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Utopia als Symbol

Die Männer und das 'Große Runde'

 Frau    Interview  

Ich habe ein starkes Bedürfnis, 
in den Mutterleib zurückzukehren.
In irgendeinen.  --Woody Allen--

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Utopien haben, anders als Ideale, Saft und Kraft. Sie entspringen nicht nur dem Kopf, ihre Wurzeln liegen tiefer. Es gibt eine Reihe von Gemeinplätzen, die in allen utopischen Staatsromanen, quer durch die Jahrhunderte, auftauchen: die Insel, die geometrisch angelegte Stadt, die Abschaffung von Geld und Privatbesitz, die Gemeinschaftsküche, das schöne Sterben. Sicherlich werden sie zum großen Teil bewußt tradiert, doch die Hartnäckigkeit, mit der im grenzenlosen Land der Möglichkeiten an ihnen festgehalten wird, weist auf einen mythologischen Ursprung. 

 Utopia ist – auch – ein Symbol. Doch ein Symbol wofür?  

Die Insel: Thomas Morus' Utopia war ursprünglich eine Halbinsel. Ihr erster Herrscher Utopos ließ an der Stelle, wo die Halbinsel mit dem Land zusammen­hing, fünfzehn Meilen Erde ausstechen, bis Utopia ganz vom Meer umgeben war. Schnabels Insel Felsenburg zeigt sich vom Meer her als abweisender steiler Felsen – das Innere entpuppt sich nach der Landung als paradiesischer Garten. Hauptmanns Insel der Großen Mutter hat eine steil abfallende, felsige Küste – im Inneren erstreckt sich terrassenförmig ein fruchtbares Tal. Auch die Inseln der Seligen, von Horaz beschrieben, beglücken mit üppiger Vegetation, niemand braucht sich beim Ackerbau anzustrengen, das Klima ist wunderbar ausgeglichen.

Die Insel ist nicht einfach ein geographischer Ort. Sie ist »das klare, fast geschaute Wissen davon, daß Reinheit und Glück – mythologisch benannt: das Goldene Zeitalter – irgendwo einen Platz innerhalb des Kosmos haben. Ja, dieser Platz ist der wirkliche Kosmos, anderswo überall zerfällt die Welt, sie modert gleichsam und treibt ihrem Ende zu« (Karl Kerenyi). Auf der Insel lebt der Mensch in Harmonie mit der Natur, nicht im Kampf. Die meisten utopischen Inseln sind in mildem südlichem Klima angesiedelt, häufig im Pazifik, nach außen oft trutzig abweisend, doch nach innen einladend, sanft. Hier kann man das gute, richtige, einfache Leben führen, das in der feindlichen übrigen Welt nicht möglich ist.

Auch real existierende Inseln können zum Mythos werden. Die Entdeckung Tahitis im 18. Jahrhundert z.B. entfachte die Sehnsucht vieler Europäer nach einem neuen Leben in Freiheit und Unschuld; noch heute träumt sich mancher, als Inbegriff allen irdischen Glücks, auf eine Südsee-Insel. Der Altertumswissenschaftler und Mythenforscher Karl Kerenyi: »Der Inselmythos ist viel mehr der Mythos des Westens als des Ostens. Er ist verwandt mit dem sich von dieser Welt abkehrenden Jenseitsglauben des Christentums, aber verwandt auch mit dem Hoffen griechischer Kolonisten, die nach jungfräulicher Erde suchen.« Noch Arno Schmidts Anti-Utopie Die Gelehrtenrepublik bestätigt diesen Mythos, indem sie ihn umkehrt: Seine (künstliche) Insel ist ein exquisit verkommenes Stückchen Welt ...

Der Mythos der Insel erzeugt eine für die Utopie so typische Spannung: Einerseits bedeutet Insel Abgrenzung, Unkonvent­ionalität, auf der anderen Seite erhebt die Utopie – anders als die individualistische Robinsonade – gerade den Anspruch, ein Modell für ein Gemeinschaft­sleben zu sein, ja, das Leben insgesamt zu erfassen.

Manchem beweist dieser Widerspruch geradezu die Sinnlosigkeit utopischer Vorstellungen. Für die Symbol­forscherin Marie-Louise von Franz, Schülerin von C.G. Jung, entspringt, wie sie uns darstellte, das Inselbewußtsein einer primitiven beziehungsweise neurotischen Mentalität. Ihre Überzeugung: Das »Happy Neurosis Island« (C.G. Jung) ist ein nicht integriertes, nicht an das >Festland< angeschlossenes Bewußtsein und geht deshalb verloren. Fortschritt in der Entwicklung eines Menschen heißt Angliederung, Verschmelzung, Eliminierung der Inseln. Der Kontinent, das ist die Realität, die Insel, das ist die Illusion.

Einem primitiven Bewußtsein, nämlich dem mythologischen der Antike, setzt auch der Kulturphilosoph Jean Gebser die Inselsymbolik gleich. Doch er wertet sie nicht ab. Die Insel ist für ihn mit dem »ozeanischen Denken« verbunden.

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Dieses Denken ist, im Gegensatz zum perspektivischen, rationalen Denken, kreisförmig-umschreibend, kein »entweder – oder«, sondern ein »sowohl – als auch«. Gebser: »Das mythische Bild des Okeanos, jenes Stromes, der die Erde kreisend umfließt und in sich zurückkehrt, ist ein anschauliches Bild des tätigen Kreises, aber auch ein Symbol für die in ihm sich ausdrückende Tendenz, daß alles Erdhafte nach Bewußtsein strebt: Vom Okeanos umflossen, dem eigentlichen Urmeer, stellte sich die Erde den Griechen als eine Art Insel dar; jede Insel aber ist Ausdruck einer Bewußtwerdungs-Tendenz, insofern sie sich aus dem Meer ... heraushebt.«

 

Die Stadt: Es gibt zwei Grundformen utopischen Städtebaus: entweder, auf geometrischem Grundriß, die Anreihung einzelner Häuser entlang schnurgerader Straßen, die sich rechtwinklig schneiden, oder ein auf ein Zentrum bezogener Gesamtplan, der als Ganzes wirkt und nicht auf die Einzelheiten der Wohnanlage eingeht. Zum ersten Typ gehören die 54 Städte der Morus-Insel Utopia, die alle nach demselben Plan erbaut sind, oder auch Merciers Paris des Jahres 2440, zum zweiten Campanellas Sonnenstadt: Sieben konzentrische Ringmauern bilden dort einen Innenraum, den man nicht mehr zu verlassen braucht, weil er die ganze Welt in sich enthält. Man kann sich darüber streiten, ob die Vision des Neuen Jerusalem in der Offenbarung des Johannes eine Utopie ist – schließlich ist es eine himmlische und keine irdische Stadt –, aber ihr Bau ist ganz sicher inspirierend für viele utopische Städteplaner gewesen:

Und sie hatte eine große und hohe Mauer und hatte zwölf Tore und auf den Toren zwölf Engel, und Namen darauf geschrieben, nämlich der zwölf Geschlechter der Kinder Israel. (21,12)

Oder:

Und die Stadt liegt viereckig, und ihre Länge ist so groß als die Breite. Und er maß die Stadt mit dem Rohr auf zwölftausend Feld Wegs. Die Länge und die Breite und die Höhe der Stadt sind gleich. (21,16)

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Ob die Ausrichtung auf ein Zentrum oder die rechtwinklige Gitteranordnung – in utopischen Städten herrschen strenge geometrische Gesetze. Geometrie bedeutet Sicherheit, Ordnung, Überschaubarkeit, die Unterordnung des einzelnen unter ein Ganzes: Keine finsteren winkligen Gäßchen verleiten die Menschen zum Laster der Absonderung.

