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8. Der Preis des Fortschritts in der Kriegstechnik  

 Toynbee-1950

 

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Bis zum heutigen Tage haben vier oder fünf Jahrtausende den Niedergang von einigen zwanzig Kulturen gesehen. Und die Ursache war in der weitaus größten Zahl der Fälle Militarismus. Der Militarismus richtet eine Kultur zugrunde, indem er die Einzelstaaten, in die sich eine Gesellschaft gliedert, in zerstörerische und tödliche Konflikte miteinander bringt. In diesem selbstmörderischen Geschehen wird das ganze gesell­schaft­liche Gefüge Nahrung für die verzehrende Flamme im ehernen Bauch des Moloch.

Die Kriegskunst allein macht Fortschritte auf Kosten aller Künste des Friedens. Und bevor das grauenhafte Ritual die Verehrer des Moloch völlig zugrunde gerichtet hat, können diese es zu einer solchen Meisterschaft im Gebrauch ihrer Mordwerkzeuge gebracht haben, daß sie alles mit sich fortreißen, wenn sie einmal ihre Orgie gegenseitiger Vernichtung eine Zeitlang unterbrechen und ihre Waffen dann gegen Feinde richten, die nicht zu ihrer Gesellschaft gehören.

Ein Beispiel hierfür ist die späte Ausbreitung des Hellenismus bis nach Indien und Britannien zwischen dem 4. Jahrhundert v. Chr. und dem 1. Jahrhundert der christlichen Zeitrechnung. Denn die Bahnen, auf denen sich diese Ausbreitung vollzog, waren von den mazedonischen und römischen Waffen freigemacht worden. Und diese Waffen waren in den langen Vernichtungskriegen der Großmächte der hellenischen Welt gegeneinander, in denen es Athen nicht gelang, seine Herrschaft durchzusetzen, und Rom schließlich den letzten Streich tun konnte, leistungsfähig und unwiderstehlich geworden. So war in der hellenischen Welt der Militarismus wenigstens teilweise die Ursache ihrer späten Ausdehnung; aber er war auch verantwortlich für die Auflösung der Gesellschaft, die bereits neben dieser Ausdehnung herging.

Der Gegensatz zwischen der älteren und der jüngeren Steinzeit in Europa, die in der technologischen Entwick­lungs­reihe unmittelbar aufeinanderfolgen, zeigt, wie die Technik fortschreiten kann, während gleichzeitig die Kultur verfällt.

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Das Paläolithikum war mit roh ausgeführten Geräten zufrieden, entwickelte aber einen feinen ästhetischen Sinn und brachte es auch so weit, gewisse einfache Mittel zu entdecken, mit denen es diesem Sinn bildlichen Ausdruck verleihen konnte. Die gewandten und lebendigen Kohleskizzen von Tieren, die sich noch an den Wänden der Höhlen befinden, in denen der paläolithische Mensch gewohnt hat, und die dort von unsern modernen Archäologen entdeckt worden sind, versetzen uns in Erstaunen und Verwunderung.

Die neolithische Gesellschaft gab sich unendliche Mühe, sich mit fein geschliffenen Werkzeugen zu versehen, und gebrauchte diese wahrscheinlich auch im Daseinskampf mit dem paläolithischen Menschen, bei dem der Homo Pictor unterging, und der Homo Faber als Sieger auf dem Platz blieb. Auf jeden Fall verschwand die Gesellschaft der älteren Steinzeit, und die der jüngeren trat an ihre Stelle. Und dieser Wechsel, mit dem eine auffällige Verbesserung der Technik einhergeht, brachte einen deutlich feststellbaren Rückschritt der Kultur mit sich. Denn die Kunst des paläolithischen Menschen starb mit ihm aus. Und wenn der neolithische Mensch überhaupt nur eine Spur von ästhetischem Sinn hatte, so hat er diesem jedenfalls keinen sichtbaren Ausdruck verliehen.

