, daß jemand sich ihm beim Essen liebevoll zuwendet, daß eine Atmosphäre gemeinsamen Tuns und geteilter Freude besteht. Noch wichtiger ist die Anwesenheit der Eltern beim Zubettgehen, wenn die Erfahrungen des ganzen Tages noch einmal vor das Bewußtsein treten und verarbeitet werden und die Gegenwart der Eltern Sicherheit gibt.

3  Hintergrund  332


In einer weiteren sorgfältigen Untersuchung an 174 Jungen, die nicht kriminell waren, bei denen aber aggressionsauslösende Faktoren festgestellt werden sollten, wurde herausgefunden, daß die mehr zu Aggressivität neigenden Jungen meist Eltern hatten, die leicht bereit waren zu strafen, vor allem auch viele Drohungen vorbrachten, wobei aber das Fehlen liebevoller Zuwendung der ausschlaggebende Faktor war. Nur 5 % der aggressiven Jungen hatten Eltern, die sich beide liebevoll um sie kümmerten, während nur 5 % der nicht aggressiven Kinder lieblose Eltern hatten.

Sears, Maccoby und Levin befragten 1957 in den Neuenglandstaaten der USA 379 Mütter und fanden heraus, daß aggressives Verhalten bei kleinen Kindern abhängig war von «elterlichem Gewährenlassen gegenüber Aggressionen, Anwendung körperlicher Strafen und mangelnder Selbstachtung bei der Mutter». Sie schlössen daraus, daß «der Wunsch und der Vorsatz, änderen weh zu tun», in der Kindheit erlernt werde. (Vielleicht ist hier «erlernen» kein ganz passender Ausdruck, da man bei in totaler Isolation aufgezogenen Affen ebenfalls Aggressivität feststellte. Wie dem auch sei, klar ist in jedem Fall, daß ein Mangel an liebevoller Zuwendung bei der Bildung einer aggressiven Persönlichkeitsstruktur wesentlich beteiligt ist.)

Aus der entgegengesetzten Blickrichtung hat sich Perry London dem Fragenkomplex genähert. Er untersuchte altruistische Menschen, die er «Helfertypen » nannte, und fand heraus, daß nahezu alle sich sehr eng mit ihren Eltern identifizierten, die ihrerseits gute Vorbilder für ethisches Verhalten gegeben hatten. Vor allem war der Einfluß des Vaters wichtig.* Laut einer britischen Untersuchung äußerten sich straffällig gewordene Jungen dahingehend, sie spürten, daß ihr Vater sie weniger liebe als ihre Mutter; eigentlich aber, setzten sie hinzu, müsse er sie mehr lieben. Im Gegensatz hierzu meinten nicht straffällig gewordene Jungen, sie würden von beiden Eltern gleichermaßen geliebt, und dies sei so richtig.

Besonderes Interesse verdient die Untersuchung von Bacon, Child und Barry (1963), die eine ganze Reihe unterschiedlicher Gesellschaften auf der ganzen Erde untersuchten und zu dem Ergebnis kamen, daß für kriminelles Verhalten bei Erwachsenen folgende Gegebenheiten während der Kindheit bestimmend sind:

  1. vaterloser, nur aus Mutter und Kind bestehender Haushalt; daraus resultieren ungenügende Möglichkeiten der Identifikation mit dem Vater in früher Kindheit;

  2. gemeinsamer Schlafraum oder gemeinsames Bett mit der Mutter; hierdurch wird ein überstarkes Abhängigkeitsverhältnis zur Mutter geschaffen;

  3. abrupte, von Strafen begleitete Anpassung an die Normen der Gesellschaft und erzwungenes Hinausdrängen in die Selbständigkeit; beides führt zu emotionaler Verwirrung.

 

* Ein interessantes Detail gibt Wolfenstein, Verfasser psychologischer Studien über Lenin, Trotzki und Gandhi. Er weist darauf hin, daß alle drei Persönlichkeiten ein ungewöhnlich ambivalentes Verhältnis zu ihren Vätern hatten. Vor allem Trotzki hatte einen Drang, seinen Vater zu demütigen, wobei er mit Haß die Beziehung seines Vaters zur Mutter verfolgte. Lenin entwickelte negative Empfindungen gegen den Vater wegen dessen häufiger beruflicher Abwesenheit und empfand beim Tod seines Vaters Schuldgefühle.

