Start

11.  Soziale Kriterien für das Wirtschaftswachstum 

  Dennis Gabor 

mit Michael Glenny 1971

 

Dennis Gabor, der in Ungarn geboren wurde und jetzt britischer Staatsbürger ist, ist Mitglied der Royal Society und Professor für Elektronenphysik am Imperial College of Science and Technology in London.

Der wissenschaftlichen Welt ist er bekannt als Erfinder einer Methode der dreidimensionalen Photographie unter Verwendung von Laserstrahlen, die als Holographie bekannt ist.

Auch dem Laien ist Professor Gabor bekannt geworden durch so bewegende Bücher wie <Inventing the Future> (1963) und <Innovations> (1970), in denen er über die wahrscheinlichen sozialen und ökonomischen Auswirkungen des Fortschritts spekuliert.

 

206-216

Glenny: Es ist das Ziel dieser Diskussionen, das zu erörtern, worin viele Menschen eine Bedrohung der Menschheit sehen. Ich möchte das mit zwei Begriffen ausdrücken, welche heute geläufig werden - die Biosphäre und die Technosphäre. Die Biosphäre bezeichnet Kruste, Oberfläche und Atmosphäre der Erde, mit anderen Worten die Umwelt, die für die Erhaltung des Lebens auf diesem Planeten erforderlich ist, und die Technosphäre bezeichnet den Überbau, den der Mensch durch seine Erfindungskraft geschaffen hat und der durch den Fortschritt der Technologie so etwas wie ein parasitärer Auswuchs der Biosphäre geworden ist; die Technosphäre verzehrt mit anderen Worten ihr Stammorgan, die Biosphäre. Sie gebrauchen nun an einer Stelle Ihres Buches <Inventing the Future> die Wendung: »Die Geschichte muß anhalten«, worunter Sie wohl verstehen, daß der technologischen Entwicklung Einhalt geboten werden muß, wenn wir überleben wollen und die Biosphäre für absehbare Zukunft erhalten bleiben soll. Habe ich da in etwa recht, oder ist das eine falsche Auslegung Ihrer Auffassungen?

Gabor: Sie haben Ihre Frage sehr provokativ gestellt. Das ist nicht schlimm, aber ich muß sagen, daß es stark übertrieben ist: Die Technosphäre ist kein Überbau. Sie ist selbst der Unterbau. Marx hat nicht ganz unrecht, wenn er meint, daß die gesamte Gesellschaft auf der ökonomischen Basis errichtet ist und daß die darauf errichteten Ideologien einen Überbau darstellen. Sie haben jedoch insofern recht, als die ungeheure Entwicklung der Technologie einen völlig neuen Maßstab gibt. Soweit wir die Geschichte kennen, war sie eine Geschichte des relativen Mangels: Unsere Vorfahren konnten nur reicher werden, indem sie jemand anderem etwas wegnahmen. Wir haben jetzt einen Punkt erreicht, wo es eine pure Verrücktheit wäre, das alte Machtspiel fortzusetzen, eine Verrücktheit, die nicht weitergehen darf. Das Problem liegt nicht in der Technologie, sondern in der Tatsache, daß der Mensch nicht auf sie vorbereitet ist. Die Technologie gibt uns die Mittel, daß jedermann reich und glücklich werden kann; die Schwierigkeit ist, daß der Mensch nicht dafür geschaffen ist, glücklich zu sein. 

 

Glenny:  Ich bin froh, daß Sie damit beginnen, von der Technologie auf deren Ausgangspunkt zurückzukommen - auf den Menschen. Der Mensch ist sich immer bewußt gewesen, daß er seine Tätigkeit in einem gewissen Umfang kontrollieren muß. Das ist der Ausgangspunkt jeglicher Politik; manche würden sogar sagen, das sei der Ausgangspunkt von Kunst und Kultur - ein Bestreben, einer ungeordneten oder scheinbar ungeordneten Welt eine Ordnung aufzuerlegen. Nun gibt es einige Leute, die glauben, daß, wenn die technologische Explosion uns nicht erdrücken soll, der Tätigkeit des Menschen sehr viel schärfere Kontrollen auferlegt werden müssen - vor allem dem Menschen als homo faber, dem Menschen als Werkzeugmacher, als Techniker. 

