Wo liegt Utopia?
Zwischen Atlantis und Wolkenkuckucksheim
Wie kommt man nach nach Utopia?
Eine Weltkarte, auf der Utopia nicht eingezeichnet ist,
ist noch nicht einmal eines flüchtigen Blickes wert. (Oscar Wilde)
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Die Reise ist eines der großen Symbole der Menschheit. Man reist nicht nur, weil der Gerichtsstand in Hamburg, die Garantie für Sonnenbräune in Tunesien und die Messe in Frankfurt ist. Eine Reise kann auch eine Seelenreise sein. Die Außenwelt ist dann Spiegelung und sinnliche Konkretion der Innenwelt. Die gleißende Reinheit der Wüste, die sanfte Gewalt des Meeres, die Transzendenz einer Bergszenerie, der archaisch-vegetative Sog des Urwalds – das alles entspricht etwas in uns selbst. Das Unbewußte denkt in Bildern, Geräuschen und Gerüchen, nicht in Worten.
In der Malerei haben besonders Seereisen ihr Geheimnis. Jean-Antoine Watteaus Einschiffung nach Kythera, der Insel, von der Aphrodite stammen soll, Caspar David Friedrichs Schiffbruch Die gescheiterte Hoffnung, William Turners leuchtende Schiffe – das sind keine naturalistischen <Seestücke>. Im Film, der die Bilder laufen läßt, werden die Helden bewußt in eine Szenerie versetzt, die etwas über ihren inneren Zustand aussagt – meisterhaft vollendet etwa von Andrej Tarkowskij in Solaris und Nostalghia. Aber hier wird, auch und gerade in den weniger kunstvollen als eher kommerziellen Produkten, das Fortbewegungsmittel selbst zum Vollstrecker des Schicksals: das Pferd im Western, später auch Zug, Flugzeug, Auto und Motorrad. In der gesamten Weltliteratur wimmelt es nur so von Reisenden. Sie sind Handelnde, Akteure, die ihre inneren Konflikte in äußere Taten umsetzen – manchmal nur als Spielball ihrer inneren Kräfte, manchmal unterwegs auf dem beschwerlichen Pfad zu Bewußtheit und Selbsterkenntnis.
Oft sind sie auf der Suche nach etwas. In der Antike suchen Jason und die Argonauten das Goldene Vlies. Im Mittelalter sucht Parzifal den Gral, und ganze Heerscharen von Rittern schwingen sich auf ihre Pferde, um Abenteuer zu suchen und zu finden.
Die Suche an sich ist der Zweck der Reise, ein Goldenes Vlies oder ein Gral dabei utopisches Symbol. Besonders reiselustig ist man auch in der deutschen Romantik und Klassik. Hier bricht man oft zu anderen Ufern auf, um eine vage innere Unrast in eine bestimmte Berufung zu verwandeln. Da gibt es derart verschiedene Charaktere wie Goethes Wilhelm Meister und Tiecks Franz Sternbald, die mit größter Ernsthaftigkeit den Sinn ihres Lebens zu ergründen suchen, aber auch den kecken Taugenichts mit dem »ewigen Sonntag im Gemüte«, der nur hin und wieder in melancholische Stimmungen verfällt.
Der unglücklichste Reisende der Romantik ist Chamissos Peter Schlemihl. Unbedacht hat er seinen Schatten an einen Herrn im altfränkischen grauen Rock verkauft und wird nun aus der Gesellschaft ausgestoßen. Erst als er in den Besitz von Siebenmeilenstiefeln gerät, kann er, fernab aller bürgerlichen Solidität, als Naturforscher endlich frei sein. »Ich streifte auf der Erde umher, bald ihre Höhen, bald die Temperatur ihrer Quellen und die der Luft messend, bald Tiere beobachtend, bald Gewächse untersuchend: Ich eilte vom Äquator nach dem Pol, von der einen Welt nach der anderen ...«
Ein Reisender und Naturforscher war übrigens auch Chamisso selbst: Nach einer dreijährigen Weltreise, die er 1815 angetreten hatte, lebte er als Vorsteher der königlichen Herbarien und Kustos des Botanischen Gartens in Berlin.
