13. Ringsum Dreck - Die Guillotine wartet
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Im Herbst vor zwei Jahren verbreitete die Agentur Associated Press eine Geschichte über die Stadt Texarkana. Diese Story enthielt eine Lehre über die Folgen unserer Gleichgültigkeit gegen die Umwelt. Texarkana ist überlaufen von Ratten, »groß wie Kaninchen«. 100.000 Ratten teilen sich mit 20.000 Menschen in die Stadt, doch es scheint, wie AP meldet, den Einwohnern nichts auszumachen. Der oberste Gesundheitsbeamte von Bowie County (zu dem Texarkana gehört), ein Mann namens W. E. Westbrook, faßte die Ursachen der Rattenpest in einem Satz zusammen: »Wir haben diese Plage, weil den Leuten alles egal ist.«
Ein Drittel der Stadt, sagt Westbrook, hat keine öffentliche Müllabfuhr. Unrat fliegt in den Hinterhof oder auf die Straße vor dem Haus. Müllablagerung irgendwo in der Stadt trifft auf keinen Widerspruch, denn es gibt keine sanitäre Müllgrube. Auf diesen Müllplätzen leben Ratten, die nach Westbrooks Angaben 25 Zentimeter lang sind (die Schwänze nicht eingerechnet) und bis zu 3 Pfund wiegen. Rattenbisse sind an der Tagesordnung, hundert werden jährlich von Amts wegen verzeichnet, doch wesentlich mehr Menschen dürften gebissen werden, ohne daß es zu einer Anzeige kommt. Vergangenes Jahr wurde ein neun Monate altes Kind in seinem Zimmer von Ratten überfallen, die es in den Hals bissen, sein Gesicht zerkratzten und das Fleisch von drei Fingerchen nagten.
Texarkana hat zwar einen Kontrakt mit einer privaten Müllabfuhr, doch da die meisten Bewohner nicht zahlen, wird ihr Müll auch nicht abgefahren. Es ist ihnen egal, und die Ratten werden dick und fett dabei. Der öffentliche Gesundheitsdienst versuchte die Texarkaner auf die Gefahr aufmerksam zu machen und schickte einen alten Leichenwagen mit der
Aufschrift »Rattenpatrouille« durch die Stadt. Auch das war
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den Leuten gleich. Sie kümmerten sich so wenig um den Leichenwagen wie um die Ratten.
Texarkana steht mit seinem Rattenproblem nicht allein da.
Doch es ist ein Symbol für die allgemeine Blindheit gegen Umweltverschmutzung, und diese Blindheit herrscht, seit es Menschen auf Erden gibt, in Amerika wie anderswo. Erst im Jahr 1970 griffen wir, zögernd und ein wenig verschämt, nach Besen und Schaufel, um sauber zu machen; doch die Reinigung erfordert eine Anstrengung von Generationen – falls es uns überhaupt gelingt, der Aufgabe Herr zu werden.
Teil des Problems ist die heimtückische Art, in der pollution ihrem Zerstörungswerk nachgeht. Der Tod kommt bei ihr nicht dramatisch. Wir aber sind eine Nation, die nur auf dramatische Effekte reagiert. Wir haben uns längst an das Verkehrsgemetzel auf unseren Straßen gewöhnt, weil es täglich geschieht; doch ein Flugzeuabsturz macht noch immer Schlagzeilen in aller Welt.
Tod durch Umweltverschmutzung ist eine verzögerte Hinrichtung, wie sie vor Zeiten bei einigen Indianerstämmen Amerikas beliebt war. Die Männer übergaben einen Gefan genen den Frauen, die für diesen Zweck immer einen Sack mit Kieselsteinen bereithielten. Ein Stein nach dem anderen wurde aus dem Sack genommen, und jedesmal wurde dem Opfer eine kleine Wunde zugefügt. Bevor der letzte Stein aus dem Sack war, hatten die Henkerinnen das Opfer längst in die seligen Jagdgründe befördert.
Heute werden viele Städte und Großstädte einer ebenso langsamen Hinrichtung durch Bewohner, Industrien und Regierungsbeamte unterworfen. Solche Städte leiden an wirtschaftlich-politischen Lähmungserscheinungen; auf einem vorgezeichneten Pfad folgen sie ihrem Schicksal, wie die Lemminge Norwegens. Das Muster ihres Verhaltens ist jedem bekannt und vertraut. Gewöhnlich begannen sie einmal als schmucke kleine Landstädtchen. Eines Tages entschieden betriebsame Bürger, ihre Bankiers und die Stadtväter, es sei eine gute Idee, wenn die Stadt ein wenig Industrie anzöge,
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die das Weichbild der Stadt vergrößern, Geld unter die Leute bringen und Steuern zahlen würde. Industrielle wurden be wogen, Niederlassungen in der Stadt zu gründen. Plötzlich werden aus Bürgern Angestellte, die von der Industrie ab hängig sind, die Stadt selbst wird abhängig von den Steuern der Industrie. Die Geschäftsleute bauen größere Läden, die wiederum abhängig sind von dem Geld, das die Industrie unter die Leute bringt. Die Industrie selbst ist inzwischen von der Stadt abhängig geworden; hier hat sie ihre Investitionen gemacht, hier findet sie die erforderlichen Facharbeiter.