3  Hintergrund  333


Die Autoren vertraten die Ansicht, daß Kindheitserfahrungen dieser Art zur Verfestigung einer Haltung führen müßten, bei der Rivalität, Mißtrauen und Feindseligkeit bis in das Erwachsenenalter erhalten blieben. Tatsächlich fanden sie Merkmale eines zu Mißtrauen neigenden, fast paranoiden Charakters noch in späteren Jahren. (Ein allzu jäh erfolgender Übergang in die Selbständigkeit scheint mehr die Bereitschaft zum Diebstahl als die Neigung zur Gewalt zu fördern und erschwert die Beziehungen zu anderen Menschen.)

Zahllose andere Untersuchungen könnten noch angeführt werden, doch geht es mir hier nicht darum, eine vollständige Analyse der Aggression zu liefern. Es soll aber deutlich werden, daß eine Gesellschaft, die auf Verringerung der Aggression hinarbeiten will, auch große Anstrengungen unternehmen muß, Familien der beschriebenen Struktur zu helfen. Viele Eltern kennen noch nicht einmal die simpelsten psychologischen Tatsachen. So darf etwa ein Kind bis zum siebten Lebensjahr nicht länger als 48 Stunden von den Eltern getrennt sein, und für niedrigere Altersstufen gelten entsprechend kürzere Trennungsfristen. Doch selbst gebildete Eltern gehen oft für vierzehn Tage und länger alleine auf Urlaub und lassen in dieser Zeit ihr Kind bei einer Pflegeperson oder bei Freunden. Kleinkinder müssen zudem stufenweise an eine Ausdehnung der elterlichen Abwesenheit gewöhnt werden.

Zum Teil sind hier soziale Faktoren im Spiel: Wenn die Eltern an entfernteren Arbeitsplätzen tätig sind, etwa sogar im Pendelverkehr dorthin gelangen müssen, dann können sie nicht rechtzeitig zu Hause sein, um ihre Kinder zu füttern und zu Bett zu bringen. (Ich komme im nächsten Abschnitt auf diesen sozialen Aspekt noch zurück.) Aber von solchen Gegebenheiten einmal abgesehen: Es besteht in der Tat die Notwendigkeit einer Schulung für Eltern. Keith Joseph, 1973 britischer Gesundheitsminister, kündigte an, man werde in begrenztem Rahmen bemüht sein, den Teufelskreis zu durchbrechen, in dem schlechte Eltern schlechte Kinder heranziehen, die dann ihrerseits wieder schlechte Eltern werden — und so immer weiter. Zweifellos wird auch der kleinste Anssatz in dieser Richtung als «Einmischung in Privatangelegenheiten» kritisiert werden. Gerade jene Eltern, die ein Umlernen nötig hätten, werden die letzten sein, die auf entsprechende Ratschläge hören. Ohnedies können psychisch gestörte Eltern nicht auf bloße Ratschläge hin ihr Verhalten ändern. Da müßte das Problem schon mehr an den Wurzeln angepackt werden. Gleichwohl müssen wir tun, was sich tun läßt und wo immer sich etwas tun läßt.

3  Hintergrund  334


Professor Cortes hat in Washington den Vorschlag gemacht, man möge eine repräsentative Anzahl von besonders gefährdeten Familien auswählen und nur der einen Hälfte dieser Familien ein Maximum an Hilfe und Unterstützung zukommen lassen, wobei nach etwa zehn Jahren ja sichtbar werden müsse, in welcher der beiden Gruppen mehr gestörte und straffällige Kinder zu finden seien.

Es ist heute möglich, potentielle Straftäter mit einer Sicherheit um 90 % bereits im Alter von etwa acht Jahren auszumachen, und zwar mittels Informationen über ihren familiären Hintergrund und über die Körperkonstitution der Kinder; so zeigen muskulöse Knaben häufiger die Neigung, ihre Probleme in körperlicher Aktivität abzureagieren, während die mehr zerebral bestimmten Typen ihre Probleme internalisieren und «Neurotiker» werden.