Das ließe sich unter zwei Gesichtspunkten zusammenfassen: erstens Kontrolle der Wissenschaft und Technologie und zweitens sehr viel weiterreichende Kontrollen des Menschen selbst, nicht nur als eines sozialen Wesens, sondern auch als Individuum. Damit würde es unvermeidlich weitere Kontrollen und weitere Einschränkungen unserer individuellen Freiheiten geben, da eine Kontrolle eine weitergehende Kontrolle zu erzeugen pflegt. Man glaubt, daß derartige Prognosen eine sehr große Gefahr für die demokratischen Wertvorstellungen darstellen. Die Kontrollen, die Wissenschaft und Technologie aufhalten und den Menschen davon abhalten könnten, seine Umwelt zu zerstören, wären - mit anderen Worten - derart weitreichender Natur, daß sie ein totalitäres politisches System hervorbringen würden. Ist das für Sie nicht beunruhigend? 

207


Gabor: Es besteht kein Zweifel daran, daß die Entwicklung von Technologie und Wissenschaft zu einer neuen Tyrannei führen kann, wenn sie in die Hände der falschen Leute gerät. Was nun die Wissenschaft tun kann, ist, das äußerst schwierige Problem zu lösen, die richtigen Bedingungen für die Entwicklung der Kultur zu schaffen; das sollte uns in den Stand versetzen, die größtmögliche individuelle Freiheit zu bewahren. Es ist zwar eine sehr schwierige Aufgabe, doch sehe ich darin etwas, was die Technologie leisten kann.

Ich sprach von der größtmöglichen Freiheit - aber wie sollen wir die größtmögliche Freiheit bestimmen?

Schon ihrer Definition nach bedeutet Freiheit ein Vorgehen nach dem Prinzip von Versuch und Irrtum. Bisher ist es nicht möglich gewesen, mit dem sozialen System Experimente zu machen, weil es als Versuchslabor ungeeignet war. Nun hat uns aber die Wissenschaft den Computer und Methoden der Computersimulation gegeben, was uns in den Stand versetzt, das Spiel der Vernunft in Millionen von Variationen durchzuspielen. Mit diesen Hilfsmitteln könnten wir in der Lage sein, festzustellen, was für den Menschen und seine Freiheit bedrohlich ist und was nicht.

 

Glenny: Betrachten wir zunächst die Gegenwart, in der es den Anschein hat, als würden alle Machthaber unseres Erdballs kaum weiter blicken als auf die unmittelbare kurzfristige Zielsetzung des wirtschaftlichen Wachstums mit seiner Nebenwirkung eines erhöhten materiellen Wohlstandes. Sie scheinen jedoch kaum eine Vorstellung von der Umweltverschmutzung, den Kosten und Nachteilen zu haben, die das nach sich zieht. Einige Entwicklungsländer bemühen sich, so rasch wie möglich auf dem Wege voranzukommen, den die entwickelten westlichen Länder eingeschlagen haben, ohne die Fehler und Gefahren zu beachten, die ein solcher Kurs mit sich bringt. - Sehen Sie eine praktikable politische Alternative zu einer Politik des Wirtschaftswachstums um jeden Preis? 

208


Gabor: Ich muß hier zwei sehr heikle Wörter benützen: »rational« und »irrational«. Ich hoffe, Sie verstehen, warum ich sie als heikel betrachte: Niemand möchte gern als irrational bezeichnet werden. Nun, es ist völlig rational, in einem afrikanischen Land oder in Indien wirtschaftliches Wachstum zu wünschen, weil es dort keine reale Alternative gibt: Die Menschen müssen erst einmal über die Stufe hinausgelangen, wo sie verhungern, und sie müssen materielle Annehmlichkeiten des Daseins bekommen. In unserer westlichen Zivilisation ist das Wirtschaftswachstum jedoch zu einem Fetisch geworden, zu einer Art gefährlicher Fixierung. 

