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Einleitung 

 

von George Urban im Mai 1973

 

 

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Kann sich der Mensch in einer Zeit, da Wissenschaft und Technologie ihm davoneilen und ihn durch ein atomares Inferno oder durch den Verfall der Gesellschaft zu vernichten drohen, einer allmählichen, organischen Entwicklung anvertrauen? 

Das ist - allgemein gesprochen - das zentrale Thema, das die einzelnen Gespräche des nachfolgenden Symposiums beherrscht.

Die Menschen sind nicht und verhalten sich nicht rational — das ist die erste Lektion, welche Planer und Futurologen mittlerweile gelernt haben, und wahrscheinlich die letzte, die sie sinnvollerweise in ihre Diagramme eintragen können. Der rationale Bezugsrahmen, von dem der Erfolg jeglicher Zukunfts­forschung und jeglicher praktischen Planung abhängt, wird ständig durch Imponderabilien erschüttert. 

Gewiß sind manche modischen Vereinfachungen der Vergangenheit — jene etwa, welche die menschliche Aggression auf das Privateigentum zurückführten — verdienterweise in Verruf gekommen, doch sind andere, nicht minder schädliche Vereinfachungen an ihre Stelle getreten — das Schema von Ursache und Wirkung und dergleichen mehr.

Die Unwissenheit ist noch immer da, auch wenn sie heute eine andere Sprache spricht.

Cazes weist in diesem Bande darauf hin, daß trotz all unseres schönen Geredes über die Umwelt die zentrale Planung in kurzsichtiger Weise überwiegend noch immer auf Kostenertrag und technische Durchführbarkeit abgestellt ist.

Die größere Perspektive, wie sie Jantsch und Goldsmith hier fordern, ist für das Überleben unserer Art von entscheidender Bedeutung. Man muß sich aber fragen, ob nicht die Irrationalität allzu tief in der Psyche des Menschen verankert ist, als daß der allmähliche, unberechenbare Fortschritt von Vernunft, Selbst­beherrschung und Voraussicht noch rechtzeitig zum Tragen kommen könnte. 

Die Energievorräte der Erde sind begrenzt, die Anzahl der Menschen aber offenbar nicht. Man kann den Kuchen so oder so aufteilen, größer wird er nicht. »Die Dritte Welt«, schreibt Goldsmith, »wird den Wohlstand, den die westlichen Nationen erreicht haben, nie erreichen«.

Zur Verhinderung eines weltweiten Klassenkrieges um die knappen Vorräte, den Jantsch als die erschreckendste Aussicht einer ungeplanten Zukunft bezeichnet, wird Voraussicht und Planung nötig sein, die, um auch nur die geringste Wirkung zu haben, einen so radikalen kulturellen Wandel voraussetzen würde, daß dem Problem nur durch eine genetische Veränderung des Menschen beizukommen ist. 

Genetische Eingriffe werfen jedoch eine Frage auf, die noch unlösbarer erscheint: Soll die Welt von menschenähnlichen Wesen bevölkert sein, die sich leichter reglementieren lassen als die gegenwärtige Spielart, oder sollten wir festhalten am homo sapiens (machen wir dieses Adjektiv nicht zum Gespött?) mit seiner prometheischen Fähigkeit zum Guten und zum Bösen.

Optimisten und Pessimisten unter den Wissenschaftlern werden diese Fragen sehr unterschiedlich beantworten. Während die einen glauben, eine »vollkommene« Rationalität — eine solche, die den Methoden der exakten Wissenschaften nachgebildet ist —, sei ein erstrebenswertes und erreichbares Ziel menschlichen Bemühens, vertreten die anderen mit unterschiedlichem Nachdruck die Auffassung, ein solches Ziel sei sie nicht, könne sie und sollte sie nicht sein; dieser Gegensatz erscheint unüberbrückbar. »Werden die wahren Interessen der Menschheit«, so fragt Cranston, »wirklich durch die Herrschaft der Wissenschaft gefördert? Ich persönlich glaube es nicht«.

Am deutlichsten wird die Spannung zwischen einer solchen Skepsis und einem ungebrochenen Wissenschaftsoptimismus zwischen Heisenberg und Gabor. Gabors Zuversicht, die Methoden der Wissenschaft seien nicht nur innerhalb, sondern auch außerhalb der Wissenschaft anwendbar und richtig, findet ihren klassischen Ausdruck in dem Satz: »Sobald ein Traum zu einem Projekt wird, können sich die Ingenieure damit befassen«. Das ist ein kühner Anspruch.