Für Symbolforscher ist die Stadt ein Ursymbol des Weiblichen. Auch das Neue Jerusalem ist »bereitet wie eine geschmückte Braut ihrem Mann«, sie ist »die Braut des Lammes«. Es findet sich in ihr kein Tempel, denn sie selbst ist ein Gefäß für das Heilige. »Und wird nicht hineingehen irgendein Unreines.«

Erich Neumann erkennt in seinem Buch über die Gestaltungen des Unbewußten, Die Große Mutter, die Stadt als das »Große Runde«, das durch Mauern zum abgeschlossenen, schützenden Raum wird, »wobei immer das Tor und die Türe den Schoß des mütterlichen Gefäßes bildet«. Jean Servier analysiert die gesamte utopische Stadtplanung als Idealisierung des weiblichen Geschlechts­organs, »das in der Erlebniswelt der Kindheit noch das einzige Organ schlechthin ist«. Der Reinheit der neuen Stadt wird die als schmutzig empfundene Männlichkeit entgegengesetzt. Servier in Der Traum von der großen Harmonie: »Häufig sind die Strahlenstädte Meereshäfen, wenn sie nicht am Ufer von Wasserläufen oder Seen liegen ... oder von einem breiten Fluß durchquert werden, was nur eine andere Form ist, das dunkle und verschlossene, feuchtwarme weibliche Prinzip idealisierend zu verwandeln.« 

An einen Uterus erinnert auch die ganze Thomas-Morus-Insel Utopia: Ringförmig umschließt sie einen Binnenhafen, nur eine Art >Muttermund< bildet eine kleine Öffnung nach außen. Untiefen und Unterwasserriffe machen die Einfahrt für Fremde äußerst gefährlich ...

Die Sehnsucht nach der bergenden, nährenden Mutter Stadt erklärt eine Reihe immer wiederkehrender Eigenarten utopischen Stadtlebens bis ins 20. Jahrhundert hinein, etwa die Vorliebe für Gemeinschaftsküchen und das gemeinsame Einnehmen der Mahlzeiten. Hier wird, so Servier, die orale Bindung zwischen Mutter und Kind wiederhergestellt und das Essen zur »sozialen Kommunion«. Die Speisen sind einfach, natürlich, meist vegetarisch — wie Muttermilch.

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In H.G. Wells' Utopie Menschen, Göttern gleich gewöhnt man sogar den wilden Tieren das Fleischfressen ab: »Die größeren Fleischfresser wurden, gebürstet und gereinigt, auf Milchdiät gesetzt, ihre Wildheit gedämpft, und sie wurden, völlig gezähmt, zu Lieblingen und zur Zierde in Utopia.« Gereinigt, auf Milchdiät gesetzt und in ihrer Wildheit gedämpft ist die ganze Natur in Utopia. Das Klima ist stets mild-sommerlich, der Boden fruchtbar, die Arbeit leicht. 

Auf Frivola zum Beispiel, einer utopischen Insel des 18. Jahrhunderts, haben die wilden Tiere weiche Zähne und Klauen, ihr Brüllen klingt wie das Rascheln von Seide. Der Ackerbau ist auf dieser Insel eine mühelose Tätigkeit: Die Frauen blasen auf einer kleinen Flöte, und der Laut zieht Furchen in den Boden. Die Männer werten Samenkörner in die Luft, die der Wind an die richtige Stelle trägt. Auch wenn Frivola oder Arkadien oder das Schlaraffenland eher Fantasy als Utopie sind: Immer ist die Natur eine zärtliche, spendende Mutter, die ihre Kinder verwöhnt – keine Kälte, keine Erdbeben, kein steiniger Boden, keine Überschwemmungen. Und die utopischen Stadtmenschen kommen mit der Natur sowieso nur in Form von artigen Baumreihen entlang ihrer geraden Straßen oder gepflegten Parks in Berührung.

 

In Utopia sind alle Menschen Geschwister, niemand ist allein oder gar einsam. Ob die monogame Bindung oder die lose Gruppierung favorisiert wird: Es scheint so, als sei der eigentliche Zweck aller utopischer Sozialplanung, Einsamkeit zu vermeiden. Auch in den Utopien des 20. Jahrhunderts <Futurum 2>, <Futurum 3>i und <Ökotopia> stehen Ehe und Familie zwar unter dem besonderen Schutz des Staates, aber damit ist nicht etwa die bürgerliche Kleinfamilie< gemeint. Nirgends gibt es eine Isolation der einzelnen Familien voneinander, eine Konstruktion, die zwangsläufig beim Zerbrechen der Ehen Einzelgänger und einsame Kinder hervorbringt.

Callenbach in <Ökotopia>: »In ökotopianischen Ehen gibt es fließende Übergänge zur Großfamilie, zu Freundschaften mit beiden Geschlechtern. Vielleicht tritt das Individuum dabei nicht so deutlich hervor wie bei uns; es präsentiert sich dem anderen nicht als Geschenk oder als Problem, sondern mehr als Kamerad.«

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Dieser neue utopische Mensch wird auch durch die Kleidung erschaffen. Eine genaue Kleiderordnung, die wenig individuellen Spielraum läßt, findet sich in den meisten Utopien; dazu Servier: »Die meisten nach antiker oder türkischer Art wallenden Gewänder der Utopier symbolisieren die Fortdauer der mütterlichen Geborgenheit in dem Schutz, den der Staat dem einzelnen gewährt, aber auch die Reinheit des gerechten Staates und den Glanz der Wiedergeburt.«

Auffälligste Gemeinsamkeit aller utopischen Staatsromane ist die propagierte Abschaffung des Privateigentums. Dabei werden weniger sozialistisch durchdachte Ideen vertreten, als naturrechtliche Gefühle ausgedrückt. >Mutter Staat<, die alle ihre Kinder gleich liebt und versorgt, steht gegen > Vater Staat<, der Leistung fordert, Hierarchien schafft, Gesetze erläßt.

