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   9. Lovejoys Inseln  

Man kann sich eine Insel vorstellen, die eine zukünftige Zeit beinhaltet; eine 
Zeit, die nicht ganz in simultaner Beziehung zur übrigen Welt steht...
Loren Eiseley


Die Welt ist zuviel für uns; spät und früh, gebend und nehmend lassen wir unsere Kräfte 
ungenutzt: Wenig nur erblicken wir in der Natur, das unser wäre... - William Wordsworth 

185-214

Mit <Welt> meinte Wordsworth in seiner berühmten Klage natürlich die menschliche Sphäre, die schon 1806 ihre Bürger zu umschließen, einzu­schließen und völlig zu absorbieren schien. Mit <Natur> meinte er den Rest des Planeten.

Nach fast zwei Jahrhunderten des Nehmens und Gebens müssen wir eine neue Klage anstimmen:

Wenig von dem, was wir in der Natur erblicken, ist nicht unser. Die Welt ist zuviel für uns; auf eine Art, die über das hinausgeht, was Wordsworth meinte. Am Nordpol, über dem Pazifik und über dem antarktischen Eis ist die Atmosphäre mit Kohlenstoff, Schwefel, Stickstoff, Phosphor und Chlor belastet — durch uns. Es sind jetzt Löcher im Himmel, und das Sonnenlicht, das durch sie scheint, ist nicht mehr so gutartig, wie es zu Wordsworth' Zeiten war. Dieses harte neue Licht ist ebenfalls unser Werk. Das Wetter selbst droht, sich zu ändern, und wenn es sich ändert, wird eine neue Abfolge der Jahreszeiten von uns verursacht worden sein.

Sogar die grüne Biosphäre liegt inzwischen weitgehend in unserer Hand, ist Teil unserer Welt des Nehmens und Gebens. 

Ökologen schätzen, daß die Pflanzen aller Kontinente durch Photosynthese jährlich mehr als hundert Milliarden Tonnen organische Materie produzieren. Diese bezeichnen sie als »irdische Netto-Primärproduktion« und legen sie bei ihrer globalen Buchführung zugrunde. Einer Studie des Ökologen Peter Vitousek und seiner Kollegen an der Stanford University zufolge macht das, was die Menschen jährlich entweder selbst essen oder an ihre Rinder, Schafe, Ziegen und Schweine verfüttern oder für Nutz- und Feuerholz niederschlagen, jährlich etwa vier Milliarden Tonnen dieser Primärproduktion aus.

Vier Milliarden Tonnen von hundert entsprechen vier Prozent. Das allein ließe sich noch rechtfertigen, da wir die dominierende Rasse auf diesem Planeten sind. Aber wenn wir die Biomasse hinzuzählen, die wir verbrennen, wenn wir das Land bestellen, und die wir wegwerfen, wenn wir Korn dreschen und Baumwolle zupfen, wenn wir zudem die brachliegenden Felder in Betracht ziehen, dann kommen wir Vitousek und seinen Kollegen zufolge auf eine Summe von dreißig Milliarden Tonnen Netto-Primärproduktion, die allein im Rahmen des Lebens und Wirtschaftens der Menschen anfallen. Dreißig Prozent der Gesamtproduktion also.

Wenn wir den Betrag an organischer Materie oder Biomasse mitrechnen, die der Planet preisgibt, wenn wir jedes Jahr mehr und mehr Land für Felder und Weiden, Hausbauplätze, Parkplätze, Dorf- und Stadtstraßen hinzunehmen, beträgt unser Anteil (zuzüglich des ganzen Kohlenstoffs, den wir verbrauchen und an dessen Neuschaffung wir die Biosphäre hindern) jährlich annähernd vierzig Milliarden Tonnen der Netto-Primärproduktion. Vierzig Prozent.

Demographen rechnen mit einer Verdoppelung der menschlichen Bevölkerung in den nächsten hundert Jahren, von mehr als fünf Milliarden heute auf zehn Milliarden im Jahre 2100. Wie der Ökologe Paul Ehrlich bemerkt, »impliziert das den Glauben, daß unsere Spezies ohne Gefährdung achtzig Prozent der Netto-Primärproduktion verbrauchen kann«.

Der Geschäftsmann in uns mag sich fragen, wie er an die restlichen zwanzig Prozent kommen kann. Aber wir sollten entsetzt sein. Die meisten der Veränderungen, die wir in der natürlichen Ordnung vorgenommen haben, haben sich seit der Klage Wordsworth' 1806 vollzogen. Aus unserer Sicht ist das eine lange Zeit, aus der Sicht des Planeten ist seitdem kaum Zeit vergangen. Die meisten dieser Veränderungen waren zudem kumulativ, und ob sie nun zuerst in der Luft, im Meer oder auf dem Land auftraten, sie alle ändern die Bedingungen für das Leben auf der Erde.

Solche plötzlichen globalen Veränderungen betreffen die Grundlinie, die äußerste Grundlinie, die durch die geologischen Schichten unter unseren Füßen repräsentiert wird. Diese Felsschichten sind voller fossiler Überreste von Arten, die nach kurzen Streßperioden ausstarben. In der Wissenschaft der Veränderung könnte dies das einzige unveränderliche Gesetz sein: Alle globalen Veränderungen führen zur Auslöschung von Arten. 

* (d-2015:)   P.Ehrlich bei detopia 

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Am Ende der letzten Eiszeit zum Beispiel, als die großen Eisschollen barsten und schmolzen, stieg der Meeresspiegel um über hundert Meter. Halbinseln auf der ganzen Erde gingen unter. Zahlreiche Berge wurden von ihren Kontinenten getrennt, und Millionen von Tieren und Pflanzen lebten plötzlich auf brandneuen Inseln.

Ökologen haben diese Inseln studiert und herausgefunden, daß Britannien der Küste Europas entstammt, Borneo und Java waren Teile Südostasiens, Tasmanien gehörte zu Australien, Fernando Po war afrikanisches Küstengebiet.

Am Anfang glich jede dieser Inseln einer Arche Noah. Ihre Passagierliste verzeichnete das mehr oder weniger vollständige Inventar der Flora und Fauna der Kontinente, denen sie entstammten, wie in den Anweisungen Gottes an Noah: »Von allem, was lebt, von allem Wesen aus Fleisch, führe je zwei in die Arche, damit sie mit dir am Leben bleiben...«

Dann aber begannen alle Inseln, Passagiere zu verlieren; nicht nur Individuen, sondern ganze Arten. Die Insel Salawati, die von Papua-Neuguinea stammt, verlor die roten Paradiesvögel. Batanta in der Nähe Salawatis verlor den Königsparadiesvogel und den zwölffedrigen Paradiesvogel, die Baumkänguruhs und Wallabys. Auf den kleinsten Inseln, die weniger als fünfzig Quadratkilometer groß sind, waren die Aussterberaten so hoch, daß zehntausend Jahre nach ihrer Entstehung alle isolierten Populationen verschwunden waren.

Eine plötzliche Veränderung in der Kryosphäre und in der Hydrosphäre führte zu lokalen Ausmerzungen in der Biosphäre. Und dabei handelte es sich um eine Veränderung, die wir eigentlich für vorteilhaft halten: das Ende der Eiszeit.

Heute nimmt die Anzahl der Inseln auf dem Planeten weitaus schneller zu, als sie es am Ende der Eiszeiten tat. Das liegt nicht an einem Ansteigen des Meerspiegels, denn der steigt so sehr noch nicht. Die Ursache ist die steigende Flut der Menschen. Auf dem gesamten Planeten nimmt die Biosphäre immer mehr das Aussehen eines Schachbretts an. Schauen Sie aus einem Flugzeugfenster. Es gibt Ausnahmen, aber in der Regel ist die Landschaft um so zersplitterter, je länger sie von Menschen bewohnt wird.

In den Vereinigten Staaten wurde das Schachbrett zuerst im Osten gezogen und dann nach Westen ausgeweitet. Nehmen Sie zum Beispiel Cadiz in Green County, Wisconsin.

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Vier von dem Botaniker John Curtis gezeichnete Karten zeigen die Waldregionen von Cadiz in den Jahren 1831, 1882, 1902 und 1950. Anfangs war Green County tatsächlich durchweg grün. Dann erreichten die Pioniere Wisconsin. Innerhalb eines einzigen Jahrhunderts machte die Zivilisation daraus einen Archipel schrumpfender Inseln in einem etwas mehr als fünfzehn Quadratkilometer großen Stadtbezirk.

 

 

Heute widmen sich die letzten Pioniere in den Vereinigten Staaten eifrig den noch verbliebenen Resten der Wildnis. Die Fluglinie von San Francisco nach Seattle, Washington folgt der Kaskadenkette, einer der sehenswertesten und abgelegendsten Gegenden Nordamerikas. Selbst in diesen zerklüfteten Bergen, die in Wirklichkeit Reihen junger Vulkane sind — zum Teil nur wenige Kilometer vom rauchenden Krater des Mount St. Helens entfernt —, kann man die groben Linien des allgegenwärtigen Schachbretts erkennen. In Tälern und auf Höhenrücken stehen vereinzelt Häuser. Wälder sind durch Straßen halbiert und gedrittelt. Die Biosphäre ist in Tausende bizarr geformter Fragmente verschiedener Schattierungen zersplittert.

 

Diese Fragmente sind in demselben Sinn Inseln, wie der Hyde Park und der Central Park Inseln sind. Sie sind rings von Menschen umgebene Reststücke der Biosphäre. Während die Menschenflut im nächsten Jahrhundert ansteigt und wir einem achtzigprozentigen Anteil an der Primärproduktion entgegensteuern, wird die Biosphäre nur mehr und mehr zerlegt. Obwohl wir uns in zunehmendem Maß in Städten zusammendrängen und uns verstärkt bemühen, mehr Nahrung pro Hektar Land zu erzeugen, zersplittern wir die Biosphäre in eine Milchstraße aus Inseln.

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Allein dieser Trend, diese einzelne globale Veränderung, führt zu einem Kollisionskurs zwischen den Planungen der Demographen und denen der Ökologen. Die Aussichten für die ganze menschliche Zukunft sind trüb und zweifelhaft. Paul Ehrlich schreibt, eine Welt mit zehn Milliarden Menschen ist »für Ökologen, die bereits die tödlichen Verflechtungen des heutigen Levels der menschlichen Aktivitäten sehen, eine unsinnige Vorstellung«.