Ein anderes Beispiel einer technischen Verbesserung, die mit einem Rückgang der Kultur verbunden ist, finden wir in dem Interregnum, in dem sich die Auflösung der minoischen Kultur vollzog. Die minoische Gesellschaft gehört vom Anfang bis zum Ende ihrer Geschichte der Bronzezeit an. Der letzte und rückständigste Schwärm kontinentaleuropäischer Barbaren, der in der nachminoischen Völkerwanderung in das herrenlose Gebiet der minoischen Gesellschaft einbrach, kam dagegen nicht mit Bronze-, sondern mit Eisenwaffen. Und bei ihrem siegreichen Angriff auf die Epigonen der minoischen Kultur zogen sie zweifellos Nutzen aus ihrer Bekanntschaft mit dem mächtigeren Metall. Aber dieser Sieg der mit Eisenschwertern versehenen »Dorer« über die noch mit Bronzeschwertern kämpfenden Minoer war ein Sieg der Barbaren über die Kultur. Denn ein Eisenschwert — oder, in unserm Sinne, ein Stahltank, ein Unterseeboot, ein Bombenflugzeug oder sonst irgendein Mordwerkzeug unserer jetzigen Maschinenzeit — kann durchaus ein Zaubermittel zur Herbeiführung des Sieges sein, ohne doch zugleich auch von Kultur Zeugnis abzulegen.

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Als die »Dorer« ihre Bronzewaffen durch solche aus Eisen ersetzten, hörten sie deshalb nicht auf Barbaren zu sein. Und es liegt nicht einmal ein Grund vor, diesen Barbaren selbst die technische Leistung der Entdeckung eines neuen und besseren Materials für die Metallverarbeitung zuzugestehen. Das Eisen der »Dorer« war wahrscheinlich nicht ihre eigene Entdeckung, sondern einfach eine Anleihe; es ist anzunehmen, daß nur ein geographischer Zufall diese Barbaren in die Lage versetzte, kunstfertige Handwerker eines benachbarten Gebietes nachzuahmen.  

Diese Begegnung zwischen »Dorern« und Minoern widerlegt die Annahme, daß ein Fortschritt auf dem Gebiet der Technologie auch einen solchen in der Kultur bedeutet, durch eine Reductio ad absurdum. Denn eine solche Annahme würde uns zwingen weiter zu folgern, daß zur Zeit des Tiefpunktes des nachminoischen Interregnums ein Fortschritt der Kultur in der Ägäis stattfand; daß dieser bedeutender war als alle übrigen, die im gesamten Verlauf der minoischen Geschichte gemacht worden waren; und daß er durch die eindringenden Banden der mit Eisenschwertern ausgerüsteten »Dorer« in dem Augenblick gemacht wurde, als sie ihre Eisenwaffen dazu benutzten, um der mit Bronzeschwertern versehenen minoischen Kultur den Todesstoß zu versetzen.

Dieses Beispiel aus der Geschichte der Alten Welt hat eine auffällig übereinstimmende Parallele in der Geschichte der Neuen Welt.

»Die Chronologie der Maya und der Tolteken ermöglicht es, den Beginn der Metallzeit in Mittelamerika und Mexiko innerhalb verhältnismäßig enger Grenzen festzusetzen. Bei den Ausgrabungen in Copan, Quirigua und anderen Maya­städten des Ersten Reiches wurde kein Metall, nicht einmal eine Spur von Kupfer gefunden. Las Quebradas in Guatemala war über einer Erzlagerstätte gebaut; aber beim Schleusenbau, der die Stelle fast ganz zerstört hat, ist nicht ein Stück bearbeiteten Goldes gefunden worden. Auch ist auf den frühen Denkmälern kein Metallschmuck wie Halsketten oder Glocken dargestellt. Daraus schließen wir, daß die Metallzeit nicht vor 600 n. Chr. begann. Doch um 1200 n. Chr. war die Verarbeitung von Gold, Silber, Kupfer und verschiedenen Legierungen hoch entwickelt.

