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2. Der Militarismus und die soldatischen Tugenden  

Toynbee-1950

 

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Daß der Militarismus selbstmörderisch ist, wird kaum jemand bestreiten, dessen Meinung etwas gilt. Aber obwohl diese Behauptung fast ein Gemeinplatz ist, ist es doch unwahrscheinlich, daß das sittliche Problem, welches die Einrichtung des Krieges stellt, gelöst werden kann. In der Tat besagt schon die Bezeichnung »Militarismus« als solche, daß dieser selbst­mörderische und ungerechte Gebrauch der militärischen Gewalt nicht der einzige ist. Er ist vielmehr die Entartung — für die wir ein besonderes Wort prägen müssen — einer Einrichtung, die deshalb noch nicht an sich, ihrem Wesen nach schlecht sein muß, weil sie sich für einen ungeheuren Mißbrauch hergibt.

Ist der Krieg seinem Wesen nach und unabänderlich schon als solcher ein Übel? Das ist eine Frage, die kein Geschichtsforscher, ja überhaupt niemand in unserer Generation der abendländischen Gesellschaft umgehen kann; denn sie ist die entscheidende Frage, von der das Schicksal unserer Kultur abhängt. Die Zeit ist gekommen, daß wir uns mit ihr befassen müssen; aber bevor wir darangehen, haben wir uns zu vergewissern, daß wir allen Schwierigkeiten Rechnung tragen.

Die Hauptschwierigkeit ist allerdings das offensichtliche Vorhandensein und die Bedeutung der »soldatischen Tugenden«. Diese stehen als eine eherne Tatsache vor uns, die wir weder verkleinern noch wegerklären können. Es ist ein Gemeinplatz volkstümlicher soziologischer Betrachtung, daß kriegerische Völker, Kasten und Klassen uns gewöhnlich eher Bewunderung abnötigen als ihre Nachbarn, die sich auf eine Weise ernähren, die es nicht erforderlich macht, das eigene Leben aufs Spiel zu setzen, um es anderen zu nehmen. 

Da ist zum Beispiel ein altmodischer englischer Offizierstyp, im Heer wie in der Marine, mit feinem Ehrgefühl, rücksichtsvoll seinen Mitmenschen gegenüber und gut zu Tieren, wenn er sie auch auf der Jagd zu seinem Vergnügen tötet. Dieser ist seit mehr als zweihundert Jahren mit als das Feinste angesehen worden, was England zu unserer abendländischen christlichen Kultur beigetragen hat.

Eine solche Bewunderung kann nicht einfach als naiv oder snobbistisch abgetan werden. Wenn wir ihr ernsthaft und unvoreingenommen auf den Grund gehen, werden wir sicherlich in unserer Überzeugung bestärkt werden, daß sie verdient ist. Denn die »soldatischen Tugenden« sind nicht auf eine bestimmte Klasse beschränkt, sondern kommen in jeder Lebenslage vor. Mut, die hervorragendste unter ihnen, ist eine Haupttugend bei jeder Tat, die ein Mann — oder auch ein Weib — vollbringen kann; und auch die anderen Tugenden, die wir unserem sagenhaften Oberst oder Kapitän zugeschrieben haben, sind nicht nur im militärischen, sondern auch im bürgerlichen Leben gültige Münze. 

Oberst Newcome und der Chevalier Bayard; Löwenherz und Roland; Olaf Tryggvason und Siegfried; Regulus und Leonidas; Partap Sing und Pritiradsch; Dschalal-ad-Din Mankobirni und Abdallah Al-Battal, Joschitsune Minamoto und Kuang Jü: was für eine gute Gesellschaft sind sie und was für einen breiten Raum nehmen sie in der Geschichte der letzten fünf- oder sechstausend Jahre ein, innerhalb derer die Menschheit das Wagnis der Kultur unternommen hat!