Kaum läßt sich der Glaube ausrotten, Eltern wüßten instinktiv schon am besten, was gut für ihr Kind sei. Aber früher glaubte man auch, jede Mutter wisse, wie sie ihr Kind zu ernähren habe, und doch können Eltern ohne Richtlinien für Säuglingsdiät keine gesunden Kinder großziehen. Es ist auch gar nicht der Instinkt, sondern vielmehr die Nachahmung von Beispielen, die frühere Ernährungspraktiken bestimmte, und es ist die mangelnde Gelegenheit zur Nachahmung, die in der modernen Gesellschaft dazu zwingt, die Säuglingsernährung zum Gegenstand eines mehr abstrakten Lernprozesses werden zu lassen, bei dem Handbuch oder Gebrauchsanweisung das anschauliche Beispiel ersetzen müssen. Denn in der Lehmhütte oder am Lagerfeuer sah schon das kleine Mädchen Mütter mit ihren Säuglingen beschäftigt und lernte durch Zusehen und Fragen. Eine solche Direktvermittlung fehlt in der Mietwohnung unserer Tage. (Tatsächlich haben Untersuchungen in einer amerikanischen Wohngemeinde gezeigt, daß die Mütter sehr unterschiedliche Methoden bei Entwöhnung, Sauberkeitserziehung, Folgsamkeit usw. praktizieren, im allgemeinen aber glauben, sie machten es so wie alle anderen Mütter auch.)

Bei den Gerichten und den sozialen Betreuungsinstitutionen herrscht Übereinkunft hinsichtlich der Art, in der mit einem jugendlichen Straftäter verfahren werden sollte, wie E.S. Higgins, der Vorsitzende der Society of London Directors of Social Service, sagt. «Aber die nötigen Mittel hierfür», so Higgins, «sind einfach nicht in hinreichender Menge vorhanden, auch nicht immer in der erwünschten Güte. Es fehlt an geschulten Helfern, und die gegenwärtigen Besoldungsmaßstäbe für diese besonders mühevolle und auch gesundheitlich nicht unbedenkliche Arbeit sind völlig unrealistisch.»

3  Hintergrund  335


  4  Tod der Familie?

   

Der bedenklichste unter all den gegenwärtig kursierenden Mythen ist jener von der Überholtheit der Familie als Institution. Offenbar speist sich diese Auffassung aus der Vorstellung einer Sozialisierungsfunktion der Familie: Die Familie sei es, die das Kind in die bestehende Kultur eingliedert und es Respekt vor der Autorität älterer und erfahrener Mitglieder der Gesellschaft lehrt. Wenn man also Revolution machen möchte, dann schaffe man am besten die Familie ab. Da mögen populärpsychologische Thesen wie die von Theodor Reik dahinterstehen, aber der Gedanke ist älter. Bald nach der Oktoberrevolution gab es in Rußland Versuche einer Abschaffung der Familie, doch folgte schnell die Einsicht, daß die Betreuung der Kinder in institutionalisierten Gruppen bloß Menschen mit asozialen Tendenzen hervorbringt, die sich in keine Gesellschaft einordnen. So wurde davon wieder Abstand genommen.

Tatsächlich ist die Familie der Mikrokosmos der Gesellschaft, und dies in einer weitaus komplexeren Weise, als revolutionärer Übereifer sich das klarmacht. Wer die Familie aufbricht, bricht auch die Gesellschaft auseinander. Die Geschichte des Niedergangs unserer Zivilisation ließe sich beschreiben als stufenweiser Abbau familiärer Strukturen. Zu unterscheiden ist aber zunächst die Kernfamilie — Eltern und Kinder — von der Familie im weiteren Sinne, der Verwandtschaft. In der vorindustriellen Gesellschaft lebte die Verwandtenfamilie in einer Entfernung von der Kernfamilie, die gewöhnlich einige Gehminuten, allenfalls Gehstunden nicht überschritt. Die heranwachsenden Kinder sahen die meisten ihrer Verwandten regelmäßig, und häufige Familienereignisse führten alle immer wieder zusammen. 

