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5. Die Verantwortlichkeit 
Ninives,
Karl's des Großen
und Timur Leng's 

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Wir haben die Geschichte des assyrischen Militarismus so eingehend behandelt, weil er der Prototyp dieser Verirrung ist, von der es eine ganze Reihe weiterer Fälle gibt. Das Bild vom »Leichnam in Waffen« erinnert ebenso gut an die spartanische Phalanx auf dem Schlachtfeld von Leuktra im Jahre 371 v. Chr. 

Und das ironische Schicksal des Militaristen, der in so maßloser Weise Vernichtungskriege gegen seine Nachbarn führt, daß er sich damit, ohne es zu wollen, selbst zugrunde richtet, läßt uns auch an die Karolinger und die Timuriden denken, die ebenfalls ihr Verhängnis selbst herauf­beschworen haben. 

Diese Herrscher­geschlechter haben ganze Völker wie die Sachsen oder die Perser an den Rand des Abgrundes gebracht, um große Reiche zu errichten. Aber sie verschafften damit nur Abenteurern wie den Skandinaviern oder den Usbeken eine reiche Beute; diese erlebten, daß die Reichsgründer ihren Imperialismus damit bezahlen mußten, daß ihr Werk innerhalb eines Menschenalters von der Höhe einer Weltmacht zur völligen Machtlosigkeit herabsank.

Eine andere Art des Selbstmordes, an die der Fall der Assyrer ebenfalls erinnert, wird dargestellt durch jene Militaristen — einerlei, ob es sich um Barbaren oder Völker auf höherer Kulturstufe handelt, die die Fähigkeit haben, einen besseren Gebrauch von ihren Anlagen zu machen —, welche in einen Universalstaat oder sonst in ein großes Reich einbrechen und es zerstören, das den Völkern und Ländern unter seinem Schutz eine Zeit des Friedens gewährt hat.

Die Eroberer reißen erbarmungslos den Mantel des Reiches in Fetzen und überlassen die Millionen Menschen, die er geschützt hat, den Schrecken der Finsternis und dem Schatten des Todes; aber die Verbrecher entgehen dem Verhängnis so wenig wie ihre Opfer. Die neuen Herren der geraubten Welt verfallen bald nach ihrem Siege, durch die Herrlichkeit und Größe des Gewinnes verführt, einer allgemeinen Sittenlosigkeit; und dann werden sie unter sich uneins und räumen sich gegenseitig aus dem Wege, bis von der ganzen Bande kein einziger Räuber mehr übrig ist, der sich noch an der Beute gütlich tun könnte.


Da haben wir z.B. die Mazedonier. Diese überrannten innerhalb von elf Jahren, nachdem Alexander den Hellespont überschritten hatte, das Achämenidenreich und drangen über dessen äußerste Grenze bis nach Indien hinein vor. Jedoch nach Alexanders Tod im Jahre 323 v.Chr. kehrten sie ihre Waffen für die nächsten 42 Jahre, bis zur Niederlage des Lysimachus auf dem Korupedion im Jahre 281, mit gleicher Heftigkeit gegeneinander. Dieses grausige Schauspiel wiederholte sich tausend Jahre später an einer anderen Stelle der syrischen Geschichte. Da ahmten die ersten mosleminischen Araber das Werk der hellenischen Mazedonier nach — und zerstörten es dadurch —, indem sie innerhalb von zwölf Jahren die römischen und sasanidischen Herrschaftsbereiche in Vorderasien und damit ein nahezu ebenso großes Gebiet überrannten, wie es Alexander in elf Jahren erobert hatte. In diesem Fall folgte den zwölf Jahren der Eroberung ein 24-jähriger Bruderkrieg, der mit der Ermordung des Kalifen Othman im Jahre 656 n. Chr. begann und 680 im Martyrium Husseins, eines Enkels des Propheten, seinen Höhepunkt und sein Ende fand.

Einmal wieder hatten sich die Eroberer Vorderasiens gegenseitig vernichtet. Und schließlich hatten nicht die Gefährten und Nachkommen des Propheten, die durch ihre Blitzkriege den Weg bereitet und den von Alexander überrannten syrischen Universalstaat neu aufgerichtet hatten, den Ruhm und den Nutzen davon, sondern Usurpatoren wie die Omaijaden und Abbasiden. Das gleiche Schauspiel bietet sich uns in der Neuen Welt mit der Zerstörung des Azteken- und des Inkareiches durch die Spanier und ihren Folgen.

Die spanischen Konquistadoren überrannten mit dem mexikanischen und dem Anden­universalstaat zwei Kontinente — von Florida bis zum Isthmus, und vom Isthmus bis nach Chile —, um sich danach ebenso heftig wie die Gefährten Mohammeds und die Alexanders um die Beute zu streiten. Und der mazedonische Kriegsherr konnte noch im Grabe besser für Disziplin unter den Truppen sorgen, die ihm einst ins Feld gefolgt waren, als der lebende Herrscher in Madrid imstande war, den Abenteurern, die ihn jenseits des Atlantiks nominell als Oberherrn anerkannten, seinen Königsfrieden zu gebieten.

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Dem gleichen selbstmörderischen »assyrischen« Militarismus verfielen die Barbaren, die die herrenlosen Provinzen des verfallenden römischen Reiches überrannten. Die Westgoten wurden von den Franken und Arabern überwältigt; die kleineren der englischen »Nachfolgestaaten« in Britannien wurden von Mercia und Wessex geschluckt; die Merowinger wurden von den Karolingern verdrängt, und die Omaijaden von den Abbasiden. Und dieses selbstmörderische Ende des klassischen Beispiels einer »Heldenzeit« ist bis zu einem gewissen Grade charakteristisch für das Ende aller Völkerwanderungen, die über altersschwache Universalstaaten dahingegangen sind.

Für eine weitere Erscheinungsform der militaristischen Verirrung können wir ebenfalls das Urbild im assyrischen Militarismus finden. Betrachten wir zu diesem Zweck Assyrien nicht als künstlich abgesonderte Einheit, sondern in dem dazugehörigen Rahmen als integrierenden Bestandteil jener größeren Gesellschaft, die wir die babylonische genannt haben. In dieser babylonischen Welt hatte Assyrien, wie wir gesehen haben, die besondere Aufgabe, als eine Mark zu dienen. Als solche hatte es vor allem die Pflicht, nicht nur sich selbst, sondern auch die ganze übrige Gesellschaft, in der es lebte, und in der sein Dasein begründet war, im Norden und Osten gegen die barbarischen Hochländer, und im Westen und Süden gegen die angriffslustigen aramäischen Pioniere der syrischen Kultur zu verteidigen.

Die Ausgliederung einer solchen Mark aus einem bis dahin noch undifferenzierten sozialen Gefüge ist für alle Teile einer Gesellschaft von Nutzen. Die Mark selbst erfährt einen Auftrieb, insofern sie erfolgreich auf die angenommene Herausforderung, äußerem Druck zu widerstehen, reagiert; und das Innere, das nun von der Mark geschützt wird, wird in gleichem Maße vom Druck befreit und dadurch in die Lage versetzt, weiteren Herausforderungen entgegenzutreten und andere Aufgaben zu erfüllen. Diese Arbeitsteilung ist so lange von Nutzen, wie die Mark fortfährt, die Kriegstüchtigkeit, auf die sie sich spezialisiert hat, ausschließlich in den Dienst der ihr zugewiesenen Aufgabe, den äußeren Feind abzuwehren, zu stellen. Solange die soldatischen Tugenden diesem im Interesse der Gesellschaft liegenden Zweck dienen, brauchen sie noch nicht gesellschaftsfeindlich zu sein.