In den Volksmärchen bringen Reisen oft die Erlösung von Verzauberungen. Joringel muß »durch Berg und Tal suchen«, bis er die blutrote Blume findet, mit der er seine Jorinde aus der Verzauberung einer Hexe lösen kann; in den sozial höheren Kreisen töten Prinzen Drachen oder durchdringen Dornenhecken, um Prinzessinnen zu befreien. Die Reisen der Mädchen gründen oft auf Flucht – Allerleirauh flieht vor dem Inzestwunsch ihres Vaters – oder Verstoßung: Schneewittchen wird von der bösen Stiefmutter ausgesetzt. Eine wunderschöne Reise macht dagegen Hans im Glück: Er kommt auf ihr zu einer tiefen philosophischen Erkenntnis. Kein Märchenheld ist jedenfalls nach seiner Reise noch der Mensch, der er vorher war. Als Reisender ins Land Utopia schlechthin gilt Cervantes' Don Quichotte.
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Durch die übermäßige Lektüre von Ritterromanen leicht vernebelt, versucht er die Mißstände in der Welt mit ungeheurem Idealismus ein für allemal abzuschaffen – und erzeugt gerade dadurch immer neue. Für Ernst Bloch ist Don Quichotte zwar »der größte gedichtete Utopist, aber zugleich sein Zerrbild«, eine »Karikatur von Utopie –— sich selber ein Pathos, anderen eine Komik, praktisch eine Prügelgeschichte des abstrakt Unbedingten«.
Reisen wurden natürlich nicht nur in Büchern unternommen. Kolumbus, in der Meinung, er habe die Westroute nach Indien gefunden, entdeckte Amerika, und ein ganzer Kontinent wurde jahrhundertelang zum Utopia der Europäer: Amerika, God's own Country, das Goldene Land, das Neue Jerusalem, das Eldorado — Inbegriff aller Hoffnungen auf Glück, Reichtum, Freiheit, Gerechtigkeit.
The American Dream, der amerikanische Traum, sollte alle Wünsche erfüllen, die in der Alten Welt Illusion bleiben mußten. Dorthin reiste man oft genug um den Preis seines Lebens. Welches Land der Welt, außer Utopia, rechtfertigt einen so hohen Einsatz? Das noch heute verfassungsrechtlich verankerte »Streben nach Glück« (pursuit of happiness) in Amerika hat diesen utopischen Hauch bewahrt.
Männer reisen, im Leben und in der Kunst, bedeutend häufiger als Frauen. Das hat natürlich handfeste sozialpolitische Gründe – Frauen gehören bekanntlich an den Herd –, aber auch symbolische Bedeutung. >Männer tun, Frauen sind< ist die Kurzformel dafür. Oder: Männer müssen durch Aktion etwas lernen, was Frauen schon immer wußten.
Novalis' Märchenheld Hyazinth fällt seinen Eltern weinend um den Hals: »Ich muß fort in fremde Lande ... Ich weiß nicht, wie mir ist, es drängt mich fort; wenn ich an die alten Zeiten zurückdenken will, so kommen gleich mächtigere Gedanken dazwischen, die Ruhe ist fort, Herz und Liebe mit, ich muß sie suchen gehn. Ich wollt euch gern sagen wohin, ich weiß selbst nicht, dahin, wo die Mutter der Dinge wohnt, die verschleierte Jungfrau.« Wenn sich die verschleierte Jungfrau schließlich als seine Geliebte Rosenblütchen entpuppt, so ist sie eben die Frau schlechthin, die schon immer am Ursprung der Dinge ist, weil sie die Naturkraft verkörpert. — Eine Utopie?
