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Einleitung  

 Von Clemens Vollnhals und Jürgen Weber  (2002)

 

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Mit Herrschaft und Alltag sind zwei Schlüsselbegriffe benannt, die das Leben in jeder Diktatur ganz spezifisch prägen. Dies gilt erst recht für Weltanschauungs­diktaturen, die sich nach der Eroberung der Macht nicht mit der Ausübung der staatlichen Herrschaft und der Verteidigung ihres Machtmonopols begnügen, sondern auch im Weltanschaulichen ein ideologisch bestimmtes Deutungs­monopol für sich beanspruchen. Die Unterwerfung der gesamten Gesellschaft unter den politischen und ideologischen Führungs­anspruch der herrschenden Partei ist das Charakteristikum moderner Weltanschauungs­diktaturen, das sie vom herkömmlichen Typus autoritärer Diktaturen unterscheidet.

Es ist das visionäre Endziel, die Verwirklichung der großen Utopie, das den Einsatz aller Mittel zur völligen Umgestaltung der Gesellschaft legitimiert. Der unmittelbare parteistaatliche Zugriff auf alle Lebensbereiche duldet jenseits privater Nischen keine eigenständige Autonomie von Ökonomie, Kultur und Gesellschaft. Der totale Herrschafts­anspruch hebt die bürgerliche Trennung von Staat und Gesellschaft auf und ordnet alle Bereiche dem planenden und steuernden Primat der Politik unter. Weltan­schauungs­diktaturen bedürfen zu ihrem Erhalt sowohl der Integration, die auf vielfältigen ideologischen wie sozial-politischen Komponenten beruht, als auch der permanenten Kontrolle, Repression und Ausgrenzung. Integration und Repression prägen denn auch den Alltag; beide Momente ergänzen sich wechselseitig und sind konstitutiv für die innere Systemstabilität.

Dass die DDR eine Diktatur war und die SED das Machtmonopol innehatte, steht außer Zweifel. Strittig ist in der öffentlichen Debatte allein die Frage ihrer Charakterisierung: War sie eine totalitäre Diktatur? Soll man die Ära Honecker als spät-totalitäre, als post-totalitäre oder nicht besser als eine autoritär geprägte Fürsorgediktatur bezeichnen?

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Auf abstrakter Ebene, auf der Ebene der politischen Herrschaftstypologie, lässt sich hier trefflich streiten. Zumal der Totalitarismusbegriff, obgleich wesentlich älter, als politischer Kampfbegriff aus der Zeit des Kalten Krieges belastet ist, und vielen der Vergleich von Nationalsozialismus und Kommunismus als anstößig gilt. Auch gibt es in der Wissenschaft ganz unterschiedliche Definitionen dessen, was man unter „Totalitarismus" zu verstehen habe.

Gleichwohl sollte dies nicht dazu verführen, den heuristischen Erkenntniswert der verschiedenen Spielarten der Totalitarismus­theorie zu unterschätzen. Die vielfach feststellbare Begrenztheit des totalen Verfügungs­anspruchs von Weltanschauungs­diktaturen ist per se kein Gegenargument, sondern verweist lediglich auf den Umstand, dass die Umsetzung des prinzipiell schrankenlosen Herrschaftsanspruchs in der Praxis stets auf vielfältige Begrenzungen und Widerstände stößt: auf den gesellschaftlichen Eigensinn wie auf exogene Faktoren, die außerhalb des Systems liegen und die revolutionäre Dynamik begrenzen.

Was bedeuten diese knappen Vorüberlegungen nun für die Geschichte der DDR, für Herrschaft und Alltag in der SED-Diktatur? War sie nicht doch, zumindest in der langen Amtszeit Honeckers, eine kommode Diktatur mit einer liebenswerten Nischen­gesellschaft, der bis heute nicht wenige nachtrauern? Oder war ihr primäres Merkmal der monströse Kontroll- und Repressionsapparat der Staatssicherheit, die alle Sphären der Gesellschaft konspirativ durchdrang und zersetzte?

Die Antwort fällt bekanntlich sehr unterschiedlich aus. Dies liegt nicht nur an den differenten Lebenserfahrungen der Täter und Opfer und — jenseits aller einfachen Zuschreibung — dem breiten Spektrum der Mitläufer und Nutznießer des Systems. In Rechnung zu stellen ist ebenso, dass Herrschaft und Alltag nicht umstandslos in eins fallen, dass das eigene Leben auch und gerade in der Diktatur nicht deckungsgleich mit den politischen Verhältnissen ist.