Um ein Beispiel anzuführen: Jeder Amerikaner wird Ihnen sagen, daß die Wirtschaft der Vereinigten Staaten heute darauf beruht, daß in Detroit jährlich 9 Millionen Autos produziert werden und etwa 5 oder 6 Millionen verschrottet werden; das ist eine Wirtschaft des »tanzenden Derwischs«. Wenn das so weitergeht, werden lange vor dem Ende dieses Jahrhunderts die Vereinigten Staaten, Japan und vielleicht auch England den Punkt erreichen, wo jede Familie zwei große Wagen besitzt, so daß alle Straßen vollgestopft sind. Der technologischen Gesellschaft drohen jedoch weitaus gefährlichere Straßensperren. Bei dem gegenwärtigen Produktionsumfang kann Amerika etwa 95 Prozent seiner Bevölkerung Beschäftigung bieten - und das, während es einen respektablen Krieg führt, und bei einem System des raschen, eingebauten Verschleißes, der selbst das komplizierteste Produkt nach einem oder zwei Jahren nutzlos werden läßt, so daß der Konsument gezwungen ist, es zu ersetzen. 

Jeder gute Ingenieur kann einen Plan machen, wie der gegenwärtige Produktionsumfang auf der Grundlage einer Arbeitswoche von 25 Stunden, später von 16 Stunden usw. aufrechterhalten werden könnte. Was aber werden die Leute dann machen? Man kann sie nicht einfach mit wachsendem Konsum in Beschäftigung halten. Ob wir es mögen oder nicht - das quantitative Wachstum wird früher oder später aufhören müssen. Es verlangsamt sich bereits aus mehreren Gründen, darunter auch deshalb, weil in der Nähe des Sättigungspunktes die Menschen nicht mehr so sehr bereit sind zu arbeiten. Viele Menschen - und nicht nur die Jugend - werden sich bewußt, daß wirtschaftliches Wachstum als Selbstzweck sinnlos geworden ist. 

209


Leider haben die jungen Rebellen in Amerika und in anderen westlichen Ländern keine konstruktive Alternative zu bieten. Ihr Protest ist negativ und emotional, und hier muß man den Ausdruck »irrational« benützen. Viele von ihnen, die es wirklich besser wissen sollten, glauben, es genüge, das bestehende System zu zerschlagen, damit alles besser werde. Aber das genügt nicht! Anarchie hat nie etwas anderes als Chaos hervorgebracht. 

 

Glenny: Wenn ich Sie richtig verstehe, dann ist es Ihre Ansicht, daß an irgendeinem Punkt (und diesem Punkt nähern wir uns mit großer Geschwindig­keit, wenn wir ihn nicht schon überschritten haben) die Menschen, welche die Wirtschaft kontrollieren, bewußt die Entscheidung treffen müssen, das Wachstum zu bremsen, vielleicht sogar bestimmte Bereiche der Wirtschaftstätigkeit zu stoppen. Nun ist es heute für die Regierungen schon schwierig genug, eine so unpopuläre Maßnahme zu treffen wie eine Veränderung in den Auszahlungsmethoden der Sozial­versicherungs­bezüge. Um wieviel mehr wird es daher für eine Regierung politisch unerwünscht erscheinen, beispielsweise die Autos mit einer einschneidenden Steuer zu belegen, um dadurch den Prozeß zu stoppen, daß wir zwischen den chromglänzenden vierrädrigen Ungeheuern ersticken.