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Es soll einmal ein Zeitalter gegeben haben, in dem alle Menschen glücklich waren: das Goldene Zeitalter. Dort herrschten, so Ovid in seinen Metamorphosen, Treue und Redlichkeit, »freiwillig, ohne Gesetz ... Ohne Soldaten zu brauchen, lebten die Völker sorglos in sanfter Ruhe dahin. Auch gab die Erde, frei von Pflichten und Lasten, von keiner Hacke berührt, von keiner Pflugschar verletzt, alles von selbst her ... Ewiger Frühling herrschte, und sanfte Westwinde streichelten mit lauen Lüften Blumen, die ungesät entsprossen waren ... Ströme von Milch, ja Ströme von Nektar flössen, und gelb tropfte Honig von der grünenden Steineiche.« Danach kam der Abstieg: vom Silbernen ins Bronzene und schließlich ins Eiserne Zeitalter — ins unsrige. Ovid: »Es flohen Scham, Wahrheitsliebe und Treue: An ihre Stelle rückten Betrug, Arglist, Heimtücke, Gewalt und die frevelhafte Habgier.« Eine rückwärtsgewandte Utopie. Einige jedoch glauben an den zyklischen Verlauf der Zeitalter, wie Novalis, und so soll einstmals wieder das Goldene anbrechen ...
Es ist die Phantasie, die den Reisen nach Utopia die sinnliche Fülle der Farben, Formen und Töne gibt, die ihnen den Weg ins Herz bahnt. Und es ist der »Haß auf das Wunderbare« (Andre Breton), der aus der Phantasie etwas Minderwertiges gemacht hat. In Triebstruktur und Gesellschaft beschreibt Herbert Marcuse, wie es dazu gekommen ist: »Die Aufrichtung des Realitätsprinzips verursacht eine Aufspaltung und eine Verstümmelung der Psyche, die verhängnisvoll über ihre gesamte Entwicklung entscheiden. Der seelische Prozeß, der bis dahin im Lustprinzip geeint war, wird nun gespalten: Der Hauptstrom wird in den Bereich des Realitätsprinzips geleitet und auf dessen Bedürfnisse ausgerichtet. Der so geprägte Anteil der Psyche erhält das Monopol, die Realität zu deuten, zu manipulieren und zu verändern — Erinnern und Vergessen unter seine Herrschaft zu stellen, ja selbst zu entscheiden, was Realität ist und wie sie verwendet und verändert werden sollte. Der andere Teil des psychischen Apparats bleibt frei von der Kontrolle des Realitätsprinzips — um den Preis, machtlos zu werden, inkonsequent und unrealistisch.«
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Weil also das Realitätsprinzip – das sind Leistung, Arbeit, Vernunft, intellektuelle Logik – allein darüber befindet, was gültig und angemessen ist, ist die Phantasie verbannt. Dabei ist gerade sie, die das Unbewußte im Menschen mit dem Bewußtsein verbindet, das eigentlich Vollkommene. Dazu Marcuse: »Der Wahrheitswert der Phantasie bezieht sich nicht nur auf die Vergangenheit, sondern ebenso auf die Zukunft: Die Formen der Freiheit und des Glücks, die sie aufruft, erheben den Anspruch, historische Wirklichkeit zu werden. Die kritische Funktion der Phantasie liegt in ihrer Weigerung, die vom Realitätsprinzip verdrängten Beschränkungen des Glücks und der Freiheit als endgültig hinzunehmen, in ihrer Weigerung, zu vergessen, was sein könnte.«
Wenn aber die eigentlich so machtvolle Phantasie der Stoff ist, aus dem das Land Utopia geschaffen wird, dann kann man dieses Land nicht einfach als ein Wolkenkuckucksheim diffamieren - jene von Aristophanes hämisch in die Luft gebaute Stadt der Vögel, deren Grundriß die Quadratur eines Kreises sein soll. Die »Weigerung, die ... verdrängten Beschränkungen des Glücks und der Freiheit ... hinzunehmen«, ist dann genauso wahr, wie es diese Beschränkungen selbst sind.