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Die Tatsache dagegen, daß sie überhaupt notwendig sind, mag ein Beweis für die beklagens­werte Unvoll­komm­enheit der menschlichen Natur in jenen Generationen sein, die im Verlauf der letzten sechstausend Jahre auf die untersten Stufen der Kultur gestiegen sind. Aber diese Tugenden, so wie sie sind, werden in verhängnisvoller Welse zu den Lastern des Militarismus im schlechten Sinne, wenn die Grenzbewohner die Waffen, deren Gebrauch sie im Kriege mit äußeren Feinden gelernt haben, gegen die andern Teile ihrer eigenen Gesellschaft richten, die sie in Erfüllung ihrer Aufgabe zu verteidigen, und nicht anzugreifen haben.

Das Schlimme an dieser Verirrung ist es weniger, daß sie die Gesellschaft als Ganzes den Angriffen des äußeren Feindes aussetzt, den die Grenzbewohner bis dahin in Schach gehalten haben. Denn diese wenden sich selten gegen das Innere, bevor sie eine solche Überlegenheit über ihren eigentlichen Gegner gewonnen haben, daß sie überhaupt in der Lage sind Unheil anzurichten, und ihr Ehrgeiz sie antreibt, nach höheren Zielen zu streben. Wenn eine Mark sich feindselig gegen das Innere ihrer eigenen Gesellschaft kehrt, gelingt es ihr in der Tat gewöhnlich, mit der Linken den äußeren Feind zurückzuhalten, während die Rechte den Bruderkrieg führt.

Die große Gefahr eines solchen Mißbrauchs der militärischen Kräfte liegt also nicht so sehr darin, daß die Tore für einen fremden Eindringling geöffnet werden — auch wenn es am Ende und als Folge gelegentlich doch vorkommt —, als vielmehr darin, daß ein Vertrauensbruch stattfindet, und daß es zu einem für beide Teile vernichtenden Zusammenstoß zwischen zwei Parteien kommt, die nach ihrem natürlichen gegenseitigen Verhältnis in Eintracht miteinander leben müßten. Der Krieg zwischen einer Mark und dem Innern ihrer eigenen Gesellschaft ist im Grunde ein Bürgerkrieg; und es steht fest, daß Bürgerkriege mit größerer Erbitterung und Grausamkeit geführt werden als andere Kriege. 

Als Tiglatpileser im Jahre 745 seine assyrischen Waffen gegen Babylonien richtete, statt sie wie bisher gegen Nairi und Aram zu führen, wie seine Aufgabe war, mußte dieser Schritt also auf die Dauer ernste Folgen haben. Und ein Überblick über die andern Fälle, deren Prototyp der assyrische ist, wird uns zeigen, daß der Ausgang des von Tiglatpileser ausgelösten hundertjährigen Krieges zwischen Assyrien und Babylonien, eine so schwere Katastrophe er auch war, doch in seiner Art nichts Einmaliges ist.

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Die Verirrung der Mark, die sich gegen das Innere kehrt, ist ihrem Wesen nach verhängnisvoll für die Gesellschaft als Ganzes; vor allem aber richtet sie auf jeden Fall den Angreifer selbst zugrunde. Wenn ein Schäferhund, der dazu aufgezogen und abgerichtet ist, des Schäfers Gehilfe zu sein, statt pflichtgemäß die Wölfe zu vertreiben, selbst in ihr Ethos und ihr Verhalten abgleitet und das in ihn gesetzte Vertrauen dadurch bricht, daß er von sich aus die Schafe verfolgt, dann richtet er weit schlimmeren Schaden an als ein wirklicher Wolf, solange diesem ein treuer Schäferhund in die Flanken fährt. 

Und doch ist es nicht die Herde, die am schwersten von der Katastrophe betroffen wird, welche der Verrat des Hundes zur Folge hat. Die Herde wird zwar dezimiert; aber sie bleibt als solche bestehen. Der Hund dagegen wird von seinem erzürnten Herrn getötet. Und der Grenzbewohner, der sich gegen seine eigene Gesellschaft wendet, beschwört damit selbst sein Verhängnis herauf, da er die Wurzel seines eigenen Lebens abschlägt. Er ist wie ein Schwertarm, der die Klinge, die er führt, selbst in den Körper stößt, dessen Glied er ist; oder wie ein Holzhacker, der den Ast, auf dem er sitzt, absägt und so mit diesem krachend zu Boden stürzt, während der verstümmelte Baumstamm stehen bleibt.

Vielleicht hatten die Austrasier intuitiv die Verkehrtheit eines solchen Verhaltens erfaßt, als sie 754 n. Chr. so heftig gegen den Entschluß ihres Kriegsherrn Pippin protestierten, Papst Stephans Ruf zu den Waffen gegen ihre langobardischen Brüder zu folgen. Das Papsttum hatte seine Hoffnung auf diese transalpine Macht gesetzt und Pippins Ehrgeiz wachgerufen, indem es ihn 749, am Vorabend des geplanten italienischen Feldzuges, zum König salbte und krönte, weil Austrasien sich zu dieser Zeit als eine brauchbare und tüchtige Mark der abendländischen Christenheit an zwei Fronten erwiesen und ausgezeichnet hatte: gegen die heidnischen und barbarischen Sachsen, die aus dem Niemandsland im nördlichen Europa gegen den Rhein vordrangen, und gegen die mosleminischen Araber, die das nordwestliche Afrika und die Iberische Halbinsel erobert hatten und nun über die Pyrenäen weiter vordringen wollten.

Im Jahre 754 wurden die Austrasier aufgefordert, sich ihrer eigentlichen Aufgabe, die sie gerade gefunden hatten, zu entziehen und den Langobarden in Italien das Schicksal zu bereiten, das die Araber und die Sachsen den Franken selbst in Gallien zugedacht hatten und das von den austrasischen Waffen abgewendet worden war.

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Der Ausgang bewies dann, daß die bösen Ahnungen der großen Masse der Austrasier mehr Berechtigung hatten als das Verlangen ihres Führers nach dem italienischen Abenteuer. Denn indem er sich über die Bedenken seiner Gefolgsleute hinwegsetzte und gegen die Langobarden zog, schmiedete König Pippin das erste Glied einer ganzen Kette militärischer und politischer Verpflichtungen, die Austrasien immer fester an Italien banden. Pippins Feldzüge gegen Aistulf in den Jahren 755 und 756 führten zu Karls des Großen Feldzug gegen Desiderius in den Jahren 773 und 774 — trotz der Bemühungen der Königin Bertrada, der Witwe Pippins und der Mutter Karls, Franken und Langobarden, die Pippin gegen den Willen seines Volkes getrennt hatte, wieder zu versöhnen. Bertrada hatte zwischen ihrem und Pippins Sohn, der jetzt seinem Vater gefolgt war, und der Tochter von Aistulfs Nachfolger Desiderius eine Heirat zustande gebracht.

Aber Karl verstieß seine langobardische Gemahlin Desiderata und brachte die ehrgeizigen Pläne seines Vaters zur Verwirklichung, indem er das Königreich seines Schwiegervaters völlig eroberte. Aber durch den Raub der langobardischen Krone wurde die italienische Frage nicht gelöst und die transalpine Macht nicht von dem Druck des Ultramontanismus befreit. Gerade dadurch, daß er die Unabhängigkeit des langobardischen Königreichs vernichtete, belastete Karl der Große sein eigenes Haus unwiderruflich mit der Aufgabe, das Papsttum zu verteidigen und zu beaufsichtigen. So brachte ihm seine Schutzherrschaft über den Ducatus Romanus weitere Verwicklungen mit den lango­bardischen Fürstentümern und den noch oströmischen Gebieten in Unteritalien. Und selbst als er auf dem vierten Römerzug, den er machen mußte, den Gipfel seines äußeren Erfolges erreichte, vom Papst zum Kaiser gekrönt und vom römischen Volk als Augustus bejubelt wurde, kostete ihn diese Ehre die Unannehmlichkeit eines diplomatischen Konfliktes mit dem Hof in Konstantinopel, der sich über mehr als zehn Jahre hinzog.

