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Kapitel 2

Eine Welt, die aus den Nähten platzt

Weisman-2013

 

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Cape Canaveral, Juni 1994: 600 Wissenschaftler und Ingenieure werden in einer Karawane blauweißer klimatisierter Busse über das Gelände des John-F.-Kennedy-Space-Center kutschiert. Sie sind aus 34 Ländern zur World-Hydrogen-Energy-Conference gekommen, vereint durch den Traum, die auf schmutziger Kohle und Erdöl basierende Wirtschaft unseres Planeten in eine saubere Wasserstoffökonomie zu verwandeln, und haben Entwürfe für Autos, Geräte, Flugzeuge, Heiz- und Kühlgeräte, ja ganze Industrien mitgebracht - alles schadstofffrei.

Für sie ist dies eine inspirierende Pilgerreise. Der weiße kugelförmige Tank auf der Abschussrampe, von der aus die Raumfähre Columbia bald in den Weltraum geschickt werden wird, ist mit reinem Wasserstoff gefüllt. Schon vor den Mondflügen wurden für die Stromversorgung der NASA-Astronauten im Weltall Wasserstoff-Brennstoffzellen genutzt, wiederauffüllbare Vorrichtungen, die so wie Batterien Treibstoff direkt in elektrische Energie umwandeln. Der Wasserstoff, den die NASA verwendet, wird zwar mittels eines Prozesses, mit dem auch Kohlendioxid produziert wird, aus Erdgas gewonnen, doch die Konferenzteilnehmer hoffen, dass die Effektivität der Solartechnologie bald so weit verbessert werden wird, dass Wassermoleküle statt Kohlenwasserstoffe den Rohstoffbilden.

Fast zwei Jahrzehnte später hoffen sie und eine neue Generation von Forschern wie Tareq Abu Hamed vom Arava Institute noch immer auf eine wirtschaftliche Methode, saubere Wasserstoffenergie zu produzieren. Das ist frustrierend, weil es im Universum mehr Wasserstoff gibt als alle anderen Elemente zusammengenommen. Ob er in einem Kolbenmotor verbrannt oder in eine Brennstoffzelle injiziert wird, die Abgase sind einfach Wasserdampf. Theoretisch könnten diese Abgase eingefangen, kondensiert und wieder zur Wasserstoffgewinnung genutzt werden, ad infinitum. Ein perfektes geschlossenes System - mit Ausnahme eines ärgerlichen Details: In diesem Universum kommen brauchbare Mengen reinen Wasserstoffgases auf natürliche Weise nur an Orten wie der Sonne vor. Auf der Erde hingegen existiert Wasserstoff nur in Verbindung mit anderen Elementen wie Sauerstoff, Kohlenstoff, Stickstoff und Schwefel. Ihn freizusetzen - das H aus dem H2O herauszulösen -erfordert mehr Energie, als der Wasserstoff produziert. Es ist nicht im Entferntesten möglich, so viele Sonnenkollektoren zu installieren, wie nötig wären, um unserem Zivilisationsgrad entsprechend genügend Wasserstoff aus Wasser zu gewinnen. Nach jahrelangen Versuchen ist die effektivste Methode der Wasserstoffgewinnung immer noch die, ihn mithilfe von Heißdampf aus Erdgas zu gewinnen, ein Prozess, der auch den lästigen Schadstoff CO2 freisetzt.

Das ist sehr unerfreulich, vor allem, weil der NASA-Direktor Daniel Goldin bei der Konferenz von 1994 etwas Beunruhigendes mitzuteilen hatte. Im vergangenen Jahrzehnt, so Goldin, hatten Satellitendaten gezeigt, dass die Meeresspiegel der Welt um fast zweieinhalb Zentimeter gestiegen waren. Goldin musste dies seinen Zuhörern nicht näher erläutern: Sie kannten den Zusammenhang zwischen diesem Anstieg, den globalen Temperaturen und dem Kohlendioxid, das beim Gebrauch fossiler Energiequellen ausgestoßen wird. Weltweit stammen vier Fünftel unserer Energie von alten organischen Abfallprodukten, die die Natur für das Weiterbestehen des Planeten nicht brauchte, sodass sie sicher vergraben wurden. Im Lauf von Äonen wurde das vergrabene organische Material zu Kohle und Erdöl komprimiert. In weniger als drei Jahrhunderten förderten die Menschen dann eine Masse zutage, die sich über Millionen von Jahren gebildet hatte, und verbrannten sie. Ihre Abgase reicherten die Atmosphäre mit mehr Kohlendioxid an, als die Erde seit mindestens 3 Millionen Jahren gesehen hat. Damals herrschte auf der Welt ein ziemlich mildes Klima, und die Ozeane lagen 30 Meter höher.