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Was sollen wir mit einem geschichtlichen Charakterzug machen, der sich noch bis gestern in solchen Helden ausprägte und uns andere noch heute dazu hinreißt, sie zu bewundern? Wenn wir den Wert der »soldatischen Tugenden« oder die Aufrichtigkeit der Bewunderung, die sie hervorrufen, erfassen wollen, müssen wir sie in ihrem natürlichen sozialen Rahmen betrachten. Und ein Grundzug dieses Rahmens, der auf unsere Untersuchung Bezug hat, springt sofort ins Auge. Die »soldatischen Tugenden« werden in einer Umwelt gepflegt und bewundert, in der man noch keinen Unterschied macht zwischen den Kräften der menschlichen Gesellschaft und den nichtmenschlichen Naturkräften, und in der es als selbstverständlich gilt, daß der Mensch die Naturkräfte nicht beherrschen kann.

»Bis in die Neuzeit hinein galt der Krieg als etwas, was an und für sich keine Rechtfertigung nötig hat. Allerdings erkannte man seine Schattenseiten und Schrecken als solche an, betrachtete sie aber höchstens als ein unvermeidliches Übel, als ein Unglück, eine Gottesgeißel, der man ebensowenig entgehen konnte wie etwa der Pest. Für ein Gemeinwesen, das von Wikingern oder andern angriffslustigen Nachbarn bedroht war, war dies die nächstliegende Betrachtungsweise.

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Vom Standpunkt des Opfers aus  war  im Grunde kein Unterschied zwischen den plötzlichen Einfällen eines solchen Volkes und denen eines Heuschreckenschwarms oder einer Wolke von Krankheitskeimen. Um so natürlicher war es dann, daß man die Heldenhaftigkeit eines Alfred oder eines Karl des Großen bewunderte und ehrte, der sein Volk vor einem solchen Unglück schützen konnte.

Obwohl die Berechtigung eines bestimmten Krieges angezweifelt werden konnte, und man einen Sinn für die Leiden des Krieges im allgemeinen haben mochte, war doch bis zur Neuzeit hin <Kampf In Allem> [detopia: prüfen mit Orig.] Tagewerk und ein Umstand des menschlichen Daseins, dessen mögliche Abschaffung man sich kaum hätte vorstellen können. 

Bei solcher Lage der Dinge schätzte, wenn auch nur wenige den Krieg gepriesen haben mögen, doch jeder den Krieger und unterwarf sich willig seiner Führung und Gewalt. Bis zum 19. Jahrhundert hin war der Soldatenberuf fast der einzige, der einem Edelmann offenstand. Und ein Edelmann ist ein Waffenträger.«*

 

Der Adlige und Gelehrte, welcher dem Verfasser diese Betrachtung mitgeteilt hat, zieht in demselben Brief weiterhin einen aufschlußreichen Vergleich zwischen Krieg und Jagd.

»In vorgeschichtlicher Zeit, ehe der Mensch Haustiere hatte, übte der Jäger eine sehr notwendige Funktion bei der Nahrungsbeschaffung aus. Bei der Bedrohung durch plündernde Barbaren trug der Krieger gleichfalls dazu bei, das Leben erträglicher und Gerechtigkeit erreichbarer zu machen. Die besten Männer widmeten sich diesen Aufgaben, und ihre Leistungen wurden geehrt, wie sie es verdienten. Und auch heute gibt es den gleichen Menschen­schlag, der mit den Eigenschaften seiner Vorfahren auch deren Instinkte geerbt hat. Aber ihre Funktionen sind weniger notwendig, im Falle des Jägers vielleicht ganz überflüssig geworden.*

Der Vergleich ist deshalb aufschlußreich, weil wir es im Falle der Jagd mit einer Tätigkeit zu tun haben, die auf einer primitiven Lebensstufe sozial wertvoll und sogar lebensnotwendig war, aber auf einer früh und häufig erreichten Stufe des wirtschaftlichen Fortschritts ohne Zweifel überflüssig wurde.

*  G. M. Gathorne-Hardy in einem Brief an den Verfasser.

