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1. Alte Wertvorstellungen und die Anforderungen der neuen Technologie

 

Glenny und Despicht

 

 

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Glenny:  Kann die Gesellschaft die Technologie überleben? Glauben Sie, daß die Frage so richtig gestellt ist, oder haben wir fälschlich zwischen der Gesellschaft und ihrer Technologie unterschieden?

DespichtDie Frage ist eher provokativ als realistisch und angemessen formuliert. Es ist unter Umständen irreführend, wenn man allzu eindeutig zwischen der Gesellschaft auf der einen Seite und der Technologie auf der anderen unterscheidet. Man kann sich keine menschliche Gesellschaft ohne Berück­sicht­igung ihrer Technologie vorstellen. Kann man über eine Gesellschaft reden, ohne dabei ihre Fähigkeit und Fertigkeit zu berücksichtigen, sich selbst und ihre Umwelt zu ordnen? 

Wenn man die Sache so betrachtet, dann wird man, glaube ich, keine falsche Trennung zwischen Technologie oder Können auf der einen und den Werten auf der anderen Seite machen. Welche Wertvorstellungen eine Gesellschaft hat, hängt davon ab, was sie glaubt, tun zu können und nicht tun zu können. Keine Gesellschaft wird von ihren Mitgliedern etwas als moralisch oder gesellschaftlich wertvoll verlangen, was auf unmittelbaren Tod oder Selbstmord hinausliefe. 

Mit anderen Worten: Werte kann es nur jenseits einer Grenze geben, die man als die Grenze des Notwendigen oder der unerläßlichen Vorsicht bezeichnen könnte.

 

Glenny:  Vielleicht sollte man die Frage in der Richtung stellen, wie einige andere Teilnehmer an diesem Symposium, insbesondere Edward Goldsmith, argumentieren. Goldsmith ist sozusagen ein umfassender Pessimist und glaubt, daß die Art, in der wir die Technik einsetzen, bisher zwar vielleicht in irgendeiner Weise von Notwendigkeit bestimmt war, aber keineswegs von Umsichtigkeit. - Die allgemeine Entwicklungsrichtung, in die die Technologie gegenwärtig geht, zeugt nach seiner Meinung von einer totalen Rücksichtslosigkeit im Hinblick auf die Vorräte der Erde und auf die Auswirkungen, welche die technologische Umwandlung dieser Vorräte auf die Gesellschaft haben wird.

Despicht Das ist es wohl, woran Sie tatsächlich denken, wenn Sie fragen: »Kann die Gesellschaft die Technologie überleben?« Was eine Gesellschaft als umsichtiges Handeln betrachtet, hängt davon ab, wie hoch sie ihre Fähigkeit einschätzt, ihre Umwelt zu verändern. Die Fähigkeit zur Veränderung der Umwelt war vor einigen hundert Jahren selbst bei den fortgeschrittensten Gesellschaften äußerst beschränkt. Es war also nicht nur möglich, sondern völlig angemessen, daß ihre Wertskala und ihr Begriff der Klugheit von der Vorstellung bestimmt waren, daß sie nur eine sehr begrenzte Fähigkeit besaßen, die Umwelt zu verändern. 

Heute stimmt es nicht mehr, wenn man sagt, die menschliche Technologie habe nur eine begrenzte Macht, die Welt, in der die Menschen leben, zu verändern oder sogar zu zerstören. Eine Wertskala, die sich auf eine beschränkte Technologie bezieht, ist einer Situation unangemessen, in der die Technologie unendlich viel mächtiger ist. Daher möchte ich Ihre Frage folgendermaßen umformulieren: Wird die Gesellschaft überleben können, wenn sie versucht, ihre neuen technologischen Fertigkeiten solchen Wertvorstellungen und Vorstellungen von Klugheit zufolge einzusetzen, die der sehr viel schwächeren Technologie der Vergangenheit angemessen waren? 

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GlennyIch danke Ihnen für Ihre Umformulierung; die Frage gewinnt dadurch an Klarheit. Sie haben damit jedoch eine andere Fragestellung aufgeworfen - ob nämlich die von der Vergangenheit ererbte kulturelle Ausstattung uns ermöglicht, mit dem gegenwärtigen Stand unserer technologischen Macht fertig zu werden, oder ob diese etwas so Neuartiges, so Revolutionäres ist, daß wir Gefahr laufen, das Ungeheuer der Technologie, das wir losgelassen haben, nicht mehr bändigen zu können. 

DespichtDas ist eine grundlegende Frage, die zu dem gehört, was man einmal als Metaphysik bezeichnet hat. Es scheint, als sei die moderne europäische Gesellschaft nicht in der Lage, sich mit metaphysischen Problemen auseinanderzusetzen. Das Wort »Metaphysik« ist in der Tat zu einem Schimpfwort geworden, das man benützt, um jemanden herabzusetzen. Nun möchte ich einige grundlegende Einstellungen erörtern, die wir unbewußt von der Vergangenheit übernommen haben. Die Theorie, die ich meine, wird sehr gut in dem Buch <La Morale prospective> von Jean Fourastie dargelegt.

Lassen Sie uns drei Bereiche der Technologie untersuchen. 