Das war einer der beiden Gründe, warum die Wasserstoffforscher darauf erpicht waren, eine Alternative zu fossilen Brennstoffen zu finden. Der andere Grund wurde an jenem Nachmittag von einem Physiker namens Albert Bartlett angesprochen.

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Der emeritierte Professor der University of Colorado gab zu, wenig von Wasserstoff, aber einiges von Arithmetik zu verstehen. Besonders faszinierte ihn, was passiert, wenn Dinge beginnen, sich zu verdoppeln. »Stellen Sie sich eine Bakterienart vor«, sagte er, »die sich vermehrt, indem sie sich zweiteilt. Aus diesen zweien werden vier, aus den vieren werden acht und so weiter. Nehmen wir an, wir stecken ein Bakterium um 11 Uhr in eine Flasche und sehen mittags, dass die Flasche voll ist. Zu welchem Zeitpunkt ist sie halb voll gewesen?« Die Antwort lautet, wie sich herausstellte, 11:59 Uhr. Seinem Publikum dämmerte es, und Bartlett nickte, das kahle Haupt von ein paar übrig gebliebenen grauen Haarbüscheln umkränzt. »Wenn Sie nun ein Bakterium in dieser Flasche wären«, fuhr er fort, »an welchem Punkt würde Ihnen dann klar werden, dass Ihnen der Platz ausgeht? Um 11:55 Uhr, wenn die Flasche erst zu 1/32 voll ist und es 97 Prozent freien Raum gibt, der sich nach Entwicklung sehnt?«

Alle kicherten. »Nehmen Sie nun an, dass die Bakterien, als ihnen nur noch eine Minute bleibt, drei neue Flaschen entdecken, die sie bevölkern können. Sie seufzen erleichtert auf: Sie haben dreimal so viele Flaschen, wie sie gedacht haben, und damit den vierfachen Raum. Das macht sie, was den Raum angeht, eindeutig autark. Richtig

Natürlich nicht. Nach genau zwei weiteren Minuten wären nämlich alle vier Flaschen voll, wie Bartlett erklärte.

Exponentielle Verdoppelung, so Bartlett, verschlingt nicht nur Raum. 1977 sagte US-Präsident Jimmy Carter in einer Rede an die Nation: »In den 50er-Jahren haben wir doppelt so viel Öl wie in den 4oer-Jahren verbraucht, in den 60er-Jahren doppelt so viel wie in den 50er-Jahren. Und in jedem dieser Jahrzehnte wurde mehr Öl verbraucht als in der gesamten vorherigen Menschheitsgeschichte.« Als das Jahrhundert sich dem Ende zuneigte, hatte sich diese Rate jedoch zwangsläufig verlangsamt.

»Wir haben die tief hängende Frucht gepflückt«, sagte Bartlett. »Weitere zu finden wird zunehmend schwieriger.«

Albert Bartlett wusste damals noch nichts von den Fracking-Technologien des 21. Jahrhunderts, mit denen Erdgas aus Gestein freigesetzt wird, oder den Technologien, mit denen man Öl aus Teersand gewinnen kann. Besser gesagt:

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Er wusste schon davon, doch da der Ölpreis damals bei rund 13 Euro pro Barrel lag, wären die Förderkosten unverhältnismäßig gewesen - diese Früchte hingen zu hoch. Dennoch: Sie waren nicht mehr als bloß das Äquivalent für ein paar neue Flaschen. Da die Nachfrage weiterhin exponentiell steigt, weil Länder wie China und Indien die USA überholen, schenken sie uns im besten Fall noch ein paar Jahrzehnte - und viel mehr CO2.