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Deshalb ist es auch nicht sonderlich verwunderlich, dass in der Erinnerung vieler Ostdeutscher die positiven Erfahrungen des Alltags überwiegen: die Solidargemeinschaften in Betrieb und Nachbarschaft, der gesicherte Arbeitsplatz, die stabilen Mieten etc. Die durch Umfragen belegte DDR-Nostalgie dürfte jedoch weniger das Resultat fortwirkender politischer Überzeugungen sein als vielmehr eines elementaren menschlichen Grundzuges, der die Bewältigung des privaten Lebens enorm erleichtert: Wir erinnern uns eher an das Gute und vergessen das Schlechte. Hinzu kommt vielfach ein emotionaler Affekt, ein untergründiger Abwehrreflex gegen den dominierenden Westen, den die PDS meisterlich auszubeuten versteht.

Eine der zentralen Aufgaben der politischen Bildung ist seit langem die selbstkritische Ausein­andersetzung mit der NS-Diktatur. Insofern ist es keine neue Erkenntnis, wie zählebig politische Mythen und ideologische Versatzstücke als Restbestände besonders im familiär-privaten Umfeld fortleben. Die schlechten Seiten werden von den vermeintlich guten getrennt und gegeneinander aufgerechnet. Dass die "sozialen Errungenschaften" der DDR, der Konsum-Sozialismus Honeckers, mit dem Ruin der wirtschaft­lichen Leistungs­fähigkeit erkauft wurden, bleibt dabei außer Betracht, um nur ein Beispiel zu nennen.

Das komplizierte Wechselverhältnis von Herrschaft und Alltag in der SED-Diktatur unterlag in 40 Jahren einem beständigen Wandel, der in den verschiedenen Bereichen unterschiedlich ausfiel und vielfach erst noch vertiefter Erforschung bedarf. Insofern wäre es vermessen, schon jetzt eine Bilanz ziehen zu wollen. Als eine Entwicklungstendenz lässt sich sicherlich festhalten, dass der offene Terror und die harte Repressionspolitik zur Umgestaltung von Staat und Gesellschaft, die die frühen Jahre maßgeblich geprägt und eine große Fluchtbewegung hervorgerufen hatten, mit dem Mauerbau 1961 ihren Abschluss fanden. Beton und Stacheldraht symbolisierten das Scheitern im Wettstreit der Systeme, den die SED-Diktatur ohne den Einsatz sowjetischer Panzer schon beim Volksaufstand am 17. Juni 1953 verloren hätte.

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Sie war von Anfang an das abgeleitete Produkt der sowjetischen Besatzungsmacht – und erst in einer sehr viel weiteren Perspektive das Ergebnis des vom Nationalsozialismus begonnenen Zweiten Weltkrieges. Der "Sozialismus in einem halben Land" bedurfte gewaltsamer Geburtshelfer und ging folgerichtig mit dem Zerfall des sowjetischen Imperiums unter.

Mit dem Amtsantritt Honeckers 1971 begann die Phase einer verstärkten Integrationspolitik, die auf die Sozialpolitik als Mittel zum Erhalt der Systemloyalität setzte; gleichzeitig wurde der Apparat der Staats­sicherheit bis 1989 nahezu verdoppelt. Sozial­politik und Staatssicherheit sollten den Machterhalt der kommunistischen Diktatur garantieren, deren visionäre Heils­erwartung sich längst in den Mühen der Ebenen verbraucht hatte. Lediglich im Westen vermochte in den siebziger Jahren der utopische Gehalt des Kommunismus noch eine intellektuelle Faszination auszuüben, was zumeist keine Begeisterung für den "real existierenden Sozialismus" implizierte.

Vom revolutionären Impetus einer ursprünglich breiten sozialen Bewegung war kaum mehr übrig geblieben als die ideologische Rechtfertigung einer Diktatur, die sich selbst als „Diktatur des Proletariats" bezeichnete, deren greise Führungsriege jedoch nur noch ein Ziel kannte: die Sicherung des eigenen Machterhalts. Die Bewahrung des Status quo war das oberste Ziel Honeckers, eines hochgedienten Apparatschicks, der in persona den bürokratisch versteinerten Sozialismus verkörperte.

Mit dem ideologischen Furor und Terror des Nationalsozialismus wie des Stalinismus hatte dieses Regime wenig gemein, worauf Kritiker der Totalitarismustheorie mit guten Gründen verweisen. Eine Gleichsetzung verbietet sich in der Tat. Der immer wieder herangezogene plumpe Vergleich beider deutscher Diktaturen, der die Unterschiede verwischt und indirekt die NS-Verbrechen relativiert, bedient mehr tagespolitische Interessen im politischen Meinungskampf, als dass er die wissenschaftliche Erkenntnis befördert.

