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6. Der Siegesrausch 

Toynbee-1950

 

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Eine der allgemeineren Formen, in denen sich die Tragödie von Überdruß, Gewalttätigkeit und Verderben abspielt, ist der Siegesrausch — einerlei, ob dabei der Kampf, in dem der verhängnisvolle Preis gewonnen wird, ein Krieg mit den Waffen oder ein Widerstreit geistiger Kräfte ist. Beide Arten dieses Dramas können an Hand der Geschichte Roms erklärt werden: der durch einen Waffensieg verursachte Rausch aus dem Niedergang der Republik im 2. Jahrhundert v. Chr. und der durch einen geistigen Sieg herbeigeführte Rausch aus dem Niedergang des Papsttums im 13. Jahrhundert der christlichen Zeitrechnung.

Die Sittenverderbnis, der die herrschende Schicht der römischen Republik nach einem halben Jahrhundert titanischer Kriege (220-168 v. Chr.) verfiel, an dessen Anfang die furchtbare Prüfung des Zweiten Punischen Krieges steht, und das mit der Eroberung der Welt endete, ist beißend von einem griechischen Beobachter beschrieben worden, der eines der Opfer war.

»Ihr Freundschaftsbund hatte für Polyblus und Scipio Aemilianus alsbald eine starke Begeisterung für höhere Dinge zur Folge. Diese nahm ganz von ihnen Besitz und erweckte in ihnen den Ehrgeiz, sich in sittlicher Hinsicht besonders auszuzeichnen und auf diesem Gebiet in erfolgreichen Wettbewerb mit ihren Zeitgenossen zu treten. Der Siegespreis, nach dem sie mit solcher Leidenschaft strebten, wäre unter gewöhnlichen Umständen schwer zu erringen gewesen. Aber zu jener Zeit war in Rom das sittliche Niveau bei der allgemeinen Sittenlosigkeit der Gesellschaft leider sehr niedrig. Einige waren ganz für Frauen eingenommen, andere für unnatürliche Laster, viele für tänzerische Darbietungen und Trinkgelage und alle Ausschweifungen, zu denen diese Gelegenheit gaben. 
All das waren Laster, für die die Griechen eine Schwäche hatten, und die Römer hatten sie von diesen während des Dritten Mazedonischen Krieges sehr schnell übernommen.
So heftig und zügellos war die Leidenschaft, mit der die jün
gere Generation der Römer diesen Lastern ergeben war, daß es etwas ganz Gewöhnliches war, wenn jemand für einen Lustknaben ein Talent und für einen Krug Kaviar dreihundert Drachmen bezahlte. Diese Verhältnisse veranlagten Marcus Cato in einer öffentlichen Rede zu der entrüsteten Bemerkung, es falle ein grelles Licht auf die Sittenverderbnis der römischen Gesellschaft durch die bloße Tatsache, daß hübsche Knaben höhere Preise erzielten als Ackerland, und Krüge mit Kaviar höhere als Vieh. 
Man wird nun fragen, warum diese Gesellschaftskrankheit gerade in dieser bestimmten Zeit ausbrach. Dafür lassen sich zwei Gründe angeben. Einmal waren sich die Römer, nachdem sie das Königreich Mazedonien gestürzt hatten, dessen bewußt, daß es in der Welt jetzt keine Macht mehr gab, die ihnen ihre Überlegenheit streitig machen konnte. Und zweitens war durch die Verschleppung von Besitztümern von Mazedonien nach Rom die private wie die öffentliche Prachtentfaltung gewaltig gesteigert worden.«*

 

Das war der Zustand der Sitten in der römischen Oberschicht, den der überwältigende Sieg herbeigeführt hatte, welcher von der Republik nach Jahren des Todeskampfes, in denen sie am Rande des Abgrunds geschwebt hatte, errungen worden war.

Die Generation, die diesen jähen Wechsel von Glück und Unglück erlebt hatte, hatte ihren Halt verloren und nahm gedankenlos als selbstverständlich an, daß die unüberwindliche materielle Macht imstande sei, alle menschlichen Probleme zu lösen, und daß der Mensch nur das eine Ziel habe, sich hemmungslos allen sinnlichen Genüssen hinzugeben, die ihm eine solche Macht verschaffen könne.

Die Sieger erkannten nicht, daß diese Geisteshaltung die Folge einer sittlichen Niederlage war, die der im Felde besiegte Hannibal ihnen doch schließlich zugefügt hatte. Sie sahen nicht, daß die Welt, in der sie als Sieger galten, eine Welt in Trümmern war, und daß ihre eigene, offensichtlich doch so siegreiche römische Republik in Wirklichkeit der am schlimmsten betroffene von all den am Boden liegenden Staaten war, aus denen sich diese zertrümmerte Welt zusammensetzte. In dieser sittlichen Verirrung waren sie mehr als hundert Jahre befangen. Und in diesem schrecklichen Jahrhundert brachten sie ein Unheil über das andere über die Welt, die ihr Sieg ihrer Gnade ausgeliefert hatte. Ins allergrößte Unglück aber stürzten sie sich selbst.