Der erste ist der Bereich der Technologie, der zur Befriedigung der materiellen Bedürfnisse des Menschen nach Nahrung, Heizung usw. eingesetzt wird. Betrachtet man die Einstellung, welche tatsächlich noch alle Westeuropäer vor hundertfünfzig Jahren zeigten, dann ist ganz klar, daß sie die Welt als eine Welt der Knappheit betrachteten. Die große Gefahr bestand buchstäblich darin, daß man morgen nicht genug zu essen haben würde oder daß man im Winter vor Kälte sterben würde. Der Bergbau, die künstliche Düngung und die Abfallproduktion haben bei einer solchen Gesellschaft einen Umfang, den die Natur ohne schädliche Auswirkungen sicher verkraften kann. Die moderne Technologie kann - von Fragen der finanziellen und politischen Kontrollen abgesehen - die gesamte Nahrung und Heizung liefern, welche die Menschen benötigen (und mit Sicherheit die, welche die Westeuropäer benötigen), aber die Anwendung dieser fortgeschrittenen Technologie ist etwas gänzlich anderes als die herkömmliche Landwirtschaft und der herkömmliche Bergbau. Wenn man sich ernstlich anschickt, den Menschen alles zu geben, was sie an Nahrung, Heizung usw. verlangen, dann läuft man Gefahr, mit der Verschmutzung durch den Abfall von Bergbau, Industrie und Petrochemie die Erde physisch zu vergiften.

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Betrachten wir jetzt einen zweiten Bereich - die Kontrolle der Naturkräfte, von denen man vor hundertfünfzig bis zweihundert Jahren glaubte, der Mensch könne sie nicht steuern. Nehmen wir zwei Beispiele: die Kernenergie und die Bakterien. Der Umfang, in dem der Mensch mit der Nukleartechnik und der modernen Medizin Energie schaffen und die Bakterien unter Kontrolle bekommen kann, ist sehr groß. Das wirkt sich eventuell verändernd auf die Möglichkeiten der Industrie und auf die Ausbreitung von Krankheiten aus. Diese beiden Technologien können jedoch, wie wir sehr wohl wissen, an Stelle gröberer Methoden in andern Anwendungsbereichen eingesetzt werden. Man braucht gar keine Atombombe, um die Welt zu zerstören; man braucht nur einen chemischen Krieg zu entfesseln, um die gleichen oder sogar schlimmere Effekte zu erzielen. Im Vergleich zu heute war also die Fähigkeit der Menschen, einander zu vernichten, vor zweihundert Jahren nicht annähernd so groß. 

Nehmen wir jetzt einen dritten Bereich - man könnte ihn sehr allgemein als Kontrolle des Lebens selbst bezeichnen. Zur Zeit meiner Großeltern rechnete man damit, daß fünf von zehn Kindern entweder bei der Geburt oder vor Erreichung des zweiten Lebensjahres starben. Man braucht bloß die Memoiren von Casanova zu lesen, um zu wissen, daß seine Technologie der Empfängnisverhütung - wie wir heute sagen würden - sehr riskant war. Die persönliche und die Sexualmoral der Menschen beruhten in einer solchen Gesellschaft auf zwei Grundannahmen. Die erste war, daß man nicht wirklich die Geburt unerwünschter Kinder verhindern konnte und daß man deshalb besser nichts tat, wodurch sie eventuell produziert werden konnten. Die zweite war, daß man selbst dann, wenn man heiratete und Kinder bekam, damit rechnen konnte, daß nur die Hälfte von ihnen oder weniger überleben würde. 

Durch die moderne Hygiene, die medizinische Technologie und die Technologie der Empfängnisverhütung ist es heute ziemlich sicher, daß man die Empfängnis verhüten kann, wenn man keine Kinder haben möchte, und daß die Kinder, die geboren werden, höchstwahrscheinlich überleben werden. Die Auswirkung dieses Wandels in der Grundlage des fundamentalsten Bereichs menschlicher Moral - der Sexualmoral - ist offenkundig. Es ist sinnlos, wenn Sie Ihrer Tochter erzählen, sie solle keusch sein, weil es gefährlich sei, nicht keusch zusein. Sie weiß, daß es nicht so gefährlich ist. Sie müssen ihr schon sagen, daß sie keusch sein solle, weil Keuschheit etwas Gutes an sich sei, ganz abgesehen von der Möglichkeit einer unehelichen Schwangerschaft.

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Diese Beispiele sind recht zufällig ausgewählt; ich werde versuchen, ein allgemeines Prinzip aus ihnen abzuleiten. 

Vor zweihundert Jahren konnten sich die Menschen bei der Abwägung der gesellschaftlichen und moralischen Werte, die in der Anwendung ihrer Fertigkeiten und Technologien impliziert waren, darauf verlassen, daß die Natur weitaus mächtiger war als der Mensch. Die Natur war in der Tat so mächtig, daß die persönliche Moral des Menschen ihr unterzuordnen war. Das ist ganz offenbar heute nicht der Fall. Die Technologie ist so viel mächtiger geworden, daß man beginnt, die Illusion zu haben, die Menschheit sei tatsächlich Herr über die Natur. Die Basis der menschlichen Moral hat sich verändert. Damit unsere Werte der modernen Technologie angemessen sind, müssen wir von einer Vorstellung der menschlichen Gesellschaft, in der die Menschen den unerforschlichen und unkontrollierten Kräften der Natur ausgeliefert sind, zu einer Vorstellung gelangen, in der die Menschheit die Natur beliebig kontrollieren kann. Um zu überleben oder moralisch gesagt: um Gutes zu tun, muß die Menschheit in der Tat eine positive Moral annehmen. Es geht nicht mehr darum, das Böse zu vermeiden. Es geht darum, sich bewußt für das Gute zu entscheiden. Es gibt nicht mehr die Entschuldigung, wir könnten nicht, selbst wenn wir wollten, Gutes tun; wir können es und stehen deshalb unter der moralischen Verpflichtung, uns zu entscheiden, was wir tun. Wir haben also eine Situation, in der die Gesellschaft zu dem werden muß, was man auf französisch als »La societe volontaire« bezeichnet hat. 

