1. DDT - Der wohlwollende Henker
Widener-1970
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Im Jahr 1948 ging der Nobelpreis für Medizin an den Schweizer Chemiker Dr. Paul Müller. Zu dieser Zeit schien es, als hätten wenige Menschen diese hohe Ehre besser verdient; denn es war Dr. Müller, der die geradezu magische Kraft des DDT entdeckt hatte - einer weißlichen, kristallinen Substanz mit der phantastischen Fähigkeit, Insekten zu töten ohne - wie es schien - Menschen zu schädigen.
Obwohl man es bereits 1874 in Deutschland synthetisch hergestellt hatte, blieben seine Qualitäten als Insekten-Ausrotter verborgen, bis Dr. Müller sie erkannte. Seither hat, wie man annimmt, dieses Mittel Millionen Menschenleben gerettet, DDT unterdrückte viele von Insekten übertragenen Krankheiten wie etwa Fleckfieber und Malaria.
Landwirtschaftliche Großbetriebe, Forstverwaltungen, aber auch Millionen von Kleingärtnern bedienten sich nach Ende des Zweiten Weltkriegs begeistert dieser Substanz. Hier war endlich ein Stoff, der sich gegen einen breiten Fächer von Insekten wirksam erwies. Bauern verstreuten DDT in wachsenden Mengen auf ihren Äckern, Forstbeamte besprühten jeden Schädling, vom Kiefernbohrer bis zur Zigeunermotte, Hausfrauen lernten rasch, den neuen Staub als Allheilmittel gegen alles, was Fühler und Flügel hat, einzusetzen.
Währenddessen untersuchten Chemiker in den Laboratorien des ganzen Landes jeden nur denkbaren Aspekt des DDT in Hunderten von Experimenten: seine Wirkung zu Land und auf See, an allem, was gehen, schwimmen oder fliegen kann. Eine Papierflut von wissenschaftlichen Berichten entstand; viele klangen verwirrend, andere bedrückend; erste Anzeichen meldeten sich, daß dieser neuentdeckte Glücksvogel in Wirklichkeit ein Geier war.
Zahlreiche Wissenschaftler, die seit Einführung des DDT Gewissensbisse verspürt hatten, erinnerten sich plötzlich an Dr. Müllers Warnung, daß über die »Nebeneffekte« des DDT nur wenig bekannt sei. Mit Anbruch der fünfziger Jahre begannen einzelne, ihre Besorgnis zu äußern. Die »Supersubstanz« fing an, gefahrdrohende Züge zu zeigen. Im Jahre 1962 schlugen aus dem Dunst helle Flammen, als Rachel Carsons berühmtes Buch Silent Spring (Der Stumme Frühling) erschien, das zum erstenmal die schizoide Natur des DDT entlarvte. Die Verfasserin traf den Nagel auf den Kopf, als sie seine Unzerstörbarkeit in unserem Lebensraum nachwies und zeigte, daß es blindlings tötet. Seine Bedeutung für die Menschheit wurde dramatisch geschildert in ihrer Vision von einer Welt ohne Wild und Singvögel.
Der erbitterte Angriff auf das DDT war Miss Carsons Beitrag zur Verteidigung der Menschheit. Leider hatte sie damit aber zugleich jene chemisch-landwirtschaftliche Bruderschaft attackiert, die bis zu diesem Zeitpunkt Arm in Arm, unbelästigt von den Zeitgenossen, dahinmarschiert war. Die Streitkräfte der pharmazeutischen Industrie leiteten unverzüglich einen Gegenangriff ein, bei dem sie aus allen Rohren auf den neuen Feind schossen. Miss Carson, sagten sie, verhalte sich herzlos und gleichgültig gegenüber den humanitären Tugenden des DDT. Außerdem, bemerkten sie verächtlich, mangele es ihr an den »notwendigen Vorkenntnissen«; alles in allem sei sie nichts weiter als ein verrücktes altes Mädchen, eine »Vogelbeobachterin«.
Während zahlreiche kommerzielle Chemiker DDT für nicht gefährlicher als Speiseeis hielten, malten die Sprecher der landwirtschaftlichen Verbände in düsteren Farben die Schrecken einer Welt aus, die nicht mehr von Pestiziden oder »Insektentötern« geschützt wird. Sie beschworen das Bild einer Armee überstarker, räuberischer Insekten herauf, die durch Amerikas Äcker wandern und alles verschlingen, was nicht aus Eisen ist oder der Methodistenkirche angehört. Während dieser aufregenden Zeit für Regierung und Industrie wurde nur selten von der Tatsache gesprochen, daß Amerika - durch schieres Glück oder Hilfe der Geister - jahrhundertelang den Angriffen der gleichen Insekten getrotzt hatte. Das spielte jetzt keine Rolle; die Gefahr war klar und augenscheinlich: Ohne DDT würden die kleinen Teufel uns massakrieren und fressen.
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Der Angriff gegen Miss Carson war so massiv, die Entrüstung der Gegner so komplett, als habe die unglückliche Dame das Christkind auf dem Weg zum Waisenhaus überfallen. Doch sie blieb hart und schlug zurück, wie die Boxer sagen, Fuß an Fuß mit den Leuten, die sie diffamierten, bis zu ihrem Tod, der zwei Jahre später erfolgte. Es gehört zu den Ungerechtigkeiten der Zeit, daß wir mitunter nicht lange genug leben, um die Wirkung unserer Arbeit zu erkennen. So erging es auch Rachel Carson. Hätte sie etwas länger unter uns geweilt, würde sie voll Freude festgestellt haben, daß ihr Angriff gegen das DDT wirksamer gewesen war als die Verteidigungsmanöver ihrer Feinde.