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Viele in Chichen-Itza im nördlichen Yucatan gefundene Stücke stammen aus Costarica und Kolumbien; und die Metall­bearbeitung ist von Südkolumbien bis Mittelmexiko die gleiche. Diese Kunst wurde anscheinend um 1000 n. Chr. aus Südamerika eingeführt und machte in den 500 Jahren bis zur spanischen Eroberung rasche Fortschritte*.«

 

Es zeigt sich, daß die beiden Beispiele, mit denen wir unsere Feststellung erhärtet haben, das aus Mittel­amerika und das vorher­gehende aus der Ägäis, sich gegenseitig ergänzen. So wie in der Alten Welt die minoische Gesellschaft ihre Leistungen vollbrachte, ohne je über die Bronzezeit hinauszukommen, so erhob sich und verfiel in der Neuen Welt die Mayagesellschaft, ohne überhaupt von der Steinzeit zu einer Metallzeit überzugehen. In Mittelamerika war die Einführung der Hüttentechnik zwei Kulturen vorbehalten, die beide mit der der Maya verbunden waren, von denen sich aber keine mit der vorhergehenden in Hinsicht auf die durchschnittliche Höhe der kulturellen Errungenschaften messen kann. Und auch hier fiel der technologische Fortschritt zeitlich mit einem kulturellen Interregnum zusammen.

Wenn es eine Reductio ad absurdum des technologischen Kriteriums ist, zu behaupten, daß die zweitrangigen Kulturen, die mit der der Maya verbunden waren, oder die barbarischen Eindringlinge in der ägäischen Welt im nach-minoischen und vorhellenischen Interregnum um ihrer Tüchtigkeit in der Technik willen Apostel der Kultur waren, dann ist es belustigend, zu sehen, wie der letzte der großen hellenischen Geschichtsschreiber auf Grund technologischer Erwägungen einen ebenso unsinnigen Anspruch im Namen des nachhellenischen Interregnums erhebt.

Prokop von Cäsarea schrieb eine Geschichte der Kriege des römischen Kaisers Justinian (527-565 n.Chr.). Diese Kriege waren das Ende der alten hellenischen Gesellschaft. Justinian hatte die ehrgeizige Absicht, die territoriale Integrität des Reiches wiederherzustellen, und strebte hartnäckig danach, diesen Plan zu verwirklichen. Doch die Folge war nur der finanzielle Zusammenbruch der orientalischen Provinzen, die Entvölkerung des Balkans und die Verwüstung Italiens. Und selbst um diesen Preis gelang es ihm nicht, sein Ziel zu erreichen.

* The Encyclopaedia Britannica, 13. Aufl., Bd. I, S. 195

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Denn dadurch, daß er die Vandalen in Afrika völlig vernichtete, machte er den Weg frei für die Mauren, so daß diese deren Platz einnehmen konnten; und dadurch, daß er die Ostgoten ebenso vollständig vernichtete, schuf er in Italien ein Vakuum, das innerhalb von drei Jahren nach seinem Tode durch die weit rückständigeren Langobarden ausgefüllt wurde. Das Jahrhundert, welches den Kriegen Justinians folgte, war in der Tat der Tiefpunkt des nachhellenischen Interregnums. Das war die Tragödie der Zeit Prokops, soweit die Nachwelt das rückschauend feststellen kann.

Allerdings war es auch damals offenbar, und die Zeitgenossen Prokops stellten es weitgehend mit Bedauern fest, daß — einerlei ob das Ende des Hellenismus noch fern oder schon nah sein mochte — die hellenische Geschichte längst ihren Höhepunkt überschritten hatte. Als jedoch der bedeutende Geschichtsschreiber das Vorwort zu seinem Bericht über die verhängnisvollen Ereignisse schrieb, die gerade dem Hellenismus den Todesstoß versetzt hatten, ging er seinen eigenen Weg. Hier stellt er nämlich einen Vergleich zwischen den Alten und den Neueren an und gibt den Neueren den Vorzug, und zwar auf Grund ihrer technischen Überlegenheit in der Kriegskunst.