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Auf dieser Stufe wird die Jagd zum Zwecke des Nahrungs­erwerbs, meist wohl in allmählichem Übergang, zu einem wirtschaftlich belanglosen Vergnügen für Mußestunden. Sind wir nun zu dem Analogieschluß berechtigt, daß es eine Stufe auch des sozialen Fortschritts gibt, auf der der Krieg zu bloßer Verteidigung gegen unbeherrschte Feinde ebenso zu einem sozial gleichgültigen und müßigen — Militarismus wird? Auf Grund dieser Analogie könnte der Militarismus, der sich deutlich von der unschuldigen Tapferkeit des glücklichen Kriegers unterscheidet, vielleicht erklärt werden als Krieg um seiner selbst willen in einer Zeit, in der er aufgehört hat, eine soziale Notwendigkeit zu sein und auch als solche zu gelten.

Wir haben in dem Neuzeit genannten Kapitel der Geschichte unserer abendländischen Welt gesehen, daß der Krieg während der »Ruhepause« des 18. Jahrhunderts, als er nur als »Zeitvertreib der Könige« in Mode war, mit der Jagd auf eine Stufe gestellt wurde. Das Schimpfwort Militarist, das von der Rüstung eines Löwenherz oder eines Bayard abprallt, sitzt als eine Teufelskokarde fest am Dreispitz eines Karl XII. oder eines Friedrich des Großen. Die Könige, die ihre Kurzweil auf den abendländischen Schlachtfeldern jener Zeit hatten, waren zweifellos Militaristen. 

Aber auf Grund unserer späteren Erfahrung müssen wir zu ihren Gunsten sagen, daß Friedrich und seines­gleichen noch nicht die schlimmsten Vertreter des Militarismus waren, die unsere neuere abendländische Gesellschaft heimsuchen sollten. Friedrich zum Beispiel hätte niemals daran gedacht, den Krieg so zu verherrlichen, wie das in klassischer Formulierung der spätere preußische Militarist Helmuth von Moltke getan hat.

»Der ewige Friede ist ein Traum, und nicht einmal ein schöner, und der Krieg ein Glied in Gottes Weltordnung. In ihm entfalten sich die edelsten Tugenden des Menschen, Muth und Entsagung, Pflichttreue und Opferwilligkeit mit Einsetzung des Lebens. Ohne den Krieg würde die Welt im Materialismus versumpfen.«

In dieser überspannten Lobpreisung des Krieges ist ein Klang der Leidenschaft, der Sorge und des Grolles, der dem verfeinerten, philosophisch durchgebildeten Skeptizismus eines Friedrich des Großen fremd ist.

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Ein so tiefgreifender Wechsel des Tones ist vermutlich der Widerhall einer ebenso tiefgreifenden Veränderung der Stimmung und der Verhältnisse in der abendländischen Welt innerhalb der weniger als hundert Jahre, die zwischen Friedrichs des Großen Tod und Moltkes zitiertem Brief an Bluntschli verflossen waren. Wir können zwei Veränderungen von solchem Ausmaß feststellen.

Zu der Zeit, als unser preußischer Militarist des 19. Jahrhunderts ein alter Mann war, hatte das Kriegführen zum »Zeitvertreib der Könige« zwei Reaktionen hervorgerufen, die einander völlig entgegengesetzt waren. Beide Reaktionen gingen von der allgemeinen Voraussetzung aus, daß es anstößig ist, zum Vergnügen zu kämpfen. Aber während die eine Schule der Reformer sich auf den Standpunkt stellt, daß ein Übel, welches man zu einem Zeitvertreib gemacht hatte, vollständig abgeschafft werden könnte und müßte, vertrat die andere die Ansicht, daß das Übel nur dann zu ertragen sei, wenn es einen ernsthaften Zweck hätte. So standen, als das Verhalten der Könige des 18. Jahrhunderts einmütiger Mißbilligung verfallen war, die Pazifisten im 19. Jahrhundert einem Schwarm von Militaristen vom Schlage Moltkes gegenüber, die viel furchtbarer waren als ihre frivolen Vorgänger im 18. Jahrhundert.