Heute, acht Jahre später, kann man sagen, daß es Miss Carson gelang, die Meute der Pestizid-Verteidiger aus dem Sattel zu schießen. Als die sechziger Jahre ihrem Ende zugingen, begannen die Totenglocken für das DDT zu läuten. Der Minister für Gesundheit, Erziehung und Wohlfahrt (Health, Education and Weifare) Finch kündigte einen zweijährigen Bann des Mittels für alle Verwendungszwecke an, die nicht »grundsätzlich wichtig« waren. Das US-Ministerium hegt ähnliche Pläne für andere »harte« Insektenschutzmittel, und der Bann wird sich nicht nur auf die Anwendung, sondern auch auf die Herstellung erstrecken. Wir werden später lesen, warum dies notwendig erscheint.
Endlich waren führende Regierungskreise aufgewacht und hatten die Gefahr des DDT erkannt. Diese späte Erkenntnis bietet allerdings Gelegenheit zu ein paar unangenehmen Fragen. Wie kam es überhaupt, daß örtliche, regionale und staatliche Stellen so viel Zeit zu ihrer Entschließung gebraucht hatten, obwohl Miss Carson den Übeltäter bereits eine Dekade zuvor bloßstellte und Forschungsberichte seit langem vorlagen?
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Das amerikanische Landwirtschaftsministerium hat die harten Pflanzenschutzmittel seit ihrer ersten Anwendung stur verteidigt und sich dabei freundschaftlich mit chemischen Konzernen verbrüdert, die diese Substanzen herstellen und verkaufen. Das Bündnis entstand auf der Basis gemeinsamer Ziele; es hatte zur Folge, daß die pipelines des ddt nicht verstopft wurden, trotz wachsender Beweise für die gefährlichen Nebeneffekte des DDT und obwohl Wissenschaftler und Laien gleichermaßen dagegen Stellung bezogen. Das unheilige Bündnis zwischen dem USDA (US Department of Agriculture) und den Interessen der chemischen Industrie fiel schließlich einem Senatsausschuß, der die Arbeit der Ministerialbürokratien überwacht, auf.
Mit dem Flugzeug versprühen die Farmer ihre Staubladungen von Insektiziden über ihre Äcker
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Im Herbst 1969 erteilte er dem Landwirtschaftsministerium eine scharfe Rüge, weil es sich geweigert hatte, Warnungen des HEW-Ministeriums über das gefährliche Ansteigen von Giftstoffen - Überresten von Pflanzenschutzmitteln - in der Nahrung der Amerikaner zur Kenntnis zu nehmen.
Der Bericht des Ausschusses enthielt den Vorwurf, die USDA und ihre Abteilung, die sich um die Reglementierung des Verbrauchs von Pestiziden kümmert (PRD), hätten HEW-Berichte einfach ignoriert, während sie der Registrierung von rund zweihundert Pflanzenschutzmitteln zustimmten. Der Ausschuß rügte die mangelnde Initiative des usda; diese habe nicht einen einzigen Strafantrag in den letzten zehn Jahren gestellt, »obwohl nachgewiesen sei, daß es wiederholt zu Verstößen der Frachtgesellschaften gekommen sei«. Interessenskollision bei der Vergebung von Ämtern, in Washington so häufig wie Cocktailparties, wurde durch den Bericht dieses Ausschusses ebenfalls sichtbar. Fälle wurden genannt, in denen der Name »Shell-Chemie« auftauchte. So hatte einmal ein Beamter der PRD (die über die Zulassung von Chemikalien entscheidet) seinen Job bei der Regierung verlassen und war zu Shell übergewechselt. In einem anderen Fall war die Sache umgekehrt verlaufen: Landwirtschaftsminister Orville Freeman hatte 1965 einen führenden Mann von Shell damit beauftragt, der PRD bei der Suche nach Kriterien behilflich zu sein, die angewendet werden, ehe über die Zulassung einer Substanz entschieden wird.
Der Bericht des Ausschusses ließ durchblicken, die Bande zwischen Regierungsstellen und chemischer Industrie seien, gleich dem ddt, zu wirksam und zu langlebig. Das ist eine bessere Erklärung für die magische Existenz dieses Pestizids als man sonst hört: Die Regierung habe keine festen Beweise für die potentielle Gefährlichkeit des Mittels gehabt. Es fällt nicht schwer, auch für idiotische Thesen Beweise zu finden. So gibt es beispielsweise Zeitgenossen, die ablehnen, daß die Erde rund ist - trotz der Apollo-Flüge zum Mond. So betrachtet ist es gar nicht verwunderlich, daß noch heute ein starker Freundeskreis für das Mittel plädiert, in der Regierung wie in der Industrie.