Eine chronologische Übersicht über den Verlauf seiner Regierung versetzt uns in die Lage, ein endgültiges Urteil über die Italienpolitik Karls des Großen zu fällen.

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Wir sehen dann nämlich, wie ihn seine Verpflichtungen in Italien zu wiederholten Malen — und oft gerade in entscheidenden Augenblicken — an der Durchführung seines wichtigsten Unternehmens, nämlich des großen Sachsenkrieges, hinderten. 

Nachdem Karl 772 die Feindseligkeiten eröffnet hatte, ins Kerngebiet des Sachsenlandes einmarschiert war und die Irminsul gestürzt hatte, verbrachte er die beiden folgenden Jahre jenseits der Alpen und ermöglichte es den Sachsen auf diese Weise, 774 an Hessen Vergeltung zu üben. Als er dann 775-776 Sachsen endgültig niederwerfen wollte, zwang ihn im Frühling des letzteren Jahres der Aufstand eines langobardischen Herzogs, Hrodgauds von Friaul, zu einem zweiten Italienzug. Und mitten in der darauf folgenden furchtbarsten Phase des Krieges, in der die Sachsen acht Jahre lang (777-785) von Widukind — einem Feldherrn, dessen Verteidigung der Angriff war — geführt wurden, mußte Karl Italien den dritten und Rom den zweiten Besuch während seiner Regierungszeit abstatten. 

Aber auch während der Ruhepause im Sachsenkriege, die auf die Unterwerfung Widukinds im Jahre 785 folgte, blieb Karl der Große nicht unbehelligt. 787 war er zum drittenmal in Rom, unternahm einen entscheidenden Feldzug gegen das südlangobardische Herzogtum Benevent und erneuerte dann noch durch eine kriegerische Demonstration seine Herrschaft über die alten Freunde der Langobarden und seine eigenen widerspenstigen Vasallen, die Bayern. Und während der vierten und letzten Phase des Sachsenkrieges, in der die besiegten, aber ungebrochenen Barbaren eine verzweifelte Anstrengung machten, mit Hilfe der Friesen das austrasische Joch abzuschütteln (792-804), zog Karl 800-801 zum viertenmal nach Rom und zum fünftenmal nach Italien.

Dieser Zermürbungskrieg gegen die Sachsen schwächte die karolingische Macht sehr. Die Folge war denn auch, daß das Reich bald nach dem Tode Karls des Großen zusammenbrach, und die Skandinavier Vergeltung für die Leiden der Sachsen üben konnten. Dieser Gegenangriff wurde bereits eröffnet, als der Bezwinger der Sachsen noch am Leben war. Es darf auch nicht vergessen werden, daß die sächsische Front jenseits des Rheins nicht die einzige Grenze der abendländischen Christenheit war, für die Austrasien verantwortlich war. Es hatte in gleicher Weise die arabische Grenze jenseits der Pyrenäen zu bewachen.

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Und als Karl der Große das Königreich der Langobarden niederwarf und die Bayern zum Gehorsam zurückführte, erbte er von seinen besiegten Gegnern die Aufgabe, an einer dritten Grenze, nämlich an der avarischen Front jenseits der steirischen Alpen, Wacht zu halten. Es mag unvermeidlich für Karl den Großen gewesen sein, daß er im zweiten Jahr seines Entscheidungskampfes gegen Widukind den Feldzug über die Pyrenäen unternehmen mußte, der so unglücklich bei Roncesvalles endete. Aber es ist einleuchtend, daß er es sich bei der Aufgabe, eine Front sowohl jenseits der Pyrenäen als auch jenseits des Rheins zu halten, und bei der dauernden Mißstimmung in Aquitanien auf keinen Fall leisten konnte, neue Verpflichtungen jenseits der Alpen zu übernehmen. Aber die Italienpolitik des großen austrasischen Militaristen wurde vollends selbstmörderisch, als er sie mit ehrgeizigen und gewagten Unternehmungen an den beiden nördlich und westlich der Alpen gelegenen Fronten verband, die er von seinen Vorfahren ererbt hatte. Es war die mutwillig auferlegte zusätzliche Bürde seiner fünf Italienzüge, die die Last auf dem Rücken Austrasiens so schwer werden ließ, daß es zusammenzubrechen drohte.

So zerbrach Karl der Große Austrasien, indem er seine Waffen gegen das langobardische und bayrische Innere der im Entstehen begriffenen abendländischen Christenheit richtete, als ihre ganze Stärke für den furchtbaren Kampf mit den Sachsen jenseits der rheinischen Grenze benötigt wurde. In gleicher Weise zerbrach Timur sein Transoxanien, indem er auf planlosen Feldzügen in Iran, im Irak, in Indien, Kleinasien und Syrien die schwachen Kraftreserven seines Stammlandes vergeudete, die er auf die Durchführung seiner eigentlichen Aufgabe, nämlich den eurasischen Nomaden seinen Frieden zu gebieten, hätte konzentrieren sollen.

In neunzehn Jahren rastloser Kriegführung (1362-1380 n.Chr.) hatte er zunächst die Versuche der Dschagatai-Nomaden, die transoxanischen Oasen zurück­zuerobern, abgeschlagen. Dann war er selbst zum Angriff gegen diese Völkerschaften in ihren Heimatgebieten in »Mogulistan« übergegangen. Und schließlich hatte er den Bereich seiner Herrschaft in der eurasischen Mark der iranischen Welt dadurch abgerundet, daß er die Oasen Chorasmiens am unteren Oxus von den Nomaden aus dem Hoheits­gebiet Tschutschins befreite.

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Als Timur im Jahre 1380 diese große Aufgabe erfüllt hatte, winkte ihm ein größerer Preis, und zwar kein geringerer als die Nachfolge des eurasischen Reiches Dschingis Khans. Denn die eurasischen Nomaden waren jetzt in allen Abschnitten des langen Grenzstreifens zwischen der Wüste und dem Kulturland im Rückzug begriffen.

Während Timur in dem Abschnitt zwischen dem Hochland von Pamir und dem Kaspischen Meer seinen Sieg über die Horden von »Mogulistan« und Kiptschak (die Goldene Horde) errang, beschnitten die Moldauer, Litauer und Kosaken das Hoheitsgebiet Tschutschins am entgegengesetzten Ende in der großen westlichen Bucht der Steppe zwischen dem Eisernen Tor der Donau und den Strom-schnellen des Dnjepr; die Moskowiter schüttelten das Joch der Goldenen Horde ab; und die Chinesen vertrieben die mongolischen Khakane — die ältere Linie der Nachkommen Dschingis Khans und die nominellen Oberherren aller von den Dschingisiden abhängigen Gebiete — aus Kubilais Hauptstadt Peking in das Niemandsland außerhalb der Großen Mauer, von wo die barbarischen Eindringlinge ursprünglich gekommen waren.

Überall waren die Nomaden im Rückzug; und das nächste Kapitel der Geschichte Eurasiens sollte ein Wettlauf der sich wieder erhebenden seßhaften Völker rundherum um das Erbe Dschingis' sein. Unter den Bewerbern um diesen Preis saßen die Moldauer und Litauer zu weit weg, um Aussichten auf Erfolg zu haben; die Moskowiter waren mit ihren Wäldern, und die Chinesen mit ihren Feldern verheiratet; die Kosaken und die Transoxanier waren die einzigen Bewerber, denen es gelungen war, sich in der Steppe heimisch zu machen, ohne die Seßhaftigkeit als Grundlage ihres Daseins aufzugeben. Jedes in seiner Weise, hatten sich beide Völker etwas von der Zähigkeit der Nomaden angeeignet: und mit der Festigkeit einer seßhaften Kultur verbunden.