Dieser Streit zweier entgegengesetzter »fortschrittlicher« Parteien des 19. Jahrhunderts um die Abstellung eines Mißbrauchs des 18. erklärt vielleicht Moltkes Ton an der zitierten Stelle. In dieser Verstiegenheit bietet er den Pazifisten seiner Zeit Trotz.

»Gerade wenn eine Einrichtung nicht mehr notwendig erscheint, werden phantastische Gründe gesucht oder erfunden, um sie zu rechtfertigen; und das ist die Folge eines instinktiven Vorurteils zu ihren Gunsten, das ihre lange Dauer geschaffen hat. Genau so steht es mit der Jagd; denn ihre gründlichste Verteidigung wird man in der neuesten Literatur finden, und zwar gerade deshalb, weil jetzt in Frage gestellt ist, was früher als selbstverständlich galt.«*

Wie sind nun heute die Aussichten in dem Streit zwischen den Pazifisten, die den »Zeitvertreib der Könige« abzuschaffen suchen, und den Militaristen, die aus ihm wieder eine ernsthafte Angelegenheit der Völker machen wollen?

 

* G. M. Galhorne-Hardy in dem oben zitierten Brief.

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Wir können uns schwerlich enthalten, eine Frage zu stellen, die an das Geheimnis des Schicksals unserer Gesellschaft rührt. Soweit wir nun die Anzeichen deuten können, sind sie allerdings nicht beruhigend. Gerade in unseren Tagen haben wir es erleben müssen, daß Moltkes herausfordernde These von den Propheten des Faschismus und des Nazismus zu einem der grundlegenden Artikel ihres Glaubens­bekenntnisses gemacht und von den Massen, die die Propheten zu ihrem Glauben bekehrt haben, mit Begeisterung hingenommen worden ist.

Mussolini hat den Glauben eines faschistischen Militaristen bei zwei Gelegenheiten in Worte gefaßt. In einer Ansprache bei Beendigung der italienischen Heeresmanöver im Jahre 1934 sagte er: »Wir sind im Begriff, ein soldatisches Volk zu werden, und zwar, weil wir es wollen, in zunehmendem Maße. Eine militaristische Nation, will ich hinzufügen, da wir vor Wörtern keine Angst haben. Um das Bild zu vervollständigen: kriegerisch, das heißt, immer stärker erfüllt von den Tugenden des Gehorsams, der Opferbereitschaft und der Ergebenheit gegenüber unserem Lande.« Und in einem Artikel der Enciclopedia Italiana über die »Lehre des Faschismus« schrieb er: »Nur der Krieg bringt alle Kräfte des Menschen zur stärksten Anspannung und adelt die Völker, die die Fähigkeit haben, ihm ins Auge zu sehen.«

Diese sogenannte »heldische« Lebenshaltung wird heute von Millionen junger Menschen freudig begrüßt und todernst genommen. Der Grund, warum sie von ihr angesprochen werden, liegt auf der Hand. Sie sind so begierig nach den »soldatischen Tugenden«, weil man sie an jeglicher anderen geistigen Nahrung hat Mangel leiden lassen, so wie der verlorene Sohn, als er an menschlicher Nahrung Mangel litt, »begehrte seinen Bauch zu füllen mit Trebern, die die Säue aßen«. 

Wir wissen aber auch, was die geistige Nahrung dieser Verlorenen war, und wann ihr Hungern begann. Diese neuesten abendländischen Verehrer der »soldatischen Tugenden« sind die Nachkommen von Generationen, die in den »christlichen Tugenden« aufgezogen wurden. Und sie begannen an der herkömmlichen christlichen Sittlichkeit ihrer Vorfahren Mangel zu leiden, als um die Wende des 18. und 19. Jahrhunderts in der abendländischen Welt der Unglaube einer gebildeten Minderheit die weniger entwickelten Massen anzustecken begann.

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Die Wahrheit ist, daß der Mensch keine geistige Leere ertragen kann. Und wenn ein Mensch oder eine menschliche Gesellschaft das tragische Mißgeschick hat, die erhabene Erleuchtung, die er einmal gehabt hat, wieder zu verlieren, dann wird er bzw. sie nach jeder andern geistigen Nahrung greifen, die sich zufällig bietet, auch wenn sie derb und unzulänglich ist, um nur nicht ganz ohne geistige Nahrung zu bleiben.