Eine solche Großfamilie bietet mehr Sicherheit und Erleichterung als die Kernfamilie von heute: Ist einer der Eltern krank, so springen Verwandte helfend ein. Übrigens zeigt die Anthropologie, daß die Familie verschiedene Formen annehmen kann. In nicht wenigen Primitivgesellschaften werden die Kinder von der Mutter und ihrem Bruder erzogen, in anderen erfüllen die Mütter mit ihren Schwestern gemeinsam die Mutterrolle an den eigenen wie an den Schwesterkindern. Polygamie, Polyandrie und Gruppenehen schaffen wieder andersartige Familienstrukturen, die sich alle mehr oder weniger bewährt haben. Die Familie, wie wir sie kennen, ist mitnichten die einzige, sakrosankte Möglichkeit. Aber wer andere Familienformen für zulässig erklärt, befürwortet damit keineswegs die Abschaffung der Familie schlechthin.

 4  Tod der  336


Wichtig ist allein, daß durch menschliche Beziehungen Vorbilder geschaffen werden, an die das Kind emotional gebunden ist, mit denen es sich identifizieren kann und die Sicherheit und eine geordnete Umwelt garantieren. Fehlen aber diese Bedingungen, so entstehen Neurosen, Ichschwäche und Unfähigkeit zu Gewissensentscheidungen. In der Familie wird weitergegeben, was kulturell überliefert ist, wobei das Kind sowohl durch Nachahmung als auch durch die Befolgung erteilter Lehren lernt. Es eignet sich die Fertigkeiten, Techniken, Wertsysteme an, übernimmt die Tabus, die Rituale, die ganze Grundeinstellung. Das alles kann brauchbar aussehen oder auch nicht, die Tabus können irrational, die Einstellungen nicht eben erwünscht sein (vom Standpunkt unserer Kultur aus) — es ist doch immer besser als gar nichts.

Die Erfahrung in den Kibbuzim zeigt, daß Kinder auf längeren Kontakt mit ihren biologischen Eltern angewiesen sind — Betreuer und Lehrer, wie zuwendungsbereit sie sein mögen, sind doch nicht genug. Wahrscheinlich brauchen Kinder auch Dinge, die ihnen alleine gehören. So hat man den Kindern in den Kibbuzim mittlerweile eigenes Spielzeug zugestanden, während früher die ganzen Spielsachen allen gemeinsam gehörten.

Aufgrund ausgedehnter Untersuchungen in einem halben Dutzend verschiedener Länder hat Dr. Urie Bronfenbrenner die Verbindung zwischen enger emotionaler Elternbeziehung und dem Sozialverhalten herausgearbeitet. Das einzige Land, in dem Kinder noch häufiger als in den USA Bereitschaft zu antisozialem Verhalten an den Tag legten, war England. Bronfenbrenner: «England ist das einzige Land unserer Untersuchungsreihe, das ein geringeres Maß elterlicher Zuwendung von Seiten beider Eltern zeigt als unser eigenes Land [die USA], wobei besonders die Väter weniger Zuneigung und Kameradschaftlichkeit bekunden und sich überhaupt weniger mit ihren Kindern abgeben.» Bestätigung erfährt diese Aussage durch R. G. Andry vom St.-Thomas-Hospital in London, der feststellen konnte, daß die von ihm beobachteten Straffälligen gern ein engeres Verhältnis zu ihren Eltern gehabt hätten, daß sie sich mehr Lob für Geleistetes vor allem von ihren Vätern wünschten. Tatsächlich hatten diese Väter weniger Kontakt zu ihren Söhnen als die Väter nicht straffällig Gewordener und unternahmen mit ihnen viel weniger gemeinsam.* 

Ähnliche Ergebnisse liegen aus den USA vor. Hierzu der Verhaltensforscher Irenäus Eibl-Eibesfeldt in seinem Buch «Liebe und Haß»: «Die Familie gewährt dem Menschen jene Liebe und Sicherheit, in der das Urvertrauen zu Mitmenschen wächst.» Aus diesem Urvertrauen entwickelt sich unsere Fähigkeit, soziale Bindungen einzugehen.

* Es gab freilich noch andere Faktoren, die hier nicht berücksichtigt wurden. So waren unter den Straffälligen häufiger Kinder, die nicht an der Brust gestillt worden waren; außerdem glaubten die Untersuchten, ihre Mütter seien ihnen gegenüber zu nachsichtig gewesen. 

