Vorwort 1950
von Arnold J. Toynbee
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Der Inhalt dieses Bandes ist von Albert Fowler in Verbindung mit dem Verfasser aus den ersten sechs verhältnismäßig starken Bänden eines Werkes ausgewählt worden, das sich nach Veröffentlichung des noch ausstehenden Teiles voraussichtlich auf neun Bände von diesem stärkeren Umfang belaufen wird.
Die Abschnitte sind so gewählt, daß sie das beleuchten, was der Verfasser der »Study of History« über den Krieg zu sagen hat. Dieses gemeinsame Thema gibt ihnen eine innere Einheit. Aber der Leser des vorliegenden Buches wird gebeten, bei der Lektüre immer daran zu denken, daß diese Stellen aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang herausgerissen sind, und daß der Krieg nicht das Hauptthema des Werkes ist, dem sie entnommen sind. Allerdings ist es leider unmöglich, sich mit der Geschichte der Menschheit seit dem Entstehen der ersten Kulturen und der sie tragenden Gesellschaften eingehender zu beschäftigen, ohne dabei festzustellen, daß die Einrichtung des Krieges ein wesentlicher Bestandteil dieses tragischen Gegenstandes ist.
Der Verfasser hat, soweit das möglich ist, alle bekannten Kulturen, von denen feststeht, daß sie einen Niedergang erlebt haben, auf diesen hin untersucht und ist dabei zu dem Schluß — der nicht neu ist! — gekommen, daß der Krieg immer die unmittelbare Ursache des Niederganges einer Kultur war.
Freilich gibt es neben dem Krieg noch andere unheilvolle Einrichtungen, mit denen die Menschheit sich während ihres Kulturzeitalters selbst gequält hat. Eins dieser selbstgeschaffenen Übel, an das wir da sofort denken werden, ist die Sklaverei. Gewiß haben auch Sklaverei, Kastenwesen, Klassenkampf, wirtschaftliche Ungerechtigkeit und viele andere Erscheinungen des Gesellschaftslebens als Folge der Erbsünde ihre Rolle als Werkzeuge menschlicher Selbstquälerei gespielt. Der Krieg jedoch überragt sie alle an Bedeutung als Instrument der Selbstvernichtung des Menschen in sozialer und geistiger Hinsicht. Das gilt jedenfalls für die Periode seiner Geschichte, die er jetzt zu überblicken imstande ist.
Eine vergleichende Übersicht über die Niedergangsstadien der Kulturen zeigt uns, daß der Krieg der Schlüssel zum Verständnis aller Verfallserscheinungen ist.
Allerdings ist in gewissem Sinne der Krieg ein Erzeugnis der Kultur. Denn er erfordert ein Minimum an Technik, Organisation und Besitz über das zum bloßen Dasein Notwendige hinaus. Und diese Voraussetzungen waren beim primitiven Menschen noch nicht gegeben. Auf der andern Seite kennen wir aber keine Kultur (möglicherweise mit Ausnahme der der Maya, von der unsere Kenntnis bis heute nur bruchstückhaft ist), in der der Krieg nicht bereits im frühesten Stadium ihrer Geschichte, soweit wir dies zurückverfolgen können, eine feste und vorherrschende Einrichtung war.
Wie andere Übel hat der Krieg eine heimtückische Art, nicht untragbar zu erscheinen, bis er die ihm Ergebenen so fest in der Gewalt hat, daß sie nicht mehr imstande sind, sich von ihm freizumachen, wenn sie erkannt haben, daß er zur Vernichtung führt. In den frühen Stadien einer Kultur, solange sie sich noch im Wachstum befindet, scheint es so, als ob die Leiden und Zerstörungen des Krieges mehr als aufgewogen würden durch den Gewinn von Besitz und Macht und die Pflege der »soldatischen Tugenden«. Und in diesem Stadium ihrer Geschichte waren die Staaten oft in der Lage, sich in Kriege miteinander einzulassen, ohne daß dies nachteilige Folgen, selbst für die besiegte Partei, gehabt hätte.
Der Krieg fängt erst an, sich von seiner bösartigen Seite zu zeigen, wenn die kriegführende Gesellschaft ihre Wirtschaftskraft so weit gesteigert hat, daß sie die Natur in ihren Dienst stellen kann und die politische Fähigkeit entwickelt hat, die menschliche Arbeitskraft zu organisieren. Aber sobald dies Stadium erreicht ist, erweist sich der Gott des Krieges, dem die wachsende Gesellschaft sich längst völlig hingegeben hat, als ein Moloch, der einen immer größeren Teil der sich mehrenden Früchte ihres Fleißes und ihrer Intelligenz verschlingt und einen immer höheren Tribut an Leben und Glück fordert.