Erich Neumann, der in Die Große Mutter die Symbolik des Weiblichen in allen Ausdrucksformen untersucht hat, ordnet eine solche Bindung an die Mutter dem Elementarcharakter zu, und das bedeutet: »Als Elementarcharakter bezeichnen wir den Aspekt des Weiblichen, indem es als das >Große Runde<, als großes Enthaltendes, die Tendenz hat, das aus ihm Entstehende festzuhalten und wie eine ewige Substanz zu umfassen. Alles aus ihm Geborene gehört zu ihm, bleibt ihm Untertan, und auch wenn das einzelne selbständig wird, relativiert das Große Weibliche diese Selbständigkeit zu einer unwesentlichen Variante des immer Seienden, das es selbst ist... Das Ich, das Bewußtsein, der einzelne sind ihm gegenüber, unabhängig davon, ob sie männlich oder weiblich sind, kindlich, unselbständig und abhängig.«

Nähren, Schützen, Wärmen, Halten sind die Funktionen des Großen Weiblichen, denen sich das Individuum in der utopischen Stadt so gerne überläßt. Es ist dies die primitivste Stufe einer Beziehung, da sie der Embryo- und Säuglingsphase entspricht.

Diese >Mutterfixierung< erklärt auch, warum die Sexualität eine so kuriose Rolle in den alten Staatsromanen spielt.

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Billigt man, für damalige Zeiten erstaunlich, den Mädchen fast immer eine gleiche Erziehung wie den Jungen zu, so wird der Frau (erst im 20. Jahrhundert ändert sich das) in ihrer Beziehung zu Männern mit Nachdruck der zweite Platz zugewiesen. Oberstes Ziel der Sexualität, eigentlich ihr einziges, ist die Fortpflanzung, und zwar nach eugenetischen Methoden, die uns heute faschistisch erscheinen.

Macht in Platons Staat die Idee der »Weibergemeinschaft« noch den Eindruck sexueller Freizügigkeit, so wird der Zweck dieser locker erscheinenden Sitten sogleich klar: »... sollte jeder Trefflichste der Trefflichsten am meisten beiwohnen, die Schlechtesten aber den ebensolchen umgekehrt; und die Sprößlinge jener sollten aufgezogen werden, dieser aber nicht, wenn uns die Herde recht edel bleiben soll.«

Campanella, der als Erzkatholik doch Ehe und Familie hochhalten müßte, schafft im Sonnenstaat die monogame Lebens­gemeinschaft ab, um bessere Zuchtergebnisse zu erzielen: Beamte beobachten nackte Männer und Frauen auf dem Sportplatz und entscheiden, wer mit wem schlafen darf. »Große und schöne Frauen werden nur mit großen und tüchtigen Männern verbunden, dicke Frauen mit mageren Männern und schlanke Frauen mit starkleibigen Männern, damit sie sich in erfolgreicher Weise ausgleichen.« Um das Ganze zu perfektionieren, wird der Zeitpunkt auch noch von astrologischen Berechnungen bestimmt. Weibliche Schönheit besteht hier, wie es heißt, in hohem Wuchs, kräftigen, starken und geschmeidigen Gliedern. »Deshalb soll auch jede Frau mit dem Tode bestraft werden, die ihr Gesicht schminkt, um schön zu wirken, oder hohe Absätze trägt, um groß zu erscheinen.«

 

Für seine Zeit sehr liberal geht es in Thomas Morus' Utopia zu: Hier gibt es Ehen, die sogar wieder geschieden werden können, und Ehebruch wird bei Mann und Frau gleichermaßen bestraft. Vor der Heirat sehen sich die beiden Brautleute in Begleitung einer dritten Person nackt — immerhin hat die Frau auch mal eine Wahlmöglichkeit. In Bacons Neu-Atlantis ist Keuschheit oberstes Gebot, in Merciers Paris des Jahres 2440 sind die Frauen tugendhafte, züchtige und gehorsame Dienerinnen ihrer Männer, und in Cabets Ikarien werden sie nur in der Mutterrolle anerkannt.

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Recht weit mit der Gleichstellung der Frau geht Edward Bellamy in seinem Boston des Jahres 2000. Hier sind die Frauen ökonomisch unabhängig und wählen ihre Ehemänner selbst. Insgesamt kann man feststellen: Je rigider die Sexualmoral, desto unterdrückter die Frauen. Und für alle Staatsromane bis zur Wende zu unserem Jahrhundert gilt der schlichte Satz aus Utopia: »Die Frauen sind ihren Männern, die Kinder den Eltern und so überhaupt die Jüngeren den Älteren Untertan.«

Wie aber passen nun die Mutter-Idealisierung und die Mißachtung der Frauen zusammen? Erich Neumann sah die Symbolik der Großen Mutter ambivalent. Das heißt, der »Guten Mutter«, die nährt, pflegt und aufbaut, steht die »Furchtbare Mutter«, die einfängt, festhält, verschlingt, gegenüber. Gegen diesen negativen Aspekt des »Großen Runden« wehren sich die Männer durch etwas, das in der Psychoanalyse »Objektspaltung« heißt: Aus Angst, von der Frau überwältigt zu werden, trennen sie zwischen der >guten< Mutter und der >bösen< Sexualpartnerin. Die sexuell lockende Frau wird strengstens reglementiert und das männliche Ego aufgebläht, um noch einen Rest Selbstachtung zu behalten. Je größer also die Sehnsucht nach der Rückkehr in eine Gebärmutter ist, desto sexistisch engagierter sind die Männer.

Doch nicht nur die Sexualität, welche die Männer schwach macht, ist ein angsterregender Aspekt des Weiblichen. Schenkt die »Gute Mutter« Leben, so ist die »Furchtbare Mutter« der Tod. Erich Neumann: »So wird der Schoß der Erde zum tödlich zerreißenden Maul der Unterwelt, und neben dem zu befruchtenden Schoß und der schützenden Höhle der Erde und des Berges klaffen der Abgrund und die Hölle, das dunkle Loch der Tiefe, der fressende Schoß des Grabes und des Todes, der lichtlosen Dunkelheit und des Nichts.«

Visionen von einem Leben nach dem Tod sind nicht Sache der Utopie:

»Es wächst hienieden Brot genug
Für alle Menschenkinder,
Auch Rosen und Myrten, Schönheit und Lust,
Und Zuckererbsen nicht minder.

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Ja, Zuckererbsen für jedermann, 
Sobald die Schoten platzen! 
Den Himmel überlassen wir 
Den Engeln und den Spatzen.«

                          (Heinrich Heine, Deutschland — ein Wintermärchen)

Sehr viel mehr Beachtung wird der Art und Weise des Sterbens geschenkt. Der schöne, sanfte, natürliche Tod ist Ziel aller Utopien, und so ist Sterbehilfe keine Seltenheit. Im Utopia des Thomas Morus reden Priester und Behörden unheilbar Kranken zu, ihr Leben beenden zu lassen, wenn sie sich selbst und den Mitmenschen unerträglich werden. Es sei in Gottes Sinn, sich aus einem bitteren Leben wie aus einer Folterkammer zu befreien. »Wen sie damit überzeugt haben, der endigt sein Leben entweder freiwillig durch Enthaltung von Nahrung oder wird eingeschläfert und findet Erlösung, ohne vom Tod etwas zu merken. Gegen seinen Willen aber töten sie niemanden, und sie pflegen ihn deshalb auch nicht weniger sorgfältig.« Da in allen utopischen Gemeinwesen großer Wert auf die Erhaltung der Gesundheit gelegt wird, stirbt dort natürlich niemand an Alkoholismus, Raucherlunge, Überfettung oder Drogensucht. Die Verstorbenen werden geehrt, aber es herrscht kein übermäßiger Totenkult. Die Lebenden sind wichtiger als die Toten.