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Bis zur Stunde können manche Beamte und Industriechemiker nichts entdecken, was gegen eine weitere Verwendung von DDT spricht: Eine sehr merkwürdige Haltung, in Anbetracht dessen, was wir inzwischen über dieses Pflanzenschutzmittel wissen. Seit dem Tag, an dem die Wissenschaft die Kontrolle über das DDT aufgab, hat es sich jeder menschlichen Kontrolle entzogen. Wie Frankenstein lehnte es ab, nach einer angemessenen Zeitspanne zu sterben, zeigte dafür aber die verhängnisvolle Neigung, dort aufzutreten, wo man es gar nicht eingeladen hatte.
Betrachten wir seine Langlebigkeit. Freunde des ddt erzählen gerne, die Substanz habe vermutlich eine »Halbwertzeit« von zehn Jahren, was bedeutet, daß der Stoff innerhalb einer Dekade die Hälfte seiner Wirksamkeit verliert. Diese Angabe beruht auf reiner Phantasie; sie stellt bestenfalls einen Durchschnittswert dar, weil ddt sich unter verschiedenen äußeren Umständen verschieden rasch zersetzt. Der »Zehnjahresplan« entbehrt jeder wissenschaftlichen Fundierung. Vielmehr weiß kein Mensch, wie lange DDT tatsächlich seine ursprüngliche Potenz bewahrt.
Ein Biologe, mit dem ich mich über das Schutzmittel unterhielt, zuckte die Achseln und lehnte rundweg ab, eine Prognose über die »Lebensdauer« des DDT zu stellen. »Wer zum Teufel kennt sie? Meine eigene Schätzung würde fünfzig Jahre sein, vielleicht auch neunzig oder hundert. Aber von einem Faktum bin ich so überzeugt, daß ich mein Geld darauf wette: Alles, was bisher an DDT angewendet und versprüht wurde, ist immer noch wirksam ...«
Natürlich ist es gerade diese Super-Standhaftigkeit, die das ddt gleichzeitig zu einem Fluch und zu einem Segen für die Welt machte. Für den Farmer bedeutete die Langlebigkeit einfach ein fetteres Bankkonto. Dem Insektenproblem gab es den Gnadenstoß. Während das Mittel nicht so toxisch ist wie andere Schutzmittel - von denen einige Tropfen, auf die menschliche Haut gebracht, bereits fatal wirken können -,
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wirkt es in der Landschaft lange, lange Zeit und tötet still vor sich hin. Eine einzige Anwendung erfüllt ihren Zweck, während andere Pestizide innerhalb von Wochen oder Tagen »zerbrechen« (in sogenannte Metabolite zerfallen) und damit unschädlich werden. Auf dem Bauernhof entwickelt sich daraus ein direktes Verhältnis zwischen Wirksamkeit und Wohlstand - man spart Mehrausgaben für Zeit, Personal und für die Anschaffung von Pflanzenschutzmitteln. Wer kein ddt oder andere langlebige Mittel benutzt, muß seine Äcker und Plantagen öfter besprühen, um zu den gleichen Ergebnissen zu kommen. Das bedeutet größere Unkosten für den Farmer und damit höhere Kosten für den Verbraucher.
Von Natur aus ein Nomade, wandert ddt durch die Landschaft wie ein Hippie, dem jemand sein Scheckbuch anvertraut hat. Man hat errechnet, daß der Farmer sich glücklich schätzen darf, dessen Flugzeug (zur Versprühung von Schädlingsbekämpfern) auch nur die Hälfte seiner Staubladung ins Ziel bringt. Einmal freigelassen, begibt sich ddt auf die Wanderung. Ein Teil wird mit dem Wasserdampf von der Erde hochgerissen, ein anderer Teil findet ein Leck in der Bodenkruste, schwimmt ab ins Grundwasser und erreicht auf diesem Weg den nächsten Bach oder Fluß. Mit oder ohne Absicht wird das Zeug oft geradezu auf Wasseroberflächen versprüht. Einmal in der Luft oder im Wasser angelangt, heften sich die DDT-Moleküle an Schwebeteilchen - etwa an Staub. Ihr letztes Ziel sind in jedem Fall die Ozeane oder die Seebecken vor den Küsten. Es wird dorthin abgeschwemmt durch den Regen, durch die fließenden Gewässer, es fällt vom Himmel zusammen mit dem Staub. Die ozeanischen Ströme wirbeln es dann um den Erdball.
Da ddt mit solch zielstrebigem Eifer über sämtliche Landschaften der Welt ausgestreut wird, erscheint ein Verbot der Anwendung - und nicht der Herstellung - als lächerlich. Ein Bauer, der in Italien seine Orangen einsprüht, bestäubt möglicherweise zugleich Westindiens Plantagen; denn das Insektizid überquert mit Hilfe des Windes in wenigen Tagen den Ozean.
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Ebenso kann ein Bauer in Kalifornien Äcker, die Tausende von Kilometern entfernt im Innern der USA liegen, mit seinen Sprühgeräten verseuchen. Da rund achtzig Prozent des ddt, das in den usa hergestellt wird, an andere Nationen verkauft und exportiert werden, wäre ein Verbot der Anwendung in den usa ebenso gut, als ob man versuchte, gegen den Wind zu spucken. Wir hätten unsere biologische Schrotflinte lediglich mit einem Bumerang vertauscht. Heutzutage ist ddt so weltweit vertreten wie die Gerichtsvollzieher. Man findet keinen noch so abgelegenen Flecken, auf dem sich nicht eine Kolonie dieses Insektentöters häuslich eingerichtet hat. Pinguine der Antarktis haben ddt in ihrem Muskelfleisch - der Tatsache zum Trotz, daß das Mittel niemals über oder auch nur in der Nähe der Antarktis versprüht wurde.