* Polybius, Historiae, Buch 36, Kap. 25

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Aber selbst auf ihrem ureigensten Gebiet, das sie sich selbst gewählt hatten, nämlich dem militärischen, machte sich der Niedergang bald bemerkbar. Den schwer errungenen Siegen über Hannibal und Perseus folgte eine Reihe demütigender Schlappen, die Rom durch Gegner erlitt, die ihm an militärischer Stärke weit unterlegen waren; das geschlagene, entwaffnete und fast ganz wehrlose Karthago, über das die römische Regierung 149 v. Chr. kaltblütig das Todesurteil aussprach; die barbarischen Numantiner, die von 153 bis 133 allen Anstrengungen Roms, sie zu unterwerfen, Trotz boten; die versklavten und aus ihrem Vaterlande verschleppten Orientalen, die 135 und 104 aus den Arbeitshäusern auf den sizilischen Plantagen ausbrachen; die aufrührerischen Gladiatoren, an deren Spitze Spartakus in den Jahren 73-71 Italien ebenso frei durchstreifte, wie das Hannibal von 218 bis 211 getan hatte; die »Bürger der Sonnenstadt«, die auf Aristonikus von Pergamon vertrauten und in der Stärke ihres Glaubens an eine bevorstehende neue Weltordnung drei Jahre lang (132-130) der römischen Macht standhielten; und die aufständischen Eingeborenenfürsten Jugurtha und Mithridates, die ihr Abhängigkeitsverhältnis aufsagten und es bewirkten, daß ihr herausgeforderter Oberherr eine äußerste Kraftanstrengung machen mußte, um sie schließlich zu unterwerfen.

Daß Rom unmittelbar nach seinen triumphalen Siegen solchen Schimpf über sich ergehen lassen mußte, hat seine Ursache darin, daß seine Offiziere in diesem Jahrhundert Soldaten, die bei einem Sieg nichts mehr gewinnen konnten, gegen einen Feind führten, der seinerseits von einer Niederlegung der Waffen nichts mehr zu erhoffen hatte. Die herrschende Klasse betrieb jetzt nur zu ihrem eigenen finanziellen Vorteil rücksichtslos die Mobilisierung der italienischen Bauern und die Unterjochung der Barbaren und Orientalen. Die Provinzen wurden ihres Reichtums und ihrer Menschen beraubt, damit die römischen Kaufherren gewinn­bringende Verträge abschließen konnten und die Senatoren billige Arbeitskräfte für ihre Viehwirtschaften und Plantagen erhielten.

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Und das Land, das diese wenigen Kapitalisten mit den fremden Arbeitssklaven versorgten, um ihre schon beträchtlichen Vermögen noch zu vervielfältigen, war italisches Land, in dem sich nur durch Verarmung und Vertreibung der ursprünglichen bäuerlichen Eigentümer eine solche kapitalistische Wirtschaft einführen ließ. Die meisten der Latifundien, die Italiens Verderb waren, lagen in dem am ärgsten verwüsteten Süden und waren infolge des Zweiten Punischen Krieges in die öffentliche Hand übergegangen; einesteils sollten die ursprünglichen Eigentümer dafür bestraft werden, daß sie in das Lager Hannibals übergegangen waren, andernteils waren sie einfach verschwunden. Später konnte dann die neue Schicht der Nachkriegs­plantagen­besitzer und -viehhalter ihren Grund und Boden durch Ankauf alter freier Bauerngüter laufend erweitern; diese kamen dadurch auf den Markt, daß ihre Eigentümer eingezogen und jahrelang ununterbrochen auf dem fernen Schauplatz eines der dauernden Grenzkriege — etwa an der Westgrenze der beiden spanischen Provinzen oder an der Nordgrenze der Provinz Mazedonien — unter Waffen gehalten wurden.