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Glenny:  Es hat in der Geschichte Momente gegeben, wo es schien, als würde die Entwicklung den Menschen mit dem konfrontieren, was Sie gerade anregen - nämlich einer Reihe völlig neuer moralischer Gebote. Würden Sie z.B. sagen, daß es zu diesem Auftreten einer Kategorie neuer moralischer Imperative eine Parallele in der Vergangenheit gibt? Gibt es vielleicht eine Analogie zu jener Umwälzung, die sich am Ende des 18. Jahrhunderts vollzog, als die Ideen der Aufklärung - in politischer Hinsicht - in der Französischen Revolution gipfelten; als das Ancien regime, welches das Kuckucksei der Aufklärung ausgebrütet hatte, seinerseits durch den Kuckuck aus dem Nest geworfen wurde? Befinden wir uns heute an einem solchen Wendepunkt der Geschichte, und würden Sie die »technologische Revolution« in dieser Weise fassen? 

Despicht: Sie haben eine gute historische Analogie gewählt. Es gibt, glaube ich, eine gewisse Parallele zwischen der Situation heute und am Ende der Aufklärung. Die Botschaft der Rationalisten des 18. Jahrhunderts bestand darin, daß der Mensch endlich das Universum gemeistert hatte. Er wußte, daß es eine wunderbare mathematische Maschine war, die durch eine Erste Ursache in Gang gesetzt worden war und seitdem nach den Gesetzen von Newton oder Leibniz oder sonst jemand lief. Ich erinnere an das, was Alexander Pope gesagt hat:

Nature and nature's laws lay hid in night. 
God said - Let Newton be, and there was light! 

Die Natur und die Naturgesetze lagen in der Nacht verborgen 
Gott sagte: Es werde Newton, und es ward Licht! 

Es besteht eine Analogie zwischen dieser Einstellung und der Einstellung einiger unserer heutigen Technologen, die sich vorstellen, sie hätten die Natur im Griff. An einem bestimmten Punkt bricht die Analogie jedoch zusammen, oder vielmehr, es gibt einen sehr bedeutsamen Unterschied. Die Auffassung der Aufklärung, sie beherrsche die Natur, war in einem gewissen Sinne illusionistisch; sie bedeutete, daß die Aufklärung sich damit zufrieden gegeben hatte, daß sie die Natur rational verstand; das 18. Jahrhundert hatte keine Kontrolle über die Natur. Heute ist die Situation so, daß es uns gar nichts ausmacht zuzugeben, daß wir die Natur nicht verstehen, daß wir aber nicht erfreut sind zuzugeben, daß wir sie nicht beherrschen. Vielleicht wissen wir nicht genau, was ein Atom ist, aber wir können es spalten. 

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Entsprechend waren die Revolutionäre des 18. Jahrhunderts eine Gefahr in dem Sinne, daß sie einen Umsturz der Gesellschaft bewerkstelligen konnten; doch tatsächlich brachte die Französische Revolution bei den Franzosen keine sonderlich veränderte Fähigkeit hervor, sich zu ernähren und zu verhindern, daß sie im Winter zu Grunde gingen. Soweit wir sehen können, sind unsere Revolutionäre der modernen Technologie heutzutage in der Lage, die Erde jederzeit in Fetzen zu zersprengen. Das ist eine ganz andere Sache.

Es gibt weitere Analogien zwischen dem späten 18. Jahrhundert und heute. Zu den offenkundigen Auswirkungen der Tatsache, daß man das Universum als eine rationale Maschine betrachtet, gehörte unter anderem, daß man allgemein sehr gelangweilt und emotional frustriert war. Eines der Kuckuckseier, welche die Aufklärung ausbrütete, war die Romantik. Ihr ging, wenn man an die Literatur zurückdenkt, eine Periode voraus, in der die aufgeklärten Menschen sehr anfällig waren - für Ausbrüche der Hysterie, für Tränenausbrüche und für das, was wir heute als die abgeschmackteste Sentimentalität bezeichnen würden. Die unglückliche Geschichte von Manon Lescaut ist nicht die Erfindung eines irrationalen Romantikers, sondern die eines echten Priesters des Rationalismus des 18. Jahrhunderts. Bedenken Sie nun, worüber sich die Moralgelehrten heute beschweren: Es ist genau die Gelangweiltheit und der Gefühlsüberschwang der Jugend.

Ich möchte eine weitere denkbare Analogie ansprechen. 