Auf Grund dieser Erkenntnis können die neuere Geistesgeschichte unserer abendländischen Gesellschaft und die Verherrlichung des Krieges folgendermaßen gedeutet werden: 

Durch den Niedergang des hildebrandinischen Papsttums, das die Haupteinrichtung unserer mittelalter­lichen abendländischen Christenheit war, erlitt unsere abendländische Plebs Christiana eine so ernsthafte Erschütterung ihrer sittlichen Haltung, daß wir weitgehend der christlichen Lebensweise, zu der unsere Vorfahren erzogen worden waren, entfremdet wurden. Und als wir uns nach einer Reihe von Nöten und Enttäuschungen in unserm Hause umsahen, fanden wir, daß die rein verstandesmäßige Aufklärung es leer gefegt hatte, und der christliche Geist, der früher darin gewohnt hatte, ausgezogen war. Da hielten wir denn Ausschau nach anderen Mietern, um die qualvolle geistige Leere zu füllen. Auf dieser Suche wandten wir uns den Möglichkeiten zu, die uns am nächsten lagen.

Unsere abendländische Kultur hat drei Wurzeln, nämlich das innere und das äußere Proletariat und die herrschende Minderheit der hellenischen Gesellschaft, mit der unsere abendländische Gesellschaft »verbunden« ist. Und als das Christentum, das religiöse Vermächtnis des hellenischen inneren Proletariats, uns nicht mehr befriedigte, wandten wir uns hungrig den Religionen des äußeren Proletariats und der herrschenden Minderheit dieser Gesellschaft zu. Diese beiden Religionen waren zufällig im Grunde eine und dieselbe; beide waren Spielarten der primitiven Vergötzung des Stammes oder des Staates. Deshalb sah der vom Christentum abgefallene Abendländer der Neuzeit auf seiner Suche nach einem neuen Gott dasselbe Götzenbild auf seine Anbetung warten, in welche der beiden Richtungen er auch blickte.

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Machiavelli, der seinen Livius, Rousseau, der seinen Plutarch, Gobineau, der seinen Sturlason, und Hitler, der seinen Wagner zu Rate zog, wurden alle von ihrem jeweiligen literarischen oder musikalischen Ratgeber auf die Altarstufen desselben Greuels des Verderbens, nämlich des totalitären Territorialstaates geführt. Bei dieser heidnischen Verehrung des territorialen Gemeinwesens — einerlei, ob sein Vorbild bei den Hellenen, Goten oder Skandinaviern zu suchen ist — ist die Pflege der »soldatischen Tugenden« eine Pflicht, und die Verherrlichung des Krieges ein grundlegender Glaubensartikel. Und jetzt können wir verstehen, warum Moltke mit einer sicherlich echten Leidenschaft ausruft, daß »ewiger Frieden nicht einmal ein schöner Traum ist«, und warum er in offensichtlich wirklicher Furcht die Abschaffung des Krieges mißbilligt; nämlich damit die Verwirklichung des pazifistischen Traumes unsere neuheidnische Welt nicht einfach wieder in ein geistiges Vakuum zurückwirft.

 

In der Tat müßten wir zugeben, daß Moltke recht hat, wenn die seinem Standpunkt zugrundeliegende Annahme richtig wäre, daß der abendländische Mensch auf die Wahl zwischen zwei — und nur zwei — Möglichkeiten beschränkt ist. Wenn wir wirklich die Kraft oder den Willen verloren haben, die Tugenden von Gethsemane zu üben, dann ist es sicherlich besser, die von Sparta oder Walhalla zu pflegen als gar keine. Diese Schlußfolgerung ist nun für unsere vormals christliche Gesellschaft keine bloße Theorie mehr; wir können unsern Bedingungssatz umwandeln in die einfache Aussage: Moltke hat jetzt die Massen hinter sich; seine Jünger in unserer Generation können, ohne Widerspruch fürchten zu müssen, behaupten, daß sie die großen Bataillone auf ihrer Seite haben. 