Es gibt eine Reihe von utopischen Gefilden, in denen das Lustprinzip den totalen Sieg über das Realitätsprinzip davonträgt: die Idyllen. Jedes Kind kennt das Schlaraffenland, in dem die gebratenen Tauben in den Mund fliegen, die gebackenen Semmeln von den Bäumen fallen und der Malvasierwein aus den Brunnen sprudelt. Auch das ihm verwandte Cocagne, in dem die Schokolade am Wegrand wächst und das vermutlich das Herkunftsland des Pfefferkuchenhauses ist, hat hemmungslosen oralen Genuß als oberstes Gebot. Das Aufbegehren unterdrückter Sinnlichkeit gegen eine allzu reglementierte Welt gewinnt auch in der Schäfer-Idylle Arkadien Gestalt: In dieser Landschaft gibt es keine Städte, nur unberührte Natur. Die Einwohner von Arkadien sind Hirten und Schäfer, die sich die Zeit mit Bogenschießen, Speerwerfen, Wettgesängen, Flötenspiel, besonders aber mit der Liebe vertreiben. Hier herrschen Glück und ewiger Frieden.
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Idyllen sind in ihrer konkreten Gestalt fixierte Traumgebilde, durch und durch unrealistisch und deshalb die Hanswürste unter den Utopien. Doch andersherum: Eine Utopie, die nicht ein gehöriges Quantum an Idylle, an Harmoniesüchtigkeit, an Genußfreudigkeit und Sinnlichkeit in sich trägt, ist nicht ernst zu nehmen. Und man kann ja immer noch ironisch mit der Idylle umgehen: Dann entwirft man sie zwar mit Lust, zwinkert aber dabei mit einem Auge — so wie Georg Büchner sein von Leonce und Lena regiertes Königreich Popo. Dort sind alle Uhren zerschlagen, die Kalender verboten. Das Ländchen, das so klein ist, daß alle Grenzen in Sichtweite sind, ist mit Brennspiegeln umstellt, so daß es keinen Winter mehr gibt. Wer sich Schwielen in die Hände schafft, wird bestraft, und wer sich rühmt, sein Brot im Schweiße seines Angesichts zu essen, für verrückt erklärt.
Obwohl Utopia ein Land ist, das von allen Menschen bewohnt wird, gibt es in der Literatur nur einige utopische Orte, in denen strenge Geschlechtertrennung herrscht.
Da gibt es zum Beispiel die Frauenstaaten: Einige sind vom Haß gegen die von Männern regierte >normale< Welt geprägt. So Raymond Clauzels Insel Venusia, auf der die Männer Eigentum des Staats sind und den Frauen als Sklaven zur Verfügung gestellt werden. Oder Marie Anne de Roumier-Roberts Königreich Castora, in dem sich Männer nicht länger als 24 Stunden aufhalten dürfen, andernfalls sie der Schutzgöttin Pallas geopfert werden. Berühmt ist Amazonien, ein kriegerischer Frauenstaat, der sich auch in den Trojanischen Krieg eingemischt hat. Dort ist allerdings das weibliche Wunschbild vom männlichen Angstbild nicht mehr zu trennen. Vielleicht ist Amazonien nur eine Anti-Utopie von Männern, die sich kuschelige, anschmiegsame Weibchen wünschen ...
Auch Gerhart Hauptmann läßt in seiner Insel der großen Mutter viel männliche Häme in die Beschreibung eines Frauenstaates einfließen. Ein Haufen hysterischer weiblicher Schiffbrüchiger gründet auf einer Insel eine Frauenrepublik und ist viktorianisch genug, das einzige (vierzehnjährige) männliche Wesen nicht als Verursacher des Kindersegens auszumachen, sondern dabei an Mystik zu glauben. Der bald parallel entstehende Männerstaat überflügelt das Matriarchat schnell an handwerklichem und technischem Können ...