Die Aufklärer des 18. Jahrhunderts leiteten in der Praxis, und sozusagen zufällig, eine soziale Revolution ein, die alles andere als in einem mechanistischen Sinne rational war. Fast könnte man sagen, daß gerade in der Illusion des rationalen Verstehens der Natur schon alle möglichen, ihr widersprechenden Prinzipien angelegt waren. Man könnte sogar sagen, daß die Französische Revolution und die Romantik nicht so sehr das Ergebnis der Aufklärung als vielmehr das Hervortreten ihrer fundamentalen Widersprüche und Illusionen waren. Wenn man nun die grundlegenden Einstellungen gegenüber der modernen Technologie von heute betrachtet, dann fällt auf, wie Menschen, die offenbar von der Macht der modernen Technologie überzeugt sind, diese in fast hysterischer Weise zu schmähen trachten (mindestens in den entwickelten westlichen Ländern). Heute hört man ebensoviel über die zerstörerische Macht, die Gefahr und die Umweltverschmutzung der modernen Technologie wie über ihre möglichen segensreichen Auswirkungen.

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Ich werde jetzt, wenn Sie gestatten, einen scheinbaren Sprung machen. Dieser seltsame Gegensatz zwischen einer fast sklavischen Bewunderung der Technologie und einem hysterischen Widerstand gegen ihre sogenannte Zerstörungsmacht scheint mir aus einem grundlegenden Widerspruch oder einer Verwirrung in den Anschauungen der Menschen zu entspringen. Es scheint, als faßten sie den Menschen als etwas Autonomes und von seiner Umwelt Getrenntes auf. Das ganze Problem der Technologie wird aufgefaßt unter dem Gesichtspunkt des Menschen, der seine Umwelt kontrolliert oder zerstört. Damit ist impliziert, daß die gesellschaftlichen und moralischen Werte des Menschen etwas sind, was der Mensch unabhängig von seiner Umwelt erfindet.

Möglicherweise ist diese Auffassung des Menschen als etwas innerhalb einer Umwelt Autonomes bloß ein metaphysisches Mißverständnis. Vielleicht ist die Wirklichkeit ganz und gar nicht so. Wendet man sich an den führenden Philosophen der Metaphysik des 20. Jahrhunderts, an Alfred North Whitehead, dann findet man eine mathematisch, naturwissenschaftlich und erkenntnistheoretisch wohlformulierte Doktrin, welche diese Autonomie des Menschen gegenüber seiner Umwelt beträchtlich in Zweifel zieht. Wünscht man eine andere Fassung dieser Lehre, so kann man es mit Alan Watts versuchen, einem Amerikaner, der ein äußerst amüsantes und lebendiges Buch geschrieben hat: >TheTaboo AgainstKnow-ing Who You Really Are<. Er wiederholt auf eine populäre Weise viele der Sätze von A. N. Whitehead, der schließlich kaum der herkömmlichen Vorstellung von einem populären Schriftsteller entsprach, auf drei verschiedenen Gebieten den Professorentitel errang und nebenbei Lord Keynes unterrichtete. Wesentlich aber ist für gewöhnliche Menschen wie Sie und mich, daß Whitehead uns gesagt hat, daß es in der Tat ein Tabu gegenüber der Erkenntnis gibt, wer wir wirklich sind.

Ich will versuchen, es anders auszudrücken. 

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Was diese Philosophen auf verschiedene Weise sagen, ist, daß die Menschheit viel zu sehr intellektualisiert worden ist. Wir haben die Lehre von Descartes zu ernst genommen, daß die klaren und distinkten Vorstellungen jene sind, die der Realität am nächsten kommen (in der Tat kommt die Realität gewöhnlich mehr einer massiven, vagen Intuition nahe). Unsere Auffassung der Technologie und unsere Auffassung der moralischen und gesellschaftlichen Werte ist infolgedessen über-intel-lektualisiert. Wir neigen dazu, alles zurückzuweisen, was nicht unmittelbar klar und distinkt ist. 

Darüber hinaus haben wir uns über eine Zeit von zweihundert Jahren daran gewöhnt, die Abhängigkeit unserer moralischen Werte von der Umwelt, von der wir einen Teil bilden, zu übersehen. Wir übersehen den sehr engen Zusammenhang, der zwischen unseren präskriptiven Normen für das, was wir tun und nicht tun sollten, und unserer Auffassung darüber besteht, was wir tun können und nicht können. Wir empfinden infolgedessen einen gewissen Widerspruch zwischen den moralischen Werten und unseren technologischen Möglichkeiten, obwohl ein wirklicher Widerspruch nicht existiert. 

Was wir tatsächlich empfinden, ist der Druck, der auf die einem bestimmten Stand der Technologie angemessenen Wertvorstellungen ausgeübt wird von einem neuen und ganz anderen Stand der Technologie aus, über die wir heute verfügen. Was nicht in Ordnung ist, ist nicht die Zerstörungsacht der Technologie, sondern die Trägheit der Menschen, die nicht bereit sind, ihre moralischen Wertvorstellungen sich wandelnden Realitäten anzupassen.

 

Glenny: Ein gutes Beispiel für die gedankenlose Anwendung einer veralteten Auffassung, die nicht länger der Realität entspricht, ist vielleicht die bei fast allen Regierungen und Bürokratien der Welt vorherrschende Besorgnis um wirtschaftliches Wachstum als Selbstzweck. Im Westen gibt es jetzt Kritiker, die - in manchmal sehr eigenwilliger Weise - behaupten, das Wachsen der Wirtschaft sei keine rationale Zielsetzung mehr; es sei tatsächlich nicht so sehr inhuman, als vielmehr anti-human. Diese Denker haben verschiedene Kriterien vorgetragen, nach denen das Wirtschaftswachstum eingeschränkt oder in extremen Fällen sogar gänzlich gestoppt werden sollte. Betrachten Sie die Besorgnis um wirtschaftliches Wachstum als einen Fall, in dem wir unbrauchbare, veraltete Instrumente verwenden, um mit einer Situation fertig zu werden, die gänzlich neue Instrumente erfordert?

