11. Mißbrauchte Flüsse - Tote Katzen und Entendreck
Widener-1970
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Wie viele andere, die als Kinder im amerikanischen Mittelwesten aufgewachsen sind, hege ich freundliche Erinnerungen an einen Fluß – obwohl natürlich jeder kleine Junge seinen besonderen Fluß hat, an den er denkt. Ich erinnere mich an Fische, groß wie Krokodile (so kamen sie mir jedenfalls vor), die man versuchte, mit Angelrute und Haken herauszuholen. Es gab versteckte Plätze, zu denen sich keine Mutter und kein Lehrer hintraute, große Felsen, von denen man Kopfsprünge machte, flache Steinplätten, auf denen man von der Sonne getrocknet wurde, bevor man nach Hause ging.
Ich werde nie mehr dorthin zurückkehren. Der Fluß ist noch da, aber es ist nicht mehr der gleiche Fluß. Wo einst Anemonen wuchsen und Ochsenfrösche, groß wie Suppenteller, am Wegrand saßen, gibt es jetzt nur noch schleimige grüne Algenteppiche. Hecht und Zander sind verschwunden, verdrängt von Weißfischen – oder gibt es vielleicht gar keine Fische mehr? Der Fluß, einstmals sauber und glitzernd, fließt träge und schmutzig dahin. Es spielen keine Kinder mehr an ihm. Sie sind verschwunden wie der Zauber, der ihn einst umgab. wikipedia Anemone
Mein Fluß ist kein Ausnahmefall. Sein Gegenstück findet man heute in jeder amerikanischen Landschaft. Alle Bäche und Flüsse waren einmal frisch und klar, doch nur wenige, sind es geblieben; denn seit über 400 Jahren wirft der Mensch alles, was nicht niet- und nagelfest ist, in sie hinein. Anfangs hatte das zweifellos seinen Sinn; Flüsse besaßen die Kraft, sich selbst zu reinigen und wurden auf ihre Weise mit dem Müllproblem fertig. Die Menschenzahlen waren klein, die Flüsse groß und schnell. Von der toten Katze bis zum Entendreck flog alles ins fließende Wasser und wurde mitgenommen. Das Verfahren war so praktisch, daß die Industrie dem Beispiel folgte, und ebenso die Städte, die an den Flußufern emporschossen und Wasser brauchten – oder mißbrauchten.
Ingenieure, die behaupteten, von solchen Dingen etwas zu verstehen, verliehen diesem Mißbrauch höhere Weihen, in dem sie den Flüssen Amerikas wunderbare Kräfte der Selbstreinigung zuschrieben und ganz unbegrenzte Fähigkeiten der Auflösung von Müll und Schmutzwasser.
Und tatsächlich ging das alles eine Weile gut. Doch als wir eine Industrienation wurden, lernten wir, daß Flüsse kein Allheilmittel gegen Dreck und Unrat der Großstädte sind. Einige Experten begannen zu warnen. Sie behaupteten, wir zerstörten skrupellos einen kostbaren Schatz; man ignorierte sie, und das Massaker wurde fortgesetzt.
Als Amerika ins siebte Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts eintrat, blickte es zum erstenmal zurück und betrachtete, was es angerichtet hatte – und der Anblick war erschreckend. Alles, was wir jemals verschmutzt und verdreckt haben, müssen wir jetzt reinigen. Die Aufgaben sind bedrückend, die Kosten unglaublich; Eile tut not, denn die Katastrophe rückt rasch heran, und es gibt keine Alternative. In diesem Prozeß müssen wir nicht nur ein unwissendes, gleichgültiges Publikum über die Gefahr aufklären, sondern auch widerspenstige Industrien und die nervösen Politiker, die von beiden Seiten angeriffen werden.