Ein scharfsichtiger Beobachter mußte im Jahre 1380 zu der Ansicht kommen, daß nur zwischen diesen beiden Völkern; die Entscheidung im Wettlauf um die Herrschaft über Eurasien lag. Und von ihnen wieder hatte allem Anschein nach der transoxanische Bewerber bei weitem die besseren Aussichten. Denn er war nicht nur an und für sich stärker und dem Steppeninneren näher, sondern auch der Erste im Felde. Außerdem hatte er als anerkannter Vorkämpfer der Sunna gegebenenfalls Parteigänger unter den seßhaften mosleminischen Gemeinwesen, die als Vorposten des Islams an den entgegengesetzten Rändern der Steppe saßen: in Kasan und auf der Krim auf der einen Seite, und in Kansu und Schiensi auf der andern.

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Einen Augenblick schien es so, als ob Timur die Gelegenheit erkenne und entschlossen ergreife. Den Bürgerkrieg zwischen den rivalisierenden Teilen der Goldenen Horde, der ihm schon erlaubt hatte, Chorasmien zu erobern und sich von den Moskowitern unabhängig zu machen, nutzte er gehörig aus; und zwar verfolgte er dabei ein höheres Ziel als die bloße Eroberung einer einzelnen Grenzprovinz. Er mischte sich in die inneren Angelegenheiten Kiptschaks ein und unterstützte einen der sich befehdenden Häuptlinge, Tochtamisch

Dank der Hilfe Timurs war dieser in der Lage, im Verlauf der Jahre 1378-1382 das ganze Hoheitsgebiet Tschutschins unter seiner Führung zu vereinigen, durch Einnahme und Niederbrennen Moskaus die Botmäßigkeit der Moskowiter wiederherzustellen und den Litauern eine schwere Niederlage zuzufügen. Da Tochtamisch das alles als Vasall Timurs ausführte, wurde dieser dadurch, direkt oder indirekt, Herr der ganzen westlichen Hälfte der eurasischen Steppe und der angrenzenden Gebiete abhängiger seßhafter Völker vom Irtisch bis zum Dnjepr und vom Pamir bis zum Ural.

An diesem Punkt machte jedoch der transoxanische Eroberer des eurasischen Niemandslandes plötzlich kehrt, richtete seine Waffen gegen das Innere der iranischen Welt und verbrachte die übrigen vierundzwanzig Jahre seines Lebens mit einer Reihe nutzloser und zerstörerischer Feldzüge in diesem Teil der Welt. Er ließ sich auch durch nichts davon abbringen. Als Tochtamisch sah, daß sein Oberherr dem bisherigen Gegenstand seines Interesses den Rücken kehrte, reizte ihn das zu einem kühnen Angriff, der Timur wider seinen Willen in das Gebiet seiner eigentlichen Bestimmung zurückbrachte. Aber sobald er durch einen Winterfeldzug durch die Steppen, der der glänzendste und bezeichnendste Gewaltstreich seiner ganzen Laufbahn war, den Mißstand in Kiptschak beseitigt hatte, nahm er hartnäckig den neuen Kurs seiner Politik wieder auf.

Eine kurze Darstellung der Geschichte der letzten vierundzwanzig Jahre seines Lebens wird zeigen, wie Timur in diesem ganzen Zeitraum von fast einem Vierteljahrhundert beharrlich die gute Gelegenheit von der Hand wies, die sich ihm im Augenblick des Übergangs von der ersten zur zweiten Phase seiner Laufbahn geboten hatte.

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Die sieben Jahre von 1381 bis 1387 brachte Timur damit zu, Iran und Transkaukasien zu erobern, abgesehen von einer einzelnen Strafexpedition gegen einen immer noch widerspenstigen Dschagatai-Khan in »Mogulistan« in den Jahren 1383-1384. Er nahm nicht einmal Notiz von einem Zusammenstoß zwischen seinen Truppen und denen Tochtamischs, zu dem es 1385 in Aserbeidschan kam. Und zu Anfang des Jahres 1388 war er in Fars, im Begriff die Eroberung des iranischen Hochlandes zu vollenden, als ihn ein Einfall Tochtamischs in Chorasmien und Transoxanien dringend nach Samarkand zurückrief. Durch seinen überwältigenden Sieg über Tochtamisch bei Urtapa auf der gegenüberliegenden Seite der Kiptschak-Steppe im Jahre 1391 hatte Timur dieselbe günstige Gelegenheit in Händen, die er 1380 gehabt und seit 1381 vernachlässigt hatte.

Diesmal stand es in seiner Macht, sich zum unmittelbaren Herrn der Goldenen Horde und aller von ihr abhängigen Gebiete zu machen. Darüber hinaus war er nach seiner triumphalen Rückkehr von Kiptschak nach Samarkand zu Beginn des Jahres 1392 in der Lage, den letzten schwachen Widerstand in »Mogulistan« zu brechen und sich endgültig zum Oberherrn der Dschagatai-Horde zu machen. 

Eurasien lag ihm jetzt zu Füßen. Aber statt nur zuzugreifen, zog er noch in demselben Sommer in der entgegengesetzten Richtung wieder fort, und zwar nach Fars, das heißt, er kehrte zu dem Punkt seiner Laufbahn und dorthin zurück, wo er 1388 gezwungen worden war, die Eroberung Vorderasiens abzubrechen.

Er ging nun systematisch daran, den Irak, Armenien und Georgien zu unterwerfen. Aber im Verlauf dieses berühmten »Vierjahresfeldzuges» (Juli 1392 bis Juli 1396) wurde er zu seinem Leidwesen im Frühjahr 1395 noch einmal durch Tochtamisch aus seiner Bahn gerissen, und zwar durch einen Einfall des aufsässigen Häuptlings in Transkaukasien. Timurs Gegenschlag brachte ihn über den Kaukasus und den Terek und durch die Steppen bis nach Moskowien. Aber 1396 kehrte er von Kiptschak nach Vorderasien und von dorr durch Iran nach Samarkand zurück.

Vom Sommer 1396 bis zum Frühjahr 1398 ruhte Timur in Samarkand von den Mühen seiner Zerstörungs­tätig­keit aus. Aber dieser Pause folgte keine Festigung oder Ausbreitung seiner Herrschaft in Eurasien.

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Nachdem er nun die Verwüstung der Kerngebiete der iranischen Welt (der er selbst angehörte) beendet hatte, nahm er sich vor, als nächstes die Randgebiete im Südosten und Nordwesten der Reihe nach zu verheeren. Im Südosten waren die hindustanischen Taglak-Fürsten im Begriff, den iranischen Bereich auf Kosten der Hindu-Welt auszudehnen, und im Nordwesten waren die osmanischen Fürsten von Rum dabei, ihn zuungunsten der orthodoxen Christenheit zu erweitern. 

Timurs Emire waren genau so sehr dagegen, den Hindukusch zu überschreiten und ihre Stammverwandten und Glaubensbrüder in Indien anzugreifen, wie Pippins Gefolgsleute unter ähnlichen Umständen dagegen gewesen waren, die Alpen zu überschreiten und ihre langobardischen Stammverwandten in Italien anzugreifen. Aber Timur setzte wie Pippin seinen Willen durch. Der indische Feldzug beschäftigte ihn vom Frühjahr 1398 bis zum Frühjahr 1399. Und im Herbst des letzteren Jahres war er dabei, das berühmteste, wenn auch in Wirklichkeit nicht glänzendste Kapitel seiner Geschichte zu eröffnen: einen zweiten Fünfjahresfeldzug, in dessen Verlauf er 1401 in Damaskus seine Begegnung mit dem Maghreb-Philosophen Ihn Chaldun hatte und 1402 den osmanischen Sultan Bajazet Jilderim besiegte und gefangennahm.

Im Juli 1404 nach Samarkand zurückgekehrt, war Timur etwa im November schon wieder auf dem Kriegspfad. Aber jetzt endlich wandte er, zum erstenmal in dreiundzwanzig Jahren, seinen Blick bewußt in eine günstige Richtung. Denn sein Ziel war diesmal China. Allerdings mag es angesichts seiner Feldzüge in Vorderasien zweifelhaft sein, ob er die Großtat der Mongolen, China vollständig zu erobern — wozu selbst sie siebzig Jahre (1207-1277 n.Chr.) gebraucht hatten —, wiederholt haben würde.