Albert Bartlett, der inzwischen Ende 80 ist, hat seine Bakterienflaschen-geschichte mehr als 1500-mal erzählt: Studenten, Wissenschaftlern, politischen Entscheidungsträgern und jeder Gruppe, die bereit ist, ihm zuzuhören. »Sie scheinen es immer noch nicht zu begreifen«, lamentiert er und verurteilt das, was ihn wie eine Wette darauf anmutet, wie viel Schaden fossile Brennstoffe noch anrichten werden, bis sie erschöpft sind. Währenddessen buddeln die Menschen munter weiter und immer tiefer nach ihnen.

Es verblüfft ihn, dass die Leute das Konzept der exponentiellen Verdoppelung als so schwierig empfinden, selbst wenn er es mit weiteren Beispielen verdeutlicht. Eines von ihnen ist eine Legende, die sich um die Erfindung des Schachspiels rankt. Ein indischer Herrscher ist fasziniert von diesem neuen Spiel, das einer seiner Untertanen erfunden hat. Er lässt diesen Sissa ibn Dahir zu sich kommen. »Such dir eine Belohnung aus«, befiehlt er. »Was immer du willst.«

»Ich möchte nur Reiskörner, um meine Familie ernähren zu können«, sagt Sissa.

»In Ordnung«, erwidert der Herrscher. »Wie viel brauchst du?«

»Nur ein bisschen. Tatsächlich können Eure Hoheit es auf dem Schachbrett abwiegen. Legt ein Reiskorn auf das erste Quadrat. Legt dann zwei Reiskörner auf das zweite und verdoppelt anschließend die Menge bei jedem Quadrat. Das wird ausreichen.«

Der Herrscher hatte einfach nicht bedacht, dass jemand, der sich ein Schachspiel ausdenken konnte, ein cleverer Mathematiker sein musste. Am Ende der ersten Reihe des Schachbretts, dem achten Quadrat, hatte der Erfinder 128 Reiskörner - kaum ein Bissen. Beim 16. Quadrat war er bei 32768 Reiskörnern angelangt. Nach drei Reihen waren es 8388608, genug, um die Vorratskammern des Palastes zu leeren. Bei der Hälfte des Schachbretts wäre der Herrscher dem Erfinder sämtlichen Reis in

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Indien schuldig gewesen - und beim letzten Quadrat Trillionen Reiskörner: mehr als der gesamte Planet jemals produziert hatte. So weit kam es natürlich nicht, da der Herrscher den listigen Sissa längst hatte enthaupten lassen. Anderen Versionen der Legende zufolge musste Sissa zur Strafe die unvorstellbare Reismenge Korn für Korn zählen, worüber er gestorben ist.

Es gibt andere Beispiele, bei denen man sich ebenfalls an die Stirn fasst: Wenn man ein Blatt Papier faltet und immer weiter falten könnte nach siebenmaligem Falten ist normalerweise das Limit erreicht), wäre es nach 42-maligem Falten so dick, dass es bis zum Mond reichen würde. Der Unterhaltungswert des exponentiellen Verdoppelns lässt nach, wenn es einem dämmert, dass man selbst zu den Verdopplern gehört. Albert Bartlett, der in Boulder, Colorado, lebt, hielt seinen Vortrag erstmals in den 60er-Jahren, als er auf eine Broschüre der Handelskammer stieß, in der es hieß: »Boulder mit seiner sich in zehn Jahren verdoppelnden Bevölkerung ist in der Tat eine stabile und wohlhabende Gemeinde.«

Schnelles Kopfrechnen zeigte Bartlett, dass Boulder im Jahr 2000 größer sein würde als New York City, wenn es sich weiter verdoppelte, olle Stabilität! Glücklicherweise verlangsamte sich das Tempo, da die Jewohner von Boulder sich dagegen wehrten, alle leeren Flaschen of-enen Raums zu füllen, die ihre Stadt umgaben, aus Furcht, die landschaftliche Schönheit, eben der Grund, weshalb sie dort lebten, könne - zusammen mit dem Wasservorrat der Stadt - verschwinden.