 4  Tod der  337


Wenn also politische Bewegungen sich gegen die Familie richten, weil sie angeblich die Quelle aller Unterdrückung darstellt, so ist das eine gefährliche Sache. «Was dabei übersehen wird, ist die Tatsache, daß mit einer solchen künstlichen Unterbindung starker persönlicher Bindung erst recht Entbehrungs­erlebnisse erzeugt werden», schreibt Eibl-Eibesfeld. «Und zwar nicht, weil wir Menschen überall durch Erziehung falsch programmiert wurden, sondern weil wir bereits so programmiert zur Welt kommen.» (Hervorhebende Kursive von mir.) Wird einem Kind die Erfahrung der Elternbeziehung vorenthalten, so wird seine Persönlichkeit daran Schaden nehmen. Eibl-Eibesfeldt: «Solche Menschen gehen überhaupt keine starken Bindungen mehr ein, sie werden selbstbezogen, was man doch gerade vermeiden will.»

In einigen Kommunen hat man versucht, durch gemeinsame Kasse, polygame Sexualbeziehungen, gemeinsames Essen aus einer Schüssel ein Gemeinschafts­bewußtsein zu schaffen. Hier herrscht die Theorie, daß ein Kind sich nicht bloß an seine Eltern binden solle, sondern zu einer Anzahl von Elternfiguren Beziehungen entwickeln müsse; daß es keine eigenen Spielsachen besitzen dürfe, weil dadurch der Besitztrieb angestachelt werde. In Wahrheit aber erzeugt die Verweigerung jeglichen Eigentums Frustrationen, und nur durch die Erfahrung des Besitzes kann man auch lernen zu teilen.

Diese Kommunarden bedenken Leistungen nicht mit Lob, da sie dafürhalten, Leistungsstreben sei eine Quelle der Aggression. Sie wollen auch keine Distanzierung von der Gruppe billigen; wenn ein Kind alleine herumlaufen möchte, wird es zurückgebracht und sein Verhalten einer Analyse unterzogen. Indessen ist das Bedürfnis nach Ruhe und Sammlung allen Menschen gemeinsam. Die Leidenschaft für Gemeinsamkeit geht in einigen Kommunen so weit, daß selbst die Klotüren ausgehängt wurden.

Vor allem soll die Familie als ein Bollwerk der Autorität abgeschafft werden. Daher ist weder Lob noch Tadel erlaubt, und bei der Erziehung der Kinder soll weder die Bekundung von Liebe noch auch Bestrafung als pädagogisches Mittel zur Anwendung kommen. Aber es gehört zu den menschlichen Grundbedürfnissen, durch Leistung die Anerkennung der Mitmenschen zu gewinnen, und hierauf beruht die ganze Selbstachtung. Somit sind diese Erziehungsmethoden alles andere als progressiv, sie sind im Gegenteil extrem rückständig und werden mit Sicherheit im Lauf der Zeit hochgradig gestörte Erwachsene hervorbringen. Ein Familienleben — von Kommunarden als «bürgerlich» abgetan — existiert in allen primitiven Gesellschaften, wie Eibl-Eibesfeldt gezeigt hat, und hat mit Bürgertum gar nichts zu tun. Zu Recht nennt Eibl-Eibesfeldt jede Form einseitiger Erziehung fundamental intolerant und daher repressiv.

Leider bricht die Industriegesellschaft die Familie auch ohne Assistenz der Kommunarden entzwei. Jede Regierung, die auf Wiederherstellung eines bescheidenen Maßes an sozialem Zusammenhalt abzielt, sollte sich die Wiederherstellung der Familie zum Ziel setzen — durch Änderung der Bedingungen, die Väter und Mütter dazu zwingen, fernab

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von ihren Kindern zu arbeiten; durch Aufklärung und soziale Hilfe gegenüber Eltern, die keine Einsicht in ihre Lage haben oder gar selbst unter psychischen Schwierigkeiten leiden; durch Verknüpfung ihrer Wohnungsbauentwicklungspläne mit Projekten, die zur Wiederherstellung größerer Sozialgruppierungen oberhalb der Eltern-Kind-Familie führen, zu jenen Großfamilien also, von denen ich eingangs gesprochen habe.