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Despicht:  Nicht ganz; dieses Besessensein vom wirtschaftlichen Wachstum ist nichts sonderlich Neues. In meinen Augen ist wirtschaftliches Wachstum ein neuer, ziemlich ausgefallener Ausdruck dafür, daß man reich und mächtig wird. Es ist nichts, wodurch sich dieses Jahrhundert besonders auszeichnen würde, daß man durch das Reich- und Mächtigwerden - aus keinem anderen Grunde, als daß man reich und mächtig sein möchte - in völlig inhumane Beziehungen zu seinen Mitmenschen verwickelt wird. Wenn mit dem Machtgewinn die Zunahme des wirtschaftlichen Ertrags und der technologischen Macht gemeint ist - und das ist gewöhnlich gemeint -, dann ist das Besessensein vom wirtschaftlichen und technologischen Wachstum gleichbedeutend damit, daß man reich und mächtig wird, bloß weil man größer als die anderen sein will.

Wenn das Wirtschaftswachstum eine vernünftige, humane Beschäftigung werden soll, muß es mit Zwecken verknüpft werden, für die man das wirtschaftliche Wachstum zu erreichen sucht. Die Frage ist nun: Geschieht das heute in Westeuropa? Damit meine ich: Beziehen die für das Wirtschaftswachstum zuständigen Stellen dieses Wachstum auf wertvolle menschliche Zwecke? Ich bin in dieser Hinsicht nicht pessimistisch. Es gibt deutliche Anzeichen dafür, daß die Politiker und Regierungen in Westeuropa so handeln. Bei einem Vergleich Europas vor und nach dem Kriege stellt man eine eindeutige Verbesserung fest. Im Vorkriegs-Europa haben sich sowohl Nazi-Deutschland als auch das faschistische Italien um wirtschaftliches Wachstum bemüht. Aber dieses Wachstum war nicht an Zielsetzungen geknüpft, die wir als human oder zivilisiert bezeichnen würden. Seit dem Kriege ist Westeuropa durch wirtschaftliche Planung charakterisiert. Wenn nun Planung überhaupt etwas bedeutet - was ich manchmal bezweifle -, dann bedeutet es in der Tat eine bewußte Verknüpfung von Möglichkeiten und Mitteln mit Zwecken. Es ist wirklich ein Versuch, das, was sonst in der Form chaotischer und spontaner Prozesse ablaufen würde, durch eine rationale Entscheidung über Werte und Zwecke zu ordnen.

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Die Beschäftigung mit dem Wirtschaftswachstum begann nach dem Kriege und hatte ursprünglich sehr achtbare und humane Zielsetzungen. Wirtschaftliches Wachstum bedeutete in den frühen fünfziger Jahren für die Bevölkerung Europas bessere Wohnungsversorgung, mehr Nahrung, bessere Arbeitsstellen und die Beseitigung von Kriegsschäden. Das war eine gute Sache. Nachdem die Bewegung aber einmal in Gang gekommen war, geriet sie in die Hände von Technikern und Ökonomen, deren ganze Ausbildung und praktische Arbeit auf die technischen Einzelheiten des Wirtschaftswachstums ausgerichtet ist. Es gelang ihnen auf mancherlei Art, die Regierungen davon zu überzeugen, das Wirtschaftswachstum etwas an sich Gutes sei. Dabei wiesen sie gewöhnlich darauf hin, daß durch fehlendes wirtschaftliches Wachstum schwierige Probleme wie Inflation oder Geldmangel entstehen würden, womit sie natürlich die unruhigen zwanziger und dreißiger Jahre beschworen. 

Als vernünftige Menschen schlugen also die Politiker unmittelbar den Weg ein, von dem sie glaubten, daß er ihnen helfen würde, alle die schwierigen Probleme wie Inflation und Arbeitslosigkeit zu vermeiden, die sie zuvor nicht wirklich hatten lösen können. In den sechziger Jahren hat sich jedoch in Westeuropa ein sehr deutlicher Wandel in der Einstellung gegenüber dem Wirtschaftswachstum vollzogen. Bis etwa zum Jahre 1965 kann man feststellen, daß die Regierungen über mittelfristige Wirtschaftsplanungen reden, so als ob die Wirtschaftsplanung an sich das wunderbare Instrument der gesellschaftlichen Lenkung wäre. Aber von 1965 ab schleichen sich alle möglichen Erwägungen ein. Diese Erwägungen haben nach einem gemeinsamen Etikett verlangt, und sie haben es bekommen; aus Gründen, die in mancher Hinsicht dunkel sind, lautet es »regional«. Man scheint es aus der Erfahrung gewählt zu haben, daß die bloße Wirtschaftsplanung nicht alles leisten kann. Zunächst gewährleistet sie nicht, daß jeder einen gerechten Anteil am Kuchen erhält. Zweitens tendiert die Wirtschaftsplanung, um wirksam zu sein, zu einer Zentralisierung der Entscheidungen, welche die Entwicklung der Gesellschaft betreffen. Das ist natürlich das Gegenteil zu einer Freisetzung der Initiative und einer Mitsprache der Menschen bei der Entscheidung über ihre eigene Zukunft. Es handelt sich um eine Frage der »Regionalisierung« in dem Sinne, daß die Entscheidungsgewalt vom Zentrum auf die Menschen übertragen wird, die von Entscheidungen tatsächlich betroffen sind. 