In dieser Zeit waren Untertanen wie Bürger der römischen Republik gleichermaßen Opfer der herrschenden Klasse geworden, die der Siegesrausch zu einer Räuberbande hatte werden lassen. Als im Jahre 104 v.Chr. die gesamte hellenische Welt von einer großen Barbarenwelle aus dem nördlichen Europa bedroht war, konnte der König von Bithynien, das offiziell ein befreundeter Staat unter römischem Schutz war, dem Vertreter der römischen Regierung, der ihm mit der Forderung nach einem Truppenkontingent aufwartete, mit beißender Ironie antworten, »daß die meisten seiner Untertanen von den [römischen] Steuerpächtern geraubt worden seien und jetzt als Sklaven in Gebieten unter römischer Verwaltung lebten«. Und im Jahre 133 v.Chr. konnte ein hochherziger junger römischer Aristokrat, der versuchte, eine Sozialreform durchzuführen, und dabei eine Revolution hervorrief, ohne Widerspruch erklären:

»Die wilden Tiere, die durch Italien streifen, haben eine Grube, und jedes von ihnen hat sein Lager und sein Nest; aber die Männer, welche für Italien kämpfen und sterben, haben an nichts Anteil als an der Luft und am Licht der Sonne ... Nur damit andere im Reichtum und Überfluß leben können, ziehen sie in den Krieg und opfern sie ihr Leben. Man nennt sie die Herren der Welt; und doch haben sie nicht ein einziges Stückchen Erde, das sie ihr eigen nennen könnten.«

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Die glatte Weigerung der Standesgenossen, Tiberius Gracchus bei seinem Bemühen zu unterstützen, Abhilfe für die Leiden der römischen Bauern zu schaffen, hatte eine Revolution zur Folge, und diese erweiterte sich zu einem Bürgerkrieg. Und die Ermordung des verhinderten Reformers im Jahre 133 v.Chr. löste eine selbstmörderische Gewalttätigkeit im Herzen des römischen Staatswesens aus, der erst Augustus nach der Schlacht bei Aktium im Jahre 31 v.Chr. Herr wurde.

Die Pax Augusta führte kein »Goldenes Zeitalter«, sondern nur einen »Nachsommer« herauf. Der Schaden, den Rom damals bereits sich selbst und der ganzen hellenischen Gesellschaft zugefügt hatte, war schon nicht mehr wiedergutzumachen. Die Götter der herrschenden Minderheit konnten ihren letzten Lieblingen nur noch einen Aufschub, aber keine Begnadigung mehr gewähren. Und selbst diese Gnadenfrist sollte nicht mehr den Anhängern der sterbenden Götter zugute kommen, sondern einem neuen Geschlecht, das seinen Blick in eine weite Ferne richtete und seinen Glauben auf die Macht eines anderen Heilands gründete. In der hellenischen Welt hatte sich zwischen der Zeit des Polybius und der Virgils etwas sehr Wesentliches ereignet, was nicht wiedergutzumachen war, nämlich die innere Loslösung des Proletariats. Und daraus wiederum ergab sich mit zwingender Notwendigkeit, daß in der Zeit zwischen Virgil und Mark Aurel sich im Innern dieses Proletariats der Keim einer neuen Gesellschafts­ordnung entfaltete.

Den Mißstand, dem Gracchus hatte abhelfen wollen, suchte man später in sozial ungerechtfertigter Weise zu beseitigen und machte damit das Übel nur noch schlimmer. So vertrieb eine Reihe revolutionärer Kriegsherren, von Sulla angefangen bis zu Augustus, den letzteren nicht ausgenommen, rücksichtslos die letzten italischen Bauern, die sich bis dahin noch auf ihrem Grund und Boden gehalten hatten, von ihrem Eigentum, um Landlose für frühere Angehörige des Bauernstandes zu gewinnen, die durch jahrelangen ununterbrochenen Kriegsdienst, bei dem das Lager ihr Heim und das Schwert ihr Broterwerb geworden war, entwurzelt und längst nicht mehr imstande waren, als Bauern auf dem Lande wieder Fuß zu fassen.

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Die Folgen dieser Karikatur des gracchischen Reformversuchs waren noch schlimmer als das Übel eines entwurzelten und militarisierten Großstadt­proletariats. Die italische Landwirtschaft erhielt dadurch den Todesstoß. Aber zur selben Zeit, als alle Versuche der römischen Staatskunst zur Lösung der sozialen Probleme Italiens scheiterten, wurde das Gleichnis von den »Gruben« und »Nestern« der wilden Tiere, das Tiberius Gracchus einst in einer politischen Rede angewandt hatte, um damit einen sozialen Mißstand schlaglichtartig zu beleuchten, von einem Propheten in Syrien gebraucht, um mit ihm eine andere und tiefere Wahrheit verständlich zu machen. Allerdings machte er keinen Eindruck auf die römischen Behörden seiner Zeit, nicht einmal, als diese nach dem Gang ihrer Verwaltungstätigkeit die Gelegenheit hatten, ihn hinrichten zu lassen. 

Als Jesus die Leiden der galiläischen Bauern auf sich nahm, die von denselben Räubern ausgeplündert worden waren wie die Bauern des Ager Mantuanus, und als er zu dem Schriftgelehrten sagte: »Die Füchse haben Gruben, und die Vögel unter dem Himmel haben Nester; aber des Menschen Sohn hat nicht, da er sein Haupt hinlege«, gebrauchte er das gracchische Bild, um dem Proletariat verständlich zu machen, daß die ungerechte und gewaltsame Wegnahme seiner irdischen Güter kein Grund zu Umsturz und Vergeltung, ja, vielleicht nicht einmal zu politischen Reformen sei, sondern in Wirklichkeit ein versteckter Segen und eine unverdächtige Quelle geistigen Reichtums.