Und wenn die wachsende Leistungsfähigkeit der Gesellschaft einen Punkt erreicht hat, an dem sie imstande ist, eine tödlich wirkende Menge ihrer Kräfte und Hilfsmittel für den Krieg freizumachen, dann enthüllt sich dieser als ein Krebsgeschwür, das seinem Opfer zum Verhängnis werden muß, wenn es nicht herausgeschnitten und weggeworfen werden kann. Denn sein bösartiges Gewebe hat es jetzt gelernt, schneller zu wachsen als das gesunde Gewebe, das ihm als Nährboden dient.
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Wenn in der Vergangenheit dieser Gefahrenpunkt im Verhältnis zwischen Krieg und Kultur erreicht und erkannt war, wurden hin und wieder ernsthafte Versuche gemacht, den Krieg zu bannen und die Gesellschaft zu retten. Diese Bemühungen konnten zwei verschiedene Richtungen einschlagen. Allerdings kann das Heil nirgends anders gesucht werden als im sittlich bewußten Handeln des Einzelmenschen. Dieser hat aber die Wahl, sein Ziel entweder als Privatperson durch direktes Handeln oder als Staatsbürger durch indirektes Handeln zu verfolgen. Eine leidenschaftliche und aufopferungsfähige Natur wird dazu neigen, für sich selbst Kriegsdienst jeglicher Art grundsätzlich zu verweigern, einerlei zu welchem Zweck und unter welchen Umständen der Staat den Krieg führt.
Im Vergleich dazu ist die andere der beiden möglichen Haltungen umständlich und wenig heldenhaft; sie besteht darin, zu versuchen, die Regierungen in friedlicher Weise dazu zu überreden und daran zu gewöhnen, daß sie sich zu gemeinsamem Widerstand gegen mögliche Angriffe und zwecks Vermeidung bzw. Abstellung alles dessen, was Anlaß zu einem Kriege geben könnte, zusammenschließen. Nach Ansicht des Verfassers zeigt jedoch die bis heute gemachte Erfahrung unmißverständlich, daß die letztere dieser beiden — allerdings nicht leichten — Verhaltensweisen den größeren Erfolg verspricht.
Die Pazifisten haben mit der folgenden Hauptschwierigkeit zu rechnen: Sollte ihre Tätigkeit in einem oder mehreren Staaten zum Erfolge führen, dann würden diese denjenigen gegenüber, in denen sich der Pazifismus nicht oder noch nicht durchgesetzt hat, benachteiligt, ja diesen gänzlich ausgeliefert sein. Und das hieße, daß im ersten Kapitel der Geschichte die gewissenlosesten Regierungen und die rückständigsten Militärstaaten sich zu Herren der Welt machen könnten.
Mit dieser Möglichkeit zu rechnen und sich ihren unmittelbaren Folgen auszusetzen, erfordert eine aktive Vorsorge und ein passives Heldentum, derer wohl Heilige, aber niemals die große Masse gewöhnlicher Sterblicher fähig waren. Die Völker haben sich allerdings häufig in ihrer Gesamtheit den Leiden einer Bedrückung durch Eroberer unterzogen, die im Vergleich zu ihren Opfern rohe Barbaren waren. 1940 war die Welt fast so weit, daß sie sich auf diese Weise einem von den Nazis geführten und von Hitlers satanischem Geist beherrschten Deutschland unterwarf.
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Aber wir brauchen uns nur der Stimmung zu erinnern, die in Frankreich und Großbritannien während der Jahre der »Beruhigung« und später in Frankreich in der Ära Vichy vorherrschte. Da weigerte sich wohl die Masse, dem Angriff einer Kriegsmacht zur Selbstverteidigung mit Waffengewalt entgegenzutreten. Doch spielte dabei der Abscheu des Heiligen vor der Sünde des Krieges eine recht geringe Rolle. Vielmehr war die Hauptursache für diese Haltung die natürliche Abneigung des gewöhnlichen Sterblichen dagegen, den furchtbaren Preis an Blut und Tränen zu zahlen, den der Krieg nun einmal fordert.