Gabor Es wird natürlich sehr schwierig sein, da die technologische Entwicklung nach ihrem eigenen Gesetz voranschreitet und den gänzlich falschen Weg geht. Es ist wirklich bedrückend zu sehen, daß beispielsweise die Eisenbahnen nicht mehr lohnend betrieben werden können. In Amerika ist die Pennsylvania Railroad bankrott gegangen. Damit sind 40 Prozent des gesamten Eisenbahnnetzes der Vereinigten Staaten und die weitaus größte Transportgesellschaft der Welt verlorengegangen, mit einem Nominalvermögen von 200 Millionen Dollar. Natürlich müßte die weitere Entwicklung in Richtung auf weniger Autos und sehr viel mehr elektrisch betriebenen Massentransport gehen, aber das lohnt sich einfach nicht. Sosehr es die Öffentlichkeit und die Industrie auch schmerzen mag - die vornehmste Aufgabe der Regierung wird es sein, den Massentransport rentabel und die chromglänzenden Ungeheuer unrentabel zu machen. Das wird eine sehr schwierige Aufgabe sein und ein so hohes Maß an Voraussicht bei der Regierung erfordern, daß ich mich wirklich frage, ob es dazu kommt. Ich fürchte, daß - wie stets in der Geschichte, wenn ein großer Wendepunkt bevorsteht - ein Wandel erst nach einem größeren Zusammenbruch eintreten wird. 

210


Glenny:  Sie sagen deshalb voraus, daß wir - oder sagen wir: die Vereinigten Staaten als Schrittmacher der Weltwirtschaft - zuerst eine wirklich furchtbare Krise durchmachen müssen, damit die Menschen zur Vernunft kommen. Wäre es eine zu vermessene Hoffnung, daß es irgendwo in den oberen Rängen der herrschenden Eliten der Vereinigten Staaten und natürlich auch der Sowjetunion, denn sie geht in die gleiche Richtung, Männer mit genügend Voraussicht gibt, die eine vernünftige, rationale Verlangsamung des Wirtschaftswachstums ohne Krise herbeiführen werden?

Gabor Das Problem besteht nicht so sehr darin, das Wachstum zu bremsen, als vielmehr darin, das Bruttosozialprodukt anderen Verwendungen zuzuführen. Es muß auf die Qualität des Lebens ausgerichtet werden; leider weiß niemand genau, was das bedeutet - oder vielmehr kann sich niemand darauf einigen, was es bedeuten sollte. Für mich bedeutet es mit Sicherheit eins: Bildung. Bildung ist bereits fast der größte Industriezweig, und sie muß in einem hochentwickelten Land zum weitaus größten Industriezweig werden. Die reichen Gesellschaften können und müssen es sich erlauben, sehr viel mehr Geld für Bildung auszugeben, als die meisten von ihnen es jetzt tun. Eine finanzielle Schwierigkeit besteht jedoch darin, daß Schulen und Universitäten sich nicht selbst tragen. Sie müssen mit dem Geld des Steuerzahlers finanziert werden, und in Großbritannien ist die Besteuerung jedenfalls schon so stark, daß jede Erhöhung auf sehr starken Widerstand stoßen wird.

Man könnte sagen, daß in der Sowjetunion eine solche Schwierigkeit nicht besteht, weil der Staat alles kontrolliert. Leider besteht keine Gewähr dafür, daß irgendein Staat seine Mittel für die Verbesserung der Lebensqualität seiner Bürger ausgeben wird. Die Vereinigten Staaten geben heute 65 Milliarden Dollar für Rüstung aus. Die Rüstungsausgaben der Sowjetunion hat man auf 60 Milliarden Dollar geschätzt, was im Bezug auf die wirtschaftliche Gesamtleistung etwa das Doppelte ist. 

211


Obwohl die sowjetische Regierung in jedem Plan eine Erhöhung der Konsumgüterproduktion ankündigt, betrug der Anteil der Investitionsgüter an der gesamten Industrieerzeugung 1970 immer noch 74 Prozent, wahrend der Anteil der Konsumgüter nur 26 Prozent betrug. Die Russen sind sorgsam darauf bedacht, ihre übergroße Rüstungsindustrie zu erhalten. Das Ergebnis ist unter anderem, daß sie Waffen im Wert von 3 Milliarden Dollar in den Nahen Osten exportieren - eine Politik, die für uns alle die schrecklichsten Konsequenzen haben kann.

 

Glenny:  Sie sagten: »Die Technologie entwickelt sich nach ihrem eigenen Gesetz.« Ist aber die Technologie nicht eine bloße Hülse, ein Vehikel, während das, was sie vorantreibt, die Macht des menschlichen Willens ist? Das bringt uns zu der Frage zurück, wie sich die Erfindungskraft des Menschen und sein grenzenloser Einfallsreichtum von dem falschen und gefährlichen Weg abbringen lassen, auf dem sie sich jetzt bewegen.

