Clemens Vollnhals
|
2002 450 Seiten detopia: |
Inhalt Vorwort von Heinrich Oberreuter (5)
Einleitung von VolInhals und Weber (9)
(Verlag) - Seit dem Ende der DDR kann die Zeitgeschichtsforschung durch die Auswertung der nunmehr frei zugänglichen Quellen ein umfassendes Bild des Herrschaftsapparates und der Herrschaftspraxis des SED-Regimes zeichnen. Das Ergebnis überrascht nicht — und ist dennoch zum Teil Atem beraubend, vor allem dann, wenn die Schicksale der politisch Verfolgten, der Dissidenten und Abweichler, der Andersdenkenden und Regimekritiker, aber auch der vielen normalen Bürger aufgezeigt werden — jenen, die sich dem vormundschaftlichen Staat nicht beugen wollten. Natürlich traf die Parteidiktatur im alltäglichen Leben auch auf den gesellschaftlichen Eigensinn, auf Bürger, die sich deren Zumutungen entzogen und ihren persönlichen Lebensbereich gegenüber den Machthabern abzugrenzen versuchten. |
|
Vorwort von Heinrich Oberreuter
5-7
Erinnerung fällt nicht immer leicht. Verdrängung, Verklärung und Reaktivierung überlagern des öfteren historische Tatsachen. Schon nach dem Ende der ersten Diktatur des vergangenen Jahrhunderts haben die Deutschen – bei aller Erinnerungsarbeit und „Bewältigung" – diese Erfahrung gemacht. Die Frontgeneration z.B. neigte dazu, ihre traumatischen Erfahrungen durch die Anrufung der – trotz allem – auch männerbündische Heiterkeit erregenden Erlebnisse in Schützengraben und Gefangenenlagern in den Hintergrund treten zu lassen.
Im Volk wurde der „deutschen Katastrophe" (Meinecke) vielfach Autobahnbau und Kriminalitätsbekämpfung des NS-Regimes beigesellt. Niemand lebt offenbar gern in Zeiten exklusiver trostloser Erbärmlichkeiten. Auch wenn die Dimensionen ungleich andere sind – die Mechanismen des Entfliehens präziser Erinnerung sind nach der zweiten Diktatur ganz ähnlich. Es verklärt sich, was sich positiv interpretieren lässt, und es verblasst das Erbärmliche.
Natürlich ist diese Erscheinung kritikbedürftig. Sie motiviert nebenbei historische Forschung und Aufklärung. Da aber über die Periode von 1933 bis 1989 die deutsche Gesellschaft insgesamt im Glashaus sitzt, gibt es für niemanden ein Recht, mit Steinen zu werfen. Dennoch besteht eine Pflicht zu wahrheitsgemäßer Darstellung der Geschichte.
Die gegenseitige Wahrnehmung der Deutschen kann man nicht vom Ende der Teilung her beurteilen. Besonders im Westen waren die Kenntnisse über die politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Alltags- und Lebensbedingungen im Osten verschwommen. Umgekehrt galt, dass das Fernsehbild von der Wirklichkeit mit der realen Wirklichkeit des Westens keineswegs übereinstimmte.
Gerade den Zusammenhang von Herrschaft und Alltag aufzuklären, verlangte intellektuelle Operationen, für welche weder im Allgemeinen die Vorbildung und im Besonderen das Interesse zu allen Zeiten bestand. Am präzisesten war der Wissensstand sicher zu Beginn der Teilung, als Gründungsintentionen und Zielvorgaben beider Systeme evident erschienen. Die Zuweisung der BRD zum Lager des Klassenfeindes entfaltete im Osten keine Glaubwürdigkeit. Im Westen galt die DDR bis in die sechziger Jahre unzweifelhaft als Diktatur mit totalitärem Anspruch, im Kern gekennzeichnet durch das Weltanschauungs- und Politikmonopol der Partei, woraus sich die Alltagspraxis der Herrschaft ableitete.
Doch schon Mitte der sechziger Jahre nahm jedoch im Westen die Neigung zu, von den rechtstaats- und freiheitswidrigen Konstruktionsprinzipien der DDR und der ihnen folgenden Praxis zu abstrahieren. Stabilisierung galt als Voraussetzung für Liberalisierung – eine bitter enttäuschte Hoffnung. Währenddessen nahm im Osten nach dem Mauerbau die Anpassung zu, obgleich die offenkundige Repression nachließ. Die Instrumente der Diktatur wurden differenzierter, griffen aber nach wie vor nachhaltig in die Lebenschancen des Einzelnen ein.
Den Bürgern blieb wenig übrig, als sich im Grunde alltäglich – internalisiert – auf die Logik des Faktischen einzulassen: Freiheit als Einsicht in die Notwendigkeiten. Joachim Gauck spricht von einer Selbstentmächtigung durch höhere Einsicht, beruhend auf Ohnmacht und Ausweglosigkeit durch die historische Situation. Selektive Wahrnehmung griff um sich. Manches wollte man gar nicht so genau wissen – ein Phänomen, das nach Hannah Arendt typisch für das Leben unter Diktaturen ist.
In selektiver Erinnerung setzt sich diese Haltung bis heute fort – und in der Befürchtung, der geschichtliche Wandel und die Geltung neuer, konträrer Legitimitätsideen griffen nach der eigenen Biografie – ein Irrtum, der in letzter Konsequenz eine nachträgliche Identifikation von Person und System herstellen würde, die es damals im Alltag für die allermeisten nicht gegeben hatte.
Denn sich in unentrinnbare Strukturen nolens volens einzupassen kann keineswegs mit einer solchen Identifikation gleichgesetzt werden. Das Leben ist unter den gegebenen Bedingungen zu leben. Sich zu arrangieren oder sich in alltäglichen Widerständigkeiten zu engagieren ist eine ganz unechte Alternative. Sie als alltägliche Lebensweise zu unterstellen oder gar einzufordern, bezeugt nichts anderes als Unverstand. Wo im Alltag Diktatur herrscht, müssen die meisten Biografien zwangsläufig gebrochen sein. Über Unvermeidliches müsste man sich nicht genieren. Erst recht ist es kein Anlass und keine Rechtfertigung für Vorwürfe von außen. Entsprechende Vorwürfe bezeugten nur die Fortexistenz der über Jahrzehnte in die westdeutsche Gesellschaft eingesunkenen Desinformation über Alltag und Herrschaft in der DDR.
7
#
Nolens (aut) volens
„Nicht wollend oder wollend“ – Im Sinne von „gewollt oder ungewollt“, „unfreiwillig“, „wohl oder übel“, „notgedrungen“, „zwangsläufig“ verwendet.
Clemens Vollnhals & Jürgen Weber - 2002