Heisenberg setzt sich zwar nicht unmittelbar damit auseinander, doch wenn er betont, daß das Irrationale im Denken und Verhalten der Menschen nicht ausgeschaltet werden könne und sollte, und wenn er insbesondere unterstreicht, daß »die Vernunft eine sehr beschränkte Fähigkeit des menschlichen Geistes ist«, mit der »wir nicht alles erfassen können, was zum Leben gehört und erfaßt werden muß«, dann stellt er nicht so sehr die Fähigkeit des Technologen, mit seinem Projekt fertig zu werden, als vielmehr dessen Vermögen in Frage, jene Variablen in den menschlichen Dingen wahrzunehmen, die er — ausschließlich vom Prinzip der Wissenschaft geleitet — weder verstehen noch in seinen Berechnungen berücksichtigen kann.

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Die Annahme, daß eine Rationalität, die im Rahmen von Wissenschaft und Technik ihren Platz hat, sich unverändert auf die Erforschung des Menschen als eines sozialen und kulturellen Wesens übertragen lasse, ist eine Irrationalität erster Ordnung. Sie würde nämlich voraussetzen, daß es dem Menschen eher gelungen wäre, seine Artefakte zum Sprechen zu bringen, als eine Sprache zu schaffen, in der sein eigenes, sehr viel unmittelbareres und vertrauteres Verhalten als das eines vernunftbegabten Wesens verständlich würde.

Ist diese Annahme richtig? Unsere Sensibilität hat sich bisher von einfachen Handlungsentwürfen und ihrer Darstellung in dramatischer und epischer Form zu subtileren Erfahrungen entwickelt, die in der Nuancenverschiebung und der flüchtigen Melodie zum Ausdruck kommen. Das geistige Klima, in dem die Quantifizierung und die Extrapolation aus wissenschaftlichen Modellen gedeihen, ist dieser Entwicklung und damit der schöpferischen Strömung in unserer Kultur feindlich. Quantifizierung bedeutet eine Vergröberung subtiler Gegebenheiten; sie möchte Dinge erfassen, die sich der Erfassung entziehen.

Die mit der Quantifizierung verbundenen Schwierigkeiten treten in diesem Bande deutlich hervor. Sie werden zum einen darin sichtbar, daß die Ökonomen den schwerer faßbaren Faktoren des wirtschaftlichen Aufstiegs und Niedergangs kaum konkreten Ausdruck zu geben vermögen; zum anderen — und dieser Aspekt hängt mit dem ersten zusammen — darin, daß es faktisch unmöglich ist, jene Elemente unserer historischen Erfahrung auch nur annähernd zu erfassen, von denen wir wissen, daß sie in der Vergangenheit tatsächlich von Bedeutung waren und auch in der Zukunft bedeutsam sein werden: Der Aufstieg und Fall von Diktaturen, messianische Ideologien, Rassen- und Religionshader, Wandlungen des Geschmacks und der kulturellen Werte. Die »wenn ... dann«-Methode ist in der Zukunftsforschung ein — allerdings höchst nützliches — technisches Mittel; eine Geburts­helferin der Geschichte ist sie nicht. Die »weichen« Variablen sind weiterhin in der Hand der moralischen Führer und der sozialen Propheten. 

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In einigen wichtigen Beziehungen hat sich unsere Führung in den letzten zehn Jahren als sehr einsichtsvoll erwiesen. Wenn wir uns für die Umwelt, die Erhaltung des ökologischen Gleichgewichts und die Ethik der wissenschaftlichen Forschung besonders in der Biologie interessieren, so ist das das Werk einiger weniger vorausschauender Männer.

Doch vermögen die hoffnungsvollen Anzeichen, die wir um uns herum erkennen, die Besorgnisse eines nachdenklichen Menschen im Hinblick auf die Zukunft nicht zu zerstreuen. In unserem Zeitalter haben sich Denken und Handeln zu einer Höhe entwickelt, wie sie die Welt noch nicht gekannt hat; wir kennen und besitzen die Atomenergie, den Computer, die Raumforschung und die DNS.