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Zwei utopische Regionen, die nicht direkt frauenfeindlich sind, aber den weiblichen Teil der Menschheit schlicht aussparen, haben Goethe mit seiner Pädagogischen Provinz und Hermann Hesse mit Kastalien ausgemalt. In der Pädagogischen Provinz, die Wilhelm Meister tief beeindruckt, werden Jungen zur dreifachen Ehrfurcht erzogen: Ehrfurcht vor Gott, vor der Erde und vor den Mitmenschen. Neben einer landwirtschaftlichen und handwerklichen Ausbildung legt man besonderen Wert auf die Entwicklung künstlerischer Begabungen. Kastalien ist eine elitäre Ordensprovinz, die Hesse im Glasperlenspiel entwirft. Dem Wilhelm Meister wird hier ein Josef Knecht gegenübergestellt, der das kosmische Spiel erlernt, aber schließlich daran scheitert, die vita activa mit der vita contemplativa, das äußere mit dem geistigen Leben zu verbinden. Das Aufregende an diesem Buch ist, daß die Utopie gerade in diesem Scheitern liegt: Das Aktive und das Kontemplative, das Sinnliche und das Geistige gehören eben zusammen.
Wo liegt Utopia? In den Alpen wie im Pazifik, in Südamerika wie am Kap der Guten Hoffnung. Kein Fleck auf dieser Erde, der ohne Geheimnis ist. Vom Inbegriff Utopias, von Atlantis, dem sagenhaften Inselkontinent, der einst so reich und mächtig war, fehlt übrigens noch immer eine genaue Spur. Einige suchen ihn im Atlantik in der Gegend der Azoren, andere in der Ägäis nahe Kreta. Die Reise nach Utopia hat ihr Ziel am Ende des Regenbogens.
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Wie kommt man nach Utopia?
Wir träumen von Reisen durch das Weltall
Ist denn das Weltall nicht in uns? (Novalis)Jahrhundertelang erreichte man Utopia am besten zu Fuß oder mit dem Schiff. Doch dann, als man jedes Fleckchen der Erde erforscht hatte, richtete man den Blick nach oben – in den Weltraum. Ein unendliches Nirgendwo breitete sich aus. Alles, was auf der Erde unmöglich, unerreichbar erschien, konnte dort Wirklichkeit werden - oder es schon lange sein. Damit tauchte allerdings ein völlig neues Problem auf: Wie gelangt man in das kosmische Utopia?
Die Idee der Raumfahrt ist aufs engste mit der Geschichte der Utopien verbunden. >Wissenschaftlichkeit< und Phantasterei waren einst miteinander verschmolzen: Vieles, was einmal als wissenschaftlich fundiert galt, stellte sich später als unrealistische Spielerei heraus — und vieles als utopisches Hirngespinst Verworfene wurde nachträglich rehabilitiert.
Ausgerechnet Johannes Kepler, der die Gedanken von Kopernikus weitergeführt und erkannt hatte, daß sich die Planeten in Ellipsenbahnen um die Sonne bewegen, machte es sich besonders leicht: In seinem Roman Somnium, der 1634 nach seinem Tod erschien, gelangt der Held mit Hilfe von Dämonen zum Mond. Susanne Päch beschreibt in ihrem Buch Utopien weitere Versuche, in den Weltraum vorzustoßen, über die wir heute milde lächeln. Zum Beispiel The Man in the Moone, eine Geschichte, die 1638 veröffentlicht wurde und als erste realistische Raumfahrtutopie gilt.
