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10.  Der Eriesee oder die Kloake von Amerika

 

 

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Viele Menschen kommen neuerdings nach dem Norden zum Eriesee. Es liegt etwas Faszinierendes darin, zu sehen, wie es der Mensch in verhältnismäßig wenig Jahren fertigbrachte, aus einem lieblichen und nützlichen Gewässer ein verfaulendes, vielleicht schon hoffnungslos vergiftetes Sumpfloch zu machen. Wenn Sie den See betrachtet haben, fühlen sich die meisten Besucher zu einem Kommentar angeregt. Wissenschaftler murmeln »Eutrophisierung«. Das ist ein nettes Wort, das so viel wie »Tod durch zu reichliche Ernährung« bedeutet.

Simplere Naturen sagen verächtlich »Stinkpfuhl«. Dem Schreiber dieser Zeilen bot sich der Eindruck, daß irgendwann in jüngster Zeit unsere kranke Welt hier Durchfall gehabt habe.

Wenn Kopfschütteln, Schnalzen mit der Zunge, reuevolles Auf-die-Brust-Schlagen der Politiker oder Regierungsberichte den Lauf der Dinge ändern könnten, der Eriesee wäre heute so klar wie der arktische Wind. Doch keine dieser Betätigungen hatte Einfluß auf seinen Zustand oder die 160 Milliarden Liter Abwässer aus Städten und Industrien, die ungeklärt alljährlich in die Bäche entlassen werden, die das Erie-Becken füllen. Bäche? Man sollte eher von Latrinen sprechen.

Schulkinder lernen, daß Admiral Oliver Hazard Perry 1812 die Schlacht gegen die Briten auf diesem See gewann. Der Sieg verschaffte den Amerikanern Anspruch auf das untere Ende der Großen Seen und gab ihnen das Recht, ohne Intervention fremder Mächte ihre eigenen Gewässer zu verschmutzen. Dieses Privileg ist von ihnen voll ausgenutzt worden.

Das vorherrschende Gefühl nach einer flüchtigen Musterung aller Tatsachen, die mit dem gegenwärtigen Zustand des Eriesees zusammenhängen, ist Verzweiflung, Frustrierung, gepaart mit Hoffnungslosigkeit. Der Zustand ist so schlimm, die Ursachen der Verschmutzung sind so vielfältig, die Quellen der Vergiftung so zahlreich, daß man die Versuchung spürt, jeden Gedanken an eine technische Lösung des Problems aufzugeben und nach Billy Graham zu rufen.  wikipedia  Billy_Graham  1918-2018

Wie immer sind sich die Experten nicht einig. Sie streiten – ist der See schon ganz tot, wie einige behaupten, oder liegt er erst in den letzten Zügen und wird demnächst sterben?

Einige glauben, er könnte noch gerettet werden, doch die Krankenhausrechnung wird auf 60 Milliarden Mark geschätzt – plus oder minus ein paar Milliarden. Doch selbst wenn das Geld da wäre, würde es Generationen brauchen, um die Arbeit durchzuführen. Optimisten glauben, man könnte das sogar in zehn Jahren schaffen und den See zurück verwandeln in das, was er einst war – doch auch sie geben zu, daß es Unsummen kosten würde.

Während widersprüchliche Meinungen ausgedrückt, Berichte geschrieben, Ausschüsse zusammengerufen und Ansprachen gehalten werden, schreitet die Verpestung des Gewässers immer weiter fort. Der Eriesee stirbt, wenn es einmal so weit ist, keines natürlichen Todes. Es handelt sich um vorgeplanten Bandenmord. Der See wurde heimtückisch überfallen von Industrien und Städten an seinem Ufer. Mitschuldige und Helfer waren die entfernteren Siedlungen, die ihren Schmutz in die Bäche und Flüsse warfen.

Der Eriesee ist der südlichste der fünf Großen Seen; zusammen bilden sie das größte System von Süßwasser-Seen in der Welt und bedecken ein Gebiet von der Größe der Bundesrepublik. Lake Superior ist der größte See. Ihm folgen in der Rangordnung Huronsee, Michigansee, der Erie- und schließlich der Ontariosee, der kleinste von allen. Alle diese Seen sind verunreinigt, doch keiner so schlimm wie der Eriesee. Von diesen fünf liegt nur der Michigansee völlig innerhalb der Vereinigten Staaten; die anderen grenzen an Kanada. Die Grenze verläuft daher mitten durch den Eriesee, tatsächlich ist das kanadische Nordufer erheblich weniger verpestet als die USA-Seite.