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Mir scheint, daß diese neue, sozial bewußtere Einstellung in den Jahren 1967-68 einen Durchbruch erzielt hat. Damals begriffen die Politiker Westeuropas, daß die vergangenen fünf Jahre, die man als eine Rezessionsperiode aufgefaßt hatte, tatsächlich eine Periode des Wachstums - mit einer lediglich verringerten Zuwachsrate - gewesen waren. Plötzlich schien es den Menschen bewußt zu werden, daß eine ständige jährliche Wachstumsrate von bis zu etwa 4 °/o für sie zu einer allgemeinen Tatsache geworden war - anstelle der alten Vorstellung, wonach die Gesellschaft einem starken Auf und Ab unterworfen war und die Möglichkeit eines vollständigen Zusammenbruchs ständig lauerte. Sobald man aber ein stetiges Wachstum als grundlegende gesellschaftliche Tatsache unterstellt, steht man sofort vor dem Problem, was man mit dem kumulierten Wachstum von zwanzig Jahren innerhalb einer Generation anfangen soll. Die langfristige Planung war infolgedessen nicht mehr eine Frage, wie man sich die Zustände des Jahres 2000 vorzustellen hätte, sondern wurde zu einem dringlichen Problem.

Die Überlegung ist die: 

Wenn die Wirtschaft ständig wächst, wenn die Bevölkerung und ihr Wohlstand ständig zunimmt und wenn die moderne Technologie uns außergewöhnliche Möglichkeiten der materiellen Entwicklung eröffnet, dann müssen wir mit der Planung dessen, was wir wollen, jetzt beginnen, wenn anders die Welt in zwanzig Jahren ein Ort sein soll, an dem man vernünftig leben kann. Wenn wir weitere fünf Jahre warten, wird es zu spät sein. Die ungeheuren materiellen und sozialen Vorhaben, die die Voraussetzungen einer urbanen Industriegesellschaft mit hohem Wohlstand sind, brauchen nämlich nicht Monate, sondern Jahrzehnte. Eine mittelfristige Wirtschaftsplanung reicht da nicht aus. Wir brauchen strategische Ziele. Wir müssen uns in der Tat um eine technologische Zukunftsforschung, oder wie manche es nennen: um Futurologie bemühen. 

Die Amerikaner haben damit auf Regierungsebene mit dem berühmten Report <Das Jahr 2000> begonnen. Auch in Europa können wir feststellen, daß sich bisher recht ehrbare Regierungen auf merkwürdige Abenteuer einlassen. Im Jahre 1970 fand in Bonn eine europäische Ministerkonferenz für regionale Planung statt. Bei oberflächlicher Betrachtung scheint es sich um ein ziemlich technisches Thema zu handeln. Schaut man sich jedoch einmal an, wie der Europarat, der die ganze Übung startete, die Regionalplanung definiert, dann ist es ganz und gar keine technische Angelegenheit. 

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Der Bericht beginnt mit dem Zitat eines französischen Ministers, der einfach gesagt hat: Regionale Planung ist in Wirklichkeit die Planung unserer Gesellschaft. Diese sogenannte Regionalplanung, die zehn Jahre zuvor lediglich ein Aspekt der Wirtschaftsplanung gewesen war, hat inzwischen einen Stellenwert bekommen, der sie fast zu dem größeren Rahmen werden läßt, in dem die Wirtschaftsplanung ihrerseits nur Teilaspekt ist. Mit anderen Worten: Neuerdings denkt man in Europa - und zwar sowohl auf der europäischen Ebene im Europarat und in den europäischen Gemeinschaften wie auf der nationalen Ebene - an die Entwicklung einer umfassenden Strategie, welche nicht nur die wirtschaftliche, sondern auch die physische, soziale und kulturelle Entwicklung der Völker Europas im Hinblick auf die Schaffung einer großen, neuen Gesellschaft lenken soll, die man sich für die Jahrtausendwende in leuchtenden Farben ausmalt.

Wir können z.B. feststellen, daß neben die bisherige Besorgnis um Wirtschaftswachstum, Inflation und Vollbeschäftigung jetzt eine intensive Bemühung um den Umweltschutz, die Erhaltung der Natur und die Schaffung einer menschlichen Lebenswelt tritt, in der die Menschen sich entwickeln und ihre kulturellen Möglichkeiten entfalten können. Man kann sogar feststellen, daß Ökonomen und Regierungen bei der Abwägung praktischer Probleme wie etwa den Vorzügen verschiedener Standorte für die Ansiedlung moderner Industrie die Umweltaspekte, Bildungseinrichtungen, landschaftliche und kulturelle Kriterien als wichtiger erachten als die früheren wirtschaftlichen Faktoren wie Transportmöglichkeiten, Rohstoffe usw. Ein Beispiel ist die Entscheidung der britischen Regierung, den dritten Londoner Flughafen nach Foulness und nicht nach Cublington zu verlegen.

