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Dr. Edmund Käbisch (2002) Die letzten Jahre der DDR Mein Alltag als evangelischer Pfarrer in Zwickau |
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Standortbestimmung
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Ich habe die ganzen 40 Jahre in der DDR gelebt. Diese Jahre in der sozialistischen Gesellschaft haben mich geprägt. Ich kann sie nicht wegwischen oder leugnen, denn sie gehören zu meinem Leben. Sie waren keine vertane Zeit, denn ich bemühte mich, für Menschen dazusein und Nächstenliebe zu üben. So will ich meine persönliche Geschichte, die nicht spektakulär war, erzählen. Sie war mein Alltag.
Meine Biografie möchte ich kurz schildern. Sie macht mein Denken und Handeln verständlicher. 1944 wurde ich in Waldenburg (Schlesien) geboren. Im Sommer 1946 wurde meine Familie vertrieben, und wir mussten in einem Treck, in einem Viehwaggon Schlesien verlassen. Später erfuhr ich aus den Erzählungen der Eltern auch von den Gräueltaten, Plünderungen und Vergewaltigungen, die zuerst von den Russen und später von den Polen begangen wurden, so wie es immer in den Wirren der Kriege und in der Nachkriegszeit üblich ist. Jedenfalls stimmten die Erlebnisberichte nicht mit der offiziellen Darstellung überein. Damals musste meine Familie mehrere Wochen im Lager bei Elsterberg hinter Stacheldraht hausen. Dann wurden wir als Flüchtlinge in das Dorf Gelenau bei Kamenz transportiert und dort auf einem Bauerngut untergebracht.
In Gelenau habe ich meine Kindheit verlebt, die von Armut, Not und Diskriminierung gekennzeichnet war. Ich musste am eigenen Leibe erleben, was Hunger heißt. Meine Eltern kämpften ums Überleben. Mein Vater war ein sogenannter "Zwölfender", der 1932 in das 100.000-Mann-Heer der Reichswehr eintrat und im Dritten Reich Soldaten ausbildete. So brauchte er nicht an die Front und geriet auch nicht in Gefangenschaft.
In Gelenau bekam er auf Grund seiner Vergangenheit als Berufssoldat weder eine Arbeit noch eine Anstellung. Er machte sich selbstständig und fertigte Strohschuhe an, so wie er es in seiner Kindheit von seinen Eltern gelernt hatte. Warmes Schuhwerk war eine begehrte Handelsware. Daraus entwickelte sich eine Schusterwerkstatt. Später hat er eine Frostschutzmatten- und Fußabtreterfabrik gegründet und Arbeiter angestellt. Er wurde dadurch zum Kapitalisten. Zum Schluss hat er noch eine Betonfirma aufgebaut. Diese Kindheit hat Spuren hinterlassen. Es sind zwei Urerlebnisse:
Ich wurde immer wieder als Flüchtlingskind bezeichnet und behandelt. Ich war ein Fremder, ein Ausgestoßener und gehörte oft beim Spielen nicht dazu. Das tat weh und sitzt immer noch tief! Und ich wurde von der roten Klassenlehrerin als Kapitalistensohn bezeichnet und vor der Klasse bloßgestellt. Als Kapitalistensohn durfte ich z. B. nicht an der Schulspeisung teilnehmen, obwohl wir zuhause oft nur Brot und Sirup auf dem Tisch hatten und Fleisch nur von der Freibank kaufen konnten. Diese Ausgrenzung und Diskriminierung hat mich gekränkt.
Vor dem Hintergrund dieser frühen Erfahrungen habe ich bis heute keine Berührungsängste vor Menschen, die ausgestoßen, notleidend, schwach, benachteiligt, diskriminiert, asozial, behindert sind. Ich kann mich in sie emotional hineinversetzen und für sie Verständnis aufbringen. Ich habe versucht, solche Menschen in die Kirchengemeinde aufzunehmen, obwohl dies nicht zu meinen offiziellen Pflichten gehörte und es angeblich dem Image der Kirche schadete.
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Ich bin dafür weder berufen noch legitimiert worden. Ich habe mir die Menschen nicht ausgesucht, sondern sie standen vor der Tür der sozialistischen Gesellschaft und der Kirche. Ich habe mir das Recht genommen, für sie eine Art Anwalt zu sein und mich ihrer Alltagsprobleme anzunehmen. Die Kirchenmitgliedschaft spielte dabei keine Rolle, sondern meine Gewissheit, dass Jesus es ähnlich getan hätte. Dieser Glaube hat mich angespornt, und ich habe mich auf Gottes Wort und Verheißung eingelassen. Das Handeln und nicht das Reden war mir wichtig. Ich sah meine zusätzliche Arbeit als ein stellvertretendes Handeln der Kirche an.
Aber ich muss gestehen, dass ich dabei oft großes Herzklopfen hatte und unsicher war. Ich habe ein Stück evangelische Freiheit gelebt. Im bürgerlichen Sinne zeigte ich Zivilcourage, aber aus der Sicht des christlichen Glaubens nenne ich es Gehorsam. Ich habe die Freiräume - "Narrenfreiheiten" -, die andere Berufssparten nicht hatten, genutzt. Dadurch bin ich zum Störenfried und Unruhestifter sowohl im Staat als auch in der Institution Kirche geworden. Ich passte mit meiner Arbeit nicht in das Klischee des Pfarrers. Die Arbeit wurde zwar von der Amtskirche geduldet, aber sie war im Prinzip nicht gewollt. Die politischen Umstände brachten es mit sich, dass nach außen hin eine Geschlossenheit und Einmütigkeit dargestellt wurde, die aber nur Schein war. Die eigenen Leute sind mit staatlicher Empfehlung gegen mich heimlich vorgegangen.