Wieso — könnte man fragen — waren wir dann überrascht, als die Fische im Rhein massenweise starben? Hatten wir nicht — sorgfältig geplant und allerseits bekannt — jahrelang todbringende Abwässer in seine Fluten geleitet?

Was ist an der Katastrophe der »Bevölkerungsexplosion« eigentlich so überraschendes, wo wir doch von Plato über Malthus bis zu Sir Julian Huxley bis zum Überdruß gewarnt worden sind, die menschliche Gattung würde nicht bereit sein, ihren Umfang mit Vorsicht und Selbstbeherrschung zu regulieren?

Es ist eine ernüchternde Tatsache, daß es (buchstäblich) eine kritische Masse gibt, jenseits derer die klarste Voraussicht und die weiseste Politik an unserer Unfähigkeit scheitern wird, mit großen Zahlen umzugehen. Es ist nicht unser moralisches Empfinden oder unsere politische Kunst, widersprüchliche Interessen auszusöhnen, die etwa zurückgeblieben wäre; psychologisch und geistig sind wir nicht in der Lage, mit Größenordnungen jenseits bestimmter anthropomorpher Grenzen umzugehen. Ob das nun ein Mangel oder ein Vorzug unserer natürlichen Ausstattung ist, es ist jedenfalls eine Tatsache.

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Plato bestimmte den Höchstumfang des griechischen Stadtstaates mit 5040 Haushalten, eine Anzahl, bei der im Hinblick auf die hellenische Kultur und Technologie das Gemeinwesen funktionieren konnte. Auch wir verdanken unsere Erfolge solchen Technologien, bei denen für das jeweilige Vorhaben eine verhältnismäßig kleine und homogene Gruppe von Menschen benötigt wird. Wir können mit großer Präzision Mondflüge bewerkstelligen, manche von uns können sogar z.B. die Eisenbahn bei einem akzeptablen Leistungsstand in Gang halten. Das alles sind in sich zusammenhängende Operationen, die jeweils einem einzigen Zweck dienen und von einem überwiegend einheitlichen Personal ausgeführt werden.

Wenn es jedoch darum geht, die Tätigkeiten großer und heterogener Gesellschaften zu koordinieren, geraten wir vor eine Schranke der Trägheit und des Unverständnisses. Es liegt nicht nur daran, daß wir — wie Shanks betont — zu wenig darüber wüßten, wie große Organisationen zu führen sind; wir wissen ganz einfach nicht mit großen — organisierten oder unorganisierten — Menschenmassen umzugehen, außer sie in Uniformen oder in Konzentrationslager zu stecken. Die scheinbar einfachsten Probleme entziehen sich einer gesellschaftlichen Regelung: das Wohnungs- oder Verkehrsproblem, die Staffelung der täglichen Arbeitszeiten — die Liste solcher Probleme ist unerschöpflich.

Wir werden uns mit der Vorstellung abfinden müssen, daß wir zur Vermeidung der Katastrophen, die wir durch unsere Kurzsichtigkeit und Apathie herauf­beschwören, nicht weniger, sondern sehr viel mehr und schärfere Kontrollen benötigen werden. Wir haben allzu blind darauf vertraut, daß das unbehinderte Streben nach Erkenntnis sich von selbst rechtfertigt. Wir haben mit Plato geglaubt, daß »wir bessere, trefflichere ... Männer sein werden, wenn wir es für recht erachten, nach dem zu suchen, was wir nicht wissen«; wir haben mit Bacon geglaubt, daß »Wissen die menschliche Art befreit«; wir haben mit Goethe geglaubt, daß »eine schädliche Wahrheit nützlich ist, weil sie nur vorübergehend schädlich sein kann«

Heute sind wir nicht mehr so sicher. Eine übertriebene Aufklärung kann wieder zu einem Obskurantismus werden. Wenn schon soviele unserer traditionellen Stützpfeiler an der Wurzel verfaulen, sollten wir uns vielleicht mit Arnold Toynbee fragen, ob es nicht in der Geschichte einer Zivilisation Zeiten gibt, in denen es uns dienlicher wäre, gewisse Arten der wissenschaftlichen Forschung einzustellen, als die Grenzen der Erkenntnis über unsere moralischen Horizonte hinaus vorzuschieben.