Trotzdem hätte diese letzte Unternehmung Timurs, wenn er so lange gelebt hätte, um sie durchführen zu können, sicherlich dauernde Folgen von geschicht­licher Tragweite gehabt. Denn selbst ein vorübergehender Einfall in China hätte ihn in dauerndem Besitz der östlichen Abschnitte des südlichen Grenzstreifens der eurasischen Steppe vom Tarimbecken bis zur Mandschurei lassen können; und damit wäre die gesamte Steppe in seiner Gewalt gewesen. An dieser Stelle geraten wir jedoch ins Reich der Phantasie.

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Denn auch ein Militarist, der so vom Glück begünstigt war wie Timur, konnte nicht ungestraft dreiundzwanzig Jahre seines Lebens vergeuden. Sein Chinafeldzug führte ihn nur noch bis Utrar, und dann überraschte ihn dort der Tod.

Die Tatsache, daß Timur seine Augen vor den politischen Gegebenheiten und Möglichkeiten verschloß, zeigt aufs deutlichste, daß Militarismus Selbstmord ist. Das wird auch aus einem Vergleich zwischen seinem Scheitern und dem Karls des Großen hervor­gehen.

 

In beiden Fällen war der Versuch der Mark, das Innere zu erobern, vorübergehend. In der Tat ist es selten, daß es einem verhältnismäßig rückständigen Gemeinwesen gelingt, sich durch das rohe Mittel einer kriegerischen Eroberung ein anderes Gemeinwesen zu assimilieren, das auf dem Wege der Kultur weiter fortgeschritten ist. Wie die transoxanische Herrschaft, die Timur Iran und dem Irak mit Waffengewalt aufzwang, ging auch die Herrschaft Austrasiens, die Karl der Große über das Langobardenland und Bayern ausgedehnt hatte, nach dem Tode des Eroberers wieder zurück. Aber der Militarismus Karls des Großen hatte doch nachhaltige Folgen.

Denn sein Reich hielt in gewisser Weise noch ein Dreivierteljahrhundert zusammen; und die Entwicklung seiner einzelnen Teile vollzog sich weiterhin dauernd unter dem Einfluß ihrer Vereinigung zu einer einzigen Gesellschaft, die als Respublica Christiana noch lange weiterlebte, als die Kriegsmacht, die sie geschaffen hatte, dahin­geschwunden war. Im Gegensatz dazu war das Reich Timurs nicht nur kurzlebiger, sondern auch ohne irgendwelche positiven Nachwirkungen in gesellschaftlicher Hinsicht. Westlich der Tore des Kaspischen Meeres löste es sich 1405 auf die Nachricht von seinem Tode auf. 

In Chorassan und Transoxanien zerfiel es nach dem Tode Schah Ruks im Jahre 1446 in mehrere schwache und sich gegenseitig befehdende Teile. Und die einzige feststellbare Nachwirkung ist rein negativer Art. Dadurch, daß er alles, was ihm hinderlich war, aus dem Wege räumte, um geradeswegs in sein eigenes Verderben zu rennen, schuf der Imperialist Timur einfach ein politisches und gesellschaftliches Vakuum in Vorderasien. Und dieses Vakuum brachte schließlich die Osmanen und die Sefewiden in Konflikt miteinander, wodurch der heimgesuchten iranischen Gesellschaft der Todesstoß versetzt wurde.

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Wiederum war Karls des Großen Ablenkung der militärischen Kräfte Austrasiens von den Grenzen der abendländischen Christenheit in das Innere zwar für Austrasien selbst verhängnisvoll, aber nicht in gleichem Maße für die Gesellschaft, der es zugehörte. Die Ausbreitung der abendländischen Christenheit auf Kosten der kontinentaleuropäischen Barbaren wurde später von der Linie aus, an der Karl der Große zum Stehen gekommen war, von den Nachkommen seiner sächsischen Opfer wieder in Angriff genommen und fortgeführt. 

Und ihre Ausweitung auf der Iberischen Halbinsel auf Kosten der syrischen Welt wurde ebenfalls später durch eine Reihe kleinerer christlich-abendländischer Fürstentümer fortgesetzt, von denen mehrere direkte »Nachfolgestaaten« des Karolingerreiches waren. An beiden Fronten war der Preis, den die abendländische Christenheit für den Militarismus Karls des Großen zu bezahlen hatte, eine Pause, die kaum zwei Jahrhunderte dauerte, der dann aber drei Jahrhunderte weiterer Ausdehnung (etwa 975-1275) folgten. Auf der andern Seite beraubte der Militarismus Timurs die iranische Gesellschaft für immer ihres gelobten Landes in Eurasien.

Daß die nomadische Welt für die iranische Gesellschaft verloren war, trat zuerst auf dem Gebiet der Religion in Erscheinung. Während der ganzen vier Jahrhunderte vor Timur hatte sich der Islam in beständigem Fortschritt über die seßhaften Völker rund um die eurasische Steppe ausgebreitet und auch die Nomaden für sich gewonnen, sobald sie die Wüste verließen und mit dem Kulturland in Berührung kamen. 

Im 10. Jahrhundert der christlichen Zeltrechnung, als sich die militärische und politische Macht des Abbasiden-Kalifats in Auflösung befand, eroberte seine Religion die seßhaften Turkvölker an der mittleren Wolga und in den Oasen des Tarimbeckens und die Anhänger der seldschukischen und der Ilek-Khane unter den nomadischen Turkvölkern am transoxanischen Rande der Steppe zwischen Aral- und Balkaschsee. Dann kam allerdings die letzte und größte Welle der nachabbasidischen Völkerwanderung, und die bis in ihre Tiefen aufgewühlte Steppe ergoß eine Flut von Nomaden über die islamische Welt, die noch nicht von den Ausstrahlungen der islamischen Kultur berührt worden waren, ja, durch einen Anstrich nestorianischen Christentums bei der ersten Begegnung sogar eine gewisse Voreingenommenheit gegen den Islam an den Tag legten.

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Aber der Schaden, den der Islam durch die zeitweilige Verfolgung von Seiten der ersten mongolischen Khakane erlitt, wurde mehr als ausgeglichen durch den Dienst, den diese ihm dadurch erwiesen, daß sie, wenn auch zu ihren politischen Zwecken, die Völker und Kulturen ihres weiten und buntscheckigen Reiches vermischten.

Diesen heidnischen nomadischen Kriegsherren hatte es der Islam zu verdanken, daß er bis nach China hinein vorgetragen wurde, und zwar nicht nur in die nordwestlichen, an das ältere islamische Gebiet im Tarimbecken angrenzenden Provinzen, sondern sogar bis in die neue Provinz Jünnan im äußersten Südwesten hinein, welche die mongolischen Waffen dem barbarischen Niemandsland entrissen und China hinzugefügt hatten. 

Als dann später, um die Wende des 13. und 14. Jahrhunderts der christlichen Zeitrechnung, die drei westlichen Teilherrschaften des mongolischen Reiches — das Haus Hulagus in Iran, das Haus Tschutschins in der Kiptschak-Steppe und das Haus Dschagatais in Transoxanien und der Dsungarei — nacheinander zum Islam übertraten, sah es aus, als ob ihn jetzt nichts mehr davon zurückhalten könne, die Religion ganz Eurasiens zu werden. Und um die Zeit, als Timur sich als Vorkämpfer der Sunna in Transoxanien erhob, hatte eine mosleminische »Diaspora«, die sich am West- und Südrande der Steppe gebildet hatte, den Boden dafür vorbereitet — wie wir schon gesehen haben —, daß er ein islamisches paneurasisches Reich aufrichten konnte. 