»Daß diese Kriege mindestens ebenso bedeutsam und denkwürdig sind wie die andern, von denen die Geschichte zu berichten weiß, wird jedem, der sie unvoreingenommen betrachtet, klar sein. Nur ein Leser, der darauf besteht, dem Altertum den Vorzug zu geben, und sich in der gegenwärtigen Welt von nichts beeindrucken läßt, wird bestreiten, daß in diesen Kriegen so außergewöhnliche Dinge geschehen sind, daß sich in der Vergangenheit nichts mit ihnen messen kann. 

Als erstes Beispiel fällt mir die übertriebene Vorliebe ein, mit der man unsere heutigen Truppen als >Bogenschützen< bezeichnet und Ausdrücke wie >Kämpfer Mann gegen Mann< oder >Gewappnete< ausschließlich zur Bezeichnung der Krieger des Altertums gebraucht, in der festen Überzeugung, daß die heutigen sie nicht mehr beanspruchen können.

Solche Anschauungen verraten nur Oberflächlichkeit und gänzlichen Mangel an Erfahrung. Es ist denen, die sie vertreten, niemals in den Sinn gekommen, daß die Bogenschützen bei Homer, deren Waffe ihnen wie etwas Schimpfliches vorgeworfen wird, kein Pferd unter sich, keine Lanze in der Hand und weder Schild noch Panzer hatten, um sich damit zu bedecken. 

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Sie zogen zu Fuß in den Kampf und waren gezwungen, auf die Weise Schutz zu suchen, daß sie sich entweder hinter den Schild des Kameraden stellten oder <an einen Grabstein lehnten> — eine Stellung, die es ihnen unmöglich machte, sowohl sich selbst durch Flucht in Sicherheit zu bringen als auch einen sich zurückziehenden Feind zu verfolgen, und vor allem, auf freiem Felde zu kämpfen. Deshalb war man auch der Ansicht, daß sie im Kriege nur eine untergeordnete Rolle spielten. Darüber hinaus gaben sie sich aber auch wenig Mühe in der Handhabung ihrer Waffe. Beim Schießen zogen sie die Sehne ihres Bogens nur an die Brust, mit dem Erfolg, daß das Geschoß kraftlos und unwirksam war, wenn es sein Ziel erreichte. Dies war zweifellos das Niveau, auf dem das Bogenschießen in früheren Zeiten stand. 

Im Gegensatz dazu ziehen unsere heutigen Bogenschützen mit Panzer und hohen Stiefeln ausgerüstet in den Kampf, mit dem Köcher an der rechten und dem Schwert an der linken Seite. Einige Reiter haben eine Lanze über die Schulter und einen kleinen grifflosen Schild, der gerade groß genug ist, um Gesicht und Hals zu bedecken. Da sie ausgezeichnete Reiter sind, sind sie imstande, selbst in vollem Galopp ihren Bogen nach beiden Seiten zu richten und sowohl einen verfolgenden Feind in ihrem Rücken als auch einen fliehenden vor sich zu treffen. Sie ziehen die Bogensehne gegen ihr Gesicht, ungefähr in der Höhe des rechten Ohres, wodurch das Geschoß eine solche Kraft bekommt, daß sein Aufschlag stets tödlich wirkt, und weder Schild noch Panzer seiner Wucht widerstehen können. Manche Leute indessen ziehen es vor, das Vorhandensein dieser Truppen zu übersehen, verharren in Bewunderung und, Verehrung des Altertums und weigern sich, die Überlegenheit der neueren Erfindungen zuzugeben. Falsche Ansichten dieser Art können allerdings den jüngstvergangenen Kriegen nichts von ihrer hervorragenden Wichtigkeit und Bedeutung nehmen.«

 

Prokops Erörterung ist so überspannt, daß sie sich selbst widerlegt. Und die einzige Bemerkung, die dazu zu machen ist, ist die, daß der Kataphrakt, den er seinen Lesern als das Meisterstück der griechischen und römischen Kriegstechnik und den leistungs­fähigen Soldatentyp hinstellt, der in dem langen Zeitraum zwischen dem Zeitalter Homers und des Verfassers eigener Zeit in der hellenischen Welt in Erscheinung getreten ist, in Wirklichkeit ebensowenig eine eigene Schöpfung des militärischen Genies der Griechen oder Römer war wie das Eisen eine Entdeckung der »Dorer«.