In den sechziger Jahren haben E.O. Wilson und Robert MacArthur, zwei mathematisch orientierte Ökologen, neue Formeln ausgearbeitet, um zu berechnen, wie viele Arten auf einer Insel überleben können, ausgehend von ihrer Größe und Entfernung vom Festland. Das Konzept einer Inselbio­geographie revolutionierte die Ökologie. Es war eine in weiten Bereichen anwendbare Theorie. Sie traf für jede Insel zu, real oder im übertragenen Sinn. Die Hänge der Korallenriffe sind Unterwasserinseln; sie sind Inseln zum Beispiel für den schwarzen Sägebarsch, einen Fisch, der nur dort und nicht im offenen Meer außerhalb der Korallenriffe leben kann. Berggipfel sind Inseln im Luftmeer. Seen sind Inseln für Fische. Die Vertiefung im Objektträger eines Mikroskops ist eine Insel für Amöben, Süßwasserpolypen und Pantoffeltierchen. Die hohle Glaskugel, die Öko-Sphäre, ist eine Insel für die roten Garnelen (eine besondere Form von Insel, ohne Eingang und ohne Ausgang).

Die Formeln Wilsons und MacArthurs treffen auf all diese Inseln zu, weil überall, wo ein Stück der Biosphäre isoliert ist, dasselbe geschieht; sei es durch Ansteigen der Flut oder andere natürlich oder künstlich erzeugte Katastrophen.* Das ist einfach eine Frage der Geographie, denn auf dem Festland kann eine Population, wenn sie durch ein Feuer oder eine Dürre ausgelöscht wurde, ersetzt werden. Auf einer Insel aber gibt es keine Nachbarn, und die Anzahl der Immigranten wird immer begrenzt bleiben. Deshalb übersteigt die Rate der Auslöschung stets diejenige der Auffüllung.**

Je kleiner die Insel ist und je weiter vom Festland entfernt, desto größer ist das Ungleichgewicht zwischen der Rate der Auslöschung und der Auffüllung. 

* Ein Fels, der aus einer Eisdecke hervorragt, ist eine Art Insel — ein Nunatak. Ein grüner Hügel in einem See aus erstarrter Lava ist eine andere Art Insel — eine Kipuka. Auch diese Inseln werden nach ihrem Entstehen wie die Arche Noah von zahlreichen Lebewesen bewohnt.

** Einmal pro Jahrhundert mag eine Immigrantin auf einem Stück Treibholz ans Ufer eines abgelegenen Eilands getrieben werden, aber sie muß schon schwanger sein, damit es ins Gewicht fällt.

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Das Ergebnis ist eine Verminderung der Artenvielfalt: der Inseleffekt. Die Überlegungen Wilsons und MacArthurs machen klar, daß das Schicksal eines großen Teils der Biosphäre in den nächsten hundert Jahren von diesem Inseleffekt abhängt, ähnlich, wie das Schicksal der Erdatmosphäre weitgehend vom Treibhauseffekt abhängt. Ökologen haben versucht, die Theorie der Inselbiogeographie anhand von Fallstudien zu verfeinern. Dafür waren alte Landbrückeninseln wie England und Irland oder Batanta und Salawati weniger geeignet, weil sie vor sehr langer Zeit entstanden sind. Die Ökologen brauchten einen Testfall: ein riesenhaftes, nagelneues Archipel, das sie vom Augenblick der Isolation an beobachten konnten.

 

In der Weihnachtszeit des Jahres 1976 dachten Thomas Lovejoy und einige andere Ökologen über dieses Problem nach. Lovejoy hatte für seine Doktor­arbeit zwanzigtausend Vögel des Amazonasgebiets bestimmt. Im Geiste sah er den brasilianischen Regenwald vor sich. Die Vorboten der Zivilisation hatten den Amazonas eben erreicht, und Lovejoy konnte neue Farmen und Rodungen entlang neuer Straßen sehen, und die wenigen Waldstücke, die inmitten der schlammigen Felder stehengeblieben waren.

In Brasilien gab es ein Gesetz, demzufolge ein Grundeigentümer nicht seinen gesamten Regenwaldbesitz fällen durfte, sondern die Hälfte des Waldes mußte erhalten bleiben. In der Praxis wurde dieses Gesetz jedoch oft übertreten. Jedesmal, wenn Land verkauft wurde, durfte der übriggebliebene Wald wiederum halbiert werden. Zwei Rancher konnten untereinander zwei Waldstücke so lange verkaufen, bis kein Wald mehr übrig war.

Wie dem auch sei, durch die sogenannte Fünfzig-Prozent-Regel war eine Flickenlandschaft entstanden, wo immer Farmer und Siedler am Amazonas seßhaft wurden. Fuhr man die schmutzige Straße entlang, erblickte man überall schäbiges Farmland, auf dem kümmerliche Überreste des Regenwalds tropische Inseln bildeten.

Lovejoy flog nach Brasilien und begann zu verhandeln. Er spricht fließend portugiesisch und ist zudem überaus diplomatisch. Außerdem hatte das großartige Projekt, das er beschrieb, vom Standpunkt der brasilianischen Behörden aus einen unmittelbaren Wert. Sie hatten nämlich im Prinzip schon beschlossen, Parks und Naturreservate im Amazonasgebiet zu sichern. Aber es war nicht leicht zu entscheiden, wo die Grenzen dieser künftigen Parks zu ziehen waren. Der Regenwaldteppich war zwar noch ungeschoren, aber er franste an den Kanten schon aus. Es gab keine Landmarken, an denen man den Zirkel hätte ansetzen können — keine Yosemites oder Grand Canyons. Und welche Größe sollten die Reservate haben? Ein wie großes Stück Regenwald beanspruchte zum Beispiel ein Jaguar?

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Das Amazonasgebiet ist Teil eines grünen Gürtels um den Äquator, der sich von Afrika bis Südamerika und Südostasien erstreckt. Er folgt der Zone des kräftigsten Sonnenscheins um die Erde, wo die Verdunstungs- und Niederschlagsraten am höchsten sind. Dieser Gürtel bedeckt nur zehn Prozent des Landes der Erde, beherbergt aber mehr als die Hälfte aller tierischen und pflanzlichen Arten.

Verglichen mit dem Regenwald ist die übrige Biosphäre verarmt. Für den US-Bundesstaat Pennsylvania zum Beispiel haben Vogelbeobachter eine Liste mit hundertfünfundachtzig verschiedenen Vogelarten aufgestellt, die in den Teilen dieses Landes brüten. Im Staat Parä in Brasilien gibt es eine Stadt namens Belem. Sie liegt am Rande des Regenwaldes in der Nähe der Mündung des Amazonas. Allein innerhalb der Stadtgrenzen Belems wurden mehr als vierhundertfünfundzwanzig verschiedene Vogelarten ausgemacht.

Im nördlichen New England — Vermont, New Hampshire, Maine — kann ein Wanderer einen ganzen Wald durchstreifen, ohne mehr als zwei oder drei Arten Immergrün zu sehen. In einem pennsylvanischen Wald würde er einem Dutzend verschiedener Baumarten begegnen. In der Umgebung Belems, in einem 4,4 Hektar großen Teil des Mocambo-Waldes, hat ein Botaniker zweihundertfünfundneunzig Baumarten gezählt. Ein anderer Botaniker fand auf dem Waldboden das Laub von mehr als fünfzig Baumarten in einem Bereich von nur einem halben Quadratmeter.

Diese Proben lassen eine Artenvielfalt vermuten, die niemand kennt. Biologen glauben, daß im Regenwald mehr Lebensformen zu entdecken sind, als die Forscher bisher überall auf der Welt katalogisiert haben. Zur Zeit haben Biologen etwa eineinhalb Millionen Arten benannt. Die Wissenschaftler, die sich mit der exotischen Flora und Fauna der Regenwälder befassen, insbesondere mit dem großen Reichtum an Käfern, Motten, Schmetterlingen und anderen Insekten, die das Laubdach in dreißig Metern Höhe und mehr beleben, glauben, daß es in den Regenwäldern mehr als dreißig Millionen Arten geben könnte. Wilson sagt, jeder Biologe solle wenigstens einmal in den tropischen Regenwald gehen, und sei es auch nur zu einer Pilgerfahrt. Lovejoy nennt die Regenwälder der Welt »die größte Lebensäußerung des Planeten«.

Regenwälder sind wie Kohlendioxid. Sie geben uns einen großen Hebel in die Hände, der uns besser nicht zur Verfügung stünde. Wir können die Erdtemperatur durch eine verhältnismäßig kleine Menge Kohlendioxid drastisch verändern. Was die Regenwälder betrifft, können wir durch die Rodung eines verhältnismäßig kleinen Gebiets die Anzahl der Arten auf der Erde drastisch reduzieren.

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Lovejoys Archipel wurde zum größten geplanten Experiment in der Geschichte der Ökologie. Es wird etwas nördlich der am Amazonas gelegenen Stadt Manaus durchgeführt (»zwei Stunden und viele tausend Schlaglöcher«, wie die Projektleiter sagen), wo der Wald bis vor kurzem noch jungfräulich war, die Heimat von Jaguaren, Pumas, Tapiren und Schopfadlern. Fliegt man heute in einem kleinen Flugzeug über diese Gegend hinweg, erblickt man Tausende von Quadratkilometern geschlagenen und abgebrannten, in Rinderweideh verwandelten Waldes. Hier und dort ragen übriggebliebene Baumgruppen aus den sumpfigen Feldern hervor, und einige dieser Gruppen sind zu säuberlichen Quadraten und Rechtecken gestutzt. Das sind Lovejoys Inseln, und sie treten so scharf hervor, daß einmal ein Naturforscher, der sich im Flugzeug einem solchen Gehölz näherte, äußerte: »Es sieht wie ein auf einen schmutzigen Boden geworfenes zerschlissenes Teppichstück aus.« Heute umfaßt das Archipel des Ökologen zehn Inseln in der Größe von einem bis hundert Hektar. Eines Tages werden es fast dreißig Inseln sein, einschließlich eines Riesengebiets von zehntausend Hektar Größe.

Das »Projeto Lovejoy«, wie sein Experiment von der Presse Brasiliens genannt wird, steht noch am Anfang. Das Archipel muß jahrhundertelang von Hunderten von Ökologen und Freiwilligen beobachtet werden, bis die Folgen des Inseleffekts vollständig sichtbar werden. Und doch stellte sich schon in den achtziger Jahren, als die erste der Inseln Lovejoys aus dem Regenwald isoliert wurde, eine Unzahl von Effekten heraus.

Als erstes kamen Vögel herbeigeflogen. Tropenökologen können Vögel zählen, indem sie vor Tagesanbruch über den Waldlichtungen unsichtbare Netze anbringen, sogenannte Nebelnetze. In isolierten Wäldern verdoppelte sich die Zahl der Vögel, die sich von den Ökologen in Nebelnetzen fangen ließen. Wir haben es mit einem Flüchtlingseffekt zu tun. Die Vögel werden von ihren gewohnten Orten vertrieben und fallen auf der Insel ein, als sei sie eine Arche.