Ich meine, dass ich meinen Part in der Geschichte Zwickaus gespielt habe, obwohl ich heute manchmal denke, zu wenig getan zu haben. Ich sah mich nie als Oppositioneller und Gegner der DDR, sondern ich betrachte mich als protestierenden Christen. Ein Protestant sollte ein Mensch sein, der für seinen Glauben öffentlich Zeugnis ablegt und für sein Bekenntnis auch Konsequenzen in Kauf nimmt, so wie es die Vorfahren während der Reformation oder die Märtyrer in der ersten Christenheit taten. Für mich ist Jesus das Vorbild eines Protestanten.
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Von fünf Arbeitsfeldern werde ich berichten, die ich neben den regulären pfarramtlichen Pflichten übernahm. Die Darstellung erfolgt nicht unter dem Blickwinkel eines Historikers, sondern es sind alltägliche Ereignisse, die mir wichtig sind. An ihnen werden mein Glaube und meine Theologie erkennbar. Die Veränderungen, die zum Sturz der DDR führten, begannen nicht erst im Herbst 1989, sondern viel früher. Eine Grobeinteilung, die hilfreich für das eigene Geschichts-verständnis ist und die auch hinter dieser Darstellung steht, möchte ich für die achtziger Jahre vornehmen.
Es sind drei Etappen:1. Die Jahre 1980 bis 1987 waren die Phase des Aufbegehrens und der Protestaktionen (Friedensdekade, Aktion "Schwerter zu Pflugscharen", Arbeitseinsätze). Der Einzelne entdeckte, dass er etwas bewegen konnte. Die Gleichgesinnten fanden sich und bekamen Mut. Es bildeten sich Basisgruppen und man solidarisierte sich. Diese Leute in den Basisgruppen waren für den Staat gefährlich und wurden von der Stasi geheimdienstlich bearbeitet entweder in Operativen Vorgängen (OV) oder in Operativen Personenkontrollen (OPK).1)
Die allseitige und unsichtbare Beeinflussung schwebte wie ein Damoklesschwert über meinem Wirken. Für die Stasi war ich der OV "Kontrahent": Jedes Telefonat wurde abgehört, die Briefe geöffnet. Inoffizielle Mitarbeiter (IM) drangen in meine Privatsphäre, auch meine Kinder, Eltern und Geschwister wurden geheimdienstlich bearbeitet.
1) In meinem Bericht werden die OV/OPK und die IM mit erwähnt, damit erkennbar wird, wie die Stasi versuchte, überall konspirativ einzudringen, Informationen zu sammeln und die Geschehnisse zu beeinflussen. Dabei sind einige zu Verrätern geworden. Anscheinend erfasste die Stasi jeden, der sich in die von mir angebotene Arbeit einbrachte und engagierte.
Sogar der eigene Kirchenvorstand ist von der Stasi gegen mich gesteuert worden. Gegen meine Frau ist die OPK "Versucher" angelegt worden. Die Stasi verfolgte das Ziel, einen Ehebruch zu organisieren, der öffentlich gemacht werden sollte, um die Landeskirche zu nötigen, mich von Zwickau wegzuversetzen.
Meine Arbeit war eine Gratwanderung, ein nicht einstudierter Balanceakt auf einem Artistenseil ohne Netz.
2. In den Jahren 1987 bis 1989 erfolgte in Zwickau eine Bündelung und Vernetzung der einzelnen Gruppen zum Konziliaren Prozess unter dem Thema: "Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung". Erwin Killat (OV "Konzil") hat diesen Gedanken nach Zwickau getragen und wurde zum "Vater" dieser Bewegung. Die Unmündigkeit wurde abgestreift. Es war ein Befreiungsvorgang. Es wurden Strukturen geschaffen, um die Gedanken des Konziliaren Prozesses unter die Bevölkerung zu bringen. Eine DDR-weite Solidarisierung fand statt. Es begann eine Bewegung vom Konziliaren Prozess zu den Friedensgottesdiensten bis hin zu den Demonstrationen auf der Straße.
3. Ab Herbst 1989 begann die Phase der Aufspringer und Trittbrettfahrer. Für mich waren sie die DDR-Angepassten, die geschwiegen, devot alles mitgemacht und nichts riskiert hatten, aber jetzt nach vorn und nach oben strebten. Sie gehören zur Kategorie der Wendehälse, die in jeder Gesellschaft und auch in der Kirche zu finden sind. Nach ihren heutigen Erzählungen gehörten sie mit zu den angeblich 16 Millionen Widerstandskämpfern der DDR. Aber sie sind es, die den Abstoßungsprozess der Basisgruppen unter dem Deckmantel der jetzigen Demokratie betrieben und umgesetzt haben. Oder pointierter ausgedrückt: Sie brachten das Werk der Polarisierung, Differenzierung und Zersetzung, das von der Stasi begonnen worden war, zu Ende. Die Basisgruppen sind aus der Kirche gedrängt worden.
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Käbisch, Edmund, Dr. mit Gestattung für detopia -- Die letzten Jahre der DDR Mein Alltag als evangelischer Pfarrer in Zwickau