 

Glenny:  Die glänzende Perspektive, die Sie uns ausgemalt haben, möchte ich nun doch mit den nüchternen Tatsachen konfrontieren. Ich meine, daß das, was Sie uns vortragen, fast nichts mit den sehr viel größeren Problemen zu tun hat, denen die Welt gegenübersteht. Nehmen wir als Beispiel die Bevölkerungsexplosion. Am Ende des 18. Jahrhunderts gab es auf der Welt etwa 800 Millionen Menschen; es dauerte Millionen Jahre, um diese Zahl zu erreichen. 

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Hundert Jahre später hatte sich diese Zahl verdoppelt. Siebzig Jahre später hatte sie sich erneut verdoppelt. Heute braucht ein Bevölkerungszuwachs um 800 Millionen nur acht Jahre. Es gibt andere erschreckende Voraussagen von absolut kosmischem Ausmaß, wie etwa die, daß es in etwa dreißig Jahren - also innerhalb einer Generation, vielleicht noch zu unseren Lebzeiten und gewiß zu Lebzeiten unserer Kinder - auf der ganzen Welt kein Gold, Silber, Platin, Kupfer, Zink und wahrscheinlich kein Mangan, Wolfram und Molybdän mehr und in siebzig Jahren keine fossilen Brennstoffe, keine Kohle, kein Erdöl und kein Erdgas mehr geben wird. 

Meinen Sie nicht, daß all die wohlklingenden Vorschläge zur Sozialplanung, die Sie als Regionalpolitik beschreiben, angesichts dermaßen apokalyptischer Aussichten tatsächlich nichts anderes als Zukunftsscharlatanerie oder noch schlimmer: eine bewußte Weigerung sind, den realen Gefahren ins Auge zu sehen, eine Haltung, die man als »Vogel-Strauß-Politik« bezeichnet hat?

Despicht

Ja, diese Gefahr besteht. Sie haben insofern recht, als viele, die jetzt den sozialen gegenüber den ökonomischen und technologischen Werten den Vorzug geben, in Wirklichkeit den Kopf in den Sand stecken. Das ist jedoch nicht meine Einstellung. Sie werden sich erinnern, daß ich ganz am Anfang unseres Gesprächs ein allgemeines Prinzip aufgestellt habe, nach dem die moralischen Werte mit den technologischen Möglichkeiten eng zusammenhängen oder von ihnen abhängen. Eine rückwärtsgewandte Soziotechnik tut nichts anderes, als moralische Vorstellungen und Werte des Angenehmen, die einer alten Form der Technologie angemessen waren, auf moderne Probleme anzuwenden. Es ist klar, daß das nicht geht. Was wir tun müssen, ist, eine Technologie und eine moralische Haltung zu entwickeln, die mit diesen erschreckenden Problemen fertig werden können, die Sie soeben erwähnt haben.

Ich meine, daß uns aus der Vergangenheit etwas überkommen ist, was man im Englischen als common-sense oder Skepsis bezeichnet, wodurch man gegenüber Voraussagen Schrecken erregender Art mißtrauisch wird. Ich selbst glaube nicht, daß sich die Bevölkerungsexplosion und die Erschöpfung der Bodenschätze in genau der Weise vollziehen werden, wie Sie sie eben dargestellt haben. 

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Andererseits wäre es ein Wahnsinn, wollte man davon ausgehen, daß diese Voraussagen nicht beachtet zu werden brauchten. Es wird sich nicht gerade so abspielen, aber etwas in der Art kommt auf uns zu. Worin besteht nun die moralische Aussage? Ich meine, sie besteht einfach darin, daß man, statt die moderne Technologie zu verfluchen oder zu versuchen, sie zu zügeln, sie auf die Lösung dieser Probleme richtet. Die erschreckenden Probleme, von denen die Menschen sagen, sie würden durch die moderne Technik und die moderne Gesellschaft hervorgerufen, können tatsächlich nur durch einen großen Fortschritt in der Technologie gelöst werden. 

Nehmen wir z.B. die fossilen Brennstoffe. Wir würden fossile Brennstoffe gar nicht benötigen, wenn wir auch nur einen winzigen Bruchteil der Sonnenenergie nutzbar machen könnten. Daß es vielleicht fünfzig Jahre extrem kostspieliger und intensiver Forschung bedarf, bis wir wissen, wie wir das machen, scheint mir zu jener Art moralischer Entscheidungen zu gehören, die wir treffen sollten. An dieser Stelle besteht ein Zusammenhang mit der Raumforschung. Es ist eine schöne Vorstellung, daß unter den Ergebnissen der Raumforschung auch eine Technik zur Nutzbarmachung der Sonnenenergie herauskäme. Praktisch werden wir wohl eher durch die Atomverschmelzung als durch die Sonnenenergie zu unbegrenzten Energiequellen gelangen. Der wichtigste Teil der moralischen Aussage bleibt jedoch gültig: Wir müssen weiterhin die moderne Technologe so intensiv wie möglich fortentwickeln. 