Sechs Monate später bricht die Flüchtlingsbevölkerung zusammen, und mit den Bäumen an den Rändern der Wälder passiert dasselbe, denn sie sind nicht viel Sonnenschein gewohnt. Die Sonne ist in den Tropen aber stärker als irgendwo sonst auf der Erde, weil sie genau im Zenit steht. Im dichten vom Menschen unberührten Regenwald hat das Laubdach jedoch so viele Etagen, daß nur sehr wenig Licht den Boden erreicht (»zum Ärger all jener, die versuchen, Farbfilm einzusetzen«, sagt Lovejoy). Auf einer Insel stehen Bäume, die sich zuvor im Herzen des Waldes befanden, plötzlich am Waldrand. Ein Exemplar der Gattung Bombacaceae (ein Verwandter des Balsabaums) zum Beispiel blühte daraufhin mit sechs Monaten Verschiebung gegenüber seiner Saison. Nie zuvor hatten Botaniker etwas Derartiges beobachtet.

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Auch die Affen gerieten in Schwierigkeiten. Die Schar goldhändiger Tamarine floh über die neuen Felder und ward nicht mehr gesehen. Sakiaffen verteilen sich normalerweise in Scharen über viele hundert Hektar. Zwei dieser Scharen waren auf einer kleinen Insel abgeschnitten. Sie fraßen fast alle Früchte und Samen der Bäume in ihrer Reichweite, dann verschwanden sie.

Eine der bizarrsten Veränderungen vollzog sich mit den Wanderameisen. Ihre Kolonien durchleben einen monatlichen Zyklus. Eine Teil des Monats campiert jede der Kolonien, ungefähr eine halbe Million Ameisen, in einem Lager. In einem anderen Abschnitt ihres Zyklus schwärmen sie aus. Jeden Tag durchkämmen sie einen neuen Teil des Regenwaldbodens und fließen dabei unter das Laub und über Baumstümpfe wie ein Strom flüssigen Pechs.

Die anderen Insekten auf dem Waldboden verhalten sich normalerweise still und bemühen sich, harmlos auszusehen. Aber wenn die Wanderameisen kommen, lassen sie ihre Verstecke im Stich und fliehen um ihr Leben. Sie springen in die Luft oder hüpfen davon — nur weg. Der Zug der Wanderameisen ist ein sehenswerter Anblick; Tausende bunter Schmetterlinge, exotischer Grashüpfer und riesenhafter Schaben explodieren förmlich vor ihm.

Gewisse Vögel nutzen diese Panik. Sie fliegen über den Ameisenzügen dahin wie die Luftwaffe über einer Armee, stoßen herab und schnappen fliehende Grashüpfer, bevor die Ameisen sie erwischen können. Ein halbes Dutzend Vogelarten sind in diesem Teil des Amazonas so etwas wie professionelle Ameisenfolger. Obwohl der Regenwald schätzungsweise dreißig Millionen Insektenarten birgt, kennen diese Vögel nur diese eine Methode, ihrer habhaft zu werden. Ohne Wanderameisen, die für eine solche Aufregung sorgen, würden die Vögel verhungern.

Ein einziges Wanderameisenvolk beansprucht rund dreißig Hektar Regenwald. Folglich dauerte es nicht lange, und die Truppen der Wanderameisen verschwanden von der neuen Zehnhektarinsel. Die Gilden der Ameisenfolger verschwanden ebenfalls. Ein beträchtlicher Teil der Regenwaldfauna war nicht mehr.

Auch andere »Interessengemeinschaften« begannen sich aufzulösen. Die Ökologen, die die Insel beobachteten, hatten die Probleme der den Ameisen folgenden Vögel vorausgesehen. Es hatte sie auch nicht überrascht, daß sich die Insel als zu klein für die großen, schweineartigen Pekaris erwies. Aber sie hatten nicht erwartet, daß so kleine

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Geschöpfe wie Frösche leiden würden. Doch als die Pekaris verschwanden, begannen ihre Schlammsuhlen am Rande der Insel in der heißen Sonne auszutrocknen. In den kleinen Tümpeln dieser Schlammsuhlen aber hatten Frösche gelebt. Auch sie ver'stummten.

Auf der Windseite der Insel überraschte die Anzahl der vom Wind gefällten Bäume. Lovejoy führt ihr Fallen auf die von den flachen Weiden her blasenden Winde zurück — ein weiterer Nebeneffekt. Jeder umgestürzte Baum gab einen größeren Teil des Waldes dem ungemilderten Sonnenschein preis, und das bedeutete, daß das Unkraut der Weiden tiefer in den Wald eindringen konnte. So verlagerte sich der Waldrand ins Innere des Waldes.

Tatsächlich bestand dieser zehn Hektar große Wald nur aus Waldrand. Es gab keine unberührten oder unveränderten Waldstreifen mehr, selbst im Zentrum nicht. Lovejoy sagt: »Die Zahl der stehengebliebenen abgestorbenen Bäume machte zwischen 1981 und 1982 einen dramatischen Sprung von neun auf fünfundsechzig.«

Freiwillige, die den Wald vor der Schaffung der Insel erforscht und beobachtet hatten, kannten sich nicht mehr aus. Der Morgenchor der Vögel und der nächtliche Chor der Frösche waren verstummt. Die vertrauten Schmetterlinge, die nahe dem Waldboden gelebt hatten, waren nicht mehr zu sehen. An ihrer Stelle tauchten merkwürdige Schmetterlingsarten auf, von denen einige die verwirrten ehemaligen Bewohner der lichten Höhen des Laubdachs waren, die jetzt nahe dem Boden umherflatterten, da er ihnen so hell schien wie zuvor das Laubdach. Die Luft war heiß und trocken, und in jeder Woche waren in den Nebelnetzen weniger Fänge.

Nach nur einem Jahr der Isolation wies die Insel Ähnlichkeit mit dem Alptraum auf, der Rachel Carsons Buch Der stumme Frühling einleitet. Die Haine hatten ihre Stimmen verloren, und das Leben floh die Bäume. Hier war kein Gift versprüht worden, es hatte nur eine Urbarmachung von Land gegeben.

Lovejoy sieht schleichende, unaufhaltsame Verluste für alle seine Inseln voraus; große und kleine. Die hundert oder tausend Hektar großen werden nicht so rasch verfallen wie die einen oder zehn Hektar großen. Und es wird Jahrzehnte dauern, bevor die größte der von ihm untersuchten Inseln, die zehntausend Hektar große, Anzeichen von Problemen in ihrem Inneren erkennen läßt. Aber was mit den kleinsten Inseln geschah, wird als nächstes mit denen von mittlerer Größe und letztlich auch mit den größten passieren.

Lovejoy nennt diesen Prozeß einen »Ökosystemverfall«. Radioaktiver Verfall kann präzise vorausgesagt werden. Ein Klumpen aus Uranatomen zerfällt sehr langsam und vorhersehbar zu einem Klumpen Blei. Es zeichnet sich als allgemeingültiges Prinzip ab, daß auch der Ökosystemverfall ziemlich vorhersehbar ist.

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Vorgänge der Art, wie sie Lovejoys Inseln schufen, vollziehen sich mit einer Rate von etwa viertausend Quadratmetern pro Sekunde in der Regenwäldern der Erde, und trotz einer Unzahl lokaler Variationen wird es überall die gleichen Verfallsmuster geben. Der einzige fundamentale Unterschied zwischen Lovejoys Inseln und anderen besteht darin, daß die Verluste beobachtet werden.

Außerhalb der Regenwälder, wo die Bevölkerungsexplosion schon seit längerer Zeit anhält, sind die Inseln älter. Auf vielen von ihnen sind die letzten Phasen des Zerfalls bereits jetzt sichtbar. Die Riesenpandas zum Beispiel, die früher über fast halb China verbreitet waren, sind heute auf wenige Reservate in den bewaldeten Bergen der Provinz Szetschuan am Ostrand des tibetischen Plateaus begrenzt. 1987 gab es etwa fünfunddreißig einzelne Pandagruppen, von denen die meisten aus weniger als zwanzig Individuen bestanden.

Bei derart kleinen Inseln ist der Inseleffekt am ausgeprägtesten. Eine ganze Generation kann nur aus männlichen oder weiblichen Individuen bestehen, oder das einzige zeugungsfähige Männchen der Gruppe kann in einer von einem Wilddieb für Moschustiere aufgestellten Falle verenden. Da alle Gruppen voneinander getrennt sind, ist es sehr unwahrscheinlich, daß ein umherstreifender Junggeselle des Wegs kommt und den schmachtenden Harem entdeckt. Der Fremde kommt nie — und das ist das Ende der Gruppe. Wie viele Wildtiere vermehren sich Pandas in Gefangenschaft kaum. Trotz intensiver internationaler Bemühungen um ihre Rettung könnten die Pandas durch den Inseleffekt ausgerottet werden.

Panther waren früher im gesamten Osten der Vereinigten Staaten verbreitet. 1986 gab es in Florida nur noch ungefähr zwei Dutzend von ihnen, alle in einigen wenigen Hartholzsümpfen nahe den Everglades. Eine quer durch den Staat führende Straße zerteilte ihr Sumpfgebiet. Jedes Jahr starben auf ihr ein paar Panther, und die Anzahl der Panther Floridas schrumpfte um weitere fünf oder sechs Prozent.

Dann beschlossen Staatsbeamte, die Straße um zwei Spuren zu erweitern. Mit Rücksicht auf die schwarzen Panther ließen sie sechsunddreißig »Pantherunterführungen« bauen. Die Tiere sollten unter der Straße durchflitzen, um von einem Teil ihrer schrumpfenden Insel in den anderen zu gelangen. Der Staat gab zehn Millionen Dollar für die Unterführungen aus, aber der Inseleffekt führte dennoch zum Untergang der Panther.

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Die im Great Divide Basin Wyomings lebenden Gabelantilopen entrinnen der Kälte, indem sie in jedem Winter in südliche Richtung ins Grasland ziehen, wie sie es seit dem Höhepunkt der letzten Eiszeit zu tun gewohnt sind. Die Rinderzüchter errichten immer mehr Stacheldrahtzäune, die den Antilopen ihre Zuflucht in den Süden abschneiden. In Oracle Junction in Arizona, in der Nähe des Biosphere-II-Projekts, gibt es ein kleines Cafe, das in kitschigem Westernstil dekoriert ist: ein roter Sombrero, ein Brett mit Antilopengeweihen, ein Ochsenschädel, auf dessen Stirn die Umrisse eines Cowboys auf einem bockenden Pferd gemalt sind. An einer Wand hat der Besitzer eine eindrucksvolle Sammlung von Stücken alten Stacheldrahts aufgehängt, auf Platten befestigt und mit einem Text in Blockschrift versehen, der draht, der den westen einzäunte:

CURTIS »4 POINT«                 1892

GLIDDEN>OVAL TWIST.         1876

BAKER'S >OLD BARB.             1883

SUNDERLAND >KINK<             1884

WATKINS >LAZYPLATE<         1876

DODGE AND WASHBURN         1882

ELLWOOD »SPREAD.                 1882

Und so weiter. Dieser Stacheldraht hat mitgeholfen, den Westen der Vereinigten Staaten in eine Vielzahl von Parzellen einzuteilen, deren Grenzen für die Antilopen fast ebenso unüberschreitbar sind wie die Wände der Biosphere II. 1983 starben in einem einzigen strengen Winter mehr als die Hälfte der Gabelantilopen.