Da ddt in Wasser unlöslich ist, trödelt es herum wie ein arbeitsloser Neffe der Familie. Während es ablehnt, sich mit dem Meerwasser zu vermischen, entwickelt es eine unglückliche Leidenschaft für Öle und Fette, in denen es sich bereitwillig löst. Das ist besonders schändlich, da nahezu jeder Organismus im Ozean in wechselnder Konsistenz Öl oder Fett enthält. Lebewesen bieten daher dem ddt ein Heim, in dem es sich glücklich und für lange Zeit niederläßt. ddt, das immer weiter in die Weltmeere einströmt, findet sich bereits im Plankton, das heißt in den mikroskopisch kleinen Pflanzen und Tieren, die in gigantischer Zahl die Ozeane bevölkern.
Plankton, dessen Name von dem griechischen Wort »wandern« stammt, wird von Meeresströmen mitgenommen oder schwimmt aus eigener Kraft, wenn auch langsam. Sowohl das Phytoplankton (Pflanzen) als auch das Zooplankton (Tiere) enthalten öle, die ddt aufnehmen und beherbergen; wiederum stellen beide das tägliche Brot für Fische und andere Meerestiere dar. Das ddt wird also durch die Nahrung an die Planktonfresser weitergegeben, und die Menge der Pestizid-Rückstände, die man ohnehin in Fischen findet, wächst weiter an.
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Kleine Fische werden von größeren gefressen, die ihrerseits noch größeren als Beute dienen, und so läuft es durch die ganze ozeanische »Futterkette« hindurch. Bei jedem neuen Schritt wird der Bestand an Pestizid-Rück-ständen größer; man nennt diesen Vorgang biological magnification oder biologische Anreicherung.
Daher beherbergen, wie die Wissenschaft inzwischen feststellte, Meeresbewohner wesentlich höhere Konzentrationen des Mittels als ihre Umwelt. Um es an einem Zahlenbeispiel klar zu machen: Meereswasser enthält ddt im Verhältnis von einem Teil zu mehreren Billionen, während das ddt im Fettgewebe größerer Fische im Verhältnis von eins zu mehreren Millionen auftritt.
(Das ist die europäische Zählung, bei der auf die Million erst die Milliarde, dann die Billion folgt. Die Amerikaner rechnen etwas anders. Doch in beiden Fällen lautet das Ergebnis, daß eine millionenfache Konzentration des Pflanzenschutzmittels stattfindet, wenn es die ozeanische »Futterkette« passiert. A.d.Ü.)
Der winzige Gehalt an ddt (verglichen mit dem Volumen des Wassers) ist das Lieblingsargument der Pestizid-Lobby, aus dem sie immer wieder Kapital schlägt. Man erklärt, die Substanz sei in einer solchen Verdünnung vorhanden, daß es Mühe mache, sie überhaupt nachzuweisen. Das stimmt. Doch man zieht daraus einen Schluß, der nicht stimmt: Weil nur so wenig davon vorhanden sei, könne es nicht schaden. Es kann schaden und schadet.
Ganz am Ende der maritimen Futterkette stehen Vögel und andere Lebewesen, die sich von Fischen ernähren. Beträchtliche DDT-Rückstände im Futterfisch werden an diese unglücklichen Kreaturen weitergegeben. Die Wirkung auf Vogelarten wie den Braunen Pelikan, den Weißkopfadler (Wappentier der USA), auf Wanderfalken, Fischadler und Bermuda-Sturmtaucher oder Petrels - um nur einige zu nennen - ist katastrophal. Allen droht die restlose Vernichtung. In den meisten Fällen setzt die Noxe des ddt an der Quelle des Lebens an und greift in den Mechanismus der Reproduktion ein; zu deutsch: der Muttervogel kann nicht mehr genug Kalk produzieren, die Eier im Nest haben dünne Schalen, oft nicht mehr als eine Haut und werden beim Brüten durch das Gewicht des Vogels zerdrückt.
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Der seltene, elegante Bermuda-Petrel oder Sturmtaucher ist eines der Opfer. Man glaubte bereits, seine Art sei ausgestorben, bis man vor einigen Jahren in der Nähe der Bermudas eine kleine Kolonie der Vögel entdeckte; doch obwohl sie auf offener See leben, auf kahlen, unbewohnten Schären, sind sie der Bedrohung durch das Pflanzenschutzmittel nicht entgangen. Die Petrels lieben Futter, das reich an Öl und Fett ist -und daher auch reich an ddt. Seit den späten fünfziger Jahren sinkt die Überlebensrate junger Sturmtaucher drastisch ab. Man fürchtet, daß diese Vögel um das Jahr 1980 nur noch ausgestopft in Museen oder als Farbfoto in den Vogelhandbüchern existieren werden.