Um so bezeichnender ist es, daß die Ausbreitung des Islams in Eurasien, die bis zu Timur so große Fortschritte gemacht hatte, nach ihm zu einem vollständigen Stillstand kam. Der einzige Fortschritt, den der Islam in diesem Gebiet später noch machte, war die Bekehrung des türkischen Khanats in Westsibirien, kurz bevor es 1582 von den Kosaken erobert wurde. Aber dieser Erfolg in einem abgelegenen und rückständigen Winkel bedeutete wenig in einer Zeit, in der eine andere »höhere Religion« alle übrigen eurasischen Nomaden für sich gewann, die bis dahin noch an ihrem primitiven Heidentum festgehalten hatten.

Um die Wende des 16. und 17. Jahrhunderts der christlichen Zeitrechnung geschah in Eurasien auf dem Gebiet der Religion etwas durchaus Bemerkenswertes; nämlich die Bekehrung der Mongolen (in den Jahren 1576-1577) und ihrer westlichen Stammverwandten, der Kalmücken (um 1620), zur lamaistischen Form des Mahayana-Buddhismus.

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Und die Tatsache, daß dieser versteinerte Überrest des religiösen Lebens der längst erloschenen indischen Kultur jetzt noch einen solchen Triumph feiern konnte, macht deutlich, wie weit in den zwei Jahrhunderten nach Timur das Ansehen des Islams bei den eurasischen Nomaden gesunken war.

Auf politischem Gebiet erwies sich die iranische Kultur, deren Vorkämpfer Timur zuerst war, und die er dann verriet, ebenfalls als erschöpft. Die seßhaften Gesellschaften, die schließlich die Großtat vollbrachten und die eurasischen Nomaden bändigten, waren der russische Zweig der christlichorthodoxen und der chinesische Zweig der fernöstlichen Gesellschaft. So wurde die Verurteilung zur Knechtschaft, die das Schicksal über die Nomaden ausgesprochen hatte, als Timur 1391 seinen Winterfeldzug durch die Steppe machte und Tochtamisch bei Urtapa schlug, niemals von transoxanischen Händen vollstreckt.

Das Urteil wurde bestätigt, als in der Mitte des 17. Jahrhunderts die kosakischen Untertanen Moskowiens und die mandschurischen Herren Chinas sich in entgegengesetzter Richtung am Nordrand der Steppe vorwärtstasteten, dabei aufeinanderstießen und in der Nähe von Dschingis Khans angestammten Weidegründen im oberen Becken des Amur ihre erste Schlacht um die Herrschaft über Eurasien schlugen.

Die Aufteilung Eurasiens und die Unterjochung seiner alten nomadischen Bewohner wurde durch dieselben beiden Mächte hundert Jahre später zum Abschluß gebracht, als 1755 der Kaiser Kien-lung (1735 bis 1796) die Macht der dsungarischen Kalmücken brach und 1771 den Flüchtlingen der bereits vom Zaren unterworfenen Torgot-Kalmücken Zuflucht gewährte. Damit war die letzte Flutwelle des eurasischen Nomadentums verebbt. Und als die Moskowiter und die Mandschus die Gebiete der Kasaken — das Treib- und Strandgut der vorletzten Welle, das jetzt träge über den östlichen Teil der Kiptschak-Steppe zwischen Irtisch und Jaik trieb — unter sich geteilt hatten, war ganz Eurasien, bis zu den nördlichsten der transoxanischen Oasen, entweder unter russischer oder unter chinesischer Herrschaft.

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Aber der Verlust eines möglichen Ausdehnungsbereiches quer durch und um die eurasische Steppe herum blieb nicht der einzige Schaden, den der Militarismus Timurs der iranischen Welt, einschließlich seines Stammlandes Transoxanien, zufügte. Viel schlimmer war es, daß dieser zerstörerische Militarismus, dem Timur während der letzten vierundzwanzig Jahre seiner Laufbahn verfallen war, in der dritten und vierten Generation dazu führte, daß auch das Aufbauwerk, dem er sich in den ersten neunzehn Jahren seiner Regierungszeit gewidmet hatte, bevor er 1381 seinen Amoklauf begann, wieder verfiel. 

Der Befreier der im Entstehen begriffenen iranischen Gesellschaft in Transoxanien verwandte den Rest seines Lebens darauf, die Kräfte, die er zunächst gegen die eindringenden Nomaden freigemacht hatte, so rücksichtslos zu verausgaben, daß die Welt, die er vor den Horden Dschagatais und Tschutschins geschützt hatte, innerhalb von wenig mehr als hundert Jahren nach dem Tode des zum Militaristen gewordenen Befreiers erneut der nomadischen Gefahr ausgesetzt war. Und zwar waren es die Usbeken, von denen diese neue Drohung ausging.

Allerdings waren die Nachkommen und Nachfolger Timurs als Erben einer durch seine kriegerischen Ausschweifungen zerrütteten Gesellschaft nicht in der Lage, die Großtat ihres Ahnherrn zu wiederholen. Die bis in die Kerngebiete der iranischen Welt vordringenden Usbeken wurden schließlich nicht von einem der Timuridenfürsten von Feraghan oder Chorassan zum Stehen gebracht, sondern von der neuen Macht des Schahs Ismail-Saffi. Aber auch Schah Ismails Waffen, die das weitere Vordringen der Usbeken verhinderten, waren nicht imstande, die Eindringlinge bis ins eurasische Niemandsland zurückzudrängen, aus dem sie gekommen waren. Mit seiner verhältnismäßig weit abliegenden Operationsbasis in Aserbeidschan und bei seinen großartigen und ehrgeizigen Plänen im Westen — Pläne, die ihn in einen ungleichen Kampf mit den Osmanen verwickelten — konnte er nur beschränkt als Befreier an der östlichen Front auftreten. Und nachdem er die Usbeken wohl ein für allemal aus Chorassan vertrieben hatte, war er am Ende doch gezwungen, sie im dauernden Besitz von Transoxanien zu lassen.

So kam Transoxanien anderthalb Jahrhunderte, nachdem Timur sich angeschickt hatte, es von der Herrschaft der Dschagatai-Horde zu befreien, unter das Joch anderer Nomaden weit aus dem Hinterlande, die noch barbarischer waren als selbst die verhaßten und verachteten »Dschat«.

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Und unter diesem Joch sollte die frühere eurasische Mark der iranischen Welt, die einst nicht geringeren Schrecken verbreitet hatte als Assyrien, in den nächsten dreihundertfünfzig Jahren erschöpft und untätig daliegen, bis schließlich im dritten Viertel des 19. Jahrhunderts die lange unterdrückten Bauern der transoxanischen Oasen die Erleichterung erfuhren, daß ihre usbekischen Herren durch russische abgelöst wurden.

Es mag ein befremdlicher Gedanke sein — aber wenn Timur 1381 Eurasien nicht den Rücken gekehrt und seine Waffen gegen Iran gerichtet hätte, so könnte das gegenwärtige Verhältnis zwischen Transoxanien und Rußland genau das Gegenteil von dem sein, was es in Wirklichkeit ist. Unter dieser Voraussetzung wäre dann Rußland heute ein Teil eines Reiches, das etwa die Ausdehnung der Sowjetunion, jedoch einen ganz anderen Schwerpunkt hätte, eines iranischen Reiches, in dem nicht Samarkand von Moskau, sondern Moskau von Samarkand aus regiert würde.

Dieses Phantasiebild eines möglichen Verlaufs der iranischen Geschichte wird befremden, weil ihr wirklicher Verlauf seit mehr als vierhundert Jahren ganz anders war. Ein mindestens ebenso eigenartiges Bild wird vor unsern geistigen Augen erstehen, wenn wir einen andern, ebenfalls denkbaren Verlauf der abend­ländischen Geschichte annehmen. Nehmen wir an, die Folgen des Militarismus Karls des Großen wären ebenso katastrophal für unsere Welt gewesen, wie die des Militarismus Timurs für seine Welt wirklich waren.