In jenem Winter folgte der Wildtierbiologe Bill Alldredge einer mit einem Radiosender-Halsband versehenen Antilope, die er »Antilope E« nannte. »Es war ein stattlicher Bock, von dem wir viel gelernt haben«, teilte Alldredge dem Schriftsteller Steve Yates mit. Alldredge und sein Sohn hatten beobachtet, wie der Bock zwei Jahre lang sein Revier verteidigte und einen Harem von Weibchen zwei Jahre lang im ganzen Grasland umwarb, begattete und umsorgte. Während dieses dritten, strengen Winters folgte Alldredge den von Antilope E ausgehenden Signalen bis zu einer Straße, hundertsechzig Kilometer der Straße entlang, und wieder zurück in Richtung Rawlins. Dann endete die Wanderung der Antilope E.

Sie fanden sie mit einem Hinterlauf in einem Stacheldraht gefangen. »Der Bock hatte schließlich versucht, über den Zaun zu springen, was beweist, wie verzweifelt er gewesen sein muß«, sagt Alldredge. »Wir hatten gesehen, wie er im Lauf der Jahre vielleicht zwanzig Begegnungen mit Jägern entkam — und er verendete mit dem Bauch nach oben in einem dämlichen Zaun in einem Schneesturm.«

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Wenn wir uns bemühen, Arten wie die Antilope zu retten, gehen wir gewöhnlich so vor, daß wir mehr Inseln schaffen, mehr Nationalparks. Nach einer neueren Studie des Ökologen William D. Newmarks sind vierzehn Nationalparks im Westen der Vereinigten Staaten zu klein, um die Säugetiere zu retten, die früher dort gelebt haben. Bryce Canyon, mit hundertvierundvierzig Quadratkilometern das kleinste Reservat in der Studie Newmarks, hat schon mehr als ein Drittel seiner Säugerarten verloren. Yosemite mit seinen zweitausenddreiundachtzig Quadratkilometern hat noch vor den Bränden im Sommer des Jahres 1988 ein Viertel seiner Arten verloren.

Parks dieser Größe kann man als Archen betrachten. Ihre Aufgabe ist es, die Wildtiere der Nation für das folgende Jahrtausend und darüber hinaus zu bewahren, einschließlich der Grizzlybären und Antilopen. Inzwischen ist erwiesen, daß sehr wenige Archen auf Erden tatsächlich groß genug dafür sind. Im amerikanischen Westen werden nur die allergrößten aneinander angrenzenden Parkanlagen, eine Konstellation von Reservaten, die Newmark »Kootenay-Banff-Jasper-Yoho« nennt, dieser Aufgabe gerecht. Kootenay-Banff-Jasper-Yoho ist 20.736 Quadratkilometer groß, etwas größer als der Staat New Jersey. Nach Newmark hat es bis jetzt noch keine Säugerarten verloren.

Wenn die riesigen Parks im Westen zu klein sind, wie steht es dann mit denen im Osten oder mit den Anlagen von Westentaschenformat in Europa?

Von diesen Archen abhängige Geschöpfe werden wohl kaum das nächste Jahrhundert erleben. »Wir dachten, wir könnten eine Mauer um die Natur ziehen und sie bewahren«, sagt ein Ökologe. »Aber wir haben uns geirrt.«

Man könnte annehmen, zumindest die Zugvögel seien vor dem Inseleffekt sicher, da viele Zugvogelarten an einem Tag mehr als eintausendsechshundert Kilometer zurückzulegen vermögen. Unglücklicherweise sind diese Vögel besonders gefährdet, weil ihre Zukunft von der Erhaltung eines großen Teils der Erdoberfläche abhängt. Sie verbringen die Hälfe eines jeden Jahres in seit altersher besiedelten Gebieten und die andere Hälfte inmitten neuer Siedlungen. Fast fünfzig Prozent der siebenhundert in den Vereinigten Staaten gezählten Vogelarten sind während der Winter in den Tropen, unter ihnen einige der bekanntesten Singvogelarten des Landes: Drosseln, Fliegenschnäpper, Laubwürger, Grasmücken und Prachtmeisen. Wenn verhältnismäßig kleine Gebiete in Mexiko, Costa Rica und auf den Karibischen Inseln abgeholzt werden, verschwinden auch viele dieser Vögel Nordamerikas von der Bildfläche.

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Schon werden manche Singvogelarten der Vereinigten Staaten seltener. Einige Ornithologen sagen, die amerikanischen Wälder seien merklich stiller geworden. Der Morgenchor ist schwächer und weniger melodiös. Eine Studie über ein Naturreservat, das Greenbrook Sanctuary in Alpine, New Jersey, zeigt, daß zwischen 1957 und 1983 dreißig Vogelarten merklich seltener geworden sind. Haubensänger, amerikanische Rotschwänze und ein paar andere Singvögel sind fast verschwunden.

Diese Vögel haben das Pech, gleichermaßen durch die sich ausdehnenden Farmen in Südamerika und die sich ausdehnenden Vorstädte in Nordamerika gefährdet zu sein. Einige Ornithologen glauben, daß die Ausdehnung der Städte den Vögeln mehr als die Entwaldung der Tropen schadet, weil der Inseleffekt im Norden weit fortgeschrittener ist. Überall in Amerika gibt es kleine Städte wie Cadiz in Wisconsin, in deren Umgebung immer mehr zusammenhängender Wald durch Waldrand ersetzt wird.

Natürlich gibt es auch Vögel, die den Waldrand bevorzugen. Für Eichelhäher und Krähen ist der Inseleffekt paradiesisch. Sie sind Opportunisten, die durch Umwälzungen in der Biosphäre begünstigt werden — und stellen die Gegenstücke der Ratten und Mäuse in der Vogelwelt dar. Sie fressen die Eier der Laubwürger, Grasmücken, Drosseln, Prachtmeisen, Kolibris und Fliegenschnäpper. Jeder neue Waldrand, den eine Stadt in ihrem verbleibenden Wald entstehen läßt, lädt Waldrandliebhaber, Eierfresser und Nestparasiten ein und vertreibt die Zug- und Singvögel, die dichten Wald bevorzugen. Sie verlieren Lebensraum, wenn auch nur eine einzige Straße durch ihre Wälder im Norden oder Süden gezogen wird.*

Auch die Monarchfalter wandern. Jeden Herbst fliegen die Monarchfalter der Ost- und Westküste in den Süden. Im Osten machen sich nicht weniger als hundert Millionen Exemplare dieser Gattung zu den südwestlichen Hängen einiger weniger vulkanischer Berge in der Nähe von Mexiko City auf. Die auffallend orange und schwarz gefärbten Schmetterlinge verbringen den Winter in dichten Ständen von Oyameltannen. Dann, im Frühling, verlassen sie ihre Tannen wieder und fliegen den ganzen Weg in den Norden zurück.

Jede Migration ist ein Wunder, aber die Wanderung des Monarchfalters gehört zu den größten Wundern. Nicht weniger als fünf Generationen leben und sterben zwischen dem Flug in den Norden im Frühling und dem Flug nach Süden im Herbst. Und doch finden die

* Populationen von Eichelhähern und Krähen nehmen zur Zeit in den Vereinigten Staaten stark zu, während Laubwürger, Grasmücken, Drosseln und die übrigen Arten in vielen Teilen des Landes vor dem Aussterben stehen.

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Monarchfalter immer ihren Weg zu den wenigen Gehölzen der Bergtannen, die sie selbst noch nie gesehen haben — Gehölze, die kein einzelner Monarchfalter seit der Zeit seiner Urururgroßeltem besucht hat. Die Biologen wissen nicht, wie die Schmetterlinge dieses Wunder vollbringen, aber sie wissen, daß ein bißchen Holzfällen am falschen Ort es jäh beenden würde.

In Mexiko schlugen die Bauern häufig Oyameltannen, um Feuerholz und Pfosten zu gewinnen. Die Inseln des Monarchfalters in den Bergen schrumpfen alljährlich ein wenig. Die International Union for the Conservation of Nature (die die Red Data Books herausgibt, Listen gefährdeter Arten) hat für die Monarchfaltermigration eine eigene Kategorie geschaffen: ein »gefährdetes Phänomen«.

1986 erklärte die mexikanische Regierung die Wälder des Monarchfalters zum ökologischen Reservat. Holzfällen und Roden ist jetzt im Gebiet der Tannen des Monarchfalters verboten und wird in einer 11.000-Hektar-Schutzzone um diese Tannen kontrolliert. Die östliche Population des Monarchfalters ist sicherer als zuvor, wenn die Regierung das Gesetz durchsetzen kann.

Die westliche Population dieses Schmetterlings hat weniger Glück. Diese Monarchfalter verbringen die Winter an einigen wenigen Stellen der kalifornischen Küste; viele davon befinden sich in der Nähe expandierender Städte. Hunderte und Tausende von Monarchfaltern, die zu den Gehölzen ihrer Vorfahren zurückflatterten, fanden nur noch neue Wohnanlagen für Menschen vor.

Für alle diese Wanderer zünden wir die Kerze an beiden Enden an. In den nächsten Jahrzehnten könnte es zu neuem Hader zwischen den USA und vielen tropischen Ländern kommen. Streitigkeiten werden aufflackern wie jene zwischen den USA und Kanada über den sauren Regen. Welches Land bringt die Vögel um? Welches die Schmetterlinge? Wessen Kettensägen töteten unsere Wälder?

Einige Zeit, nachdem Lovejoy angefangen hatte, sich mit seinem künstlichen Archipel zu befassen, drängte ihn etwas, Stephen Schneider am National Center for Atmospheric Research anzurufen. Der Ökologe sprach in Boulder, Colorado, über den Inseleffekt, und der Klimatologe redete über den Treibhauseffekt.

Nach einer Weile fragte Schneider: »Tom, rufen Sie mich nur aus Höflichkeit an?«

»Nein, ich glaube nicht«, erwiderte Lovejoy. »Mir geht etwas im Kopf herum, und ich weiß nicht, ob es wichtig ist oder nicht. Welche Verbindung gibt es zwischen uns?«

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Er meinte die Verbindung zwischen ihren beiden Effekten. Die Frage überraschte Schneider, denn wie die meisten von uns denkt er über den Treibhauseffekt gewöhnlich nur im Zusammenhang mit dessen Folgen für eine Spezies nach — für uns. Seine Computermodelle wurden entworfen, um die Folgen klimatischer Veränderungen für Städte und Strände, Weizen-, Reis- und Zuckerrohrfelder vorherzusagen. Er nennt Kohlendioxid oft ein Problem umverteilender Gerechtigkeit. Es ist nicht das Ende der Landwirtschaft, sagt er, es ist eine Verlagerung der Landwirtschaft. Eine Verschiebung des amerikanischen Maisgürtels hundert Kilometer weiter nach Norden mag aus der Sicht Iowas hart sein, aber vom Standpunkt Minnesotas aus ist es gut.