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Von solcher Instrumentalisierung abgesehen, ist der Vergleich eine wissenschaftlich selbstverständliche Methode, die es erst überhaupt erlaubt, Gemein­samkeiten und Unterschiede festzustellen. Anders als der inhaltsarme Begriff der „modernen Diktatur", der völlig offen lässt, was denn am Charakter – nicht an einzelnen Herrschafts­techniken – dieser Diktaturen „modern" gewesen sein soll, vermag eine modifizierte Totalitarismus­theorie hier wesentliches zum besseren Verständnis und zur kategorialen Einordnung im Sinne einer Typologie von Herrschafts­formen beizutragen. Dies setzt freilich voraus, dass wir uns von der weitverbreiteten Auffassung lösen, das Wesen totalitärer Regime sei der permanente Terror und Massenmord oder, wie es im Werke Hannah Arendts düster aufscheint: die Auflösung der menschlichen Existenz im Lager als dem eigentlichen Ziel totalitärer Herrschaft.

Fruchtbarer für eine vergleichende historisch-politologische Analyse erscheint dagegen ein Totalitarismus­konzept, in dessen Mittelpunkt nicht die Vernichtung, sondern die totale Kontrolle steht, wie es beispielsweise von Kielmansegg vertreten wird.

Er benennt drei Kriterien: 1. Die Monopolisierung von Entscheidungsmacht in einem Führungszentrum, das keiner Form institut­ionalisierter Kontrolle unterliegt und prinzipiell jede Entscheidung an sich ziehen bzw. jede außerhalb des Führungs­zentrums getroffene Entscheidung revidieren kann. 2. Die prinzipiell unbegrenzte Reichweite der Entscheidungen des politischen Systems. Und 3. Die prinzipiell unbegrenzte Intensität der Sanktionen.

Das schließt, wie Kielmansegg weiterhin ausführt, die Möglichkeit des Terrors ein. „Aber viel wichtiger ist im Grunde die unbegrenzte Verfügungsgewalt über die Gesamtheit der Lebenschancen des Einzelnen diesseits des blanken Terrors [...]."1)

1)  Peter Graf Kielmansegg: Krise der Totalitarismustheorie? (1974). In: Eckhard Jesse (Hg.): Totalitarismus im 20. Jahrhundert. Eine Bilanz der internationalen Forschung, Baden-Baden 1996, S. 286-304, hier 298 f.

Einen Überblick über die neuere Literatur geben u.a.: Hans Maier (Hg.): "Totalitarismus" und "Politische Religionen". Konzepte des Diktaturvergleichs, Paderborn 1996;
Ders./Michael Schäfer (Hrsg.): "Totalitarismus" und "Politische Religionen". Konzepte des Diktaturvergleichs, Bd. II, Paderborn 1997;
Alfons Söllner/Ralf Walkenhaus/Karin Wieland (Hrsg.): Totalitarismus. Eine Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts, Berlin 1997, Achim Siegel (Hrsg.): Totalitansmustheorien nach dem Ende des Kommunismus, Köln 1998; Klaus-Dietmar Henke (Hrsg.): Totalitarismus. Sechs Vorträge über Gehalt und Reichweite eines klassischen Konzepts der Diktaturforschung, Dresden 1999.

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Die Verfügungsgewalt über die Gesamtheit der Lebenschancen des Einzelnen ist gleichsam das innere Band, das die Beiträge des vorliegenden Sammelbandes miteinander verbindet. Sie sind keinem theoretischem Konzept verpflichtet, sondern beleuchten aus unterschiedlicher Perspektive einzelne Aspekte des Verhältnisses von Herrschaft und Alltag in der SED-Diktatur. Im Mittelpunkt steht hierbei die Ära Honecker, speziell die siebziger Jahre, die gemeinhin als das beste Jahrzehnt der DDR gelten.

Neben fachwissen­schaftlichen Analysen stehen persönliche Erfahrungsberichte, in manchen Beiträgen kommen beide Perspektiven zum Tragen. Die Beiträge beleuchten verschiedene Facetten des Themas, sie konzentrieren sich auf bestimmte Aspekte, behandeln aber längst nicht alle Bereiche, die man für eine umfassende Darstellung des Verhältnisses von Herrschaft und Alltag heranziehen müsste. Dies war weder möglich noch angestrebt, insofern vermag der vorliegende Sammelband keine abschließende Bilanz zu ziehen. Gleichwohl möchte er einen Anstoß für die politische Bildung geben, sich des Themas kritisch anzunehmen. Integration und Repression, Sozialpolitik und Staatssicherheit bedingten sich gegenseitig. Sie durchdrangen den Alltag auch dort, wo der Herrschafts­anspruch der Diktatur weniger sichtbar in Erscheinung trat.