Werden diese Zusammenhänge erst einmal besser verstanden sein, dann werden Regierungsstellen oder Großfirmen ihre Mitarbeiter nicht mehr alle zwei oder drei Jahre auf neue Posten verschieben, wie das in einigen Bereichen der Industrie schon gang und gäbe ist. Man wird den Kindern wie den Eltern nicht mehr die Möglichkeit nehmen, in ein soziales Gefüge hineinzuwachsen.

Aber wie die Dinge zur Zeit noch stehen, werden die familienfeindlichen, trennenden Kräfte immer noch stärker. Die soziale Lage muß sich daher weiter verschlechtern. Eibl-Eibesfeld nimmt diese Aussicht ernst genug, wenn er sagt: «So spricht der oberflächliche Eindruck dagegen, daß wir den Anforderungen der Massengesellschaft auf die Dauer gewachsen sind.»

 

 5  Schlußfolgerung 

  

Dieses Buch hat nicht Kriminalität und Gesetzesverstöße zum Thema, so daß ich auf eine gedrängte Aufführung aller hier hereinwirkenden Faktoren verzichte. Ebensowenig vermag ich alle denkbaren Gegenmaßnahmen zu erwähnen. Eine jedoch soll hier genannt sein, da sie nur wenig bekannt ist: Erst jüngst ist festgestellt worden, daß viele Personen, die zu Gewalttätigkeit und asozialem Verhalten neigen, bei der Geburt einen kleinen Gehirnschaden erlitten haben — wohl durch vorübergehende mangelnde Sauerstoffzufuhr beim Passieren der Geburtswege. (Auch das Gehirn des Erwachsenen wird unwiderruflich geschädigt, sofern die Sauerstoff Versorgung nur wenige Minuten unterbunden wird.) 

In der Regel lassen sich solche Gehirnschäden feststellen, und zwar durch geringfügige Abweichungen der Gehirnstromwellen im Elektroenzephalogramm. Es wäre daher eine Präventivmaßnahme, alle Kinder einer solchen Untersuchung zu unterziehen oder doch zumindest all jene, die Anzeichen einer Verhaltens­störung zeigen. Kinder, die gehirnphysiologisch auffällige Fehlfunktionen aufweisen, könnten dann weiter ärztlich beobachtet werden. 

In einem Alter, wo sie das Verständnis dazu haben, müßte man sie dann auf ihre besonderen Bedingungen hinweisen, wodurch es ihnen vielleicht leichter fiele, mit dem geringen Defekt zu leben und ihn zu kontrollieren. Es wäre denkbar, daß durch Verabfolgung von Sedativa mancher heraufziehende Wutanfall oder Ausbruch beigelegt werden könnte. Natürlich ließe sich so etwas nicht in jedem Fall durchführen, und der Umgang mit der explosiven Psyche stellt delikate ethische Probleme.

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Wir haben andere Individuen, die an «Reizarmut» leiden. Das Leben erscheint ihnen trostlos langweilig, sofern sie nicht hochgradig stimuliert werden. Sie suchen daher jegliche Art von Nervenkitzel: tollkühne Motorradfahrten, einen Banküberfall, Angriff auf ein Maschinengewehrnest mit Handgranaten — solche Dinge geben ihnen Wohlbefinden, geben das Gefühl, «wirklich zu leben». Daher bewähren sie sich auch stets in kritischen Situationen, ein Umstand, der den mehr zu banger Vorsicht neigenden Menschen schwer verständlich scheint. 

Hier käme es darauf an, solche Menschen auf entsprechenden Tätigkeitsgebieten zum Zuge kommen zu lassen: Löschen von Ölbränden, Katastropheneinsätze, Aufträge bei Spezialeinheiten, Arbeit auf dem Hochbaugerüst — das wäre besser, als wenn man sie in Berufe entläßt, in denen sie sich sterblich langweilen und dann vielleicht auf den Gedanken kommen, daß ungesetzlicher Geldverdienst viel prickelnder sein könnte.