In den vergangenen Jahren hat Bartlett mit dem Vorschlag, der Immigration in die Vereinigten Staaten ein Ende zu setzen, bevor diese völlig überbevölkert sein werden, eine Kontroverse entfacht. Doch selbst Kritiker, die die ethische, praktische, soziale und ökologische Vielschichtigkeit einer solchen Maßnahme anzweifeln, erheben keine Einwände gegen seine Berechnungen - vor allem dann nicht, wenn es sich um Größen­ordnungen handelt, bei denen wir den Überblick darüber verlieren, was mit uns geschieht. Wie zum Beispiel bei der Frage der Bevölkerung. 1900 gab es auf der Erde 1,6 Milliarden Menschen. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts verdoppelte sich die Weltbevölkerung ein erstes und dann noch ein zweites Mal. Wie viel Platz bleibt da noch in unserer Flasche übrig? Woher sollen wir wissen, ob sie nicht bereits voll ist?

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Von Cape Canaveral starten keine Raumfähren mehr ins All. Und noch etwas ist in Florida zum Stillstand gekommen, zumindest für den Moment: der größte Boom frei stehender Häuser in der Geschichte. 1999 berichtete die Tampa Tribüne, dass die Flächennutzungspläne für die 470 Städte und Bezirke des Landes auf 101 Millionen Bewohner hinauslaufen würden, also so viele, als würde man »die Bevölkerungen von Kalifornien, Texas, New York und Pennsylvania in Florida hineinpferchen«. Diese Zahl zeugt davon, dass die Planer von Florida regelmäßig Obstgärten, Farmen, die Tierwelt, Seen, Flüsse und Grundwasserleiter unberücksichtigt lassen.

Zehn Jahre später bewiesen die geisterhaft leeren Vororte, die eines der seltensten Ökosysteme der Welt, die Everglades, zurückdrängen, dass sie mehr als das unberücksichtigt ließen. Eine Einöde aus leeren, mit spanischen Fliesen ausgelegten Einfamilienhäusern, geschlossenen Einkaufszentren und unfertigen Krankenhäusern, erbaut auf Land, das ein Jahrzehnt zuvor Marschland gewesen war, das Waldstörche und die vom Aussterben bedrohte Florida-Strandammer bevölkert und Tomatenfelder gesäumt hatten, wurde zunehmend von Schimmel überzogen.

Dies ist einer von mehreren Ground Zeroes in Amerikas Sonnengürtel als Folge der Subprime-Hypothekenkrise von 2008. Als es den Banken an geeigneten Hauskäufern mangelte, weil die Mittelschichtjobs ausgelagert wurden, erfanden sie Hypotheken, die auf dem Hirngespinst basierten, dass jemand, der sich monatliche Zahlungen auf Darlehen mit sechs Prozent Zinsen nicht leisten konnte, wundersamerweise in der Lage sein würde, sieben oder zehn Jahre später wesentlich höhere Raten zu bezahlen. Sie verpackten dann Tausende dieser zweifelhaften Darlehen und verkauften sie, versehen mit dem beeindruckenden Namen Derivat, an übertölpelte Investoren weltweit. (Um das Maß voll zu machen, kauften sie Baissepositionen auf diese Pakete, die ihnen einen ordentlichen Profit garantierten, sollten die Pakete sich als wertlos erweisen.)

Vermutlich hat die Welt ihre Lehren daraus gezogen - nur dass die Kommunalverwaltungen trotz des wirtschaftlichen Massakers, das Florida 300.000 leere Wohneinheiten bescherte, seitdem 550.000 weiteren Wohneinheiten zugestimmt haben. Ein derart offensichtlicher Realitätsverlust weist auf das hin, was Psychologen vielleicht als dysfunktionale

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Koabhängigkeit zwischen unserer Bevölkerung und unserer Wirtschaft bezeichnen würden. Wenn wir die wirtschaftliche Gesundheit, wie normalerweise üblich, an der Anzahl der Gebäude messen, mit deren Bau monatlich begonnen wird, muss jemand in den Häusern leben, die da gebaut werden, und sie möblieren und einrichten und alles kaufen, was nötig ist, um sie zu unterhalten. Das sind viele Produkte, die alle die Jobs derjenigen repräsentieren, die sie hergestellt und verkauft haben. Je mehr Arbeitsplätze, desto mehr Arbeiter sind nötig - wo immer sie auch leben -, um diese zu besetzen; je mehr Produkte, desto mehr Kunden, um sie zu kaufen. Das klingt nach einem hübschen Kreislauf und wäre vielleicht auch einer - gäbe es da nicht das Mehr.