In dem Augenblick, in dem er Lovejoys Frage hörte, begriff Schneider, wie wichtig sie war. Es war ihm zuvor nie eingefallen, seinen Computer aufzufordern, er solle das Schicksal einer der Inseln Lovejoys vorhersagen.

Wie wir ständig vergessen (obwohl die Natur es uns ständig in Erinnerung ruft), vollzieht sich keine globale Veränderung isoliert. Der Treibhauseffekt würde die Biosphäre im Zusammenspiel mit dem Inseleffekt weit stärker belasten als einer dieser beiden Effekte allein.

Das Kohlendioxid würde das Problem sogar ohne seinen Treibhauseffekt vergrößern. Je mehr sich das Gas in der Luft ansammelt, desto mehr verändert es die Bedingungen für den Existenzkampf in jedem grünen Flecken auf der Erde. Wie wir gesehen haben, ist das Gas für Pflanzen wie ein Düngemittel. Mehr Kohlendioxid in der Luft stattet die Pflanzenarten, die es am effizientesten bei der Photosyntese nutzen können, mit einem Wettbewerbsvorteil aus. Viele dieser Pflanzen sind ebenfalls Opportunisten: Unkraut.

Boyd Strain von der Duke University und andere Botaniker züchten heute Getreide- und Unkrautarten in experimentellen Gewächshäusern in großzügig mit Kohlenstoff angereicherter Amtosphäre, in einer Luft, die sechs-, sieben- oder achthundert Teile pro Million Kohlendioxid enthält. Wie von Lovejoys Inseln könnte man auch von diesen Treibhäusern mit den Worten Loren Eiseleys sagen, daß sie eine zukünftige Zeit vorwegnehmen. Sie stellen etwas »nicht ganz in simultaner Beziehung zur übrigen Welt« Stehendes dar. Strain sagt, was in diesen Gewächshäusern geschieht, zeige eindeutig, daß das dritte Jahrtausend eine sehr gute Zeit für das Unkraut sein wird.

Die meisten Lebensräume weisen nicht nur ein typisches Klima, sondern auch typische Pflanzen auf, und die Zukunft eines großen Teils der auf schrumpfende Inseln verbannten Flora und Fauna erfordert, daß bestimmte Pflanzen so bleiben, wie sie sind. Der Riesenpanda zum Beispiel ernährt sich fast nur von Bambus. Verschafft das Kohlendioxid anderen Gräsern einen Evolutionsvorteil gegenüber

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dem Bambus, könnten die Pandas verhungern. Sein Düngeeffekt wird jede Pflanzen- und Tierart der Wälder, Marschen und Tundren auf Erden aufstören. Für Millionen von Pflanzen und Tieren, die schon an den Inselrändern leben, könnte das von uns in die Luft geblasene Gas das Ende bedeuten.*

Demnach würden wir die Biosphäre mit dem Kohlendioxid auch dann belasten, wenn es keinen Treibhauseffekt hätte. Erwärmt aber der Treibhauseffekt den Planeten, ist der Schock um so größer. Der sowjetische Klimaexperte Budyko nennt Temperatur und Regen die beiden »Meistervariablen« des Lebens auf der Erde. Gemeinsam ziehen sie die Grenzen der Klimazonen. Eine Erwärmung könnte diese Grenzen neu ziehen und die Tropen in die jetzt gemäßigten Zonen und die gemäßigten Zonen in Richtung Pole vorschieben. Je stärker die Erwärmung ist, desto mehr verschieben sich die Zonen; je rascher sich die Erwärmung vollzieht, desto schneller werden die Grenzen neu gezogen. Eine Temperaturerhöhung um ein Grad entspricht einer Breitenverschiebung von mehr als hundert Kilometern, und in den mittleren bis hohen Breitengraden könnte sich der Planet bald jedes Jahrzehnt so stark erwärmen.

Der Biologe Robert L. Peters und die Ökologin Joan D. S. Darling begannen vor einigen Jahren darüber nachzudenken, welche Folgen diese Verschiebung für die Biosphäre haben könnte. Das letzte Mal war der nordamerikanische Kontinent während der Zwischeneiszeit zwischen den letzten Eiszeiten zwei oder drei Grad wärmer als heute. Damals war die Welt, mit unserer jetzigen verglichen, ein ganz anderer Garten, schrieben Peters und Darling. »Osage-Orangen und Papaufrüchte gediehen in der Nähe von Toronto, mehrere hundert Kilometer nördlich ihres gegenwärtigen Verbreitungsgebiets; Seekühe schwammen in New Jersey; Tapire und Pekaris lebten in Pennsylvania; und Cape Cod hatte einen Wald, wie ihn heutzutage Nordkarolina aufweist.«

* Eine der ersten Studien über dieses wichtige Problem erschien 1989. Biologen am Museum of Comparative Zoology der Harvard University wollten erfahren, welche Folgen eine Verdopplung des Kohlendioxidgehalts für die Beziehung zwischen dem Wegerich, einem Unkraut, das in der ganzen Welt besonders häufig vorkommt, und dem nordamerikanischen Pfauenauge hat, das in Kalifornien, Teilen Mexikos und dem Südosten der USA eine Menge Wegerich verzehrt.

Die Chemie des Wegerichs verändert sich durch zusätzliches Kohlendioxid deutlich. Diese Veränderungen schaden dem Pfauenauge nur in einem frühen Larvenstadium, wohingegen sie ihm in einem späteren Stadium förderlich sind. Niemand weiß, ob der Wegerich und das Pfauenauge das Ende des nächsten Jahrhunderts überleben werden. Aber es zeichnet sich jetzt schon ab, daß sich das Leben im dritten Jahrtausend selbst für gewöhnliche Kräuter und Schmetterlinge ändern wird.

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Wenn wir einem solchen Klima entgegengehen, werden sich Tiere und Pflanzen, die an kühlere Klimate angepaßt sind, in Bewegung setzen müssen. Sie werden ihrer sich verschiebenden Klimazone folgen oder sterben. (Auf Lovejoys Inseln gibt es keine Klimaanlagen.) Zwei Hauptrückzugsrouten stehen ihnen zur Verfügung: bergauf oder in Richtung der Pole. Eine Höhe von fünfhundert Metern entspricht auf ebenem Boden zweihundertfünfzig Kilometern in nördliche Richtung. Tatsächlich gibt es in Südamerika Berge, auf denen sich die Baumgrenze bis zu eintausendfünfhundert Meter nach oben verschob, als die Bäume versuchten, der nacheiszeitlichen Wärme zu entgehen.

Bedenken Sie, was bei einer Erwärmung der Welt mit dem Biotop an den Hängen eines Bergs geschieht. Der Gipfel bietet weniger Platz als die Basis, also werden die Tiere und Pflanzen auf einen immer engeren Raum zusammengepfercht, je wärmer das Klima wird und je höher sie klettern. Bald ist die Tier- und Pflanzenwelt von der der benachbarten Gipfel abgeschnitten; was einst an der Basis der Berge miteinander in Verbindung stand, befindet sich jetzt auf einer Insel. Diese Insel wird immer kleiner, je wärmer das Klima wird.

»Klettere auf den Gipfel eines Bergs. Und jetzt klettere noch höher«, lautet ein alter Zen-Koan. Der Koan soll den Geist zu einer höheren Stufe der Einsicht aufrütteln. Heute rüttelt er den Geist zur Einsicht in die Lage auf, in der sich das Leben in den nächsten hundert Jahren befinden wird. Erhöht sich die Temperatur, werden Tausende von Tier- und Pflanzenarten den Bergen des ganzen Planeten zustreben. Und wenn die Temperatur noch weiter steigt, wohin werden sie dann gehen?

Auch die Flucht zu den Polen wird gefährlich sein. Alle unfreiwilligen Wanderungen sind gefährlich. Vor den Eiszeiten des Pleistozäns gab es sowohl in Europa als auch in Nordamerika Amberbäume, Tulpenbäume, Mondsamen, Hemlocktannen und weiße Zedern. Ihre Schicksale auf beiden Kontinenten sind sehr aufschlußreich. In Nordamerika überlebten sie die Eiszeiten, zum Teil, weil die größten Hindernisse, die Rocky Mountains und die Appalachen, von Norden nach Süden verlaufen. Die Berge stoppten ihre Eilmärsche über die Breitengrade nicht.

In Europa hingegen wurden diese Arten ausgelöscht. Dort sind die Pyrenäen, die Alpen und das Mittelmeer die größten Hindernisse, und sie alle verlaufen von Osten nach Westen. Für Millionen von Tier- und Pflanzenarten in Mitteleuropa könnte der Rückzug abgeschnitten gewesen sein. Wie die Gabelantilope auf der Flucht vor einem Schneesturm prallten sie gegen die Zäune und erfroren.

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Heute sind die meisten Naturreservate und Nationalparks von Städten, Straßen und landwirtschaftlich genutzten Flächen umgeben, wie die früheren Hemlocktannen in Europa von Bergen umgeben waren. Sie stellen vom Menschen erzeugte Berge dar. Wenn sich die Klima- und Regenregionen um hundert Kilometer verschieben, haben Pflanzen und Tiere vielleicht keinen Fluchtweg. Wie ein Ökologe es ausgedrückt hat: »Nicht viele Tiere können auf dem Weg ins Gelobte Land Los Angeles durchqueren.«

Selbst wenn der Rückzugsweg noch frei und offen sein sollte, könnte der Marsch verhängnisvoll werden. Alles hängt von der Geschwindigkeit der Erwärmung ab. Wenn sie sich allmählich vollzieht, werden die meisten Arten überleben. Sofern aber die Vorhersagen eintreffen, wird sich die Welt in den nächsten hundert Jahren zehn- bis vierzigmal rascher als nach der letzten Eiszeit erwärmen. Die Paläontologin Margaret Davis von der Universität von Minnesota hat berechnet, was das für einen großen Teil der nordamerikanischen Bäume (und auf längere Sicht für einen großen Teil der nordamerikanischen Wildpflanzen und -tiere) bedeuten könnte.

 

 

Bäume wandern, indem sie ihre Samen verstreuen. Das ist eine sehr langsame Art der Fortbewegung. Wie das Sprichwort sagt, fällt der Apfel, der ja ein Samenbehälter ist, nicht weit vom Stamm. Die Samen der Engelmannfichte sind so leicht, daß der Wind sie trägt, und ein Fichtensamen fällt manchmal zweihundert Meter von seiner Fichte entfernt zu Boden. Bei dieser Geschwindigkeit kann ein Wald aus Engelmannfichten zwanzig Kilometer pro Jahrhundert wandern. Da sich die Klimazone der Fichten erwartungsgemäß jedoch im nächsten Jahrhundert um wenigstens zweihundert Kilometer verschiebt, ist die Fichte zu langsam.