 

Eine ebenso skurrile wie grausige Form der Euthanasie hat Franz Werfel in seinem satirisch-utopischen Roman Stern der Ungeborenen erdacht: Der Ich-Erzähler bereist eine Galaxis der Zukunft, in der die Menschen einen Prozeß der Abstraktion durchgemacht haben. Jede Seelenregung wird in der astromentalen Kultur vom Licht des Bewußtseins reingewaschen, es gibt kein Leid, aber auch kein individuelles Glück.

Der Tod ist ein streng kontrolliertes Unternehmen: Im sogenannten Wintergarten, der die »Gebärmutter der Erde« genannt wird, werden die Menschen am Ende ihres Lebens wieder zu Embryos zurückentwickelt. »Die Glashäuser des Wintergartens waren das Gegenteil eines Friedhofes. Sie führten das lebendige Sein, unnachahmlich milde, in eine Form des Nichtseins herüber, von der keine häßliche Spur übrig blieb.« 

Die Methode ist eine »unmerklich sanfte Zellteilung, die dem sinnigsten, behaglichsten und wonnereichsten aller Schrumpfungsprozesse zu Grunde liegt«.

Diese Vision einer Mutter Erde, die noch im Töten zart ist, hat ihre Perversion. Den edlen Glashäusern steht ein Rübenacker entgegen. Hier stecken Rüben im Boden, die sich bei näherem Hinsehen als wilde, haßerfüllte, kreischende Männchen entpuppen, die sich »von der Scholle« losreißen wollen. Es sind die mißlungenen Fälle der behaglichen Rückentwicklung. Der Ich-Erzähler interpretiert sie so: »daß der seelische Dreck, der sich in hundertachtzig astromentalen Kulturjahren angesammelt hat, endlich heraus muß. Es ist die Rückseite des feinen Benehmens und der eleganten Menschlichkeit.« Und es sind Zerrbilder der Männlichkeit, die kleinen, ohnmächtigen Rübchen, die sich vom Mutterboden lösen wollen, es aber nie und nimmer schaffen ...

Sind Utopisten also nichts weiter als kleine Jungen, die in den sicheren Mutterschoß zurückfliehen wollen und vor allem, was neu, chaotisch, gefährlich, fremd, konfliktreich ist, Angst haben? Wenn sie nichts anderes zu tun haben, als sich ideale Gemeinwesen auszudenken, ja.

Doch die Utopie eines Utopisten ist ein Mensch, der Entwürfe von idealen Staaten und Städten verabscheut.

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Matriarchat und Utopie

Am Anfang war die Frau

Eine Frau trägt in sich den Ozean,
aus dem der Mann geboren ist.
Liv Ulmann

Es soll eine Zeit gegeben haben — das Goldene Zeitalter? —, in der die Männer geborgen und friedlich, die Frauen aber frei und stark waren: die Zeit der Mütterreiche. Das Mutterrecht gehört einer früheren Kulturperiode an als das Vaterrecht. Johann Jakob Bachofen, der im letzten Jahrhundert Aufsehen mit seiner Erforschung mutterrechtlicher Gesellschaften erregte, sah in dieser Zeit »die Poesie der Geschichte«, denn: »Aus dem gebärenden Muttertum stammt die allgemeine Brüderlichkeit aller Menschen, deren Bewußtsein und Anerkennung mit der Ausbildung der Paternität untergeht.« 

Und Sir Galahad, das Pseudonym einer Dame der Wiener Gesellschaft zu Beginn unseres Jahrhunderts, die Bachofens Studien weiterführte, schreibt in <Mütter und Amazonen>: »Alle Mutterreiche sind vorwiegend uterin empfunden. Nichts irrt und strebt da ins unendlich Leere, alle Kreatur bleibt von einer unbewußten Eihaut umspannt, dafür im unendlich Erfüllten. Lebensdichte statt Lebensferne.«

Das Urgeschlecht ist weiblich. Jeder Embryo bleibt weiblich, wenn er nicht eine gezielte hormonelle Umstimmung erfährt. Männlichkeit ist das Spezielle, Späte, Jüngere. Alle Männer sind Söhne der großen Urmutter — das ist der Grund matriarchalen Bewußtseins. Unterjochung der Männer soll es in den Mütterreichen nicht gegeben haben — denn warum sollte eine Mutter ihre Söhne mißhandeln?

Radikale Feministinnen halten nichts von Mütterreichen, in denen die Männer nur wieder auf ihre Kosten genährt und gepäppelt werden, ebensowenig Anhänger des formalistischen Gleichheitsideals: Diese meinen, es gäbe eigentlich nur Menschen – der biologische Unterschied sei belanglos –, und Männer und Frauen würden erst dadurch zu Männern und Frauen, daß man sie dazu erzieht.

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Ist das der Stoff, aus dem die Utopien sind? 

Hier ein Frauenstaat, der, sei er intern noch so friedlich, nach außen zu seiner Befriedung Gewalt anwenden muß, dort eine Masse von Menschen, die das Gleiche anzieht, gleich gut kocht und gleich gut Babys wickelt, gleich gut Nägel in die Wand schlägt und gleich gut Maschinengewehre bedient... Wie kann man die Eigenheiten beider Geschlechter betonen, ohne daß eines versklavt wird?

Es gibt bemerkenswert wenig literarische Visionen in dieser Richtung. Speziell die konservative Science Fiction tradiert besonders emsig das Klischee vom mutigen, handelnden Mann und der ihn anhimmelnden, passiven Frau. Eine originelle Ausnahme ist Norman Spinrads Roman Eine Welt dazwischen. Diese Welt heißt Pacifica und ist ein von Menschen bevölkerter Planet in einem anderen Sonnensystem. Die Bewohner haben ihn nicht ausgeplündert, sondern leben in Harmonie mit der Natur. Zwischen Frauen und Männern besteht eine schwebende Balance, mit einer leichten Dominanz des weiblichen Elements in politischen und sozialen Angelegenheiten - dafür dürfen sich die Männer sexuell stärker fühlen. Pacifica ist eine Medien-Demokratie. 

Mit 90 aktuellen Kanälen und Datenspeichern, die seit 500 Jahren alle Programme der Medien aufzeichnen, ist Elektronik der Grundbaustein dieser Welt. Es gibt keine Parteien, im Parlament vertreten die Abgeordneten lokale kleine Gruppen. Darüber hinaus ist jeder Bürger durch die elektronische Volksabstimmung an den Entscheidungen beteiligt. Pacifica verfügt über eine ausgeprägte Kompromißfähigkeit und Toleranz von Minderheiten. Doch Spinrad entwirft keinen idealen Staat, der, um ideal zu bleiben, Druck gegen Andersdenkende ausübt. Diese Welt ist ein verletzbares Gebilde, und deshalb — das macht die Action dieses Romans aus — kann die Bedrohung nicht ausbleiben ...