An irgendeinem Punkt entsteht irgendwo ein Mangel. Beim Zusammenbruch des Wohnungsmarktes bestand ein Mangel an Menschen mit ausreichend Geld, um ihre Hypotheken zu bezahlen, was zu Millionen von Zwangsvollstreckungen führte. Doch wie überall in der Welt wächst die Zahl der Menschen auch in den USA - womit auch die Wirtschaft weiter wachsen muss, die für Nahrung, Kleidung und Unterkunft dieser Menschen sorgt und ihnen über diese Grundbedürfnisse hinaus auf so vielfältige Weise dient, wie sie es brauchen oder wünschen, und sie auf so vielfältige Weise davon überzeugt, dass es noch etwas Neues und Aufregendes gibt, das sie ebenfalls brauchen. Statt mit einem Kreislauf haben wir es also mit einer Spirale zu tun. Die Zahlen steigen, die Städte breiten sich aus, der Wohnungsbau nimmt zu, und dann haben wir es plötzlich mit einem unkontrollierbaren Wildwuchs zu tun. Was - sofern man nicht zu den Bauunternehmern gehört - zu viel des Guten ist.

In den 50er-Jahren lebten weltweit noch zwei Drittel der Bevölkerung auf dem Land. Heute lebt mehr als die Hälfte in Städten. Stadtbewohner, die weniger Landarbeiter brauchen, haben in der Regel weniger Kinder. In der Tat verdoppelt sich die Menschheit nicht mehr im selben Tempo wie zuvor. Doch Verlangsamung ist nicht gleichbedeutend mit Nullwachstum. Zu sagen, die Urbanisierung habe das Problem der Überbevölkerung gelöst, heißt, die Tatsache zu ignorieren, dass das Stalltor in weiten Teilen der Welt erst geschlossen wurde, nachdem die Pferde bereits ausgerissen waren.

Selbst wenn die heutigen Generationen im Vergleich zu ihren Großeltern und Eltern pro Familie weniger Kinder bekommen, bevölkern

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doch alle viereinhalb Tage eine Million mehr Menschen unseren Planeten. Das klingt selbst in den Ohren eines Schulkindes nicht wirklich zukunftsfähig.

Inzwischen gibt es an die 500 Städte mit einer Million oder mehr Menschen. 27 Städte haben über zehn Millionen Einwohner und zwölf davon über 20 Millionen. (In der Metropolregion Tokio sind es sogar 35 Millionen.) Bis zur Mitte dieses Jahrhunderts wird unsere Zahl bei unserem derzeit verlangsamten Tempo erneut um fast die Hälfte gestiegen sein, sodass wir bei neun bis zehn Milliarden* oder sogar mehr gelandet sein werden, die alle Abfall produzieren, Kohlendioxid ausstoßen und Nahrung, Brennstoff, Wohnraum und eine Vielzahl von Dienstleistungen benötigen - und im Fall derjenigen, die in jüngster Zeit vom Umland in die Stadt gezogen sind, beträchtlich mehr Elektrizität, um ihre Handys aufzuladen und den unvermeidlichen Fernseher laufen zu lassen.

Der CO2-Ausstoß nimmt unaufhörlich zu. Die Wissenschaftler Paul Murtaugh und Michael Schlax von der Oregon State University gehen in einer Studie von 2008 in Bezug auf die späteren Emissionen der Nachkommen einer Mutter davon aus, dass in den USA unter den derzeitigen Bedingungen »jedes Kind rund 9441 Tonnen Kohlendioxid zum Karbonvermächtnis einer durchschnittlichen Frau hinzufügt, das heißt das 5,7-Fache der Emissionen, die sie in ihrem gesamten Leben verursacht«. Man braucht nicht die mathematischen Fähigkeiten eines Physikers, um zu ermitteln, dass etwas schiefläuft, wenn es in einem Jahrzehnt gleich zweimal zu Flutkatastrophen und Stürmen kommt, die es eigentlich nur alle 500 Jahre geben sollte. In den vergangenen Jahren habe Schüler auf jedem bewohnten Kontinent und Archipel miterlebt, wie ihre Schulen überflutet wurden.