Davis zufolge könnte sich das Klima, in dem die Gelbbirke, der Zuckerahorn, die Hemlocktanne und die Buche gedeihen, um fünfhundert bis tausend Kilometer nach Norden verschieben. Diese Bäume bewegen sich aber noch langsamer als die Fichten.

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Macbeth dachte, Birnams Wald könne nie nach Dunsinane kommen. In der fünften Szene des letzten Aufzugs der Tragödie erscheint ein Bote, um ihn zu warnen:

Als ich den Wachtdienst auf dem Hügel tat, —
Ich schau' nach Birnam zu, und sieh, mir deucht, 
Der Wald fängt an zu gehn.

Ein Heer hatte sich unterhalb des Schlosses versammelt und trug aus Gründen der Tarnung den Wald hinauf, Baum für Baum. Das ist es, was der Welt bevorsteht. Im nächsten Jahrhundert müssen wir vielleicht, wenn wir die Lebensräume in den gemäßigten Zonen erhalten wollen, mit eigener Hand ganze Wälder bewegen.

Die Überlebensaussichten im 21. Jahrhundert sind für viele der Inseln Lovejoys verzweifelt gering. Das Klima, das sie geprägt hat, wird ihnen davoneilen. (Das jetzige Klima des Yellowstoneparks zum Beispiel dürfte dann irgendwo jenseits der kanadischen Grenze herrschen.) Und das neue Klima wird neue Invasoren mit sich bringen. Heißes Wetter kann Plagen wie etwa Heuschrecken, Blattläuse, Motten und Borkenkäfer hervorrufen — wie im Sommer 1988. Heißes Wetter kann auch Dürren und Brände verursachen — wie im Sommer 1988.

Die einzigen feststehenden Gewinner sind Schädlinge und Opportunisten; Ratten, Krähen, Fliegen, Moskitos, Unkraut. Ihre Verbreitungsgebiete sind so groß, daß sie uns erhalten bleiben, ganz gleich, wie wir die Wendekreise des Steinbocks und des Krebses mischen. (»Parasiten sind gute Problemloser«, merkt ein Biologe an, »und weil sie sich so rasch reproduzieren, gewinnen sie immer.«) Die sichersten Verlierer sind Arten, deren Verbreitungsgebiete bereits auf einzelne Flecken reduziert wurden. Als zum Beispiel ein amerikanisches Gesetz über gefährdete Arten aus dem Jahr 1973 Mitte der achtziger Jahre zur Wiedergenehmigung vorgelegt wurde, ließ sich der Kongreß viel Zeit, zum Teil wegen einer Kontroverse über Kemp's-Ridley-Seeschildkröten, die sich in der Regel nur auf zweiunddreißig Kilometern eines isolierten Strandabschnitts der mexikanischen Golfküste vermehren. Garnelenfischer fangen alljährlich mehr als zehntausend Seeschildkröten in ihren Netzen, und eines schönen Tages werden sie die letzte Kemp's-Ridley auf Erden fangen (es gibt nur noch etwa fünfhundert fruchtbare Weibchen dieser ehrwürdigen Art, die sich im Dinosaurierzeitalter entwickelt hat).

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Die Fischer sollten mit bestimmten Geräten (»Schildkröten-Ausschluß-Geräte«) verhindern, daß Schildkröten in ihre Netze fanden, aber sie mochten diese Vorrichtungen nicht, und ein Senator aus Alabama machte sie zu einem Thema des Kongresses. Die folgende Debatte zog sich über drei Jahre hin, und schließlich schien es, als sei das Artenschutzgesetz selbst gefährdet. Dann kam der Sommer 1988. Der Sturm des Jahrhunderts, der Hurrikan Gilbert, vernichtete den Seeschildkrötenstrand. Ein Sturm nahm den Entscheid der Legislative vorweg, indem er den Schildkrötenstrand zerstörte.

Wenn zum Treibhauseffekt der Inseleffekt hinzukommt, könnten viele Zugvogelarten die nächsten Anwärter auf die Auslöschung sein. Eine ihrer Routen, der pazifische Zugweg, erstreckt sich von den Tropen bis zum arktischen Kreis. Verschiedene große Zwischenstationen dieser Zugroute, wie etwa die Stillwater-Niederungen bei Nevada, gewähren unter günstigen Bedingungen Jahr für Jahr mehr als einer viertel Million wandernder Schnepfenvögel Schutz. Früher gab es Zehntausende Hektar Binsen und Rohrkolben und Wassertümpel bei Stillwater. Aber der Fluß, der den großen Sumpf speist, wurde eingedämmt, um sein Wasser zur Speisung weiter entfernter Gegenden abzuführen. Die Größe dieses Rastplatzes ist dadurch um drei Viertel reduziert worden, und in der Dürre von 1988 drohte das restliche Stillwater vollends auszutrocknen.

Wenn Stillwater austrocknet, werden es die Schnepfenvögel schwer haben, einen anderen Rastplatz in der Nähe zu finden. Das meiste Wasser wurde den wenigen Sümpfen und Mooren Nevadas längst entnommen, um Städte und Farmen zu versorgen. Das Winnemucca Lake National Wildlife Refuge in der Nähe von Stillwater trocknete bereits vor fünfzig Jahren aus. Auch das Fallon National Wildlife Refuge war schon vor dem Sommer 1988 weitgehend ausgetrocknet.

»Es ist wie ein Trittstein über einer Stromschnelle«, sagte J. P. Myers, der bei der Audubon Society* für Forschung und Schutz zuständig ist. »Einer nach dem anderen werden die Steine gelockert und entfernt. In Nevada sind sie heute fast schon alle fort.« Für Millionen migrierender Vögel könnte der Verlust Stillwaters eine Barriere von der Größe des Staates Nevada auf ihrer alten Route des pazifischen Zugwegs errichten.

Inzwischen erwartet man eine Erwärmung der Tundra um zehn Grad Celsius. Vögel, denen Trittsteine auf dem ganzen Weg nach Norden zur Verfügung stehen, könnten die Tundra gegen Ende des nächsten Jahrhunderts durch thermale Karsterosion derart verändert vorfinden, daß sie nicht länger dort nisten können.

* John James Audubon (1785-1851) veröffentlichte u.a. »The Birds of America«, »Ornithological Biography« und »Synopsis of the Birds of North America«. (Anm. d. Übers.)

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Vögel vermögen mit ein paar Überraschungen entlang ihrer Route fertig zu werden, aber sie können keine Verluste überleben, die global und aus ihrer Sicht fast augenblicklich stattfinden. Für Millionen von Zugvögeln könnte die Treibhauserwärmung die Kerze nicht nur an beiden Enden, sondern in ihrer ganzen Länge anzünden.

Ökosysteme, die Heimstätten der Arten, bestehen aus dem an ihrem Ort herrschenden Klima und dem verwobenen Dasein aller in ihnen lebenden Arten. Ökologen sehen die Auflösung ganzer Ökosysteme voraus, eine Transformation der Tundra, der Marschgebiete, der nördlichen Wälder und der Regenwälder auf der ganzen Welt.

Der Treibhauseffekt könnte im nächsten Jahrhundert nicht nur die Auslöschung vieler Arten beschleunigen, der Verlust einer großen Zahl von Arten und Ökosystemen könnte in Form einer Kettenreaktion seinerseits zur Veränderung des Klimas beitragen.

Das mag sich übertrieben pessimistisch anhören, aber es ist bereits einmal geschehen.

Wie wir sahen, hat die menschliche Zivilisation im 19. und 20. Jahrhundert riesige Mengen Kohlenstoff freigesetzt. Tatsächlich fügte das Verbrennen von Bäumen der Atmosphäre eine etwa ebenso große Menge Kohlenstoff zu wie alles bisher verbrannte Öl und Benzin. Heute reichert die Rodung der Regenwälder auf der ganzen Welt die Atmosphäre alljährlich mit mindestens einer Milliarde Tonnen Kohlenstoff an.

Zur Erinnerung: Ein Regenwald enthält fünfundzwanzig Kilogramm Kohlenstoff pro Quadratmeter, eine Rinderweide enthält dagegen weniger als vier Kilogramm Kohlenstoff pro Quadratmeter, und eine Wüste oder ein Parkplatz weniger als ein Kilogramm. Die Umwandlung eines Regenwaldes in eine Weide, in Ödland oder einen gepflasterten Platz bläst den größten Teil der Differenz in die Luft.

Der Verlust eines Ökosystems verändert die Atmosphäre auch auf tausend andere Arten, da vielerlei Verbindungen zwischen Leben und Luft bestehen. Atmosphäre und Biosphäre tauschen nicht nur Kohlendioxid aus, sondern auch Wasserdampf. Vor vier Jahrhunderten schrieb Ferdinand Columbus eine Biographie seines Vaters Christoph. Er erwähnte das Wetter, das dieser 1494 in der Nähe der Insel Jamaika erlebt hatte:

Himmel, Luft und Klima waren die gleichen wie an anderen Orten; jeden Nachmittag gab es einen Regenguß, der ungefähr eine Stunde lang anhielt. Der Admiral... führt dies auf die riesigen Wälder des Landes zurück; er wußte aus Erfahrung, daß das gleiche auf den Kanaren, auf Madeira und den Azoren geschehen war, daß diese Inseln aber seit Rodung der Wälder, die sie einst bedeckten, nicht mehr so viel Nebel und Regen wie zuvor erleben.

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Mit anderen Worten, Columbus vermutete, daß die Regenwälder ihren eigenen Regen produzieren. Diese bemerkenswerte Annahme hat sich heute als zutreffend herausgestellt.

Regenwälder zeichnen sich dadurch aus, daß sie mehrere getrennte Laubdachschichten haben. Die Bäume sehen wie geöffnete Schirme in drei oder vier verschiedenen Höhen aus. Diese gestaffelten Laubdachlagen brechen die Wucht des fallenden Regens mehr, als eine einzelne Lage es könnte. Wegen ihrer ausgedehnten Oberfläche breiten sie außerdem das Regenwasser zu dünnen Feuchtigkeitsfilmen aus, so daß es rascher verdunstet. Wenn Sie einen Tropfen Reinigungsspiritus auf Ihre Hand geben und verreiben, können Sie spüren, wieviel schneller Flüssigkeit verdunstet und wieviel mehr sie kühlt, wenn sie zu einer dünnen Schicht ausgebreitet wird.

Regenwälder weisen außerdem ein verflochtenes System feiner Wurzeln auf, die so dicht unter der Oberfläche des Bodens verlaufen, daß man sie freilegen kann, wenn man mit dem Fuß am Boden scharrt. Ein großer Teil des Regens, der durch die vielfachen Laubdächer sickert und den Boden erreicht, wird rasch von den Wurzeln aufgesogen. Dann ziehen die Bäume das Wasser himmelwärts, wo es von den Blättern verdunstet.