Wanderfalken, die schnellen, starken Jäger, hochgerühmt von den adeligen Falknern des Mittelalters, scheinen ebenfalls im Spiel mit dem DDT den kürzeren zu ziehen. Im Osten der USA wurden bereits sämtliche Gelege vernichtet, in Kalifornien werden die Eierschalen von Jahr zu Jahr dünner. Auch dort kämpfen die Wanderfalken um ihre Existenz. Und der Braune Pelikan, dieser Held zahlloser Geschichten und Verse? Auch er kämpft an der pazifischen Küste Nordamerikas um sein Leben. Im Jahr 1969 wurden, wie die Vogelwarten melden, überhaupt nur noch zwei Pelikan-Küken aufgezogen. Untersuchungen am Institute for Marine Resources der Universität von Kalifornien in Berkeley bestätigen die Gefahr, die dem Vogel droht: Auf der Insel Anacapa vor der Küste Südkaliforniens fand man nur noch leere Nester oder Nester mit zerdrückten Eiern.
Einmal nisteten diese Pelikane zu Tausenden an Kaliforniens Küsten. Jetzt scheint es unvermeidbar, daß sie von der Bühne abtreten, wie schon zuvor ihre Vettern in Louisiana und Texas. (Daß sich Louisiana als »Pelikanstaat« bezeichnet, ist eine besondere Ironie der Geschichte). In beiden Bundesstaaten lebten die Braunen Pelikane, bevor das ddt in Erscheinung trat.
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Doch in den späten vierziger Jahren begann die Plage der Pestizide; ddt wurde aus Äckern ausgeschwemmt und in den Mississippi gespült. Wenige Jahre danach waren die Pelikane verschwunden. Da sie nun offenbar auch bald aus ihrem letzten Schutzgebiet Kalifornien verschwinden werden, gibt es keinen vernünftigen Grund für die Annahme, sie würden nochmals nach Louisiana oder Texas zurückkehren ... oder zu irgendeinem anderen Punkt der amerikanischen Landkarte.
Gelegentlich ist die DDT-Anreicherung in einem Fisch so stark, daß der Vogel, der einen solchen Fisch frißt, sofort schwer geschädigt wird. Dies geschah vor kurzem mit einem Weißkopfadler, der auf der Stelle gelähmt wurde. Normalerweise ergeht es diesem Vogel wie dem Braunen Pelikan: Das Gift wirkt mittelbar auf die Fortpflanzung ein. Dieser Adler steht, wie der Kondor Südamerikas, längst auf der Liste der zum Aussterben verdammten Vogelarten. Wie wirkte sich diese Erkenntnis nun auf die harten Kämpfer für das ddt aus? Rührt sie der Gedanke an diese ökologische Katastrophe? Äußern sie irgendwelche Worte des Bedauerns? Man merkt nichts davon. Sie scheinen die Tatsache nicht einmal zur Kenntnis zu nehmen, und wenn sie gelegentlich zugeben, daß ddt möglicherweise wildlebende Tiere vernichtet, dann tun sie, als geschehe es rein zufällig, vereinzelt und durch ein Zusammentreffen unglücklicher Umstände. Wie es ein Wissenschaftler bei der Verteidigung des ddt einmal ausdrückte:
»ddt hat zweifellos Vögel getötet... beispielsweise Rotkehlchen, die sich direkt vor die Düse eines Sprühgeräts setzten, das Ulmen von der holländischen Ulmenkrankheit kuriert...«
Wollten wir solche Worte ernst nehmen, müßten wir schließen, das Leben in der Natur sei ungefährdet, solange die Tiere sich brav hinter den Sprühgeräten aufhalten. Wir wollen es einmal glauben. Aber wenn auch alle Pelikane, Adler, Falken, Kondore und so weiter, die jetzt aussterben,
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zielsicher ihre Standplätze vor den Düsen der DDT-Sprühgeräte aufsuchten - wie gelang es den Bermuda-Sturmtauchern, diese Düsen zweitausend Meilen auf offener See zu finden? Dieses Rätsel bleibt, wie es scheint, vorerst ungelöst. Die Bermuda-Petrels müssen eine wissenschaftliche Glanzleistung vollbracht haben.
Zyniker halten es nicht für ausgeschlossen, daß die zitierte Bemerkung kommerzieller Blindheit oder alarmierender Dummheit entsprang - und möglicherweise einer Kombination der beiden. Vielleicht hätte man an die»Rotkehlchen-vor-der-Sprühdose«-Theorie noch in den vierziger Jahren glauben können, als nur wenig über die Wirkungen des ddt bekannt war. Doch schon im Verlauf der fünfziger Jahre mußte jeder Wissenschaftler, der etwas von ddt und anderen langlebigen Stoffen verstand, imstande sein, die kommende Katastrophe zu wittern.
Schädlingsbekämpfung in den Wäldern des Staates Maine (1,2 kg ddt pro Hektar) führte bereits 1954 zu einem gewaltigen Fischsterben. Als man 1959 ein ähnliches Experiment in Illinois durchführte (3,3 kg Dieldrin pro Hektar) kam es zu schweren Verlusten unter dem Wild; nahezu alle Vögel wurden ausgerottet. In diesem Fall ging es um den Versuch, den »Japankäfer« auszurotten. Und als man in Michigan das gleiche Ziel unter Verwendung von Aldrin anstrebte, kam es dort (1959-1961) zum Tod von achtunddreißigtausend Wildtieren und Vögeln. Auch der Distrikt Paris in Tennessee erhielt 1964 eine kräftige Dosis Dieldrin, das von Flugzeugen abgesprüht wurde, um einen bestimmten Schädling zu vernichten. Und natürlich kam es auch hier zu einem großen Sterben unter den Tieren. Fische, Tauben, Singvögel, Kaninchen, Eichhörnchen, alle starben, nebst einer Anzahl Insekten. Das Wasserreservoir einer Stadt wurde mit der Substanz verseucht. Glücklicherweise entdeckte man es, bevor das Wasser den Verbrauchern zugeleitet wurde.