Die neue abendländische Verehrung der »soldatischen Tugenden« als der zehn Gebote eines totalitären Territorial­staates ist im Begriff, bald die vorherrschende Religion der Zeit zu werden. Und dieser Glaube, so archaisch und barbarisch er auch sein mag, wird niemals von dem mephistophelischen Geist bloßer Verneinung überwunden werden» gegen den er selbst ein siegreicher Protest ist. Die Gesellschaften bekommen die Religionen so gut wie die Regierungen, die sie verdienen. Und wenn wir unseres christlichen Geburtsrechtes unwürdig geworden sind, so haben wir uns selbst dazu verurteilt, den wieder­auferstandenen Geist eines Odin oder eines Ares zu verehren. Dieser barbarische Glaube ist besser als gar keiner; und in dem Tod eines Leonidas und eines Olaf Tryggvason hat sich das Heldentum, das ein Bestandteil des Militarismus ist, zu erhabener Höhe erhoben.

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Aber das ist nicht die Erhabenheit der Heiligen; und ein solches Heldentum führt zu nichts anderem als zum Selbstmord. Denken wir an das Schicksal der vorzeitig verkümmerten skandinavischen und der frühzeitig stehengebliebenen spartanischen Kultur. Und das wird auch das Schicksal unserer abendländischen Kultur sein, wenn Moltke sowohl mit seiner Voraussetzung der Tatsachen als auch mit seiner sittlichen Schlußfolgerung recht hat. Es bleibt abzuwarten, ob diese Annahme richtig ist, oder ob doch das Christentum, weit davon entfernt, aus dem Rennen zu sein, noch die Macht hat, die Seele des abendländischen Menschen aus den Klauen eines scheußlichen und zerstörerischen Heidentums zu befreien, indem es ihm noch einmal eine bessere positive Möglichkeit bietet. Kann Hildebrand sich ein zweites Mal in seiner Macht erheben, um die Wunden zu heilen, die die Sünden eines Rodrigo Borgia und eines Sinibaldo Fieschi den Seelen seiner Herde geschlagen haben? Dies ist die wichtigste aller Fragen, die in unserer abend­ländischen Welt in diesem 20. Jahrhundert beantwortet werden müssen.

Wenn wir den Leitfaden, den uns Moltke in die Hand gegeben hat, weiter verfolgen, und die hohe Verehrung, die die »soldatischen Tugenden« bei uns Abendländern in der jüngsten Vergangenheit wieder gefunden haben, genau prüfen, werden wir sehen, daß wir der Lösung unseres Problems nähergekommen sind, ob die Einrichtung des Krieges an und für sich und unabänderlich ein Übel ist. Wir haben allerdings gesehen, daß die Frage falsch gestellt worden war. Vielleicht kann in Wirklichkeit ein Geschaffenes nie seinem Wesen nach und unabänderlich böse sein, da ein solches stets als Gefäß für die Tugenden dienen kann, die vom Schöpfer ausgehen.

Die »soldatischen Tugenden« sind Tugenden, wenn sie auch in Blut und Eisen gefaßte Edelsteine sind; denn der Wert liegt in den Steinen selbst, und nicht in ihrer furchtbaren Fassung. Und es schlägt aller Erfahrung ins Gesicht, wenn man den Schluß zieht, daß die einzige Stelle, an der man diese wertvollen Dinge überhaupt finden könnte, das Schlachthaus wäre, in dem sie zufällig zum erstenmal von Menschen gesehen worden sind. Der Diamant, der im Lehm verborgen ist, bleibt dort nicht, sondern findet eine passendere Fassung in der Krone eines Königs.