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Der berittene, von Kopf bis Fuß gepanzerte und durch seine persönliche Tüchtigkeit im Reiten und Schießen furchterregende Bogenschütze war im Gegenteil der echten militärischen Überlieferung der Griechen und Römer völlig fremd. Diese hatten vielmehr ihre Reiterei in eine untergeordnete Rolle verwiesen und ihr ganzes Vertrauen in die Fußtruppe gesetzt, deren Stärke weit mehr in der Geschlossenheit, dem Zusammenhalt und der Disziplin des Truppenverbandes lag als in der Ausrüstung oder der Gewandtheit des einzelnen Soldaten.

Im römischen Heer war der Panzerreiter eine Neuerung; eine Waffengattung, die erst 200 Jahre, bevor Prokop schrieb, eingeführt worden war. Wenn diese Waffengattung in einer verhältnismäßig so kurzen Zeitspanne die Hauptstütze der römischen Kriegsmacht geworden war, so legt diese Revolution in der Kriegstechnik Zeugnis ab für den schnellen und beklagenswerten Verfall der historischen römischen Infanterie. In der Tat füllte der schwerbewaffnete Reiter im römischen Heer der Zeit Prokops ein Vakuum, das er selbst verursacht hatte. Denn der vormals unbesiegbare Fußsoldat hatte im Panzerreiter zuerst, als ihm dieser auf den Ebenen Mesopotamiens in den Heeren der Arsaziden und Sasaniden begegnete, einen ebenbürtigen Gegner gefunden und ihn schließlich, als er ihm in den Donauniederungen in den Kriegerscharen der Sarmaten und Goten entgegentrat, als überlegen anerkannt. Die langdauernde Kraftprobe zwischen dem Legionssoldaten und dem schweren Reiter, die 53 v. Chr. bei Karrhä mit dem Mißgeschick des Crassus begonnen und in der Katastrophe des Valens bei Adrianopel im Jahre 378 n. Chr. ihren Höhepunkt hatte, gab den Römern in militärischer Hinsicht zu denken. Und am Ende entschlossen sich die Befehlsstellen, den historischen Fußsoldaten, durch dessen Schwert und Schanzgerät Dea Roma ihr Reich gewonnen hatte, abzuschaffen und den fremden, aber siegreichen orientalischen Panzerreiter an seine Stelle zu setzen.

Bei seinem Lob des Kataphrakten tut also Prokop in Wirklichkeit das Gegenteil von dem, was er zu tun glaubt und beabsichtigt. Statt eine Verbesserung der griechischen und römischen Kriegstechnik zu feiern, hält er ihre Leichenrede.

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Aber wenn Prokop auch ein unglückliches Beispiel ausgesucht hat, um das, was er darlegen will, zu erhärten, so bleibt doch seine Behauptung, daß sich die hellenische Technik fortschreitend verbessert hat, auf dem Gebiet der Kriegstechnik, auf das eiserne Erörterung beschränkt, im großen und ganzen gültig. Wenn wir diese Seite der Sozialgeschichte der Griechen und Römer überschauen, wollen wir den unechten Epilog, den der Kataphrakt darstellt, außer acht lassen und uns auf eine Übersicht über die tausend Jahre beschränken, die in der zweiten Hälfte des 7. Jahrhunderts v. Chr. mit der Erfindung der spartanischen Phalanx im Zweiten Messenischen Kriege beginnen und 378 n. Chr. mit der endgültigen Niederlage und der Zerstörung des Nimbus der römischen Legion in der Schlacht bei Adrianopel enden. Durch diese tausend Jahre können wir die Entwicklung der ursprünglich hellenischen Kriegstechnik verfolgen, ohne einen Bruch ihrer Kontinuität feststellen zu müssen. Und wenn wir die einzelnen Stufen dieser Entwicklung näher ins Auge fassen, werden wir sehen, daß neben jeder Verbesserung in der Kriegskunst unweigerlich ein Stillstand oder ein Rückgang der Kultur einhergeht.