Eutrophisierung – Schicksal der Seen 144/145

Der Eriesee ist mit einer größten Tiefe von rund 60 Metern das flachste Becken (Superior mißt über 500 Meter an seiner tiefsten Stelle). Aus diesem Grund ist er auch besonders anfällig gegen Verschmutzung. Er bedeckt eine Fläche von etwa 25000 Quadratkilometern, und ist also so groß wie der Bundesstaat Vermont. Die Eriesee-Senke, rund 100000 Quadratkilometer eines von Gletschern ausgeschliffenen Flachlandes, stellt eines der größten geschlossenen Industrie- und Siedlungsgebiete der USA dar. Prognosen für das nächste Jahrhundert besagen, daß dann rund 30 Millionen Menschen in diesem Becken leben werden. Dieses Wachstum betrifft vor allem die bereits dichtbevölkerten Stadtzonen von Detroit, Cleveland und Toledo. Die industrielle Ausdehnung ist hier sogar noch größer als das Wachstum der Bevölkerung.

Dies alles muß man wissen; denn Menschen und Industrie sind die Hauptquellen der Verunreinigung, die diese vormals sauberen und klaren Großen Seen heimgesucht und übermäßig verschmutzt hat. Alle Seen der Welt sind einem Prozeß des Alterns unterworfen. Eutrophisierung ist ihr Schicksal. Doch unter natürlichen Umständen dauert der Vorgang Jahrtausende; mit der Hilfe des Menschen vollzieht er sich leicht innerhalb der Lebenspanne eines einzigen Mannes. Man hat darüber eine Rechnung aufgestellt. Die vom Menschen bewirkte Eutrophisierung des Eriesees im letzten halben Jahrhundert hat den See um 15000 Jahre altern lassen.

Da Verunreinigung etwas Alltägliches ist, hat jeder von uns schon einmal den Prozeß der Eutrophisierung an einem fließenden oder stehenden Gewässer beobachtet. Wer hat nicht schon einmal gehört, daß irgendein schmutziger Pfuhl noch zur Jugendzeit des Erzählers Wasser hatte, indem man wundervoll schwimmen konnte? Ein See oder Strom, dem dieses Schicksal widerfährt, taugt weder zur Erholung noch für Fremdenverkehr. Er muß einer ausgiebigen und kost spieligen Behandlung unterzogen werden, bevor man auch nur Trinkwasser aus ihm schöpfen kann. Kinder, die in eines

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solchen Umwelt aufwachsen, scheren sich nicht viel um die neue Situation. Sie haben keine Erinnerung an Zeiten, in denen das Wasser der Seen süß und klar war. Schmutz stellt für sie den Normalzustand dar.

Die Symptome der Eutrophisierung sind leicht zu erkennen.

Ein gesunder See hat klares, blaues Wasser; Eutrophisierung führt zu Verfärbung und schmutzigem Aussehen. Das Wasser sieht aus, als ob es verunreinigt wäre, Algen wuchern an den Ufern hoch und bedecken die Oberfläche mit einem grün lichen Schleim. Fischerei wird sinnlos, Edelfische verschwin den und werden durch unscheinbare, nutzlose Weißfische ersetzt. Selbst ein Blinder kann einen verschmutzten See er kennen: Er riecht nach verfaulenden Wasserpflanzen und toten Fischen.

Alle genannten Symptome (und einige andere) sind klar er kennbar am Eriesee und in einzelnen Armen der Großen Seen sowie der zuführenden Gewässer. Zwei Dinge muß man dabei im Auge behalten: Es mußte nicht geschehen; und es kann schnell schlimmer werden, wenn wir nicht sofort, wirkungsvoll und auf breitester Front gegen die Ursachen vorgehen. Aktionen dieser Art müssen von Regierung und Industrie eingeleitet werden; man muß darauf drängen, muß die Öffentlichkeit mobilisieren und neue Gesetze fordern.

Man – das sind wir, das allgemeine Publikum. Es bedarf  keiner ausführlichen Erklärung, wie und warum Industrie und Regierung (von Washington bis zur Gemeindeverwal tung) elend versagt haben vor dem Problem der Verschmutzung. Die Industrie braucht Wasser in ungeheuren Quantitäten zum Reinigen, Kühlen und für ihre industriellen Prozesse. In vergangenen Zeiten entnahmen die meisten Firmen das Wasser eines Flusses oder Sees, nutzten es für ihre Zwecke und leiteten das Abwasser zurück in den Fluß oder See, befrachtet mit Säuren, Öl, Chemikalien aller Art und Unrat.

Manchmal handelt es sich auch um heißes Wasser, das zurückgeleitet wird, so wie es aus der Kühlanlage kommt. Im allgemeinen kümmerte sich die Industrie wenig um die Qualitä

 

 

 

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