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Es gibt, wie wir aus unserer aller Erfahrung wissen, sehr wohl schädliche Erkenntnisse. Davon braucht die Wissenschaft keine Ausnahme zu machen, und auch die Wissenschaftler brauchen keine besseren Hüter des Weltgewissens zu sein als etwa die Politiker, Technokraten und Bürokraten, obwohl es ein verlockender Gedanke ist, daß, wer nach Wahrheit strebt, auch weise sein müsse. Leider ist es nicht so.

Wenn es also in der menschlichen Seele so etwas wie einen tiefen Graben gibt, der das Wissen von der Verantwortung, das »Können« im menschlichen Handeln vom »Dürfen« trennt, dann ist es eine zwingende Folgerung, wie sie Kahn in diesem Buche zieht, gewisse heikle Problembereiche in Wissenschaft und Technologie unerforscht zu lassen. Beim gegebenen Stande unserer moralischen Unterentwicklung ist es vielleicht nicht zuträglich, alle Wahrheiten zu erforschen. Die »schädliche Wahrheit«, die Goethe als eine langfristig nützliche empfiehlt, kann in unserer schnellebigen Zeit kurzfristig soviel Schaden anrichten, daß die Menschheit vielleicht ihre langfristigen Vorzüge nicht mehr erlebt.

Wir stehen hier vor einem der beiden furchtbarsten Probleme unserer Zeit und aller Zeiten: Dürfen wir, ja, müssen wir ein in unseren Augen gutes Mittel verwenden, wenn der Zweck, dem es dient, vorhersehbar schlecht ist? Sollte man z. B. Menschenleben verlängern, wenn Überbevölkerung und massenhafter Hungertod die vorhersehbaren Folgen sind? Die entgegengesetzte These, daß schlechte Mittel nicht durch gute Ziele gerechtfertigt sind, ist — zumindest für unsere Zeit — endgültig beantwortet worden. Aber rechtfertigt sich die Verwendung guter Mittel aus sich selbst? Und wenn nicht, wer oder was bietet eine Kontrolle?

Die Vorstellung, daß noch genügend Zeit wäre, die Dinge so einzurichten, daß unsere intellektuellen Fähigkeiten unserem moralischen Empfinden nicht allzu weit vorauseilen, ist sicher angenehm, doch muß nach all den Tatsachen, die in diesem Buch zusammengetragen sind, daran gezweifelt werden. 

Human engineering (man nannte es einmal Erziehung) ist ein langwieriger und viel Geduld erfordernder Prozeß, und für das Ergebnis gibt es keine Garantie. 

Wenn uns dreitausend Jahre Zivilisation nicht gelehrt haben, in unseren öffentlichen Angelegenheiten ein klein wenig Vernunft walten zu lassen oder wirksame Puffer gegen die verderblichen Auswirkungen unserer Irrationalität zu schaffen, dann werden wir es sehr wahrscheinlich auch in den nächsten 30 Jahren nicht lernen.

Im Jahr 2000 wird die Weltbevölkerung auf 6,4 Milliarden angewachsen sein, und davon werden nur 23 Prozent Nordamerikaner und Europäer (einschließlich UdSSR) sein. Diese 23 Prozent werden jedes Jahr reicher, die übrigen 77 Prozent relativ ärmer werden. Die Frage ist nicht, ob, sondern wie bald und in welcher Form die ständig zunehmende, verelendete Mehrheit von der reichen und abnehmenden Minderheit eine gerechtere Verteilung der Nahrungsmittel und der Rohstoffe fordern wird.

Wären die westlichen Nationen den Bedingungen einer Weltinnenpolitik unterworfen, oder würden sie auch nur vom nackten Eigeninteresse geleitet, dann würden sich die Parteien in der Weise um die Gunst des Wählers bemühen, daß sie für sinkende Ansprüche einträten und die ganze Gesinnung der Konsumgesellschaft verurteilten; es hieße dann:

Dieser Vorschlag ist so absurd, daß ihm an Absurdität nur die Vorstellung gleichkommt, wir würden uns durch die Erfolge der technologischen Zivilisation in die Selbstzerstörung treiben lassen.

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London, im Mai 1973, 
George R. Urban   

 

 

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George Robert Urban & Michael Glenny & Radio Freies Europa - Können wir unsere Zukunft überleben? Can We Survive Our Future? Ein Symposium