Gabor Die Technologie schreitet nach ihrem eigenen Trägheitsgesetz voran, und zwar aus zwei Gründen. Zum einen, weil die alten Industrien, etwa eine unverhältnismäßige Schwerindustrie oder Luftfahrtindustrie, erhalten werden müssen. Der andere Grund ist das Prinzip der technologischen Zivilisation selbst: »Was gemacht werden kann, wird gemacht werden.« Der »Fortschritt« pflegt neue Verfahren einzuführen und neue Industrien zu errichten - gleichgültig, ob sie wirklich wünschenswert sind oder nicht. Das klarste Beispiel dafür ist der Wettlauf im Weltraum. Mit der Entwicklung von Raketen und Computern sind die Raumflüge in den Bereich der Technologie gerückt, obgleich sie überhaupt keine wirtschaftliche Bedeutung haben, wenn man davon absieht, daß sie der Luftfahrtindustrie Beschäftigung geben zu einer Zeit, da es mit deren Hauptprodukt, dem bemannten Luftfahrzeug, bergab geht. Es trifft sich günstig, daß der Raumflug sehr großen Prestigewert hat und deshalb beträchtliche Geldsummen dafür verwendet werden, hauptsächlich in den Vereinigten Staaten und in Rußland: vielleicht 50 Milliarden Dollar. 

212


Ich muß allerdings gestehen, daß wahrscheinlich das einzige Ereignis, an dem auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs die ganze Welt als begeisterter Zuschauer beteiligt war, die erste Landung des Menschen auf dem Mond und vielleicht noch eher das gefährliche Abenteuer von Apollo 13 gewesen ist. 

 wikipedia  Apollo_13 

Dieses Heldenstück ist nun aber mehr oder weniger durchgespielt. Sehr wahrscheinlich wird nach der sogenannten Eroberung des Mondes im Weltraum nicht mehr viel zu tun sein.

Die materiellen Vorteile für die Menschheit waren geringfügig, und hätte man die gleichen Mittel für die Lösung der wirklich schwierigen Probleme des Menschen ausgegeben, dann hätten sie der gesamten Welt sehr viel größeren Nutzen bringen können, statt lediglich einen bestimmten Sektor der Elektronik- und Luftfahrtindustrie anzukurbeln.

Die wirklich dringenden Bedürfnisse der Welt liegen weit vom Weltraum entfernt - etwa das Problem einer billigen Methode, die industriellen Abfallprodukte als Rohstoffe wieder zu verwenden.

Hier ist ein Hoffnungsstrahl zu sehen. Der Mondflug hat gezeigt, daß Menschen ein unglaubliches Maß an Koordinierung schaffen können. Beim Apollo-Mondprogramm haben etwa 600.000 Menschen wie ein Team zusammengearbeitet und dafür gesorgt, daß das Projekt mit einer Genauigkeit von Sekundenbruchteilen ablief. Es wäre nicht verwunderlich, wenn diese Leute, die auf ihre Leistung sehr stolz sind, sagen würden: »Jetzt wollen wir unsere Methoden auf soziale Probleme anwenden.«

Wenn man eine Reihe von ebenso begabten Leuten nehmen würde - ja sogar die gleichen Leute, die gleichen Ingenieure, zu denen natürlich einige Ökonomen, Sozialwissenschaftler und dergleichen kommen müßten - und würde ihnen soziale Probleme zu lösen geben, etwa das Rassenproblem in den Vereinigten Staaten, die soziale Integration der amerikanischen Großstädte, die Errichtung neuer Städte mit einem geeigneten Massentransportsystem usw. -, ich bin ganz sicher, daß all diese Probleme gelöst werden könnten, weil diese Ingenieure und Wissenschaftler wirksame Methoden der integrierten Planung entwickelt haben und weil sie ein wirklich glänzendes System der Kooperation haben. Sobald ein Traum zu einem Projekt wird, können sich die Ingenieure damit befassen! 