Während wir bereits damit zu kämpfen haben, sieben Milliarden Menschen ernähren zu müssen, und plötzlich konfrontiert werden mit Überraschungen wie Staubstürmen aus China, die groß genug sind, um ganze Ozeane einzuhüllen, oder in Flammen aufgehenden Wäldern in Nordamerika, Sibirien und Australien, übersteigt die Aussicht, für zehn Milliarden plus sorgen zu müssen, unsere Vorstellungskraft.

* Diese weithin akzeptierte Schätzung stammt von der United Nations Population Division (Abteilung für Bevölkerungsfragen der Vereinten Nationen).

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Aber vielleicht holt uns hier die Realität genauso ein wie bei den zweitklassigen Krediten. In der gesamten Geschichte der Biologie hat jede Spezies, deren Rohstoffbasis zu klein für sie wurde, einen Zusammenbruch ihrer Population erlitten - der manchmal für die gesamte Spezies tödlich war. Die Frage ist vielleicht nicht nur die, ob wir aufhören müssen zu wachsen, sondern ob wir, um unseres eigenen Überlebens willen, unsere Zahl auf menschenwürdige Weise von ihrem jetzigen auf einen Stand senken müssen, mit dem wir alle leben können.

Ob es uns passt oder nicht: Dieses Jahrhundert wird höchstwahrscheinlich entscheiden, welches die optimale Bevölkerungszahl für unseren Planeten ist. Zu dieser Entscheidung wird es folgendermaßen kommen:

Entweder beschließen wir, das Bevölkerungswachstum in den Griff zu bekommen - oder die Natur wird es für uns tun, in Form von Hungersnöten, Durst, Klimachaos, zusammenbrechenden Ökosystemen und Kriegen um schwindende Ressourcen, die unsere Zahl schließlich dezimieren. Eine Bevölkerungskontrolle, wie China sie versucht hat, beschwört erschreckende Bilder von Regierungen herauf, die in unsere Schlafzimmer und sogar in unsere Kinderzimmer eindringen. Doch eine Reihe von Kulturen hat weniger intrusive Wege gefunden, die Menschen davon zu überzeugen, dass kleinere Familien ihrem eigenen wie auch dem Interesse ihrer Gesellschaft dienen könnten.

Und auch dem besten Interesse ihres Planeten?

»Die Vorstellung, dass wachsende Bevölkerungszahlen den Planeten zerstören werden, ist Unsinn. Der übermäßige Konsum allerdings wird dies tun«, hieß es 2010 in einem Artikel des Prospect Magazine, der den Titel trug: »Der Mythos der Überbevölkerung.« Dem würden viele zustimmen: die Unmengen an Plunder reduzieren, mit dem wir uns umgeben, und einen kleineren Fußabdruck hinterlassen, damit wir nicht alles um uns herum zerstören. Und teilen lernen: Wenn alle Nahrungsmittel, die wir anbauen, gerecht verteilt werden würden, wäre genügend für alle da.

Dies sind würdige Ziele.

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Doch die Vorstellung, dass unser aller Konsumdrang in absehbarer Zukunft erstickt werden könnte, ist wahrscheinlich Wunschdenken. Wenn die Rettung des Planeten von der Änderung der habsüchtigen Natur des Menschen abhängt - was unter anderem bedeuten würde, sich den riesigen Budgets für kommerzielle Werbung zu widersetzen -, wird die Erde wahrscheinlich gründlich geplündert worden sein, lange bevor dieser Wandel vollzogen ist.

Und was die gerechte Verteilung der Nahrungsmittel angeht: Heißt das unter allen lebenden Spezies oder nur unserer eigenen? Seit Gott Noah wissen ließ, dass er, um das Überleben des Menschengeschlechts zu sichern, nicht nur seine Familie, sondern auch alle Tiere retten müsse, sollte klar sein, dass eine Welt ohne sie nicht denkbar ist. Da die Nahrungsproduktion für die Menschen derzeit jedoch rund 40 Prozent der nicht gefrorenen Oberfläche der Erde in Anspruch nimmt, haben wir, wenn man all unsere Straßen, Großstädte und Kleinstädte hinzurechnet, die Hälfte des Planeten für nur eine Spezies in Beschlag genommen - für uns. Wie sollen da all die anderen Lebewesen ihr Leben bestreiten?