 * * *

 

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Interview mit Heide Göttner-Abendroth

Über das Thema »Matriarchat und Utopie« sprachen wir mit Heide Göttner-Abendroth. Heide Göttner-Abendroth (geb. 1941) promovierte 1973 in München, danach lehrte sie zehn Jahre lang an der Münchner Universität Philosophie und Ästhetik und publizierte zahlreiche wissenschaftstheoretische Arbeiten. 1980 war sie als Gastprofessorin in Kanada. Seit 1978 arbeitet sie in der Frauenforschung. 1980 erschien das Buch Die Göttin und ihr Heros, 1982 Die tanzende Göttin, 1983 der Gedichtband Landschaften aus der Gegenwelt. Heute lebt sie als freie Wissenschaftlerin und Schriftstellerin bei München.

 

1)  Würden Sie sich als Feministin bezeichnen?

Ich bin Feministin, aber ich muß erklären, in welchem Sinne. Für mich bedeutet Feministin sein, auf sein eigenes Leben und auf das kulturelle und gesellschaftliche Leben aus der Perspektive der Frau einzugehen. Das heißt nicht, sich als Frau radikal in ausschließlichen Fraulichkeiten abzukapseln, sondern wirklich universell die gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Belange der Frau zu sehen. Das schließt natürlich auch ein, einen Blick auf die Welt der Männer zu haben.

2)  Eine große Schwierigkeit ist dabei die Geschichtslosigkeit der Frauen, daß die Weltgeschichte eine Männergeschichte, eine patriarchalische Geschichte ist. Sie haben versucht, eine Frauengeschichte zu schreiben.

Ich möchte das Wort »Frauengeschichte« ablehnen, denn Frauengeschichte ist von mehreren Frauen in dem Sinne versucht worden, daß man die Biographien bedeutender oder weniger bedeutender Frauen sammelte und so Einzelpersönlichkeiten aneinanderreihte. Doch das ist für mich keine Frauengeschichte. Mein Forschungsgebiet ist die Darstellung der Entwicklung einer Gesellschaftsform, die von Frauen bestimmt und geprägt worden ist, nämlich der matriarchalen Gesellschaftsform. Das ist kein Spezialgebiet, wie manche Leute meinen oder beklagen, denn Matriarchatsforschung schließt auch Erforschung und Kritik der patriarchalen Gesellschaftsentwicklung ein. 

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3)  Das Wort Matriarchat ist an sich schon unklar. Jeder versteht etwas anderes darunter.

Ich mache gern ein paar Bemerkungen darüber, warum ich das Wort Matriarchat überhaupt gebrauche, denn ich werde deswegen natürlich oft angegriffen.

Es gibt einige Bücher neuerer Autoren zu dem Thema, z. B. die von Borneman oder Wesel, welche nur von matristischen oder matrifokalen Gesellschaften reden; die Ethnologen sprechen, wenn sie solche Erscheinungen antreffen, meistens nur von matrilinearen Gesellschaften. Gegen diesen Sprachgebrauch verwahre ich mich aus einem einfachen Grund: Diese Begriffe sind nicht so neutral, wie sie aussehen. Vielmehr werden sie meist gebraucht, um zu zeigen, daß in den oder jenen Gesellschaften vielleicht eine gewisse Betonung der weiblichen Erblinie oder der weiblichen Namensgebung vorkam, aber daß es im Grunde nicht durchgängig von Frauen geprägte Gesellschaften gab. Sie werden also abwertend gebraucht.

Wenn ich »matriarchal« sage, dann ist das sicherlich eine provokative Wortwahl, die ich aber mit Absicht vollziehe; ich will nämlich damit ausdrücken, daß ich davon ausgehe, daß es sehr viele Gesellschaften gab in einer langen kulturellen Entwicklungsepoche, die durchgängig von Frauen bestimmt und geprägt worden sind. Und das nachzuweisen, ist die Aufgabe meiner Forschung.

 

Man wirft dem Matriarchat oft vor, daß es im Grunde dieselben Herrschaftsverhältnisse anstrebt, die wir jetzt schon haben, nur mit umgekehrtem Vorzeichen. Dagegen wehren Sie sich.

Das ist ein gängiges Vorurteil, zu dem die Doppelheit der Begriffe Matriarchat/Patriarchat verführt. Aber es sind nicht nur die Begriffe; wenn man sich nämlich die Literatur ansieht, sind es die ziemlich massiven Vorurteile der Matriarchatsforscher selber, die solche Sippenstrukturen oft so beschreiben, als ob die Männer entsetzlich darunter gelitten hätten. Wie zum Beispiel der hervorragende Forscher Malinowski, der eine matriarchalische Gesellschaft im Pazifischen Ozean untersucht hat und mit einem Klageruf feststellte, daß die armen Männer sich als Väter nicht einmal ihren eigenen Kindern zuwenden konnten.

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Er übersieht dabei völlig, daß jene Männer überhaupt kein Bewußtsein dafür hatten, daß sie Väter von irgendwelchen Kindern waren, sondern daß sie sich emotional den Kindern ihrer Schwester zuordneten, mit denen sie nach der matrilinearen Erbfolge verwandt waren, und dort ihre ganze Liebe ließen. 

Sie waren durchaus soziale Väter, aber eben für ihre Neffen und Nichten. Biologische Vaterschaft und der Vaterschaftsbegriff waren unbekannt, aber die Bezugnahme der Männer auf Kinder, mit denen sie sich verwandt fühlten, erfolgte in ihrer eigenen Sippe. Sie litten also überhaupt nicht.

Die Perspektive eines modernen Forschers, der da klagt, daß die Männer nicht einmal ihre eigenen Kinder anerkennen durften, ist typisch für die Verkehrung und die Projektion unserer heutigen Familienverhältnisse auf frühe Zeiten, die diese Familienform noch gar nicht kannten. Infolge solcher emotionalen Einwürfe und Vorstellungen, die wirklich reihenweise in der Forschung vorkommen, mit Bachofen angefangen, wird natürlich dauernd so geredet, als ob das Matriarchat den Männern unrecht tat, als ob sie unterdrückt gewesen wären, als ob es ihnen gefühlsmäßig schlechtgegangen sei. Das sind jedoch alles Projektionen von heute, und dadurch entsteht natürlich ein verzerrtes Bild.

Die andere Frage, die Sie angeschnitten haben, war: Haben denn die Frauen, also auch jene mächtigen Sippenmütter, die oft auch den Stammesrat beeinflußten oder sogar selbst bildeten, nicht Macht ausgeübt in demselben Sinne, wie im Patriarchat Macht ausgeübt wird? Diese Frage wird immer wieder gestellt.