Mit seinen gestaffelten Laubdächern und dicht unter der Erdoberfläche befindlichen Wurzeln fängt der Regenwald den Regen auf, hält ihn fest und verteilt ihn zum Verdunsten. Die Verdunstung findet wie auf einem einzigen Blatt statt, das viele Male größer als das riesige Amazonasbecken selbst ist.

Man kann den Effekt aus der Luft sehen. Riesenhafte Wolkenpfeiler scheinen aus den Baumkronen emporzubrodeln und direkt in den Himmel aufzusteigen. Wo immer der Baumteppich dicht gewebt ist, streben diese Pfeiler in die Höhe, als hätten sie die Aufgabe, den Wald mit dem Himmel zu verbinden. Es sieht fast so aus, als unterstütze das grüne Laubdach mit seinen Pfeilern das hohe Wolkendach; und es verhält sich tatsächlich so. Die Bäume sind Regenmacher: »Ein hübscher Trick«, wie Lovejoy beobachtet, »und dazu einer, um den sich die Menschen seit Jahrhunderten bemühen.«

Im Durchschnitt befördern die Wälder des Amazonasbeckens etwa fünfzig Prozent des Wassers, das auf sie hinabregnet, geradewegs wieder in die Luft zurück. In der Nähe von Manaus, in jenem Teil des Waldes, in dem Lovejoys Inseln entstanden sind, wird dem Himmel sogar die erstaunliche Menge von fünfundsiebzig Prozent des Regens zurückerstattet, um sich wieder den Wolken zuzugesellen und erneut zu fallen.

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Das Gelingen dieses Tricks hängt nicht von einer einzigen Spezies des Regenwaldes ab. Es erfordert das Ökosystem als Ganzes. Dort wo die Wälder ausgedünnt wurden, gibt es weniger Pfeiler und weniger Wolken — wie schon Columbus bemerkte. Die Insel Marajo an der Mündung des Amazonas ist auf der westlichen Hälfte bewaldet, aber nicht auf der östlichen. Gewitterwolken scheinen die westliche Seite Marajos zu mögen, und dort regnet es jeden Tag. Die Ostseite der Insel hingegen erlebt häufig Dürreperioden.

Alle Mitarbeiter an Lovejoys Projekt haben die heißen trockenen Winde bemerkt, die über die Lichtungen und durch die neuen Reservate blasen. Im Inneren eines gesunden Regenwaldes kommt ein solcher Wind niemals vor. Es ist fast, als sei eine Kreatur aufgestört worden, die größer als der Regenwald selbst ist. Dieser merkwürdige Eindruck läßt sogar Lovejoy, einen beredten Mann, um Worte verlegen sein. Er sagte zu einem Besucher seiner Inseln: »Das ganze — ich weiß nicht, wie Sie es nennen würden —, das ganze physische Funktionieren von Luft, Temperatur und Feuchtigkeit ist im abgeholzten Bereich völlig anders als im unberührten Wald. Sie werden es spüren.«

Ein Waldarbeiter kann vom Boden aus mit einer Kettensäge eine mächtige Folge von Baldachinen zum Einsturz bringen, die mehrere Kilometer hoch in die Luft reichen — erst die grünen, dann die weißen Baldachine. Wenn all diese Schirme fallen, werden der entblößte Boden und die kümmerliche Restvegetation im prallen Sonnenschein gebacken, von der intensivsten Sonnenstrahlung, die auf die Oberfläche dieses Planeten trifft. Wenn Regen fällt, brechen keine grünen Schirme seine Wucht. Das Wasser gelangt direkt auf den Boden. Es sammelt sich in Pfützen und Tümpeln und fließt ab. Je mehr Boden von der Sonne und den Bulldozern festgebacken ist, desto schneller fließt das Regenwasser ab. 

In Westafrika, wo zur Erzeugung von Acker- und Weideland riesige Gebiete abgeholzt wurden, fließt rund dreihundertmal so viel Wasser ab wie zu der Zeit, als dort noch Bäume standen. Das Wasser sammelt sich zu Rinnsalen, die Rinnsale werden zu Flüssen, die Flüsse fließen ins Meer. Bis das Wasser wieder verdunstet, ist es oft viele hundert Kilometer von dem Ort entfernt, an dem es fiel. Somit besitzen landwirtschaftlich genutzte Gebiete im Gegensatz zu den Wäldern nicht die Fähigkeit, Wolken über sich zu erzeugen, und sie können sich nicht selbst bewässern.

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Das wiederum schadet auch dem Wald in ihrer Nähe. Der Regenverlust kann die Wälder rings um eine große Lichtung allmählich aufzehren. Die Wasserabflüsse graben außerdem tiefe Kanäle in den Boden und spülen die Erde mit sich fort. Entlang der Straße von Belem nach Brasilia sind große Felder so ausgelaugt und abgetragen, daß man sie als »Geisterlandschaft« bezeichnen könnte.

Auf diese und andere Arten verändert die Vernichtung der Regenwälder auch die Bedingungen, die die Regenwälder erst ermöglicht haben. Sie hat ein Wegwischen der Wolken zur Folge, die der Wald über sich festhielt, und ein Wegspülen des Erdreichs, das er unter sich festhielt.

Klimatologen glauben, daß Abholzungen die Temperaturen in ausgedehnten Tropengebieten um nicht weniger als drei bis fünf Grad erhöhen könnten — eine regionale Erwärmung, die weit höher ist, als der Treibhauseffekt sie hervorrufen würde. Das könnte das Tropenklima über den Punkt hinaus verändern, an dem die Bedingungen für die Entstehung der Wälder noch gegeben sind. In den nächsten hundert Jahren können sich große Teile des äquatorialen Regenwaldgürtels, der grünsten Wildnis der Welt, in die ödesten Wüsten verwandeln.

Der Inseleffekt reicht demnach über die Inseln hinaus und ist nicht nur für die traurige Verminderung der Populationen verantwortlich, von der Lovejoys Team berichtet. Er ändert zudem den Austausch des Ökosystems mit der Atmosphäre und der Hydrosphäre, und über diese ruhelosen Sphären verändert er die Bedingungen, die anderswo herrschen. »Niemand ist eine Insel«, sagte John Donne. Nicht einmal eine Insel ist eine Insel.

Lovejoys offizielle Bezeichnung für sein Archipel ist »Projekt zur Ermittlung der kritischen Mindestgröße eines Ökosystems«. Es soll zeigen, wieviel Wald wir fällen können, ohne den Jaguar oder den Adler zu opfern, und darüber hinaus den Mindestbestand für Regen und Wolken ermitteln. Der Verlust der Schmetterlinge, Vögel und Sakiaffen auf den Inseln sind die Indikatoren des Verlusts bestimmter Tätigkeiten des gesamten Ökosystems.

Da auch andere Ökosysteme durch den Treibhauseffekt, den Inseleffekt und andere Nebeneffekte des menschlichen Fortschritts angegriffen werden, geben sie ebenfalls Arten auf und büßen ihre Rollen in der Biosphäre ein. Korallenriffe, subtropische Wälder, nördliche Wälder und Tundren, sie alle haben Funktionen, die vor sehr langer Zeit verteilt wurden, und die die Wissenschaftler bislang kaum erforscht haben. Tatsächlich könnte es sein, daß sie nicht mehr genug Zeit haben, um herauszufinden, worin die Rolle eines jeden Ökosystems besteht. Letztlich sind alle Ökosysteme ebenso gefährdet wie die Migration der Monarchfalter als Einzelphänomen.

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Umweltschutzgruppen auf der ganzen Welt kämpfen für den Erhalt des Regenwaldes, wie sie es auch für andere Lebewesen getan haben, für die Wale und Pandas. Unglücklicherweise sind Regenwälder den Bewohnern der tropischen Zone nicht heiliger, als Kohle und Öl es den Menschen der gemäßigten Zone sind. In Brasilien leben mehr Menschen in Städten wie Belem als im Wald selbst. Die größte Stadt Brasiliens, Sao Paulo, hat annähernd dreizehn Millionen Einwohner. In Sao Paulo scheint der Wald sehr weit weg zu sein. Selbst Manaus, das von Gummibaronen im Herzen des Amazonasgebiets mitsamt einem großen Opernhaus erbaut wurde (und das dann durch die Konkurrenz südostasiatischer Plantagen und die Einführung synthetischen Gummis fast verfiel), ist heute eine Stadt mit über einer Million Einwohnern. In Manaus nennt man den Regenwald inferno verde — grüne Hölle. 

Die Abholzung des Waldes wird durch Hunger und Schulden vorangetrieben. Die Bauern sind hungrig, und die Politiker stecken in Schulden. Südostasiatische Nationen haben schon einen großen Teil ihrer Wälder zu Schleuderpreisen an die Japaner verkauft, und jetzt verhandeln die Japaner um das Recht, Holz am Amazonas schlagen zu dürfen. Der Verlust jedes Waldes macht ein tropisches Land ärmer, aber die Regierungspolitik fördert diese Verluste häufig. In ganz Lateinamerika können Ansiedler das Recht an Parzellen des Regenwaldes beanspruchen, indem sie Bäume fällen — wegen der »Landkultivierung«. Brasilien hat politische Motive für die Entwaldung. Das Land liegt in der Mitte des Kontinents und grenzt an die meisten anderen südamerikanischen Nationen. Brasilianische Politiker haben die Notwendigkeit empfunden, eine nationale Präsenz im Amazonasgebiet zu zeigen. Sie stecken ihre Ansprüche ab, wie andere Nationen es in der Antarktis getan haben. Brasilianer erhielten jahrzehntelang Steuererlaß für das Fällen des Regenwaldes.

1982 brachte die Food and Agriculture Organization der Vereinten Nationen eine Studie über die globale Entwaldung heraus. Die FAO berichtete, in den frühen achtziger Jahren seien jährlich rund elf Millionen Hektar tropischen Regenwaldes gefällt worden. Zur selben Zeit wurden auf etwa einer Million Hektar neue Bäume gepflanzt oder wurde zugelassen, daß Bäume nachwuchsen. Das bedeutet einen Nettoverlust von zehn Millionen Hektar pro Jahr. Diese Fläche entspricht ungefähr der Hälfte Kaliforniens.

Der FAO-Bericht ist soweit vollständig. Aber unglücklicherweise basiert er auf Daten, die auch 1982 schon überholt waren. 

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Satellitenfotos von Indien zum Beispiel zeigen, daß die Wälder dort etwa neunmal schneller abgeholzt wurden, als der FAO-Bericht meldete. Im Erscheinungsjahr des Berichts verlor allein Indien mehr als eine Million Hektar Wald. Wissenschaftler, die sich eingehend mit der globalen Entwaldung befassen, glauben, daß die Regenwälder mit einer Rate von zur Zeit etwa zwanzig Millionen Hektar pro Jahr abgeholzt werden, doppelt so schnell, wie die UNO berichtete. Das sind fast viertausend Quadratmeter pro Sekunde.