Um mit der Erfindung der spartanischen Phalanx, die wir schon besprochen haben, zu beginnen, so war diese erste bemerkenswerte Verbesserung, von der wir eine Überlieferung besitzen, ein Ergebnis derselben Ereignisse, welche das Wachstum der spartanischen Sonderart der hellenischen Kultur vorzeitig zum Stillstand brachten.

Die nächste hervorragende Verbesserung war die Differenzierung des hellenischen Fußsoldaten in zwei entgegengesetzte Typen: den mazedonischen Phalangiten und den athenischen Peltasten. Die mazedonische Phalanx, die mit langen, mit beiden Händen zu handhabenden Speeren ausgerüstet war, war beim massierten Angriff furchtbarer als ihr spartanischer Vorläufer. Aber sie war auch weniger beweglich und in stärkerem Maße dem Feinde ausgeliefert, wenn sie einmal den Zusammenhalt verlor. Und deshalb konnte sie nur dann mit dem Gefühl der Sicherheit in den Kampf gehen, wenn ihre Flanken von Peltasten geschützt waren. Diese waren ein neuer Typ leichter Infanterie; sie wurden aus den Reihen gezogen und als Plänkler ausgebildet. In Zusammenarbeit waren der mazedonische Phalangit und der athenische Peltast ein weitaus leistungsfähigerer Infanterietyp als der alte undifferenzierte Phalangit spartanischen Musters.

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Und diese zweite Verbesserung der hellenischen Kriegstechnik war die Folge eines Jahrhunderts mörderischer Kriege in der hellenischen Welt, nämlich des Jahrhunderts, das mit dem Ausbruch des Peloponnesischen Krieges im Jahre 431 v. Chr. beginnt und mit dem Siege der Mazedonier bei Chäronea im Jahre 338 endet und das den Niedergang und die beginnende Auflösung der hellenischen Kultur sah.

Die nächste bemerkenswerte Verbesserung in der hellenischen Kriegstechnik wurde von den Römern durchgeführt. Diesen gelang es, in der Taktik und der Ausrüstung des Legionssoldaten die Vorteile des Peltasten und des Phalangiten zu vereinigen und dabei ihre Nachteile auszuschalten. Der Legionssoldat war mit zwei Wurfspeeren und einem kurzen Schwert bewaffnet, und die Legion zog in geöffneter Ordnung in zwei Wellen in den Kampf, mit einer dritten Welle, die nach Art der alten Phalanx bewaffnet und aufgestellt war, in Reserve. Diese dritte Verbesserung der hellenischen Kriegstechnik war das Ergebnis einer neuen Folge vernichtender Kriege, die mit dem Ausbruch des Zweiten Punischen Krieges im Jahre 218 v. Chr. begann und mit dem Ende des Dritten Mazedonischen Krieges im Jahre 168 aufhörte. Und in diesen Kriegen versetzten die Römer allen andern Großmächten der hellenischen Welt jener Zeit den »Todesstoß«.

Die vierte und letzte Verbesserung war die Vervollkommnung der Legion; ein Prozeß, der mit Marius begann und von Cäsar vollendet wurde und der die Folge eines Jahrhunderts von Revolutionen und Bürgerkriegen in Rom war. Der römische Legionssoldat war wahrscheinlich in dem Heer, das 48 v. Chr. bei Pharsalus für Cäsar kämpfte, auf dem Höhepunkt seiner Entwicklung. Das war fünf Jahre, nachdem die Legionen, welche 53 v. Chr. bei Karrhä für Crassus in den Kampf gezogen waren, in den parthischen Panzerreitern einen ebenbürtigen Gegner gefunden hatten. So sah die Generation Cäsars und Crassus' die griechische und römische Kriegstechnik ihren Höhepunkt sowohl erreichen als auch überschreiten. Und dieselbe Generation sah auch die hellenische Kultur in das vorletzte Stadium ihres Verfalls und Abstiegs treten. Denn dieses Jahrhundert römischer Revolutionen und Bürgerkriege, das 133 v. Chr. mit dem Tribunat des Tiberius Gracchus begonnen hatte, war auch der Höhepunkt der hellenischen »Zeit der Wirren«.