Päch: »Der klägliche Versuch Francis Godwins, eine halbwegs sinnvolle Konstruktion zum besten zu geben, führte ihn zu der Vorstellung, ein Gespann mit Hühnern auf die große Reise zu schicken. Aber wer wollte es ihm übelnehmen – man wußte es damals noch nicht besser. Noch kurioser erscheinen uns die Geschichten von Cyrano de Bergerac, die in einer Zeit geschrieben wurden, in der der große Isaac Newton sein Haupt-
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werk, die Principia (1687), längst schon veröffentlicht hatte; damit war die theoretische Entwicklung der Raumfahrt eigentlich abgeschlossen, denn hier wurde das berühmte Gesetz >actio = reactio< erstmals formuliert, das dem Rückstoßprinzip entspricht. Bergerac kannte vielleicht die Arbeiten Newtons; jedenfalls berichtete er in seiner 1710 publizierten Utopie Der Wanderer nach dem Mond von mehreren Versuchen seines Mondfahrers, in die Lüfte aufzusteigen, die alle mehr oder weniger kläglich scheiterten, ehe der Aufstieg durch taugefüllte Gasflaschen zum gewünschten Erfolg führte. Unter den mißglückten Experimenten befand sich auch — welche ly Ironie des Schicksals! — ein raketengetriebenes Gefährt, das sich nach Aussagen des Autors jedoch nur wenig über den Boden erhob, bevor es mit Getöse wieder zurückstürzte.«
Als dann schließlich ein Wissenschaftler konkrete Vorstellungen von einem Raketenantrieb für Raumfahrzeuge entwickelte, flüchtete er in die utopische Literatur, um sich Gehör zu verschaffen: Der Russe Konstantin E. Ciolkovskij beschäftigte sich bereits 1878 theoretisch mit dem Problem der bemannten Raumfahrt. Als niemand Notiz von seinen wissenschaftlichen Schriften nahm, schrieb er Science Fiction-Erzählungen ...
Bevor sich das Raketenprinzip in der Raumfahrt endgültig durchsetzte, wurde noch eine Reihe anderer Möglichkeiten in der utopischen Literatur diskutiert. Der berühmteste Name, geradezu ein Markenzeichen utopischer Literatur, ist natürlich Jules Verne. Die Art und Weise, wie er 1875/76 seine Reisenden zum Mond beförderte, hält wissenschaftlichen Kriterien allerdings kaum stand: Susanne Päch bemängelt, »daß die damals schon bekannte notwendige Geschwindigkeit, um die Erdanziehung verlassen zu können, von seinem Projektil gar nicht erreicht wird — ganz zu schweigen von der Tatsache, daß Jules Verne seine drei Reisenden mit einem Geschoß aus einer Kanone zum Mond schickte, das mit riesigen Mengen Schießbaumwolle in einem langen Rohr auf Touren gebracht wurde. Wir wissen heute, daß eine mächtige Beschleunigung, die für einen direkten Mondschuß à la Jules Verne vonnöten wäre, dem menschlichen Organismus mehr zusetzen würde, als er physisch ertragen könnte.«
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Ende des letzten Jahrhunderts wurden dann besonders zwei Antriebskräfte für Raumfahrzeuge favorisiert: der elektrische Antrieb und die Radioaktivität. 1896 von dem französischen Physiker Henri Becquerel zum ersten Male nachgewiesen, wurde die Radioaktivität schon ein Jahr später in dem Roman Auf zwei Planeten von Kurd Laßwitz zur antreibenden Kraft eines Raumschiffs. Der Autor beschreibt darin den Mars als technologisches und soziales Utopia: Es gibt rollende Straßen, transportable Häuser, ein Retrospektiv, mit dem vergangene Ereignisse sichtbar gemacht werden können, sowie Photozellen. Die gesamte Energie wird aus Sonnenzellen gewonnen, die Nahrungsmittel werden synthetisch hergestellt. Die Lebensweise der Marsbewohner ist von Moralprinzipien Immanuel Kants bestimmt.