Wenn wir alle Vegetarier wären, brauchten wir nach Meinung derer, die es schon sind, nur ein Viertel dieses Landes, da der gesamte Rest derzeit für weidendes Vieh genutzt wird oder dafür, Futter für diese Tiere anzubauen. (Und bei der Produktion von einem Kilogramm Rindfleisch wird genauso viel Kohlendioxid ausgestoßen wie von einem durchschnittlichen Auto auf rund 250 Kilometern und zehnmal so viel Wasser verbraucht wie bei der Produktion eines Kilos Weizen.) Das ist schon ganz richtig - aber wiederum nicht so einfach, da die weltweite Nachfrage nach Fleisch nach wie vor steigt und nicht fällt. Die meisten Leute lechzen nach Fleisch, wenn sie es sich denn endlich leisten können. Gesünder oder nicht, die Vegetarier werden so bald nicht die Vorherrschaft erringen - und die Veganer erst recht nicht.

Da die Bevölkerung vor allem in den ärmsten Ländern wächst und da es vor allem arme Frauen sind, die viele Babys bekommen, ist es wohl äußerst ungerecht zu erwarten, dass ausgerechnet die Schwächsten die Welt von dem Schaden erretten, den die Mächtigsten ihr zugefügt haben. »Die Umweltzerstörung der Überbevölkerung zuzuschreiben entlässt den wirklichen Übeltäter aus der Verantwortung«, heißt es in 10 Reasons to Rethink »Overpopulation«, einem Themenpapier, das 2006

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auf PopDev veröffentlicht wurde, einer Website von Betsy Hartmann, Frauengesundheitsaktivistin und Leiterin des Population and Development Program des Hampshire College. »Man braucht sich nur den Ressourcenverbrauch anzusehen«, so Hartmann, »denn die fünf reichsten Völker der Welt konsumieren 66-mal so viel wie die ärmsten fünf. Die USA sind der größte Emittent der für die globale Erwärmung verantwortlichen Treibhausgase - und am wenigsten bereit, etwas dagegen zu unternehmen.«

Abgesehen davon, dass China inzwischen mehr CO2 ausstößt als die USA und das Ungleichgewicht zwischen Reich und Arm noch größer geworden ist, haben diese Argumente nichts von ihrer Überzeugungskraft verloren. Doch fair oder nicht: Im heutigen globalen Ökosystem spielt jeder Einzelne eine Rolle. Unsere schiere Anzahl hat inzwischen einen Punkt erreicht, an dem wir im Grunde genommen das Konzept der Erbsünde neu definiert haben. Vom Moment der Geburt an verschärft auch der Bescheidenste von uns die wachsenden Probleme der Welt, indem er erst einmal Nahrungsmittel, Brennholz und ein Dach über dem Kopf braucht. Wir alle stoßen buchstäblich und im übertragenen Sinne CO2 aus und verdrängen andere Spezies. Und die USA sind nicht nur ein ungeheuerlicher Umweltverschmutzer, sie wachsen auch noch weiter, und das schneller als jedes andere Industrieland. Jede Diskussion über eine Reduzierung der Bevölkerungszahl, die die USA nicht mit einschließt, wäre sinnlos - und rassistisch.

Dann wären da noch die, die gern alles durch eine rosarote Brille sehen und sagen, dass die Notwendigkeit immer Erfindungen hervorgebracht hat, wenn wir sie brauchten, und dass wir mit unserem kreativen Talent für technologische Entwicklungen sicher eine Lösung finden werden - Israels technologischer Optimismus. »Wir lernen, tiefer zu graben, schneller zu pumpen. Und wir erfinden neue Energiequellen«, schrieb Julian Simon, ein Ökonom der University of Maryland, 1996 in seinem Buch The Ultimate Resource 2. Die ultimative Ressource, von der Simon sprach, war der menschliche Einfallsreichtum, und er trat für Bevölkerungswachstum ein, damit wir mehr davon hätten.