Gespenstisch ragen die von Blattläusen und Zweigen befreiten Bäume gen Himmel
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Als der Zwischenfall bekannt wurde, protestierten die entrüsteten Bewohner, und diese Behandlung aus der Luft wurde aufgegeben. Es gibt Hunderte solcher Berichte, die detailliert beschreiben, welche Resultate bei der Anwendung von ddt oder anderen »harten« Pestiziden verzeichnet wurden. Jedesmal führten die Ergebnisse zu der gleichen Schlußfolgerung: Derartige Chemikalien verursachen schwere Schäden, sowohl augenblicklich als auf lange Zeit. Aus irgendeinem Grund wurde diese Handschrift an der Wand, so groß und so deutlich lesbar, von dem USDA, das sämtliche Chemikalien in den USA prüft, mißachtet. Warum das so war, ist noch zu klären. Möglicherweise hat der Senatsausschuß mehr entdeckt, als er selber wahrhaben will.
So oder so, um das Jahr 1969 muß die Geschichte ein wenig kritisch geworden sein; denn nun kündigte das USDA an, es werde die Anwendung des ddt und anderer langlebiger Pestizide in den kooperativen Programmen der Bundesstaaten (etwa beim Pflanzenschutz in staatlichen Forsten) beschneiden. Unmittelbar danach erfolgte eine zweite Mitteilung: Der Gebrauch der Substanz sollte auf zivilen Flughäfen gebremst werden - nicht aber auf militärischen. Es ist interessant, daß die USDA die Reduzierung von DDT-artigen Mitteln damit begründete, man wolle das Wild schützen und einer Verseuchung des Bodens vorbeugen - daß aber etwa zur gleichen Zeit der Leiter des Landwirtschaftlichen Forschungsdienstes der USA, erklärte, die Freigabe des ddt könne nicht rückgängig gemacht werden, bevor nicht der Beweis vorliege, daß das Mittel gefährlich oder wirkungslos sei. Für beide Behauptungen, meinte er, gebe es keine Beweise. Dabei lagen aber überwältigende Beweise dafür vor, daß der Gebrauch harter Pestizide gefährlich ist - für alle Formen des Wildlebens, möglicherweise auch für den Menschen.
Auch die Wirksamkeit des ddt (im guten Sinn) ist nicht über jeden Zweifel erhaben. Es hat keine einzige Schädlingsart radikal ausgelöscht, wohl aber rund hundertfünfzig Arten immunisiert.
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Das ist eine altbekannte Geschichte. Insekten sind schrecklich anpassungsfähig und hartnäckig. Bei der ersten Anwendung eines Mittels erwischt man nahezu hundert Prozent einer Schädlingspopulation. Doch schon im nächsten Jahr sind es nicht mehr so viele Schädlinge, die dem Mittel zum Opfer fallen, und im nächsten wieder weniger. Der Stamm wird »resistent«. Das fanden die Engländer heraus, als es im Sommer 1969 zum Streik der Londoner Müllabfuhr kam. Während sich Müll- und Unratgebirge auftürmten, befanden sich die Londoner in einem Kampf mit »Superfliegen«, die allen harten Pestiziden einschließlich DDT trotzten.
Und der Mensch?
Wie wirkt das Pflanzenschutzmittel auf ihn? Informationen sind spärlich, doch was bekannt wurde, hat die Ärzte beunruhigt. Die Wirkung, die sich einstellt, wenn man größeren Mengen ddt ausgesetzt wird, ist bekannt: als Symptome treten tränende Augen, starkes Schwitzen, Sehbehinderung und Durchfall auf. Eine sehr große Dosis verursacht Atemnot, eine merkwürdige Purpurfärbung der Haut, mitunter Bewußtlosigkeit. Doch nur wenige Menschen haben genug ddt inhaliert oder geschluckt, um in diese Situation zu geraten. Doch es gibt andere, gefährlichere Langzeit-Effekte, ddt ist ein kumulierender Stoff, der sich im Fettgewebe von Mensch und Tier niederläßt und - wie ein Flaschenteufelchen - dort bleibt, bis sich ihm Gelegenheit zum Ausbrechen bietet. Fett ist eine Energiereserve, die in Notfällen abgerufen wird ... bei einem Zugvogel etwa während eines langen, anstrengenden Flugs. Dann wird Fett abgebaut, eingelagertes ddt befreit und in das Blutsystem gepumpt. Solche Giftspritzen können sich als tödlich erweisen.
Inzwischen fragen die Wissenschaftler, ob das gleiche nicht beim Menschen eintreten könnte. Wenn etwa ein Mensch mit Übergewicht während einer strengen Diät abmagert - kann der DDT-Transfer im Blut Krankheit, vielleicht sogar Tod verursachen?