Darin ist allerdings eine andere moralische Botschaft impliziert. Wenn wir tatsächlich die moderne Technologie bis zu einem Stande entwickeln, wo wir z.B. die Sonnenenergie nutzbar machen können, dann ist es sehr unwahrscheinlich, daß der durchschnittliche Weltbürger auch nur die geringste Chance haben könnte, auf intelligente Weise zu kontrollieren, was mit dieser Technologie geschieht. Zur Bewältigung einer solchen Technologie wären Fähigkeiten nötig, die nur wenige Menschen je erlangen könnten. Wir stehen deshalb vor dem uralten Problem: Wie können wir sicher gehen, daß die Menschen, welche diese außerordentliche Technologie kontrollieren, von der unsere Existenz abhängt, gerade das mit ihr anfangen, was wir als Bürger von ihnen wünschen? Das ist eines der ältesten Probleme der politischen Wissenschaft. 

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Werfen wir einen Blick in die Vergangenheit, um zu sehen, was bei jenen Menschen nicht klappte, die ältere Technologien kontrollierten. Es ist wahr, daß der Durchschnittsbürger bei den großen Entscheidungen, von denen seine Lebensbedingungen abhingen, nie viel mitzureden hatte. Geht man weit genug zurück, dann waren die einzigen Menschen, die tatsächlich etwas zu sagen hatten, jene, welche die Kontrolle über große Massen von Männern hatten, die mit Äxten und Schwertern bewaffnet waren. Später in der Geschichte mußte man über großen Reichtum verfügen, um bei der Kontrolle der Angelegenheiten mitreden zu können. Wenn uns die moderne Soziologie jedoch eines gelehrt hat, so die Erkenntnis, daß die Menschen, die nominell über die Ressourcen der Welt verfügten, nicht tatsächlich die Entscheidungen trafen. Die Entscheidungen wurden eher durch ziemlich unscheinbare kleine Leute getroffen, die man als Verwalter, Juristen und Bürokraten kennt. Diese Leute wußten, wie man im Hinblick auf die Entfaltung der Ressourcen zu entscheiden hatte. Sie waren in Wirklichkeit die Sozialtechnologen. Leider war damit auch ihr Wissen am Ende. Sie waren es, welche den gesellschaftlichen Mechanismus in Gang hielten und dann seiner Mechanik verfielen.

Nehmen wir als erstes Beispiel den Gutsverwalter. 

Ein großes Landgut ist zu keinem anderen Zweck da, als die Menschen, die auf ihm leben, zu ernähren und ihnen ein angenehmes Leben zu gewähren. Ich frage Sie, ob das der Einstellung des durchschnittlichen Gutsverwalters entspricht? Sie wissen so gut wie ich, daß der normale Verwalter in der Regel eine Haltung einnimmt, die dem Einsatz für die Wohlfahrt, den Wohlstand und ein angenehmes Leben seiner Pächter geradezu entgegengesetzt ist. Die gleiche beschränkte Einstellung ist auch charakteristisch für Anwälte. Versuchen Sie, mit einem durchschnittlichen Winkeladvokaten über die Natur des Rechts zu diskutieren. Er wird einfach nicht verstehen, was Sie meinen, und wird Ihnen etwas über die bestehenden Gesetze erzählen. In der neueren Zeit wird diese wichtige soziale Rolle schließlich von dem Bürokraten ausgefüllt. Da das Leben, das wir auf diesem Planeten erwarten können, von der modernen Technologie beherrscht ist, wird der Technokrat die wichtige Rolle eines Verwalters der Gesellschaft spielen. 

Es ist tatsächlich Anlaß zu großem Pessimismus, wenn man sich vorstellt, daß die Technokraten von morgen ihrer Arbeit gegenüber eine ähnliche Haltung einnehmen werden wie etwa der durchschnittliche Gutsverwalter in Westsizilien.

Das soziotechnische Problem schrumpft zu einem ganz einfachen Problem zusammen: 

Wie kann man gewährleisten, daß die Technokraten von morgen die entsprechende Einsicht und die persönliche Qualifikation haben werden, die sie befähigen, ihr Können so einzusetzen, daß die großen technologischen Apparate das tun, was die Bürger wünschen? Das ist sicher eine Frage der Erziehung. Ich will auf diese Frage nicht eingehen; die Erziehung ist eine eigene Welt der Moral und auch eine eigene Technologie.

Ich möchte mit einem subversiven Gedanken schließen. 

Da ich ein altmodischer Mensch bin, vertraue ich auch nicht zu sehr auf die moralische Haltung des Durchschnittsbürgers. Ich meine deshalb, daß wir für die Erziehung der Technokraten eine ganze neue Kategorie von Bürgern mit hohen moralischen Wertvorstellungen schaffen müssen. 

Nehmen wir z.B. die Haltung des Durchschnittsbürgers zu einer sehr bedeutenden Technologie - der der Ernährung. Eine der Plagen der modernen Welt ist die Fettleibigkeit. Was tut der moderne Mensch dagegen? Er ist sehr beunruhigt darüber; er will schlank werden. Er geht also zu den Technokraten der Ernährung und fragt sie, was er tun soll. Er ist glücklich, wenn er von ihnen sehr komplizierte und raffinierte Diätvorschriften bekommt. Was passiert jedoch, wenn ein großer Technokrat der Ernährung zu ihm sagt: »Mein lieber Freund, iß nur eine Mahlzeit täglich. Dein Problem ist ganz einfach: Du ißt zuviel.« Diesen Technokraten würde man entlassen, weil der wirkliche Fehler in der Gefräßigkeit der Menschen, nicht in der Technologie der Ernährung liegt. 

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