Die Ausmaße des Problems – und des Schadens – sind für jedermann erkennbar, der sich Zeit nimmt, einen Blick in seine Umwelt zu werfen oder ein Buch zu lesen. Der Banana-Fluß in Florida, der an den Space-Age-Hotels von Cocoa-Beach vorbeifließt, hat eine häßliche braune Farbe und stinkt. In den vierziger Jahren noch, sagen die älteren Bewohner des Landes, war er klar und sauber bis zum Grund, ein Lieblingsplatz für Schwimmer und Wassersportler. Heute wird der Spaziergang hinter dem Kennedy Hilton zu einem traurigen, bedrückenden Erlebnis.
Totes Wasser in Holland. Dreckige und stinkende Abfallprodukte aus der stroh- und aus der kartoffelverarbeitenden Industrie
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Da zerfällt ein altes Boot, halb versunken; Teile von demontierten Autowracks liegen am Ufer und verrosten zwischen dem Unkraut. Die schleimigen Strände sind besät mit Müll, überall verfaulen Wasserpflanzen. Der Banana ist keine Attraktion für Fremde mehr.
Vor nicht allzulanger Zeit stand ich an einem heißen Nachmittag mit Dr. Roy Pannell auf der Werft hinter seinem Heim in Fort Myers, Florida, und lauschte seiner Erzählung über den breiten Caloosahatchee-Fluß, der auf seinem Weg zum Golf von Mexiko vorüberfließt.
»Als wir 1952 hierherkamen, war er noch ein herrlicher Fluß. Ein Mann konnte sich irgendwo an seinem Ufer hinstellen und jeden Fisch fangen – vorausgesetzt, daß er Kraft genug besaß, ihn an Land zu ziehen. Wir konnten Hecht essen, sooft wir wollten, wenn ich nicht zu faul war, die Angel auszuwerfen. Ich habe sogar ein paar riesige Tarpone gefangen. Im Frühling blühten überall die Narzissen, und man konnte die Alligatoren grunzen hören.« wikipedia Tarpune
Er stand und starrte melancholisch ins Wasser. »Sehen Sie, wie braun es ist? Man kann nur noch ein paar Zentimeter unter die Oberfläche blicken. Noch vor ein paar Jahren konnten wir den Krabben zuschauen, die auf dem Grund herumspazierten. Irgend etwas ist geschehen«, seufzte er. »Wir sehen neuerdings keine Alligatoren mehr. Wir versuchen meist auch nicht mehr, eine Angel auszuwerfen. Alles ist schwarz und leer dort unten. Es jagt einem Angst ein …«
Dr. Pannell ist nur einer unter Millionen von Amerikanern, die plötzlich merken, daß die Entartung der Flüsse ihnen »Angst einjagt«. Doch wenn schon der Caloosahatchee das Gruseln lehrt, dann sind die Flüsse im Becken des Eriesees echte Schreckenskammern geworden. Der Cuyahoga zum Beispiel dürfte der einzige Fluß der Welt sein, an dessen Ufern Schilder vor Brandgefahr warnen. Im Jahre 1969 brannte er, einige Brücken gingen dabei drauf. Ein Regierungsbericht beschreibt ihn buchstäblich als »einen Riesenmüllplatz im Wasser«, Spötter nennen ihn »die längste Harnröhre der Welt«, und das ist noch harmlos. Es gibt Bezeichnungen, die man nicht drucken kann.
Selbst Würmer wandern aus 161
Der untere Teil des Cuyahoga ist in einem unvorstellbar verkommenen Zustand. Der ehemals liebliche Fluß hat jetzt die Grazie und Schönheit einer Kloake. Häßliche Gase blubbern ständig zur Oberfläche empor. Er fließt nicht mehr,, er rinnt dahin durch Abfälle. Ein Mann, der vormals in Cleveland lebte, schwört, Taucher, die in diesem Fluß eingesetzt würden, brauchten nach jedem Ausflug in die Tiefe, einen neuen Taucheranzug; wahrscheinlich braucht man auch jedesmal einen neuen Taucher. Das Wasser nimmt oft die Farbe von Rost und Schokolade an. Während der größten Zeit des Jahres findet sich nichts Lebendiges in diesem Gewässer, und das, meint ein Anwohner, sei durchaus vernünftig. Denn nichts, was lebt, möchte auch nur tot in diesem Wasser ge funden werden. Selbst Würmer, denen Schmutzwasser sonst ganz gut gefällt, sind aus diesem Fluß ausgewandert. Das einzige, was bleibt und die Nachbarschaft des Cuyahoga er trägt, sind die Menschen an seinen beiden Ufern.