Dann müßten wir analog etwa folgenden weiteren Verlauf unserer Geschichte annehmen: 

Austrasien wäre im 10. Jahrhundert von den Magyaren und Neustrien von den Wikingern erobert worden, und die Kerngebiete des Karolingerreiches wären bis zum 14. Jahrhundert unter der Herrschaft dieser Barbaren geblieben. Und dann hätten die Osmanen diesen verlassenen Marken der abendländischen Christenheit das kleinere Übel einer fremden Kultur aufgezwungen.

So verwirkte Timur nicht nur ein gelobtes Land, sondern vernichtete auch sein eigenes Werk, nämlich das der Befreiung seines Vaterlandes. Aber am schlimmsten hat er gegen sich selbst gewütet. Es ist ihm gelungen, seinen Namen unsterblich zu machen; doch hat er dafür den Preis gezahlt, daß alle Taten, deretwegen er in guter Erinnerung hätte bleiben können, vollkommen aus dem Gedächtnis der Nachwelt getilgt wurden.

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In wievielen Christen oder Mohammedanern ruft der Name Timur die Vorstellung von einem Vorkämpfer der Kultur gegen die Barbarei hervor? Wer erinnert sich dessen, daß Timur den Klerus und das Volk seines Landes nach neunzehnjährigem Befreiungskampf zu einem schwer errungenen Sieg führte? 

Für die große Mehrheit derer, denen der Name Timur Leng oder Tamerlan überhaupt etwas bedeutet, ist er der eines Militaristen, welcher in einer Zeitspanne von vierundzwanzig Jahren ebenso viele Greueltaten verübt hat wie die ganze Reihe assyrischer Könige von Tiglatpileser III. bis zu Assurbanipal einschließlich, in einem Jahrhundert. 

Wir denken an das Ungeheuer, das 1381 Isfarein dem Boden gleichmachte; 1383 in Sesbar aus zweitausend Gefangenen einen lebenden Damm baute und dann übermauerte; im gleichen Jahr in Siri fünftausend Menschenköpfe zu Minaretten auftürmte; 1386 seine luristanischen Gefangenen lebendig in Abgründe stürzte; 1387 in Ispahan siebzigtausend Menschen abschlachtete und ihre Köpfe zu Minaretten aufschichtete; 1393 die Besatzung von Takrit niedermetzelte und aus den Köpfen Minarette errichtete; 1398 in Delhi hundert­tausend Gefangene umbrachte; 1400 die viertausend christlichen Soldaten der Besatzung von Siwas, die sich ergeben hatten, lebendig begrub; 1400 und 1401 in Syrien zwanzig Türme aus Schädeln bauen ließ und 1401 mit Bagdad verfuhr wie vierzehn Jahre früher mit Ispahan. 

So hat es Timur dazu gebracht, daß Menschen, die ihn nur durch solche Taten kennen, ihn mit den Menschen­fressern der Steppe — einem Dschingis, einem Attila und ähnlichen — verwechseln, von denen er sich dadurch unterscheidet, daß er die bessere Hälfte seines Lebens damit zubrachte, einen heiligen Krieg zu führen. Der sinnlose Größenwahn des verrückten Menschenschlächters, der nur den einen Gedanken hat, der Menschheit durch abscheulichen Mißbrauch eine Vorstellung von seiner kriegerischen Macht zu geben, ist in glänzender Weise veranschaulicht in den Übertreibungen, die der englische Dichter Marlowe seinem Tamburlaine in den Mund gelegt hat:

»Ich halt' die Parzen fest in Eisenketten 
Und mit der Hand dreh' ich des Schicksals Rad. 
Und eher soll die Sonn' vom Himmel fallen, 
Als Tamerlan geschlagen werden...

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Der Gott des Krieges tritt mir ab sein Reich 
Und macht zum Feldherrn mich der ganzen Welt. 
Selbst Zeus, der mich in Waffen sah, schaut bleich 
Vor Furcht, daß meine Macht von seinem Thron ihn zöge. 
Wohin ich immer gehe, mach ich den Parzen Angst, 
Und auch der bleiche Tod läuft eifrig hin und her, 
Um meinem scharfen Schwert die Ehre zu erweisen ... 

Millionen Seelen warten noch am Styx, 
Daß Charons Boot sie abzuholen käme, 
Und schon sind Höll' und Himmel voll von Seelen, 
Die ich aus mancher Schlacht gesendet habe, 
Um meinen Ruhm auch dort zu künden ... 

Auch bin ich nicht der Erzmonarch der Welt, 
Gekrönt und eingesetzt von Jupiter höchstselbst, 
Für Taten, gut und edelmütig. 
Doch da ich einen größren Namen führe 
Als Gottesgeißel und als Schrecken dieser Welt, 
Muß stets ich diesem Namen Ehre machen 
Durch Krieg und Blut, durch Tod und Grausamkeit, .... 

Ich will der Welt ein ew'ger Schrecken bleiben 
Und Meteore machen, die wie Krieger 
Auf Himmelstürmen aufmarschieren sollen. 
Sie werden rings das Firmament umstürmen 
Und in der Luft die Lanze brennend brechen 
Zu Ehren meiner wunderbaren Siege.«

 

Bei unserer Betrachtung der Laufbahnen Timurs, Karls des Großen und der Könige von Assyrien von Tiglatpileser III. bis zu Assurbanipal haben wir in allen drei Fällen dieselbe Erscheinung beobachtet. Die kriegerische Tüchtigkeit, die eine Gesellschaft zur Verteidigung gegen äußere Feinde bei ihren Grenz­bewohnern entwickelt, wird in verhängnisvoller Weise zu der sittlichen Krankheit, die wir als Militarismus bezeichnen, wenn sie von ihrem eigentlichen Betätigungsgebiet im Niemandsland jenseits der Grenze abgelenkt und gegen die Brüder im Innern der Welt gerichtet wird, die sie schützen, und nicht verwüsten soll. 

Wir brauchen nicht lange zu suchen, um weitere Beispiele für diesen verderblichen sozialen Mißstand zu finden.

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Wir werden an Mercia denken, das die Waffen, die es bei der Erfüllung seiner ursprünglichen Aufgabe, als eine englische Mark gegen Wales zu dienen, geschärft hatte, gegen die andern englischen »Nachfolge­staaten« des römischen Reiches in Britannien richtete; an das Königreich England unter der Herrschaft der Plantagenets, das im Hundertjährigen Krieg versuchte, sein Schwesterkönigreich Frankreich zu erobern, statt sich seiner eigentlichen Aufgabe zu widmen, die Grenzen ihrer gemeinsamen Mutter, der lateinischen Christenheit, auf Kosten des keltischen Randgebietes zu erweitern; und an den normannischen König Roger von Sizilien, der seine militärischen Kräfte auf die Ausdehnung seines Herrschaftsgebietes in Mittelitalien — auf Kosten der südlangobardischen Herzogtümer, des Heiligen Römischen Reiches und des Patrimonium Petri — verwandte, statt das Werk seiner Vorfahren fortzusetzen und die Grenzen der abendländischen Christenheit im Mittelmeergebiet gegen die orthodoxe Christenheit und den Islam vorzuschieben.

 

In der mexikanischen Welt sehen wir, wie die Azteken die Tolteken niederringen, denen sie ihre Einweihung in die mexikanische Kultur verdanken, statt sich auf ihre eigentliche Aufgabe zu beschränken, die nördliche Mark gegen die noch nicht bekehrten Chichimeken in der Wildnis zu schützen. Und in der Andenwelt sehen wir, wie die Inkas nur wenig gegen die gefährlichen Wilden Amazoniens und die tapferen Barbaren des südlichen Chile und der Pampas vorrücken — was ihrer Sendung entsprochen hätte —, statt dessen aber ihre Kräfte darauf verwenden, ihre Tiefland­nachbarn in den Küstengebieten und ihre Hochlandnachbarn in Ecuador zu unterjochen, die wie sie selbst Erben der Andenkultur sind.