213


Glenny:  In Ihrem Buch <Inventing the Future> scheint durch Ihr gesamtes Denken ein grundlegender Optimismus bezüglich der Zukunft des Menschen hindurch. Wir könnten jedoch Ihren Optimismus vielleicht dadurch auf die Probe stellen, daß wir prüfen, wie Sie auf eine mehr pessimistische Zukunfts­auffassung reagieren. Um noch einmal auf jene Art von Bürgerkrieg zu sprechen zu kommen, der gewissen Leuten zufolge zwischen der Biosphäre und der Technosphäre herrscht, drohen nicht die biologischen und kulturellen Anpassungsmechanismen des Menschen, die bisher recht erfolgreich gewesen sind, heute tatsächlich zu verkümmern und dysfunktional zu werden? - Ich möchte dafür zwei Beispiele anführen. Da ist zum einen unsere übermäßige Abhängigkeit von der Technologie, die vielleicht am eindrücklichsten belegt wurde durch den Zusammenbruch der gesamten Stromversorgung, der vor einigen Jahren die ganze Ostküste der Vereinigten Staaten betraf. Ein anderes jüngeres Beispiel ist der Zusammenbruch des städtischen Schlachthofes von Johannesburg, der die Stadt tagelang fast unbewohnbar werden ließ, weil rund um die Stadt Hunderttausende von sterbenden Rindern sich in überhitzten Lastwagen häuften - wo also jene Art von monströsen Katastrophen eintrat, mit der sich bis dahin nur Science-fiction-Autoren befaßt hatten. - Was sagen Sie zu derartigen Problemen? 

 

Gabor Es stimmt, daß derart schreckliche Dinge eintreten können, weil wir einen Punkt erreicht haben, wo technologische Methoden so allgemein angewandt werden, daß einzelne Zusammenbrüche nichts Besonderes mehr sind. Um ein anderes Beispiel zu nehmen, stehen wir heute in der ganzen Welt vor dem Problem der Luft-und Wasserverschmutzung. Das Problem besteht darin, wie man die Maßnahmen gegen die Verschmutzung bezahlt. Das einzige, was helfen kann, ist eine entsprechende Gesetzgebung. Man kann nicht erwarten, daß der gute Staatsbürger mehr für hochoktaniges bleifreies Benzin oder für ein Auto mit verbesserter Verbrennung und elektronischer Abgaskontrolle ausgibt, solange andere noch die Luft mit billigeren Autos und billigerem Benzin verpesten dürfen. Eine solche Gesetzgebung würde ich nicht als eine Beschneidung der persönlichen Freiheit betrachten. Es ließe sich viel dafür sagen, daß beispielsweise die Freiheit, frische Luft zu atmen, eine der Freiheiten des Menschen ist. 

214/215

Sie sagten, Sie wollten meinen Optimismus auf die Probe stellen. Es ist heutzutage sehr leicht, jede Art von Optimismus in Verruf zu bringen, weil er an einem sehr dünnen Faden hängt. Ich sehe jedoch immer noch einigen Anlaß zum Optimismus, und einer meiner Gründe ist der, daß ich glaube, bei meinen Kollegen Wissenschaftlern und Ingenieuren einen Bewußtseinswandel beobachten zu können.

Vor nur zwanzig oder dreißig Jahren waren die Ingenieure nicht nur in diesem Land, sondern in der ganzen Welt eine kulturell nicht sehr aktive Minderheit. Sie bildeten sich allerdings auf ihren Stand sehr viel ein und hatten ein reines Gewissen. Jetzt tritt der erste Wandel ein. Die Ingenieure beginnen, ein schlechtes Gewissen zu empfinden. Einigen aus der älteren Generation mag es gelingen, es zu beschwichtigen, aber die jungen Leute haben begonnen, ein Gefühl moralischen Unbehagens zu entwickeln, was ich begrüße. 