Existent und jederzeit aktivierbar blieb der Herrschaftsanspruch der SED allemal. Dafür sorgten schon die vielen großen und kleinen Inhaber von Posten und Funktionen in den politischen Apparaten und gesellschaft­lichen Institutionen, die im Auftrag der Partei in den Betrieben und Schulen, in den Wohnbezirken und in den Freizeit- und Kultureinrichtungen etc. ein wachsames Auge auf die DDR-Bürger – "unsere Menschen", wie es im obrigkeitsstaatlichen Jargon der SED häufig hieß – warfen.

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Natürlich waren dem Durchgriff der Herrschenden gegenüber den Beherrschten in der DDR auch Grenzen gesetzt. Am Schlendrian der Basis und an der Unlust des Einzelnen, sich anzustrengen, konnten noch so vollmundig verkündete Initiativen der Parteiführung zur "Vervollkommnung des Sozialismus" scheitern. Mit Lippenbekenntnissen und äußerlichen Loyalitäts­bekundungen zum DDR-Staat versuchten viele Bürger, sich Freiräume zu sichern, ohne damit das Regime stabilisieren zu wollen. Kleine Arrangements zwischen den Machthabern und den Bürgern sicherten Ruhe und Ordnung im Land und fixierten den Status quo. Doch wenn die Führung ihr Machtmonopol bedroht sah, gab es keine privaten Nischen mehr, in die sich die Bürger zurück ziehen konnten. Eigensinn, Aufsässigkeit oder gar Dissidenz, öffentlich demonstriert, wurden dann schnell zu Staatsverbrechen. Über die Grenzen der Diktatur sollte man daher nicht spekulieren, ohne die historischen Quellen zu befragen.

Die folgenden Beiträge befassen sich mit der Allgegenwart der kommunistischen Parteidiktatur in der gesell­schaftlichen Wirklichkeit der DDR, mit ihren brutalen und subtilen Formen der Kontrolle und Bevor­mundung der Bevölkerung, mit der Bedenkenlosigkeit, mit der sich die Machthaber über menschen­rechtliche Standards hinwegsetzten und Andersdenkende verfolgten.

Auch die für das Regime kontra­produktiven Folgen von Planwirtschaft und politischer Entmündigung kommen zur Sprache. So verstanden es die von der Führung als Untertanen behandelten Bürger der DDR durchaus, dem Volkseigentum auch seine positiven Seiten abzugewinnen und sich in der Mangelgesellschaft einzurichten – allerdings anders als sich das die Machthaber vorstellten: die geringe Arbeits­produktivität und die weit verbreitete "institutionalisierte Verantwortungs­losigkeit" (Stefan Wolle) zählten zu den gravierenden Folgen der Parteidiktatur in der DDR.

Wollte man aus den verschiedenen Beiträgen ein allgemeines Resümee ziehen, so spricht vieles für die Definition Kielmanseggs. Die SED-Diktatur war sowohl ihrem ideologischen Herrschaftsanspruch nach als auch in der machttechnisch perfektionierten Gleichschaltung von Staat und Gesellschaft totalitär verfasst. Allerdings nahm ihr Sanktionspotential gegen den „inneren Feind" in demselben Maße ab, wie es galt, auf die Reaktionen des Westens und wirtschaftliche Interessen Rücksicht zu nehmen.

Mit einer inneren Liberalisierung aus freien Stücken hatte dies jedoch wenig zu tun. Es waren vielmehr äußere Zwänge, die eine Mäßigung des ideologischen Gestaltungs- und Verfolgungswillens bewirkten und somit auch gewisse Freiräume schufen. An der Grund­struktur der vollständigen Gleichschaltung und Entmündigung der Gesellschaft änderte sich jedoch nichts, lediglich die Methoden wandelten sich. Sie wurden subtiler und raffinierter, um die Illusion des äußeren Scheins – die heile Welt des Sozialismus – aufrechtzuerhalten.

Wer sich dem Austausch von angebotener Fürsorge gegen Gehorsam nicht verweigerte, konnte sich mit den Verhältnissen arrangieren, ohne mit ihnen in Konflikt zu geraten. Das durchaus erfolgreiche Konzept manipulativer Sozialsteuerung musste freilich versagen, als der wirtschaftliche Niedergang unübersehbar wurde und sich für die Bürger mit dem Wegfall der sowjetischen Interventions­drohung neue Handlungs­räume eröffneten.

Der hier vorgelegte Sammelband geht auf eine Tagung der Akademie für Politische Bildung Tutzing im Oktober 2000 zurück. Er enthält neben den für die Drucklegung teils erheblich erweiterten Referaten auch einige das Thema abrundende Beiträge, die eigens für diese Publikation verfasst und zusätzlich aufgenommen worden sind.

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