Dessen »Praktischer Imperativ« mit dem Inhalt: »Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst«, ist allerdings wohl kaum die Maxime, an die der amerikanische Präsident heute bei seinem <Star-wars>-Programm denkt. Am Ende des 20. Jahrhunderts hat der Weltraum seinen utopischen Glanz verloren. Die Science Fiction-Autoren wenden sich wieder der Erde zu. Keine <dritte Art>, kein anderer Planet nimmt uns die Arbeit ab, hier bei uns Utopia zu finden — bevor es zu spät ist.
1771 versinkt in Paris ein Mann in tiefen Schlaf und wacht am gleichen Ort im Jahre 2440 wieder auf. In Boston läßt sich an einem Maitag des Jahres 1887 Julian West, ein junger Mann aus wohlhabender Familie, der unter chronischer Schlaflosigkeit leidet, durch Hypnose in Schlaf versetzen — und wacht 113 Jahre später im Jahre 2000 wieder auf. 1890 schläft ein junger Mann nach einer politischen Debatte mit Freunden in seinem Haus in London ein und erwacht rund 200 Jahre später. Mercier, Bellamy und Morris haben ihr Nirgendwo im Irgendwann angesiedelt. Und da H.G. Wells erst 1895 seine praktische Zeitmaschine erfand, mit der man bequem in alle Zeiten reisen konnte, griffen die Utopisten auf ein uraltes Mittel zurück, die Menschen aus ihrem gewohnten Bewußtseinszustand herauszukatapultieren: den Schlaf.
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Im antiken Griechenland war er ein Gott und hieß Hypnos; sein Bruder war Thanatos, der Tod. Er streute mit dem Mohnstengel den Schlummer unter die Menschen — ein Nachfahre von ihm ist das bieder-deutsche Sandmännchen. Der Schlaf brachte in den Asklepios-Heiligtümern auch Heilung für Kranke. In Ägypten tauchte der Schläfer in das Urgewässer Nun hinab, um sich dort zu erholen und auch Göttern und Verstorbenen zu begegnen. Und im Schlaf kommen natürlich auch die Träume, denen zu allen Zeiten, besonders bei den Naturvölkern, größte Wichtigkeit für das Schicksal des einzelnen und der Gruppe beigemessen wurde. Einen Menschen in Schlaf zu versetzen und ihn in fremder Umgebung wieder aufwachen zu lassen, ist nicht einfach ein Trick hilfloser Utopisten, sondern eines der großen archaischen Bilder für die Transformation des Bewußtseins.
Einen heftigeren Effekt erzielt man mit — kontrolliert und bewußt eingesetzten — Drogen. Die Utopie eines >Wissenden<, der mit Hilfe halluzinogener Substanzen die Grenzen von Raum und Zeit sprengen kann, beschreibt Carlos Castaneda in seinen Don Juan-Büchern, Begegnungen mit einem indianischen Magier in Mexiko. »Der Kern unseres Wesens, so hatte Don Juan gesagt, sei der Akt der Wahrnehmung, und die Magie unseres Daseins sei der Akt der Bewußtheit. Für ihn bildeten Wahrnehmung und Bewußtheit eine einzige, funktionale, unauflösliche Einheit – eine Einheit von zwei Bereichen. Der eine war die <Aufmerksamkeit für Tonal>, das heißt die Fähigkeit des normalen Menschen, wahrzunehmen und sein Bewußtsein auf die gewöhnliche Welt des alltäglichen Lebens zu richten.
Diese Art Aufmerksamkeit hatte Don Juan auch unseren <ersten Ring der Kraft> genannt, dies, wie er sagte, sei unsere wunderbare, obgleich für selbstverständlich gehaltene Fähigkeit, Ordnung in unsere Wahrnehmung unserer Welt zu bringen. Der zweite Bereich war die <Aufmerksamkeit für das Naguak, das heißt die Fähigkeit der Zauberer, ihr Bewußtsein auf die außerordentlich andere Welt zu richten.