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Andererseits wissen wir, daß unser Körper auf verschiedene Drogen und Chemikalien bei der Anwesenheit von ddt anders als gewöhnlich reagiert. Die metabolisierenden Fähigkeiten der Leber beispielsweise ändern sich unter dem Einfluß dieses Insektizids. Man weiß auch, daß bei Mäusen, denen eine große Dosis ddt zugeführt wurde, Krebs auftrat.
Es besteht keine Möglichkeit, die Langzeit-Effekte dieses Wirkstoffs auf den Menschen vorauszusagen. Was bleibt, sind nutzlose und gefährliche Spekulationen. Weil wir uns vor vielen Jahren nicht um die Warnungen kümmerten, ist die Welt nun durchtränkt mit der Substanz, und daran wird sich in den nächsten Dekaden wenig ändern. Im Guten, wohl eher aber im Schlechten, sind wir mit diesem chemischen Produkt verheiratet. Denn eines scheint festzustehen: Was immer die Veränderungen sind, die ddt bei uns hervorruft - es werden immer Verschlechterungen sein, niemals Verbesserungen.
Ein Grund für den unerwarteten Tatendrang der usda (als sie schließlich doch auf die DDT-Bremse trat) war zweifellos die neuartige Courage einiger amerikanischer Wissenschaftler! Normalerweise sind sie ein etwas träger Haufen; doch jetzt scharten sie sich in wachsender Zahl um jene, die ein ddt-Verbot forderten. Im Mai 1969 warnte eine große Gruppe von Meeresforschern, angeführt von Dr. John Phillips jr., dem Direktor der Hopkins Marine-Station in Stanford, den Gouverneur von Kalifornien Reagan in einem offenen Brief vor den Gefahren der Pestizide.
Der Brief wurde von zweiundsechzig Doktoren der Naturwissenschaften unterschrieben, die insgesamt sechzehn weltbekannte ozeanographische Institute am Pazifischen Ozean vertraten. Es befanden sich zahlreiche Forschungsstellen der kalifornischen Universitäten darunter, ferner das berühmte Scripps-Institut, die biomedizinische Forschungsstelle der Universität von Hawaii, das Hartnell-College von Salinas und die Schule für Forscher der amerikanischen Marine - um nur einige zu nennen.
In diesem Aufruf zogen die Wissenschaftler den Schluß, „der wissenschaftliche Beweis liegt nun über jeden Zweifel erhaben vor, daß ddt und seine Rückstände ernsthafte, nicht wieder gutzumachende Schäden unter der Bevölkerung nützlicher Vögel und Fische angerichtet haben«. Sie forderten am Ende des Schreibens dringend ein Verbot des ddt und seiner Anwendung.
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Während aber der Staat Kalifornien, Amerikas größter DDT-Verbraucher, immer noch unschlüssig auf der Stelle trat, und ebenso das USDA, schritten andere Staaten zur Tat. Michigan untersagte über Nacht den weiteren Gebrauch von ddt - nachdem mehrere Tonnen wertvoller Coho-Lachse aus Lake Michigan wegen überhöhten DDT-Gehalts aus dem Handel gezogen werden mußten. Arizona folgte unmittelbar danach. Der DDT-Rückstand in den Milchprodukten dieses Staates war so hoch geworden, daß man die Molkereierzeugnisse nicht mehr verkaufen konnte.
In Schweden wurden DDT und andere Mittel wie Lindan und Dieldrin verboten, als die Fischereibehörden voll Schrecken feststellen, daß die Ostsee inzwischen so DDT-haltig geworden ist, daß einzelne Nutzfischsorten für den Verkauf nicht mehr zugelassen werden können. Dänemark folgte unmittelbar hinterher, im Herbst 1969. Finnland und Norwegen stimmten den Entschlüssen der skandinavischen Schwesternstaaten zu und bereiteten ähnliche Gesetze vor.
Doch es handelt sich nicht nur um Fisch und Molkereiwaren. Schon 1968 mußten Tonnen von Salat aus der »Kopfsalat-Hauptstadt der Welt« (Salinas, Kalifornien) auf Befehl der amerikanischen FDA (Food and Drug Administration) vernichtet werden, weil eine Untersuchung zeigte, daß der Salat 9,1 ppm (Teile pro Million) des gefährlichen Pflanzenschutzgifts enthielten - 2,1 ppm über der amtlich zugelassenen Höchstgrenze. Das USDA brauchte nochmals ein Jahr, bevor sie anordnete, daß Salat nur in der frühen Zeit des Wachstums mit Toxaphen oder ddt eingestäubt werden darf, nicht mehr aber, wenn sich bereits der Kopf gebildet hat und die Pflanze reift. Die Behördenvertreter erklärten, dies geschehe, damit keine Pestizid-Rückstände auf den Pflanzen kumuliert werden.
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Der letzte Staat der USA, dessen Wirtschaft von ddt geschädigt wurde, war Arkansas, wo man am Erntedankfest entdeckte, daß es diesmal wenig Grund zum Erntedank gab. Eine große Zahl von Truthühnern war 1969 direkt auf den Turkey-Farmen mit Füllungen versehen worden, und diese Füllungen, die dem Verbraucher die Arbeit in der Küche erleichtern sollten, waren voll von ddt. Die unglücklichen Puten mußten vernichtet werden, wie schon zuvor die Coho-Salme und der prächtige Kopfsalat von Salinas. Zweifel Erhoben sich, ob Pestizide wirklich den Bauern sparen helfen. Auf die Dauer dürften etwas teurere Lebensmittel besser sein als gar keine Lebensmittel.