Doch bislang haben alle technologischen Neuerungen, die irgendetwas lösen sollten, andere unvorhergesehene Probleme erzeugt. Und außerdem handelt es sich, wie die Wasserstoffgemeinde weiß, um sehr

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knifflige Probleme. Zu diesen gehört die andere Form der auf Wasserstoff basierenden Energie, die kalte Fusion - im Grunde genommen eine kontrollierte Wasserstoffbombe -, deren geplante Verfügbarkeit ständig 40 Jahre entfernt zu liegen scheint. Bislang sind unsere besten alternativen Energiequellen die Sonne und der Wind. Obwohl es zahlreiche Möglichkeiten gibt, sie viel stärker zu nutzen, als wir dies tun, haben wir kaum damit begonnen, und das größte Unternehmen der Welt, das fest entschlossen ist, auch den letzten Tropfen Öl aus der Erdkruste zu pressen, bringt uns in Sachen alternative Energien auch nicht wirklich weiter. Selbst wenn wir unsere Energieeffizienz stark verbessern würden, wäre es zum gegenwärtigen Zeitpunkt bei Weitem nicht möglich, die Sonnen- und Windenergie so zu steigern, dass sowohl der Bedarf all unserer Transportmittel und unserer Industrien gedeckt wäre als auch der Chinas und Indiens.

Und selbst wenn wir eine wirklich grenzenlose, emissionsfreie Energiequelle herbeizaubern könnten, würde sie weder unseren Verkehrsproblemen abhelfen noch die Ausbreitung der Städte verhindern können. Sie würde zwangsläufig nur den Hunger nach neuen Ressourcen stimulieren. Doch es gibt eine Technologie, die tatsächlich etwas bewirken könnte, und wir verfügen bereits über sie: eine, mit der wir die Anzahl der Konsumenten drosseln können.

Familienplanung - ein weniger belasteter Begriff für Geburtenkontrolle - kann nicht alles lösen. Wir sollten dennoch versuchen, so viele Menschen wie möglich, vor allem Vertreter der kommenden Generation, von energiesüchtigen Karnivoren in miteinander teilende, umweit -bewusste und wenig CO2 ausstoßende Nachhaltigkeitsvertreter zu verwandeln. Die Familienplanung birgt auch Gefahren in sich: Wie alles andere, was Menschen tun, kann sie missbraucht werden - und wurde das ja auch schon wie im Fall der Rassenhygiene. Und davor, dass ein Bevölkerungsrückgang eine schrumpfende Wirtschaft bedingt, haben wir bereits reichlich Angst. Doch wenn die Zahlen sinken - wie dies in Japan der Fall ist, dessen alternde Bevölkerung bald abnehmen wird -, dann gibt es vielleicht neue Chancen, zu Wohlstand zu gelangen, die wir in dem zwanghaften Bestreben, immer weiter zu wachsen, verpasst haben.

Hierzu gehört die Chance, den Wohlstand gerechter zu verteilen, als wir es bisher getan haben. Lassen Sie uns den Begriff Bevölkerungsoptimum also als die Zahl der Menschen definieren, die einen Lebensstandard genießen können, den die Mehrzahl von uns als akzeptabel empfinden würde. Ein Lebensstandard etwa auf dem europäischen Level vor der Euro-Krise: geprägt von einer weitaus geringeren Energieintensität, als wir sie aus den Vereinigten Staaten oder China kennen, um einiges höher als in großen Teilen Afrikas oder Südostasiens und mit dem höchstmöglichen Prozentsatz gebildeter, gleichberechtigter Frauen - was vielleicht das effektivste Verhütungsmittel überhaupt ist.

Wie viele Menschen also könnten einen solchen Lebensstandard haben, ohne dass es schadet? Und wie gelangen wir an diesen Punkt?

Seit dem Auftauchen des Homo sapiens dauerte es fast 200.000 Jahre, bis unsere Bevölkerung um 1815 die Marke von einer Milliarde erreichte. Inzwischen sind wir siebenmal so viele. Wie in aller Welt war das nur möglich? Wie konnte es nur dazu kommen?

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