Dabei muß man unterscheiden, daß die Gesellschaftsorganisation in Matriarchaten ganz anders war als in späteren patriarchalischen Gesellschaften, bei denen eine fremde Oberschicht die einheimische Bevölkerung überlagerte. Das waren Gesellschaften, die meistens aus Eroberungen hervorgegangen sind und nun natürlich Mechanismen der Hierarchie, des Abgrenzens und des Abspaltens erfinden mußten, um dauernd die obere Position zu halten gegenüber einer großen und nicht gerade unintelligenten einheimischen Bevölkerung. Die matriarchalischen Gesellschaften hatten diese Struktur überhaupt nicht. Sie waren in dem Sinne homogene Gesellschaften, weil sie miteinander verwandt, versippt und verschwägert waren.

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Da gab es keine fremde Oberschicht, welche die einheimische Bevölkerung in einem Zweischichtengebilde niederhalten mußte, sondern die Hierarchie ergab sich aus dem natürlichen Wachstum von Sippen und Stämmen. Die einflußreichsten Personen, in diesem Fall eben meistens Frauen, waren die natürlichen Träger dieser Stämme und Sippen.

 

Sie würden also klar sagen, daß die matriarchalische Gesellschaftsordnung eine bzw. die natürlich gewachsene ist, während die patriarchale immer eine aufgezwungene war. Gibt es für Sie keine natürlich gewachsenen Patriarchate? Ist das Patriarchat zwangsläufig mit Unterwerfung und Eroberung verknüpft?

Solche generellen Thesen stelle ich nicht auf. Vielmehr sage ich, daß diese Situation der Eroberungs­gesellschaft für den europäischen und asiatischen Raum gilt. Aber es gibt andere Gegenden, wie die pazifischen Inseln, Amerika, Afrika, wo sich die Gesellschaft anders entwickelt hat, also nicht durch Eroberungsgesellschaften. Wir haben letztere Situation im eurasischen Raum; hier kann man geschichtlich recht gut mitverfolgen, wie sich die alten Kulturen als Matriarchatc bis /u Stadtkulturen entwickeln, dann von verschiedenen Wanderungsbewegungen verschiedener Völker überrannt werden und sich anschließend die ersten Zweischichtenstaaten mit patriarchaler Herrschaft bilden.

 

Was wir jetzt an Patriarchat erleben, ist ja im Grunde eine Spät form. Es ist gut vorstellbar, daß es auch Patriarchate mit jener Form von Autorität, die Sie gerade geschildert haben, gab, wo die Frauen nicht derartig unterdrückt wurden.

In der Tat gab es Gesellschaften, die sich auch immanent zu Patriarchaten entwickelt haben. Die Forscher grübeln darüber nach, wie das geschehen konnte. Man kann deutlich beobachten, daß sich durch irgendwelche Tricks oder Situationen, die von Männern ausgenutzt worden sind, ihre Situation verbessert und dann zum Umkippen innerhalb der Gesellschaft geführt hat, zum Teil auch zur brutalen Unterdrückung der Frauen.

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Diese Unterdrückung erklärt sich meiner Meinung nach oft daraus, daß eben vorher die Frauen so dominierend und mächtig waren.

Für diese Entwicklung gibt es viele Erklärungen und Thesen, und ich könnte Ihnen nur welche wiederholen, denn ich selbst habe auch nicht den Königsweg und den generellen Schlüssel dafür, es zu erklären. Auf jeden Fall kann man die Frage nicht damit beantworten, wie das oft so ideologisch simpel getan wird, daß die Männer unterdrückt waren und deshalb diesen Schritt unternehmen mußten. Das stimmt einfach nicht. Ich möchte Ihnen dafür zwei Erklärungsversuche nennen, die recht interessant sind.

Der eine stammt von Morgan und ist später von Engels aufgenommen worden, nachdem sich ein Begriff des Privateigentums zu bilden begann. Als sich das Sippeneigentum auflöste und einzelne Gruppen, die offenbar auch männliche Gruppen waren, sich Teile von Privatbesitz gesichert hatten, entstand die Verschiebung in der Einflußnahme der Geschlechter. Dies ist eine These, daß sich durch die früheste Entwicklung des Privateigentums eine Verschiebung herausgebildet hat, die anfänglich von den Männern gar nicht bewußt patriarchal oder sonstwie gedacht war, aber die ihnen nach einer Weile ein derartiges ökonomisches Übergewicht gegeben hat, daß sie sich ganz andere Unternehmungen erlauben konnten und die Frauen immer mehr ins Hintertreffen gerieten.

Eine andere These hat Wilhelm Reich formuliert, basierend auf den Forschungen von Malinowski. Er beschreibt ein bestimmtes Volk auf den pazifischen Inseln, die so abgeschlossen waren, daß Eroberungen nicht stattfanden. Dort gab es ein kompliziertes System von Heiratsregeln, die offenbar die älteren Männer in diesen Muttersippen oft benutzt haben, um durch sie immer mehr Güter auf ihre Seite zu schaffen. Infolgedessen konnten sich die Männer organisieren, um gewisse Unternehmungen wie Handel über See und Austausch mit anderen Völkern in die Wege zu leiten, die dann wiederum den Männern eine andere Struktur gegeben haben, wobei die Frauen mit ihrer Haus- und Dorfwirtschaft ins Hintertreffen gerieten.

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Gibt es denn. Ihrer Erfahrung oder Forschungstätigkeit nach, Gesellschaften, in denen nun wirklich die absolute und totale Gleichberechtigung der Geschlechter geherrscht hat, oder gab es immer eine Dominanz?

Dies ist ein wichtiger Punkt, mit dem Sie auch die utopische Frage ansprechen. In der Geschichte gibt es keine Gesellschaften mit Gleichberechtigung, denn das ist ein relativ moderner neuer politischer Begriff, der erst in der Französischen Revolution aufkam, also sehr spät.

Gleichberechtigung – wenn wir einmal überlegen, was das wirklich heißt – bedeutet eigentlich nur, daß Männer wie Frauen in der Gesellschaft gleiche Rechte haben; es bedeutet aber längst nicht, daß sie gleiche Funktionen oder gleiches Ansehen haben, daß sie gleich gewertet werden. Insofern existiert das Problem heute in jedem modernen Staatsgebilde. Wir haben Gleichberechtigungsparagraphen, aber von Gleichwertigkeit, Gleichstellung, gleichem Ansehen kann überhaupt nicht die Rede sein. Daran zeigt sich, daß die Gleichberechtigung lediglich eine ziemlich leere juristisch-politische Formulierung ist. Die Geschichte gibt in keinem Punkt Anhalt darüber, daß eine juristische Formel irgendwo und irgendwann zu einer Gesellschaft geführt hat, von der die Geschlechter gleichberechtigt gelebt hätten.

 

Also ist Gleichberechtigung gar kein Wert für Sie?

Mich fasziniert die Matriarchatsforschung gerade deswegen so, weil wir in jenen alten matriarchalen Gesellschaften eine funktionierende Gesellschaftsform für heute entdecken können. Es ist eine Gesellschaftsform, in der die Geschlechter, wenn man es juristisch betrachtet, in keiner Weise gleichberechtigt waren. Sie besaßen überhaupt keinen Rechtskodex, waren nicht einmal gleichberechtigt, denn eindeutig hatten die Frauen mehr Autorität als die Männer. Und trotzdem, das ist das Merkwürdige und Faszinierende, waren diese Gesellschaften herrschaftsfrei und schienen den verschiedenen Fähigkeiten bzw. Möglichkeiten ihrer Mitglieder möglichst weiten Spielraum zu lassen.