Streckenweise sind sämtliche Flüsse im Erie-Becken verschmutzt, einige von ihnen schwer, so wie der Cuyahoga zwischen Cleveland und Akron. Die Liste der Industrien, die unentwegt Massen von Abwässern ausspeien, ist endlos.
In den mittleren und nördlichen Staaten Amerikas, von Kansas und Missouri bis Minnesota und Montana, sind Ströme verschmutzt, obwohl die Gebiete nicht dicht bevölkert sind.
Die Verunreinigungen stammen hier von der Landwirtschaft, von Lebensmittelfabriken und von armseligen, überforderten oder, gar nicht vorhandenen Kanalsystemen. Hunderte von Fabriken, in denen Beefsteak verpackt, Goulasch eingedost oder Kartoffelprodukte hergestellt werden, lassen ihre Abwässer in die Seitenarme des Missouri, des Souris oder ins Red-River-Becken fließen. Unmassen von Mist aus den Gedärmen geschlachteter Rinder wandern in diese Gewässer. Es gibt interessante Zeugenausagen darüber.
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Als man 1965 einen Kongreß zusammenrief, mit dem Ziel, Abwehrmaßnahmen gegen die Verunreinigung der Flüsse mit Gewalt durchzusetzen, kam heraus, daß die Fleischfabriken von Ohama täglich 150000 Pfund Rindertalg in den Missouri werfen – und dies oberhalb der Stelle, an der das Trinkwasser der Stadt St. Joseph entnommen wird. Natürlich sind die ganzen Bäche und Flüsse dieser Gegend ruiniert worden und zeigen die bereits beschriebenen Degenerationserscheinungen – einschließlich des vermehrten Algenwuchses. Das war vorauszusehen.
Auch im pazifischen Nordwesten Amerikas sind die Flüsse bereits verunreinigt, wenn auch nicht so wie im Nordosten.
Doch die Chance ist groß, daß es auch hier bald schlimmer wird, wenn nicht intelligente Gegenmaßnahmen eingeleitet werden. Als gutes Beispiel dient der Schlangenfluß oder Snake River, der anderthalb tausend Kilometer lang durch die Staaten Idaho, Wyoming, Oregon und Washington fließt.
In der Geschichte dieses Flusses gibt es zwei vorherrschende Interessen: Herstellung von Energie und Landwirtschaft. Be wässerungssysteme und elektrische Kraftwerke bestimmen das Verhalten der Uferbewohner. Kartoffeln, Rüben, Ge treide und Viehwirtschaft liefern ihnen den Lebensunterhalt, Wasserkraftwerke erscheinen in regelmäßigen Abständen am Snake River und seinen Seitenarmen, und neue Kraftstatio nen sollen bis zum Ende dieser Dekade fertiggestellt sein.
Private Elektrizitätsgesellschaften mit einem scharfen Auge für alles, was fließt, und mit der Lust, auch die langsamsten Ströme zu stauen, haben ein Auge auf die Canyons des Snake River geworfen – obwohl man weiß, daß solche Projekte nicht nur wohltätige, sondern auch verheerende Effekte haben können.
Die Pollution des Snake River wird hauptsächlich von städtischen Kanalsystemen verursacht, aber auch von industriellen und landwirtschaftlichen Abfällen. Neuerdings kommt die Gefahr hinzu, daß der Fluß durch radioaktive Abwässer weiter zerstört und durch Kühlwasser aufgeheizt wird. Dafür sorgt die Nationale Reaktor-Testanlage (nrts) der Atom-