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Und wenn eine Diamantengrube ihre Schätze einmal hergegeben hat, ist sie nichts mehr als eine Todesfalle für den Grubenarbeiter, der sich von der Stätte seiner gewohnten mühseligen Arbeit und seines zufälligen Fundes nicht trennen kann. Was vom Schutt gilt, in dem der Diamant begraben war, gilt auch von der vorübergehenden Einrichtung des Krieges, in der in der Erscheinungsform der »soldatischen Tugenden« ein Ewiges und Gutes im Dunkeln gewirkt hat, um später in dem vollkommenen materiellen Frieden des Gottesstaates in hellem Glänze zu erscheinen. Es ist die göttliche Tugend — selbst unwandelbar, aber stets ihre zeitliche Wohnstätte wechselnd —, die ihr Licht in allen ihren sich ablösenden Wohnungen leuchten läßt. Aber alle diese Wohnstätten werden wieder öde und häßlich, sobald der Geist, der eine Zeitlang in ihnen gewohnt hat, aufhört, ihre Dunkelheit zu erhellen.

Man braucht fast keine Erscheinung einheitlich zu beurteilen, wenn man sie durch der Zelten Lauf verfolgt, kein Übel war ursprünglich ein solches, es ist nur immer eins geworden ... Solcher überlebter Dinge könnte man noch gar viele anführen und zu ihnen möchte nun vielleicht der Krieg gehören. Auch er ist wie alles Lebendige etwas Fließendes, etwas sich Entwickelndes: Tiere führten keinen Krieg, Menschen taten es, unsere Nachkommen, die »Übermenschen«, wie Goethe und Nietzsche sie nennen, werden es nicht mehr tun. 

Zum mindesten ist das unser Glaube! Doch lassen wir die Zukunft. Jedenfalls wurde der Krieg, den wir aus der Geschichte kennen, einmal geboren, war jung und ward alt. Wie uns aber die Liebe eines Mädchens schön scheint und die Liebe einer Greisin ekelhaft, so ist es auch mit dem Krieg: wir können und dürfen nicht zwei Dinge, die ihrem Wesen und ihrer Bedeutung nach etwas ganz Verschiedenes sind, einheitlich beurteilen wollen. Das ewige Lied vom Haß des Achilles und Lissauers Haßgesang an England haben keine Berührungspunkte und die Kämpfe im Tal des Skamander sind von Grund aus verschieden von denen zwischen Maas und Mosel*.

 

* G. F. Nicolai, Die Biologie des Krieges, 1917, S. 393 f.

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Wenn wir auch dann noch in der Verehrung des Krieges verharrt sind, als dem Guten, das einst in den »soldatischen Tugenden« einen wahren, wenn auch unzulänglichen Ausdruck gefunden hatte, im christlichen Leben ein unvergleichlich erhabeneres Betätigungsfeld zugewiesen worden war, dann sind wir jener Vergötzung einer vergänglichen Einrichtung schuldig geworden, die eine Form des Verhängnisses der Schöpferkraft ist. Und unsere Sünde ist dadurch noch schwerer geworden, daß wir, nachdem wir jahrhundertelang das Unmögliche versucht hatten, zwei Herren zu dienen, uns schließlich an den niedrigeren gehalten und den höheren verachtet haben.

So sind wir ganz in den Dienst Odins und Ares' zurückgefallen und haben selbst den lauen Dienst abgelehnt, den unsere Vorfahren Christus erwiesen hatten. Dieses neue Heidentum ist viel schlimmer als das erste. Denn der absichtlich und bewußt verdrehte altertümliche Militarismus Moltkes und Mussolinis ist von den unschuldigen alten »soldatischen Tugenden« des Chevalier Bayard und des Obersten Newcome so verschieden wie die Abenddämmerung von der Morgenröte. Die Unschuld, die der Oberst vom Chevalier geerbt hat, kann in unserer abendländischen Welt von den Erben des Zynismus Friedrichs und Napoleons niemals wieder­gewonnen werden.