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Überaus interessant finde ich dabei, daß man nicht von dem Gedanken ausging, allen gleiche Autorität, gleiche Wertigkeit zu geben, sondern daß man die verschiedenen Fähigkeiten von Männern und Frauen durchaus erkannte, sie aber in ihrer Verschiedenheit so in die jeweilige Gesellschaft integrierte, daß Raum und Platz für alle da war. Die Männer waren ja nicht in der Form an den Rand gedrängt, daß sie nichts mehr zu sagen hätten, sondern sie waren, wie gesagt, zum Teil Repräsentanten ihrer Sippen; der König war Repräsentant des Volkes und hatte organisatorische Aufgaben wahrzunehmen, aber eben im Rahmen der von Frauen geprägten und bestimmten Gesellschaft, die offenbar, da muß ich jetzt wirklich einmal das alte Wort benutzen, die Weisheit besaß, nicht alle gleich zu behandeln, sondern sie je nach ihren Fähigkeiten, Eigenschaften richtig einzusetzen, einzuordnen.

In diesem Sinne nenne ich Matriarchate auch eine integrierende Gesellschaft. Patriarchale oder von Herrschaft durchzogene Gesellschaften sind solche, die ihre Mitglieder desintegrieren, die sie aussortieren, abspalten und dadurch Hierarchien schaffen, die immer wieder Unterdrückungsmechanismen aufrechterhalten. Solche Tendenzen sind aus matriarchalen Gesellschaften, soweit ich zumindest die ethnologische Literatur kenne, nicht bekannt.

Diese Integrationsfähigkeit hat, so meine ich, etwas damit zu tun, daß Frauen, weil sie Kinder haben und Kinder erziehen, sehr viel Gespür und Sensibilität für die Verschiedenheit von Individuen entwickeln. In ihrer Familie sind die Mitglieder auch verschieden, und trotzdem gelingt es der Frau, diese unterschiedlichen Menschen in ihrer Verschiedenheit zu fördern. Und das ist genau das, was ich in den matriarchalen Gesellschaften immer wieder festgestellt habe: daß sie durchaus die Verschiedenheit von Männern und Frauen, überhaupt die von Individuen respektieren, aber daß es ihnen gelingt, sie in ein gesellschaftliches Ganzes einzubetten, in dem die jeweiligen Eigenheiten möglichst erhalten bleiben können.

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Dies ist etwas, das man nicht unbedingt von Gesellschaften sagen kann, die von Männern geprägt sind. In denen gibt es andere Ideale, wie das Ideal von Einheit, von straffer Organisation, von Effektivität, von Hierarchie, während Frauen, jedenfalls in den Gesellschaften, die ich untersuchen konnte, ein anderes Denken offenbaren.

Für sie muß Verschiedenheit ein Wert gewesen sein, aber nicht ein Wert an sich, sondern ein wirklicher Wert; ich möchte es noch einmal in mythischen Formulierungen erklären, weil sich diese Aussage auch ein bißchen aus Mythen schließen läßt: Offenbar ist Vielfalt ein Wert, weil sich auch die Erde oder der Kosmos in Vielfalt zeigen, weil sich aus der Vielfalt ein Ganzes bildet. Daß die Verschiedenheit ständig zusammengehört, um das Ganze des Kosmos zu bilden, muß offenbar das damalige Denkprinzip gewesen sein. Es ist ein anderes, als wir es in patriarchalen Gesellschaften finden. Und das finde ich utopisch bedenkenswert.

 

Eine wesentliche Kritik, die an dem jetzt herrschenden Patriarchat immer stärker geübt wird, ist die, daß es Kriegsgefahr erzeugt, von der man sagt, daß sie ein männliches Produkt ist. Glauben Sie, daß Frauen >von Natur aus< friedfertiger sind?

Nein, das kann ich nicht sagen, denn ich neige nicht zu solchen biologistischen Definitionen. Dann würde man ja schon in die Frühgeschichte die >bösen< Männer hineininterpretieren, die man heute allenthalben zu entdecken versucht. Das lehne ich ab.

 

Aus welchen Gründen auch immer: Fest steht wohl, daß Matriarchate friedliche Gesellschaftsformen waren. Sollte man nicht versuchen, sie allein schon deshalb wieder einzuführen oder zumindest ein matriarchales Bewußtsein neu zu schaffen?

Ich finde es sehr gut und richtig, daß Sie das differenziert haben, denn die Neu-Einführung einer matriarchalen Gesellschaft wäre schlicht politischer und historischer Unsinn. Man kann nicht einfach eine Gesellschaftsform wiederbeleben, die längst vergangen ist. Unser Erkenntnis-, unser Wissensstand ist in mancher Hinsicht anders geworden, als er damals war.

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Was uns dagegen fördern kann, ist durchaus matriarchales Bewußtsein. Darum sind mir auch die Mythologie und die kulturhistorischen Studien so wichtig.

Matriarchales Bewußtsein hat in dieser Hinsicht tatsächlich für uns Frauen einen großen Anreiz, weil es uns auch aus unserem Dilemma herausführen kann. Gerade als bewußt denkende Frau ist die Aussicht, so zu werden wie die Männer, nicht verlockend. Die — schlechte — Alternative dazu: Wir besinnen uns auf unsere weiblichen Eigenschaften, werden weiblicher denn je und geraten wieder in alte traditionelle Muster, die doch eigentlich keine von uns Frauen mehr will.

Was führt uns also heraus aus diesem Dilemma?

Das, was Sie und auch ich das matriarchale Bewußtsein nennen, ist da eine große Hilfe, so, wie ich es vorhin schon einmal versucht habe zu definieren: die Fähigkeit, Verschiedenheiten von Individuen, von Geschlechtern, von Rassen, von Menschen unterschiedlicher Herkunft anzuerkennen — aber nicht, um aus diesen Verschiedenheiten wieder Hierarchie und Abwertung zu schaffen, sondern um diese Verschiedenheit als Wert zu erkennen und daraus eine Integration zu schaffen. Das setzt nämlich Verständigung voraus. Verständigungswillen und viel Kenntnis über den anderen Menschen, um ihn nicht zu manipulieren, sondern ihm im Rahmen eines Ganzen den Raum zu geben, den er nötig hat.

Das wäre jenes matriarchale Bewußtsein, wie ich es bei den alten Gesellschaften erkennen konnte, und das haben wir heute, glaube ich, sehr nötig. Männer denken, wie gesagt, aus historischen Gegebenheiten erwachsen sehr stark strategisch, während Frauen offenbar zum Leben andere Zugänge haben, die sie auch utopisch entwickeln könnten, gestärkt durch den Blick auf jene sehr frühe Geschichte. Ich meine, daß das matriarchale Bewußtsein auch noch etwas anderes einschließt: das Verständnis gegenüber der umgebenden Natur. Die Verschiedenheit ist es, warum sich viele aufgeschlossene Frauen und Männer intensiv mit Völkern beschäftigen, die noch ein Verständnis dafür haben, wie meinetwegen die Hopi-Indianer, die ganz bewußt (das hat nichts mit naivem oder primitivem Denken zu tun) die Verschiedenheit der Natur anerkennen und den Menschen als Teil der Natur betrachten, der sich in sie integrieren muß.