Die Entwaldungsrate ist zum Teil deswegen so unsicher, weil das Problem erst vor kurzem ins Bewußtsein der Weltöffentlichkeit vorgedrungen ist. Die ersten Warnungen wurden in den siebziger Jahren durch den Naturschützer Norman Myers laut, der verstreute Berichte aus der ganzen Welt gesammelt hatte und sah, daß es sich um ein globales Phänomen handelte. Viele Wissenschaftler sind der Meinung, daß wir die Rate der Entwaldung ebenso sorgfältig wie die Rate der Verbrennung von Petroleum und die Zunahme des Kohlendioxidgehalts der Luft im Auge behalten sollten. Aber, sagt Lovejoy, ob zwanzig oder vier Hektar pro Minute verschwinden, die Regenwälder vermindern sich zu schnell: »Ihr fangt erst an, darüber zu diskutieren, wenn schon alles gelaufen ist.«

Zwei große Regenwaldgebiete stehen noch. Eines davon ist Zaire im Herzen des Kongobeckens. Das andere ist das Amazonasbecken. Das Amazonasgebiet allein hat fast die Größe der Vereinigten Staaten. Aber Satellitenbilder der NASA zeigen, daß einige Regionen mit exponentiell wachsender Geschwindigkeit abgeholzt werden. Unter Beibehaltung der derzeitigen Rate werden die Wälder des Amazonas in fünfzig Jahren verschwunden sein. Selbst wenn die Geschwindigkeit des Abholzens vermindert wird, dürfte das heutige riesenhafte grüne Waldgebiet in fünfzig Jahren in viele tausend Fragmente zersplittert sein.

Eine Spinne webt im Garten ein Netz aus silbrigen Fäden, und die Biosphäre webt ein Netz aus Gasen in der Atmosphäre. Verliert die Spinne einige ihrer Beine, wachsen diese nach, und sie kann ihr Netz immer noch weben, auch wenn sich das Muster ein wenig ändert. Etwas Derartiges geschieht heute in unserer Atmosphäre und Hydrosphäre: Das Muster, das das Leben auf Erden in die Luft, das Wasser und den Boden webt, ändert sich schon heute von Jahr zu Jahr ein wenig.

Wird eine Gartenspinne durch Drogen oder andere Methoden aus dem Konzept gebracht, können die Fangspiralen im Spinnennetz dramatisch verwirrt sein. Und das ist es, was wir für die nahe Zukunft des Planeten befürchten müssen. Der plötzliche Verlust so vieler Ökosysteme in der Biosphäre wird die Luft, das Wasser und den Boden dramatisch verändern.

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Das ist die endgültige Antwort auf die Philisterfrage: »Was soll's?«, die immer wieder gestellt wird, während wir Spezies um Spezies verlieren. Was ist, wenn wir den Schlangenhalsvogel verlieren oder den Elefanten, oder den Blauwal? Wenn wir die tropischen Regenwälder verlieren? Die meisten Geschöpfe des Regenwaldes sind ohnehin namenlos und unbekannt, und sie werden verschwinden, ohne eine Spur zu hinterlassen, wie Tiefschlafträume; und außerdem, sind es nicht ohnehin hauptsächlich Insekten?

Aber schon der Verlust einer einzigen Spinnenart ändert die Fähigkeit der Biosphäre, auf dem Boden, in der Luft und im Wasser das Netz des Lebens zu weben. Wir fordern ein Geschick heraus, eine Atropos, die den Lebensfaden abschneidet. Wie viele Fäden können wir kappen, bevor wir denjenigen erwischen, von dem unser eigenes Leben abhängt?

Wir wissen es nicht.

Unmittelbar vor der Entwicklung des Homosapiens scheint es, wie E.O. Wilson bemerkt, eine Periode gegeben zu haben, in der mehr Arten auf der Erde existierten, als seit dem Ende des Zeitalters der Dinosaurier vorhanden gewesen waren. »Jeder, der sich einmal mit diesem Thema befaßt hat«, sagt Wilson,

»wird zugeben, daß wir jetzt auf dem absteigenden Ast sind. Jeder Zuwachs, der in jenen hundert Millionen Jahren stattgefunden haben mag, der allmähliche Anstieg in der Anzahl der Arten, wird jetzt sehr bald gestoppt werden. Eigentlich wurde er bereits weitgehend gestoppt. Inzwischen liegen eine Menge Hinweise dafür vor, daß die Menschen schon kurz nach ihrem Auftreten große Tiere auf Madagaskar, in Nordamerika und Südafrika ausgerottet haben. Nordamerika besaß eine Fauna, die sich in bezug auf Formenreichtum und Pracht nicht sonderlich von der Afrikas unterschied, bis vor etwa zehntausend Jahren. Und es steht zu vermuten, daß die frühen indianischen Jäger einen Großteil dieser Vielfalt eliminiert haben. Im Fall Madagaskars ist es wahrscheinlich, daß die Madagassen vor rund tausend Jahren einen großen Teil der Inselfauna ausgerottet haben, darunter einen Halbaffen von Bärengröße und den Madagaskarstrauß, den größten und schwersten Vogel, der je existiert hat, wie viele Forscher meinen. Alle sind sie dahin — wahrscheinlich in den letzten paar Jahrhunderten ausgerottet!«

Kurz, wir haben den Planeten schon ziemlich heruntergewirtschaftet. Und die Vernichtung der tropischen Wälder wird das weiter beschleunigen. Wir leben am Anfang einer Massenausrottung, eines Massensterbens, wie der Planet es seit dem Ende des Zeitalters der Dinosaurier vor rund fünfundsechzig Millionen Jahren nicht mehr erlebt hat.

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In den frühen fünfziger Jahren pflegte die amerikanische Armee von einer Militärbasis namens Cape Canaveral auf Merritt Island in der Nähe von Titusville, Florida, aus Jupiter-C-Raketen abzuschießen. Der Donner der Starts übertönte den Gesang der Strandammern im umliegenden Sumpfland. Das Verbreitungsgebiet dieses Sperlingsvogels gehörte zu den kleinsten aller nordamerikanischen Tiere. Wie die Farmer des Hinterlandes lebten und starben diese Vögel im Umkreis von zwei oder drei Kilometern von Titusville. Jedesmal, wenn der Startlärm vorüber war, erinnerten ihre Rufe im hohen Gras auf anmutige Weise daran, daß das Leben am Banana River wie bisher weiterging.

1961 erklärte John F. Kennedy das militärische Gelände bei Cape Canaveral als ständigen Startplatz des neuen Raumfahrtprogramms.

Die NASA kaufte weitere zwanzigtausend Hektar von Merritt Island und begann, Startplätze, riesige Steueranlagen und Mondraketen zu bauen. Sieben Jahre später hoben drei Männer von Cape Canaveral aus ab, um den Mond zu umfliegen. Sie kamen mit jenem gefeierten Foto vom »Erdaufgang« wieder nach Hause, das unseren Planeten zeigt, wie er über dem Mondhorizont aufgeht: eine blaue Sphäre des Lebens, die sich gegen die Wüste des Mondes abhebt. Das Bild wurde durch Hunderte von Umweltschutzgruppen auf der ganzen Welt berühmt gemacht — was einigermaßen ironisch anmutet, wie der Raumfahrthistoriker Walter A. McDougall in <The Heavens and the Earth> anmerkt: Die Ökologiebewegung »erwarb ein hübsches Sinnbild durch dieselbe Technik, die sie bekämpfte«.

Als Kennedy Cape Canaveral auswählte, gab es rund sechstausend Strandammern im Sumpfland. Als die Astronauten den »Erdaufgang« fotografierten, waren es bereits weniger als zweitausend. 1980 fand man nach sorgfältiger Suche noch sechs Exemplare, nur Männchen. 1986 war noch einer übrig, Orange Band. Er lebte in einem unbeschrifteten Käfig in Discovery Island, dem Zoo bei Walt-Disney-World in Orlando, Florida. Er war etwa um die Zeit geschlüpft, als die Ausdehnung Cape Canaverals begann. 

Orange Band hatte Übergewicht (dreißig Gramm). Er war auf einem Auge blind, hatte Gicht und war ein bißchen unsicher beim Starten und Landen. »Er ist immer noch bei uns — aber er wird auch nicht jünger«, sagte der Zooverwalter zu Besuchern. Orange Band war zu einem Symbol geworden — ein Sinnbild für die Notwendigkeit der Wiederbelebung und Erweiterung des Artenschutzgesetzes von 1973.

Die Strandammern hatten diesen Punkt erreicht, obwohl für sie zunächst ein Reservat angelegt worden und der Sumpf als Teil eines Programms zur Kontrolle der Moskitos um Cape Canaveral geflutet worden war. Dann entstand eine Schnellstraße von Cape Canaveral nach Disney World, die den Sumpf zerteilte. Später legten Grundstücksmakler die Ränder dessen trocken, was vom Sumpf noch übrig war. Schließlich kam eine Serie von Bränden.

Wir könnten die NASA verantwortlich machen, oder die Behörden, die das alles zuließen, oder die Grundstücksmakler. Aber die Vögel starben wegen eben jener Lebensraumaufteilung, die überall auf dem Planeten stattfindet. Kurzfristig betrachtet erscheint das Phänomen lokal und zufällig... Dinge, die halt vorkommen. Aber auf lange Sicht handelt es sich um eine stetige, globale, sich verstärkende Kraft, die ebenso unerbittlich ist wie die Ausdehnung eines Gletschers oder Gases. Stück für Stück, Schnitt für Schnitt, gehen die Arten unter, weil unsere Interessen es verlangen.

»Wer beachtet den Untergang der Strandammern?« fragte ein Ökologe in der <New York Times>, als die letzten Vögel starben. Die Welt richtete ihr Augenmerk auf einen anderen Teil von Merritt Island. Selbst wenn das Aussterben dieser Vögel mit absoluter Sicherheit vorhergesagt worden wäre, hätte Kennedy diese Startbahnen mit großer Wahrscheinlichkeit doch genehmigt, und die Nation würde hinter seiner Entscheidung gestanden haben. Umwelt­schützer hätten nicht gewagt, sich einen derart unpopulären Ort auszusuchen, um einen Posten zu errichten.

Orange Band starb im Juni 1987.

Wir befassen uns mit den Aktivitäten der Menschen, einer raumfahrenden Art. Jeder Angehörige dieser Art stellt eine Supermacht dar, und der Wettbewerb auf der Erde ist nicht mehr gerecht. Andere Arten sind an diesen oder jenen Flecken Moor gebunden, und an diesen Planeten. Wir fühlen uns an keinen Flecken Moor oder an die Erde gebunden. Wir opfern einen Sumpf, eine Meeresbucht, einen Park, einen See. Wir opfern einen Vogel.

Wir tauschen einen Countdown für einen anderen ein.

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The Next One Hundred Years / Die Klimakatastrophe