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Und es war Cäsars Sendung, diese »Zeit der Wirren« zu beenden und den Universalstaat vorzubereiten, den dann schließlich Augustus nach der Schlacht bei Aktium endgültig aufrichtete.

In dieser Geschichte der aufeinanderfolgenden Verbesserungen in der hellenischen Kriegskunst haben wir einen deutlichen Beleg dafür, daß mit Fortschritten auf diesem Gebiet nicht ein Wachstum der Kultur einhergeht, sondern ihr Stillstand, ihr Niedergang und ihre Auflösung. Die Geschichte der babylonischen und die der chinesischen Kultur bieten uns aber gleich gute Beispiele dieser Erscheinung. Sowohl in der babylonischen »Zeit der Wirren«, als sich die Gesellschaft in der Raserei des assyrischen Militarismus selbst in Stücke riß, und ebenso in der chinesischen »Zeit der Wirren«, als die Militärmacht Tsin den andern kämpfenden Staaten der chinesischen Welt den »Todesstoß« versetzte, fanden auffällige Fortschritte in der Kriegstechnik statt. In beiden Fällen wurde unter anderem die alte Verwendung des Kriegspferdes als Zugtier für einen Streitwagen aufgegeben, und die wirkungsvollere Verwendung als Reittier für einen Kavalleristen eingeführt. Vielleicht können wir aus diesen Betrachtungen schließen, daß eine Verbesserung in der Kriegstechnik gewöhnlich, wenn auch nicht immer, ein Symptom des Verfalls der Kultur ist.

Ein Engländer der Generation, welche den Weltkrieg von 1914 bis 1918 erlebt hat, wird sich in diesem Zusammenhang vielleicht an einen Vorgang erinnern, der ihn seinerzeit als in schmerzlicher Weise symbolhaft betroffen haben mag. Als der Krieg in seiner ständig zunehmenden Intensität immer größere Anforderungen an die Lebensführung der beteiligten Nationen stellte — wie ein großer Strom, der über seine Ufer getreten ist, Feld auf Feld überflutet und ein Dorf nach dem andern fortspült —, kam in England der Augenblick, in dem die Räume des Erziehungsministeriums in Whitehall dazu bestimmt wurden, eine neue Abteilung des Kriegsministeriums aufzunehmen, die zum Zwecke eines genauen Studiums des Grabenkrieges in Eile eingerichtet worden war. Das vertriebene Erziehungs­ministerium fand im Viktoria-und-Albert-Museum eine Unterkunft, in der es nur geduldet weiter­arbeiten konnte, als ob es irgendein seltsames Überbleibsel aus einer längst versunkenen Zeit sei.

Und so wurde, mehrere Jahre vor dem Waffenstillstand vom 11. November 1918, im Herzen unserer abend­ländischen Welt eine Schule des Mordens in den Mauern eines öffentlichen Gebäudes eingerichtet, das zum Zwecke der Förderung einer Erziehung fürs Leben errichtet worden war. Als der Verfasser dieses Buches an einem Frühlingstage jenes Jahres 1918 durch Whitehall ging, fiel ihm eine Stelle aus dem Matthäus-Evangelium ein:

»Wenn ihr nun sehen werdet den Greuel der Verwüstung (davon gesagt ist durch den Propheten Daniel), daß er steht an der heiligen Stätte (wer das liest, der merke darauf!), ... denn es wird alsdann eine große Trübsal sein, wie nicht gewesen ist von Anfang der Welt bisher ... Und wo diese Tage nicht würden verkürzt, so würde kein Mensch selig ...«

Wenn das Erziehungsministerium eines großen abendländischen Staates einer Lehranstalt der Kriegskunst weichen muß, dann ist, wie jeder Leser einsehen wird, die Verbesserung unserer abendländischen Kriegs­technik, die zu solch einem Preis erkauft werden muß, gleichbedeutend mit einer Zerstörung unserer abend­ländischen Kultur.

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