Diesen Bereich der Aufmerksamkeit nannte er den <zweiten Ring der Kraft>, er bezeichnete sie als jene ungeheure Fähigkeit, Ordnung in die Welt des Außergewöhnlichen zu bringen, die uns allen eigen ist, die aber nur die Zauberer einsetzen.« Das <Außergewöhnliche> der Magie ist allerdings wirklich ein grenzenloses Niemandsland, ein Sumpf, in dem selbst Utopisten versinken können ...
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Ein anderer Weg, ein sanfter, das eigene Bewußtsein aktiv zu transformieren, ist Meditation. Die nach innen gerichtete Meditation und der nach außen gerichtete utopische Elan — größere Gegensätze scheinen kaum denkbar. Doch nur Neurotiker sehen in der Meditation eine Möglichkeit, sich durch die Schau nach innen von allem Äußeren zu isolieren, mit dem sie nicht fertig werden. Aber die Verengung auf ein einzelnes kleines, ängstliches Ego ist es gerade, was die spirituellen Lehrer aller Zeiten überwinden wollten. Nach dem alten esoterischen Gesetz »Wie außen, so innen, und wie innen, so außen« bewirkt die Reinigung des eigenen Inneren eine Reinigung des Außen, ja, macht sie überhaupt erst möglich.
Es gibt keine Weltverbesserung ohne Besserung der eigenen Person, es gibt keine positive Wandlung eines einzelnen, ohne daß die Umwelt davon beeinflußt würde. Deshalb spielen Erziehung und – bei Skinner und Ardila – Verhaltenskonditionierung in den Träumen vom perfekten Staat so eine große Rolle. Der Mensch muß sich verändern, damit er seine Umwelt ändern kann. Der Kriegsschauplatz in uns muß zuerst bereinigt werden.
Raumfahrt, Schlaf, Drogenerfahrungen, Trance und Meditation haben eines gemeinsam: Sie bringen eine unbewußt von uns ständig für selbstverständlich gehaltene Vorstellung durcheinander, daß nämlich die Zeit ein gleichmäßig fließendes Etwas sei, das sich unaufhaltsam von der Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft wälzt. Seit Albert Einstein wissen wir es eigentlich besser. <Die Zeit> als fixe und absolute Größe gibt es gar nicht. Einstein: »Der Unterschied zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist für uns Wissenschaftler eine Illusion, wenn auch eine hartnäckige.«
Zeit ist Uhrzeit, Jahreszeit, Sternenzeit, biologische Dauer, Rhythmus, Metrik, Dynamik, Energie, Bewegung, Phantasie. Das Gestern, Heute und Morgen ist nicht säuberlich voneinander getrennt und hintereinander angeordnet, sondern es durchdringt sich gegenseitig. T.S. Eliot: »... die Dinge, die geschehen werden / Sind schon geschehen.«
Damit hat die Zukunft, in der die utopischen Schläfer erwachen, nicht die Bedeutung, daß etwas Bestimmtes zu diesem oder jenem Zeitpunkt Realität ist und nicht früher oder später. Die utopische Zukunft ist keine ernst gemeinte zeitliche Angabe mit Datum und Jahreszahl, sondern lediglich ein Bild, ein Symbol für den Zustand, in dem das <Noch-Nicht> aufgehoben ist. Diese Bedeutung des utopischen <Morgen> entkräftet auch einen häufigen Vorwurf: Daß die Utopisten auf die Zukunft vertrösten, um sich nicht mit der Gegenwart auseinandersetzen zu müssen — ein Vorwurf, der dann wieder die Rechtfertigung liefert, sich unbequemen Ideen und Entwürfen nicht zu stellen.
Wie man also nach Utopia gelangt – die Beschwerlichkeiten des Weges sind dabei sinnbildlich für die Schwierigkeit, utopische Vorstellungen zu verwirklichen –, ist vollkommen gleichgültig, ein Spiel. Denn Utopia, das liegt natürlich im Kopf.
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