Der Schöpfer des Obersten Newcome selbst war sich, als er in der Mitte des 19. Jahrhunderts diese liebenswerte Figur schuf, dessen wohl bewußt, daß sowohl der Reiz als auch die Tragik seines Geschöpfes in etwas darin bestanden, daß es bereits ein Anachronismus war. Die Verehrer eines mussolinischen Mars redivivus werden keine Newcomes oder Bayards sein, sondern Roboter und Marsmenschen. Dieser Verkehrungsprozeß ist der Sodomsapfel einer mit Götzendienst gepaarten Altertümelei und die genaue Umkehrung jenes Prozesses der »Vergeistigung« und der Verschiebung des Betätigungs­feldes vom Makrokosmos in den Mikrokosmos, in denen wir ein Zeichen des Wachstums sehen können.

Wenn dieses Merkmal zutreffend ist, läßt es uns a priori wissen, daß die Einrichtung des Krieges in sittlicher Hinsicht nicht unverändert bleibt. Wir geben zu, daß diese grausame Einrichtung in der Vergangenheit ein Betätigungsfeld für die Träger der »soldatischen Tugenden« geboten hat. Doch sind wir sicher, daß in Zukunft der »ritterliche« Krieg entweder in einen Militarismus ohne jede Spur von Tugend oder Schönheit ausarten oder in eine Militia Christi verklärt werden wird, in der der materielle Krieg der Menschen untereinander in einen geistigen Kampf aller im Dienste Gottes gegen die Mächte des Bösen vereinigten Menschen umgewandelt sein wird.

Es ist also möglich, daß sich der gegenwärtige Abfall nur als die letzte Zuckung eines Heidentums in articulo mortis erweist, und daß diese letzte Krise in dem langwährenden Kampf zwischen Heidentum und Christentum damit endet, daß das Heidentum völlig aus dem Felde geschlagen wird. Dann können wir von einem künftigen Zeitalter träumen, in dem der materielle Krieg aus unserm Leben verschwunden und in unserer Erinnerung verblaßt sein wird. Selbst das bloße Wort »Krieg« wird dann außer Gebrauch kommen, wie es mit dem verwandten Wort »Opfer« bereits geschehen ist, das heute nur noch als eine Metapher gebraucht wird. 

In jenen Tagen werden die Menschen, wenn sie vom »Krieg« sprechen, den Krieg des Geistes meinen. Und wenn sie sich dann überhaupt an den materiellen Krieg erinnern, der etwa sechs- oder siebentausend Jahre lang die beständige Plage ihrer Vorfahren war, werden sie so an ihn denken wie etwa an jene grausamen Einweihungsriten, denen sich der Homo catechumenus unterziehen mußte, wenn er schließlich in eine Gemeinschaft der Heiligen aufgenommen werden wollte, in der der Schauplatz des Krieges von einem äußeren auf ein inneres Schlachtfeld verlegt worden war.

Der Krieg in jener vollkommenen Respublica christiana ist mit einem dichterischen Reichtum an kriegerischen Bildern und mit der Sehergabe eines Heiligen von einem ihrer Bürger beschrieben worden, der das Kommen der Civitas Dei viele hundert oder tausend Jahre im voraus verkündet hat. Paulus hat seine Botschaft an die Bürger der vom Kriege heimgesuchten Städte des hellenischen Universalstaates gerichtet, und zwar in einem Stadium der hellenischen Geschichte, in dem der Glanz der »soldatischen Tugenden« noch unter der Ablagerungs­schicht des Militarismus einer »Zeit der Wirren« den Blick fangen und festhalten konnte. 

Und der Apostel griff alle edlen und ruhmvollen Vorstellungen vom Kriege auf, die die von ihm Bekehrten noch hatten, um ihnen in einer Reihe von kriegerischen Bildern den geistigen Ruhm und Adel des christlichen Lebens verständlich zu machen.

»Denn ob wir wohl im Fleisch wandeln, so streiten wir doch nicht fleischlicherweise. 
Denn die Waffen unsrer Ritterschaft sind nicht fleischlich, sondern mächtig vor Gott, zu zerstören Befestigungen. 
Wir zerstören damit die Anschläge und alle Höhe, 
die sich erhebt wider die Erkenntnis Gottes, 
und nehmen gefangen alle Vernunft unter den Gehorsam Christi.«

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