Ich übersehe nicht die Bedeutung der gesamten sozialen Umweltstruktur für diese Probleme — Verbrechen sind besonders häufig in sozial strukturlosen Wohngebieten. Auch den kulturellen Faktor darf man nicht unterschätzen: Gewalt kann die Form sein, in der sich der Mann zu bewähren hat, oder es gibt traditionell verfestigtes Verhalten, das Gewalt impliziert, wie in Fehde und Blutrache. Andererseits finden wir auslösende Effekte. Das Dabeisein bei Gewalthandlungen, ja schon der schiere Anblick von Werkzeugen der Gewalt kann auch bei Leuten Aggressionen auslösen, die unter anderen Umständen sich hätten beherrschen können. 

Die Anthropologin Margaret Mead hat die Notwendigkeit fester Rituale für Aggressionsabfuhr und Schulderlassung unterstrichen. Andere Autoren haben darauf hingewiesen, daß durch Lärmbelastung oder drangvolle Enge Aggressionen ausgelöst werden können. Aus Tierversuchen kann man vermuten, daß auch unter Menschen durch das Eindringen eines Fremden in eine stabile Gruppe Aggressionsbereitschaft entsteht, weil das Gleichgewicht der Beziehung gestört wird und die Rangordnung wiederherstellt werden muß, was nicht ohne Auseinandersetzungen abgeht.

Wir verfügen heute über eine Menge an Information, sowohl hinsichtlich der Ursachen aggressiven Verhaltens als auch in bezug auf asoziale Haltungen allgemein. Angesichts der Bedeutung der hier zur Diskussion stehenden Fragen machen wir viel zuwenig Gebrauch von unserem Wissen. Aus dem Blickwinkel künftiger Einsicht wird sich unsere gegenwärtige Haltung des Laisser-faire gegenüber psychologischer und sozialer Problematik ähnlich geistestrüb ausnehmen wie dem Menschen von heute die mittelalterliche Hilflosigkeit gegenüber der Pest.

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Natürlich glaube ich nicht, daß alle krankhaften Erscheinungen zum Verschwinden gebracht werden können; auch bei noch so großen Anstrengungen wird dies niemals realisierbar sein. Zufälligkeiten spielen eine große Rolle und sind nicht auszuschließen. Ein Kind, das einen der Eltern oder gar beide verliert, gerät psychisch unter eine große Belastung. Bei manchen Menschen dürften erbliche Anlagen hinzutreten: charakterliche Schwächen oder die Unfähigkeit, starke Belastungen zu ertragen, wodurch Neurosen ein günstiges Vorklima hätten. Aber das Bestehen einiger gut geordneter und friedlicher Gesellschaften läßt doch die Hoffnung zu, daß die Gesellschaft auch bei uns besser eingerichtet sein könnte, als sie es tatsächlich ist.

Mit einiger Berechtigung besteht ein Vorbehalt gegenüber Versuchen, die Persönlichkeit von Menschen zu ändern, da ein willentlicher oder versehentlicher Mißbrauch befürchtet wird. Allerdings kommt es darauf an, welches Bild vom Menschen und von seiner Psyche vorliegt. Wenn diese Psyche wirklich die Tabula rasa darstellt, in die sich nach der Methode Skinners so viele Reflexe eingraben lassen, dann könnten allerdings Versuche, bessere Individuen durch Konditionierung zu gewinnen (wie er dies vorschlägt), in der Tat gefährliche Folgen haben. 

Geht man aber davon aus, daß die menschliche Persönlichkeit sich ganz ähnlich wie der Körper nach normalen Entwicklungsgesetzmäßigkeiten entfaltet, dann handelt es sich allein darum, den Menschen gut zu nähren und gut auf das Leben vorzubereiten, ihn nicht extremen Belastungen auszusetzen, ihm die nötige Muße zu sichern — er wird dann von selbst sich so harmonisch und vollkommen entwickeln, wie dies nach Maßgabe seiner Anlagen möglich ist. Nur diese Rahmenbedingungen für günstige Entwicklung empfehle ich mit Nachdruck — die Gefahren einer «Persönlichkeitsumprägung» oder einer «Gedankenüberwachung» fürchte ich nicht weniger als die meisten anderen Menschen auch.

In der Perspektive meiner Betrachtungen steht immer der soziale Zusammenhalt. Auf ihn sei nun auch im folgenden, letzten Kapitel nochmals der Blick gerichtet.

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Gordon Rattray Taylor   Zukunftsbewältigung   How to Avoid the Future   Wie diese Zukunft zu vermeiden ist