Im gleichen Maß, in dem die Stadt wächst, melden sich die Probleme an. Von allem wird jetzt etwas mehr gebraucht – mehr Schulen, mehr Heime, mehr Straßen. Die Stadt wächst aus dem Einzugsbereich der alten Kanalisation heraus. Sie braucht Reservoire und Wasseraufbereitungsanlagen. Das alles bedeutet höhere Steuern, die aber niemand zahlen will. Pol lution, Umweltverschmutzung, setzt ein; sie kommt so sicher wie der Gasmann. Die Leute merken, daß irgend etwas nicht mehr stimmt, und beginnen zu grollen. Der Industrie wird vorgeworfen, sie sei schuld an allem (was nicht zutrifft). Die Industrie schlägt zurück und droht, offen oder versteckt, daß sie demnächst ihre Produktion in eine andere Stadt verlagern werde. Das ist eine reale Gefahr, sie bedeutet Arbeitslosigkeit und viele andere unangenehme Dinge. Also schweigen die Leute, und die Umweltvergiftung geht weiter und nimmt zu.
Mit der Zeit wird das fröhliche Bächlein, das vormals durch die kleine Stadt rauschte, ein stinkendes Rinnsal aus Unrat und industriellen Abwässern. Hügel und Berge, die man frü her so gerne betrachtete, verschwinden hinter einem Vorhang von Rauch und Smog; man sieht sie nur noch selten. Wohn und Geschäftshäuser beginnen schäbig auszusehen, ihre Far ben bleichen aus. Hausfrauen klagen, daß sie immer länger arbeiten müssen und die Wohnung trotzdem nicht sauber wird. Ladeninhaber führen einen niemals endenden Kampf gegen den Schmutz auf den Schaufensterscheiben und deni
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Ruß, der sich auf die Ware niederschlägt. Oft zieht ein fau liger Gerudi durch die Stadt.
Schließlich kommt es zum Bruch. Das Unvermeidliche geschieht, junge Leute packen ein und verlassen die Stadt. Die Industrie kann nicht länger Mitarbeiter anziehen, weil es Bewerbern bei dem Gedanken graust, ihre Familie in diese Stadt bringen zu müssen. Die Grundstückspreise steigen nicht mehr, sie beginnen langsam, langsam zu fallen. In der Ab schlußphase verlieren auch Industrie und Großhandel den Mut, und nun beginnt der Exodus. Eines Tages entdecken die Bürger, daß es in ihrer Stadt Reihen von leeren Wohnun gen gibt, daß nichts mehr repariert wird, weil das Geld dazu fehlt. Das ehemals schmucke Landstädtchen hat den ganzen Kreis der Umweltverschmutzung voll durchlaufen; es ist nur noch ein vernachlässigter Friedhof.
Eine Stadt, in der die Zeichen des Verfalls bereits sichtbar werden, ist das ehemals liebliche Kingsport in Tennessee. In die Berge der nordöstlichen Landschaft des Staats einge schmiegt, unfern der Grenzen von Virginia, erhielt Kings port von einem Besucher im Jahr 1917 den Ehrentitel einer »kleinen amerikanischen Musterstadt«. Einige Jahrzehnte später rühmten die Bewohner ihre Stadt als die »City der Industrie«. Zu dieser neuen Industrie gehörten: Tennessee Eastman, eine Zweigniederlassung von Kodak, wahrschein lich die größte dieser Art im ganzen Staat; ferner die Kings port Press, eines der größten Druckhäuser der Vereinigten Staaten, sowie die große Mead Fiber Company, eine Papier mühle. Hochexplosive Stoffe für die Artillerie werden au ßerdem in den Holston Ordonance Works hergestellt.
Die alten Einwohner erinnern sich noch daran, daß der Hol stonfluß einmal sauber und frisch durch die Stadt floß. Noch im Jahr 1940 konnte man in ihm schwimmen. Heute ist die ser Fluß total verdreckt und sicherlich alles andere als ein schöner Anblick.
Als ich Kingsport 1953 besuchte, war ich von der Stadt fasziniert. Sie erschien mir als eine glückliche Synthese von Indu-