Wenn dies alles den Leser immer noch nicht beunruhigt, dann vielleicht ein Problem in den Tiefen des Ozeans. Es hat nichts mit den Fischen zu tun, von denen wir bereits sprachen. In einem schlichten, nur zwei Seiten langen wissenschaftlichen Beitrag verkündete Science (29. März 1969): »DDT reduziert die Photosynthese bei ozeanischem Pytoplankton.« Dr. Charles F. Wurster von der Abteilung Biological Services an der Staatsuniversität von New York, Verfasser des Beitrags, gab dem Menschen unserer Zeit die Möglichkeit, einen flüchtigen Blick auf den Tag des Jüngsten Gerichts zu werfen. Phytoplankton, wir sagten es schon, sind winzige Pflanzen, die in den großen Meeren treiben. Photosynthese ist der Prozeß, der den Pflanzen erlaubt, mit der Hilfe des Sonnenlichts aus einfacher Kohlensäure und Wasser Kohlenwasserstoffverbindungen aufzubauen und Sauerstoff abzugeben, den alle Tiere zum Atmen brauchen. Phytoplankton ist nicht nur die Grundnahrung, das Graubrot aller Meerestiere; es produziert auch rund siebzig Prozent des gesamten Sauerstoffs, ohne den/ wir ersticken müßten.
Dr. Wursters Untersuchung zeigte, daß ddt die Fähigkeit des Phytoplanktons, Sauerstoff herzustellen, reduziert, woraus er schloß, diese Produktionsstörung könne »von einem gewissen ökologischen Wert sein«.
Er fügte die dunkle Warnung hinzu, es sei überhaupt nur wenig über die Einwirkung des DDT auf mikroskopisch kleine, treibende Pflanzen der Weltmeere bekannt und sagte nach der Veröffentlichung: »Da nun einmal ein wesentlicher Teil der gesamten Photosynthese in der Welt durch das Phytoplankton erfolgt, könnte sich ein Eingriff in diesen Prozeß als wichtig für die gesamte Biosphäre erweisen.«
Die Biosphäre ist jene biologisch notwendige Umwelt, in der wir leben, atmen, essen, trinken, verdauen, lieben und unseren täglichen Arbeiten nachgehen. Der Mensch kann weiterleben, wenn einige Fabriken oder ganze Industrien stillgelegt werden. Er kann nicht weiterleben, wenn sich die Biosphäre verändert. Er hat sich, wie alle anderen Tiere, im Lauf der Evolution an das Leben in einer ganz bestimmten Umwelt angepaßt.
Dr. Wursters Arbeiten fanden in einem Labor statt, nicht im offenen Meer. Zu seinen Experimenten nahm er Wasser, das mit ddt stärker angereichert war als das Meereswasser. Andererseits weiß man, daß sich (durch biological magnification) im Phytoplankton ddt bis zu einem Grad anreichert, der wesentlich höher liegt als es dem Anteil des ddt im Meerwasser entspricht. Wird, so lautet die Frage, das Plankton der Ozeane möglicherweise ebenso von DDT beeinflußt wie die Pflanzen in Dr. Wursters Labor? In seinem Bericht schreibt er: »Es ist nicht einfach, die Bedeutung meiner Resultate zu bewerten; doch die Tatsache, daß DDT-Überreste überall auftreten, erlaubt den Schluß auf möglicherweise weitgreifende Auswirkungen.«
So betrachtet scheint es, als habe Miss Rachel Carson im Stummen Frühling eher noch untertrieben als übertrieben. Wir haben vielleicht eines Tages nicht nur einen stummen Frühling, sondern auch stumme Winter und Sommer. Zweifellos verdanken wir das dann den chemischen Konzernen und ihren allzu willigen Gefolgsleuten, vor allem in der Landwirtschaft, die mit starrem Blick auf die Buchstaben G und V in ihren Jahresbilanzen starren, (G für »Gewinn«, V für »Verlust«). Während die Farmer wie der legendäre Esel hinter der Rübe hertraben, die vor ihrer Nase baumelt, vergessen sie, daß sinnlose Verfolgung von G unweigerlich zu einem letzten, endgültigen V führen muß.
Die Chemiker haben, wie man sieht, der verantwortlichen Behörde USDA in den USA, die über die Zulassung von Chemikalien und Mitteln entscheidet, ein paar harte Nüsse zum Knacken gegeben. Was sie ermitteln, gilt gleichermaßen für Pillen, Pasten und Pestizide. Misch ein paar chemische Bestandteile miteinander, gib dem Kind einen Namen, laß es registrieren und voila - ein neues Produkt ist auf dem Markt. Manchmal ist es nützlich, manchmal auch nicht (wie das Thalidomid im Contergan, oder wie das DDT).
Im letzteren Fall haben die Industriechemiker offenbar zur passenden Endung die falsche Vorsilbe gewählt. Statt pesticidal oder schädlingsvernichtend hätten sie den Ausdruck suicidal, zu deutsch selbstmörderisch, benutzen sollen.
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Don Widener 1970