In gleicher Weise mißbrauchten die mykenischen Vorposten der minoischen Kultur auf dem europäischen Festland die Tüchtigkeit, die sie durch ihre Selbstbehauptung gegenüber den festländischen Barbaren erworben hatten, und zerfleischten ihre eigene Mutter Kreta. Und die Mazedonier und Römer, die in der hellenischen Welt die Aufgabe hatten, als Grenzwacht gegen dieselben Barbaren zu dienen, begingen dasselbe Verbrechen wie die Mykener, als sie sich zuerst mit ihren Nachbarn und schließlich untereinander unrechtmäßigerweise um die Vorherrschaft in der hellenischen Welt stritten. 

In der chinesischen Welt spielte Tsin, die westliche Mark gegen die barbarischen Hochländer von Schensi und Schansi und die Nomaden der eurasischen Steppe, die Rolle Roms, als seine Fürsten die Arena betraten, die sich im Innern gebildet hatte, und dort im Kampf zwischen den streitenden Staaten schließlich den entscheidenden Schlag führten.

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In der ägyptischen Welt übte sich die klassische südliche Mark in dem unmittelbar unterhalb des ersten Katarakts gelegenen Teil des Niltales in den Waffen, indem sie ihre Pflicht erfüllte und die nubischen Barbaren stromaufwärts zurückdrängte. Aber auch sie kehrte sich um und richtete ihre Waffen gegen die ägyptischen Gemeinwesen im Innern; sie nutzte ihre militärische Überlegenheit aus, um mit nackter Gewalt das vereinigte Königreich der zwei Kronen zu begründen. Diese militaristische Tat, durch die die ägyptische Kultur zugleich geschaffen und verdorben wurde, ist von dem, der sie vollbracht hat, offen und selbstgefällig in einem der frühesten Berichte dargestellt worden, die in die Hände unserer modernen abendländischen Archäologen gelangt sind.

Die bildliche Darstellung zeigt die triumphale Rückkehr des oberägyptischen Kriegsherrn Narmer von seinem Eroberungs­krieg gegen Unterägypten. Im oberen Teil des Bildes schreitet der königliche Eroberer, auf übermenschliche Größe gebracht, hinter einer Reihe sich spreizender Standartenträger auf eine Doppelreihe enthaupteter feindlicher Leichname zu; und im unteren zerstampft er in der Gestalt eines Stieres einen gefallenen Gegner und reißt die Mauern einer befestigten Stadt ein. Der begleitende Text zählt, wie man annimmt, eine Beute von 120.000 Gefangenen, 400.000 Rindern und 1.422.000 Schafen und Ziegen auf.

In diesem grausigen Werk der archaischen ägyptischen Kunst haben wir die ganze Tragödie des Militarismus vor uns, wie sie sich von Narmer bis zu den Militaristen unserer heutigen abendländischen Welt in zwanzig verschiedenen Kulturen in Leben und Taten von Männern wie Sanherib, Karl dem Großen und Tamerlan immer wieder abgespielt hat. Die vielleicht schmerzlichste aller Aufführungen dieser Tragödie während ihrer Spielzeit von sechstausend und mehr Jahren bis zum heutigen Tage ist die, welche in Athen stattfand. Athen wurde dadurch schuldig und von einem »Befreier Griechenlands« zu einer »Tyrannenstadt«, daß es die Kriegsflotte, die es geschaffen hatte, um sich selbst und ganz Hellas vor dem Angriff der Achämeniden zu retten, bald danach dazu mißbrauchte, seine hellenischen Verbündeten und Schutzbefohlenen zu unterdrücken.

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Diese Verirrung brachte über Athen selbst wie auch über ganz Hellas die nie wiedergut­gemachte Katastrophe von 431-404 v. Chr. Und wenn ein Athen in Waffen einer so schweren Sünde mit so verhängnis­vollen Folgen unterlag, kann da eine unserer heutigen abendländischen Land- und Seemächte, die Athen an Waffen­gewalt ebensosehr überragen, wie sie in den Künsten hinter ihm zurückbleiben, sicher sein, daß sie ihre sittliche Reinheit bewahren kann?

In all den Fällen, die wir in diesem kurzen Überblick in unser Gedächtnis zurückgerufen haben, tritt es ebenso klar zutage, daß Militarismus Selbstmord ist, wie in den drei klassischen Beispielen, mit denen wir uns eingehender befaßt haben; und es wird am deutlichsten gerade dort, wo der verhängnisvolle Frontwechsel nicht ausschließlich verheerende Folgen gehabt, sondern nebenher auch aufbauend gewirkt hat. Daß die athenischen und mazedonischen Waffen von der Grenze gegen das Innere der hellenischen Welt gekehrt wurden, war verhängnisvoll für Hellas, auch wenn die athenischen und mazedonischen Militaristen etwas dazu beitrugen, daß die hellenische Gesellschaft die politische Weltordnung erhielt, die sie damals nötig hatte.

Die entsprechenden Frontwechsel, die Rom, Tsin und die Inkas vornahmen, waren gleichermaßen verhängnis­voll für die jeweilige Gesellschaft, trotz der Tatsache, daß es in jedem dieser Fälle dem militaristischen Gemeinwesen gelang, durch den Triumph seines Militarismus einen Universalstaat für seine Gesellschaft zu schaffen. Und daß Narmer seine nilaufwärts gerichtete Front nilabwärts kehrte, hatte eine unheilvolle Wirkung auf den späteren Verlauf der ägyptischen Geschichte, auch wenn es dadurch zur Gründung des vereinigten Königreichs kam. In der beschriebenen Darstellung Narmers haben wir das erste Zeugnis für jene Roheit im ägyptischen Ethos, die so bald die Weiterentwicklung der ägyptischen Kultur verhinderte. Die Nachkommen der von Narmer hingeschlachteten oder versklavten unterägyptischen Bauern waren jene unglücklichen Menschenwesen, die von den Pyramiden­bauern zu bloßen »Arbeitskräften« erniedrigt wurden.

Der militärische Bereich, über den wir uns in diesem Kapitel einen Überblick verschafft haben, gibt uns wertvolle Aufschlüsse über die verhängnisvolle Kette von Überdruß, Gewalttätigkeit und Verderben.

Denn kriegerische Gewandtheit und Tapferkeit sind geschliffene Werkzeuge, die denjenigen, welche es wagen, sie zu handhaben, tödliche Wunden schlagen können, wenn sie dabei auch nur die geringste Ungeschicklichkeit begehen oder das unbedeutendste Fehlurteil fällen. Wenn ein Einzelmensch, eine Regierung oder ein Gemeinwesen über militärische Machtmittel verfügt und sich entweder in den Grenzen des Bereichs, innerhalb dessen sie mit Nutzen angewendet werden können, oder in der Art der Dinge, die sich mit ihnen erreichen lassen, irrt, ist das verhängnisvoll; und die ernsten praktischen Folgen, die der beste Beweis für die Richtigkeit dieser Behauptung sind, werden nicht ausbleiben.

Aber was im militärischen Bereich handgreiflich wahr ist, gilt auch für die weniger gefährlichen Gebiete menschlicher Tätigkeit, auf denen der Pulvergang, der vom Überdruß über die Gewalttätigkeit zum Verderben führt, eine geringere Sprengwirkung hat. Aber einerlei, um welche menschliche Fähigkeit oder um welchen Anwendungsbereich es sich handelt, die Annahme, daß eine Fähigkeit deshalb, weil sie sich für die Erfüllung einer begrenzten Aufgabe auf ihrem eigentlichen Gebiet als ausreichend erwiesen hat, auch unter ganz anderen Umständen eine besondere Wirkung hervorbringen muß, ist ein Irrtum und eine sittliche Entgleisung und führt zu nichts anderem als zu sicherem Verderben.

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