Nachdem die Atombombe gebaut und eingesetzt worden war, bekamen die Wissenschaftler ein solches Schuldbewußtsein, daß sie heute fast alle Pazifisten sind; sie versuchen, gesellschaftlich verantwortungsvoll zu handeln und ihre politischen Führer entsprechend zu beraten. Es gibt gewiß Grund zur Hoffnung, daß sehr viel wissenschaftliche Intelligenz auf die Probleme von Gesellschaft und Umwelt angesetzt werden kann. Leider sind die Regierungen von der sichtbaren Instabilität unseres Systems und der Notwendigkeit kurzfristiger Maßnahmen derartig überwältigt, daß sie heute weniger als vor zehn Jahren in der Lage sind, die Aussichten der kommenden zehn oder zwanzig Jahre gelassen zu betrachten. So sind etwa all die sympathischen Pläne für eine »Great Society« in Amerika vollständig von der Gefahr der Inflation erstickt worden. Vielleicht genügt aber dieser kleine Rückschlag, um den Leuten bewußt zu machen, daß es mit der Gesellschaft so, wie sie ist, nicht weitergehen kann. 

 

Glenny: Ein unausgesprochener Vorwurf, der weitgehend hinter Ihrer Kritik an dem Mangel an Kontrolle über den technischen Fortschritt in den letzten Jahren gestanden hat, zielte auf das, was einige als Profitmotiv, Unternehmerwirtschaft oder Preismechanismus bezeichnen würden. Selbst in den sogenannten kapitalistischen Ländern hat sich das in der letzten Zeit zugegebenermaßen weitgehend gemildert. Gleichwohl beherrscht es noch immer unser Wirtschaftssystem. - Wollen Sie andeuten, daß diese Form der freiheitlichen Unternehmerwirtschaft so stark eingeschränkt werden sollte, daß sie sich in etwas völlig anderes verwandelt - etwa in eine Planwirtschaft nach osteuropäischem Muster? 

 

GaborDas wäre sicherlich zu weit gegriffen. Allerdings muß eine gesellschaftlich unverantwortliche wirtschaftliche Betätigung eingeschränkt werden, aber es wäre eine Torheit, damit die Unternehmerwirtschaft ganz und gar aufzugeben. Schließlich ist sie im Grunde das leistungsfähigste System, das wir kennen. Schauen Sie sich die osteuropäischen Staaten an; ihr System arbeitet tatsächlich sehr schlecht. Natürlich funktioniert es in gewisser Weise: Es gibt dort keinen gewerkschaftlichen Druck auf die Löhne, keine Streiks; aber um welchen Preis! Jeder ist damit beschäftigt, auf die »Nummer Eins« zu blicken, und das ist alles. 

Es gibt dort sogar weniger gesellschaftliche Verantwortung, weniger sozialen Zusammenhalt als bei uns. Ich weiß aus persönlicher Erfahrung, wie viele Osteuropäer sich ausschließlich um ihre persönlichen Interessen kümmern und so wenig wie möglich arbeiten, wobei sie nur das Minimum leisten, um ihren Job zu behalten. 

Was wir tun müssen - und es ist sehr schwierig (der Kompromiß ist immer schwierig) -, das ist, die eindeutig stabilitätsfeindlichen Faktoren unserer Wirtschaft wie etwa die Börse einzuschränken, an der eine geringfügige Abwärtsbewegung einen katastrophalen Zusammenbruch herbeiführen und eine geringfügige Ankaufaktion einen völlig irrationalen momentanen Aufschwung bewirken kann; oder etwa die Gewerkschaften mit ihrem »Jetzt alle zugreifen!«, die eine nach der anderen ihre Forderungen präsentieren und die Löhne und Preise in einer Teufelsspirale hinauftreiben. 

Wir dürfen jedoch nicht die ungeheuren Vorteile einschränken, die unsere Zivilisation durch das Einzelunternehmen gewonnen hat, durch das von der Hoffnung auf Vorwärtskommen angespornte Bemühen des einzelnen. 

Die Spielregeln der Wirtschaft müssen in Zukunft nach sozialen Kriterien geändert werden, aber dabei wollen wir wir nicht das Kind mit dem Bade ausschütten! 

216

 

Ende

 

 

(Ordner)   www.detopia.de      ^^^^