»Selig sind die Sanftmutigen; 
denn sie werden das Erdreich besitzen ...
Selig sind, die um Gerechtigkeit willen verfolgt werden;
denn das Himmelreich ist ihr.«

Dieser Siegesrausch, der die römische Oberschicht zugrunde richtete, als sie in dem halben Jahrhundert, das mit der Schlacht bei Pydna endete, die hellenische Welt erobert hatte, war in geringerem Grade auch das Verderben der Spanier und Portugiesen nach ihrer Eroberung der Neuen Welt zu Beginn der Neuzeit unserer abendländischen Geschichte, und ferner auch der Ruin der Briten nach ihrer Eroberung von Bengalen und Kanada im Siebenjährigen Kriege.

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Die Spanier und Portugiesen hatten 1493 vom Papst einen Schiedsspruch erwirkt, der die ganze überseeische Welt zwischen ihnen aufteilte, als ob sonst niemand da sei, der einen Anspruch erheben könnte. Aber es dauerte kein Jahrhundert, bis ihr Monopol gebrochen wurde. Nach der Niederlage der spanischen Armada setzten sich die Holländer, Engländer und Franzosen über die spanischen Reservate in Amerika, die portugiesischen in Afrika und Indien und die beider iberischen Mächte im Fernen Osten hinweg. 

Die iberischen Pioniere hatten sich an ihren anfänglichen Leistungen berauscht und waren in einen anmaßenden Stolz verfallen. Denn sie wußten, daß sie sagen konnten:

»Wir waren die ersten, die je sich gewagt  
Hinaus auf das schweigende Meer.«  

Das war die klaffende Spalte in ihrer Rüstung, durch die um die Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert die luchsäugigen und behenden europäischen Rivalen ihre Waffe stießen und ihren Gegner kampfunfähig machten.

Was die Engländer betrifft, so brachte sie zeitweilig das ungewöhnlich verschwenderische Glück, das ihnen gleichzeitig mit der einen Hand Kanada und mit der andern Bengalen zuwarf, von der Mäßigung ab, die sie sich sowohl vorher als auch nachher mit Bedacht auferlegten. 1763 schien es ganz offensichtlich die Bestimmung des britischen Reiches zu sein, das gesamte Nordamerika wie auch ganz Indien zu schlucken. Aber zwanzig Jahre später hatte Großbritannien die bessere Hälfte des einen der beiden Halbkontinente verloren und war in ernster Gefahr, den anderen ganz zu verlieren.

Allerdings hat inzwischen die Geschichte die britische Staatsführung von der ausschließlichen Verantwortung für das Auseinanderbrechen des ersten britischen Reiches freigesprochen. Amerikanische Historiker haben neuerdings viel getan, um aufzuzeigen, daß die Schuld an dem Bruderkrieg von 1775 bis 1783 auf beiden Seiten liegt; und der Name Warren Hastings klingt nicht mehr so unangenehm, wie man ihn vor hundertfünfzig Jahren hat klingen lassen. Nichtsdestoweniger müssen wir auch heute dafür halten, daß die dreizehn Kolonien der britischen Krone niemals verlorengegangen wären, wenn diese ihnen gegenüber von 1763 bis 1775 dasselbe Feingefühl gezeigt und dieselbe Rücksicht genommen hätte, deren sich Kanada von 1774 an wiederholt zu erfreuen gehabt hat.

Auch wäre Bengalen nicht gehalten — und darüber hinaus noch zu einem ganz Indien umfassenden Kaiserreich erweitert — worden, wenn die räuberischen Praktiken, welche die Angestellten der Kompanie, von Clive und Warren Hastings an, nach dem berauschenden Siege von Plassy sechsundzwanzig Jahre lang im Osten an den Tag gelegt hatten, nicht durch die erfolglose Anklageschrift von 1783, die wirksame von 1784 und das lange hinausgeschobene Staatsgerichts­verfahren von 1786-1795 verurteilt worden wären.

So aufrichtig sich auch Clive über seine »eigene Mäßigung gewundert« haben mag, das Maß seiner Tugend hätte für seine Landsleute doch beinahe den Verlust des orientalischen Herrschaftsbereichs zur Folge gehabt, den seine vollkommene Skrupellosigkeit für sie gewonnen hatte, wenn sie sich nicht, durch die Katastrophe in Amerika ernüchtert, bemüht hätten, sein sittliches Niveau zu heben.

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