Die Bereitschaft, diesen Preis zu zahlen, ist die Wurzel der sogenannten »soldatischen Tugenden«. Ohne diese kann kein Krieg geführt werden. Und wenn sie nicht wären, hätte die öffentliche Meinung und das Empfinden einer Mehrheit in den Gesellschaften der Kulturen die üble Einrichtung des Krieges nicht gutheißen können, wie das bis heute geschehen ist.
Dieser überlieferte Ausdruck »soldatische Tugenden« ist allerdings irreführend. Denn alle im Kriege in Erscheinung tretenden Tugenden haben auch in anderen Formen menschlicher Begegnung und menschlichen Verkehrs einen unbegrenzten Wirkungsbereich.
Auf der andern Seite haben sich dagegen diese Tugenden bei den Soldaten leider oft als vereinbar mit gleichzeitiger Grausamkeit, Raubgier und einer Unzahl weiterer Laster erwiesen. In einem Tugendwettstreit zwischen dem Krieger, der Gewalt anwendet, und dem Heiligen, der sie vermeidet, würde der Heilige heute einen moralischen Sieg davontragen, der morgen in der Praxis seine Früchte bringen würde. Leider sind die vorherrschenden Charaktere im Kampf zwischen Pazifismus und Krieg nicht ein Heiliger und ein Krieger in der gleichen Rüstung der Rechtschaffenheit. Das sind vielmehr ein Krieger — tugend- oder lasterhaft —, der den Mut hat, sein Leben aufs Spiel zu setzen, und der gewöhnliche Sterbliche, der vor Mühsal und Gefahr zurückschreckt.
Und wie wir 1939 und 1940 selbst festgestellt haben, täte der unheldische Charakter, der aus der allgemeinen Schwäche der menschlichen Natur und nicht aus Abscheu vor einer Sünde vor dem Krieg zurückschreckt, besser daran, zu versuchen, sich wenigstens auf das Niveau des Kriegers zu erheben, da er weiß, daß die Höhe des Heiligen unerreichbar für ihn ist.
Indem sie sich in den Weltkriegen von 1914-1918 und 1939-1945 auf das Niveau des Kriegers erhoben, haben friedfertige Völker die Tugenden, auf die es im Kriege besonders ankommt, mit so guter Wirkung geübt, daß sie zweimal den lange vorbereiteten Versuch eines militaristischen Reiches, die Welt zu erobern, vereitelten. Und dadurch, daß sie diese beiden Siege für einen fürchterlichen Preis an Blut und Tränen gewannen, erkauften sie zweimal für unsere Gesellschaft eine Gelegenheit, den Krieg auf eine bessere Weise aus der Welt zu schaffen als durch Unterwerfung unter den von einem Eroberer aufgezwungenen Weltfrieden.
Die erste dieser beiden Gelegenheiten haben wir verschmäht, und die Strafe für diesen offenkundigen Mangel an Mut und Verstand war der zweite Weltkrieg. Die zweite Gelegenheit haben wir jetzt. Werden wir sie wahrnehmen?
Was die gegenwärtige Lage offensichtlich erfordert, ist eine freiwillige Vereinigung der friedliebenden Völker der Welt in genügender Stärke und mit ausreichendem Zusammenhalt, so daß sie unangreifbar wäre für jeden, der sich von diesem kollektiven Sicherheitspakt ausschließt oder ihn bricht. Und diese den Frieden erhaltende Weltmacht müßte nicht nur stark genug sein, um alle Angriffe auf sie zur Aussichtslosigkeit zu verurteilen. Sie müßte auch gerecht und weise genug im Gebrauch ihrer Macht sein, um es zu vermeiden, Veranlassung zu ernster Herausforderung ihrer Autorität zu geben.
Diese Aufgabe mag ungeheuer sein; aber sie geht nicht über unsere Kräfte. Es ist der Menschheit bereits in der Vergangenheit gelungen, souveräne, unabhängige Staaten zu freiwilliger Vereinigung zu veranlassen. Das ist eine Bürgschaft dafür, daß wir die Erfahrung und die technischen Voraussetzungen besitzen, um das große politische Aufbauwerk, das heute von uns verlangt wird, durchführen zu können. Wir sind dazu fähig, wenn wir nur wollen. Unser Schicksal liegt in unserer Hand.
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London, im Juni 1950,
Arnold J. Toynbee