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Da gibt es nicht das Denken in den Gegensätzen: hier Mensch, dort Natur, und der Mensch beherrscht die Natur, sondern die Menschen werden wirklich als Teil der Natur gesehen. Das soll keineswegs heißen, daß der Mensch nicht technische oder zivilisatorische Errungenschaften entwickeln soll, aber immer mit dem Bewußtsein: Wie integriert sich das in die Natur und wie bleibt die Wechselbeziehung zwischen Mensch und Natur erhalten?

Dies ist auch eine Denkweise, welche die matriarchale Kulturepoche deutlich prägt. Und sie täte uns heute, so meine ich, als matriarchales Bewußtsein ausgesprochen gut.

 

Wie könnte man dieses Bewußtsein, das in einigen Köpfen als Idealvorstellung existiert, und unsere Gesellschaftsform zusammenbringen, um tatsächlich eine Veränderung zu erreichen?

Sie fragen mich jetzt ganz direkt und zu Recht nach der Praxis. So etwas ist immer schwer zu beantworten. Ich will Ihnen auch sagen, warum.

Es gibt genügend Praxiskonzepte verschiedener Revolutionsbewegungen, wie man einen Staat, der einem nicht mehr paßt, stürzt, verändert usw. An allen diesen Revolutionskonzepten übe ich eine ganz bestimmte Kritik, nämlich die, daß dabei das eine strategische Denken von oben durch ein anderes strategisches Denken von unten ersetzt wird. Entsprechend sehen ja auch die Ergebnisse dieser vielen Revolutionen aus. Diese Art von revolutionärem Denken - strategisch, zielbewußt, organisatorisch, hierarchisch, ob man nun von unten zu kippen versucht oder von oben zu beherrschen versucht – ist doch noch ein völlig patriarchales Denken.

Was mich dagegen interessiert, ist, ein Denken zu finden, das eben auch in der Art, Praxis zu machen und sich zu wehren, das patriarchale überschreitet. Und das, so kann ich feststellen, gibt es heute in der Tendenz oder im Ansatz bereits bei vielen alternativen Gruppen und bei den Grünen: nämlich nicht durch einen Riesen-Gegenapparat einen anderen Apparat zu stürzen, sondern durch kleine, individuelle Initiativen, die, soweit sie können, aus dem großen Apparat ausscheren, um neue Lebensformen zu schaffen.

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Eine neue Lebensform kann man nicht als umfassendes Konzept am Schreibtisch entwickeln, sondern muß man selber leben. Und das geht nur in kleinen Gruppen - sei es, daß manche, die z. B. auf dem Land leben, versuchen, untereinander ein anderes Beziehungsgefüge zu schaffen und dieses zu ihrer Umwelt in Beziehung zu setzen sowie zugleich auch politisch zu kämpfen, also nicht in die reine Idylle abzuschweben, oder daß Frauen versuchen, neue Lebensformen zu finden.

Das sind alles Ansätze, die in diese Richtung gehen, Tendenzen, die im Grunde Fragmente oder Mosaiken von dem, was ich matriarchales Bewußtsein nenne, verkörpern und es zu realisieren versuchen. Hierin liegt für mich die Praxis, nicht in einem großartigen Konzept, das eine oder einer für alle entwickelt, sondern in den vielen, vielen kleinen Versuchen, die offensichtlich nach einer gewissen Weile eine Art Netz untereinander bilden können, sich gegenseitig stärken und stützen, ohne daß sie ihre Verschiedenheit aufgeben. Das ist in der heutigen Situation bestimmt wirkungsvoller und weitreichender als neue weitreichende Strategien, mit denen wir nichts anfangen können.

 

Ich bin zwar prinzipiell Ihrer Meinung, nur finde ich, es gibt ein großes Problem dabei, und das ist die Zeit. Wieviel Zeit haben wir eigentlich noch?

Wir können nichts dazu, daß uns die Zeit fehlt, obwohl genau dieses Problem die Gefährdung von allem ist, denn Dinge, die wirklich unsere Lebensform, unsere psychische Struktur und unsere Beziehung zur Umwelt wandeln wollen, wachsen nur langsam. Wir können und dürfen jetzt nicht in die typisch revolutionäre Ungeduld verfallen, die innerhalb einer Generation alles verändern will, was in ein paar tausend Jahren entstanden ist.

Das ist doch der Wahnsinn, auch der Wahnsinn all der patriarchalen Revolutionen, die innerhalb einer Generation alles ändern wollten mit der Ideologie:

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Opfern wir doch diese Generation, damit die nächsten es besser haben. Das ist die sogenannte revolutionäre Ungeduld, die sich selbst dazu legitimiert, über Leichen hinwegzugehen.

Genau das ist es, was wir nicht wiederholen dürfen und wollen. Unsere persönlichsten Veränderungen, in kleinen Gruppen oder auch in kleinen politischen Kreisen, vollziehen sich dagegen nur langsam, weil sie wachsen – genauso wie ein Kind eben langsam wächst und keine Mutter das beschleunigen kann, auch wenn sie revolutionäre Ungeduld erfaßt.

Das sind wirkliche Probleme, und ich muß sagen, daß ich sehr froh bin darüber, daß die Geduld bei mehr und mehr Frauen und Männern da ist, die neue Wege versuchen, die wirklich bei sich anfangen, in kleinen Dingen ihrer Umwelt, und trotzdem nicht das umfassende politische Bewußtsein verlieren.

Trotzdem können wir die entsetzliche Bedrohung, unter der wir heute stehen, nicht aufhalten, obwohl die Zeit immer knapper wird. Wir können nur hoffen, daß uns letztlich noch genug Zeit bleibt.

 

Um es noch einmal ganz klar zu sagen: Das neue matriarchale Bewußtsein ist nicht gegen die Männer gerichtet, oder?

Wissen Sie, so, wie ich es versucht habe zu formulieren, ist es im Grunde ein Bewußtsein, das heute in erster Linie Frauen entwickeln können, das aber alle Menschen einbezieht. Wir Frauen sollten jetzt (wieder) einmal für alle Menschen denken, auch und gerade deswegen, weil die andere Hälfte der Menschheit, nämlich die Männer, viertausend Jahre lang bisher nur für sich gedacht hat. Das bedingt eine andere innere Einstellung, die bereits ein Kennzeichen des matriarchalen Bewußtseins wäre: aus der Perspektive der Frauen nicht nur für die Frauen zu denken. Auch darin offenbarte sich eine Art integrierendes Denken, das zwar von sich ausgeht, aber doch umfassender ist — viel umfassender als das Denken von Männern, das so tat, als sei es für die gesamte Menschheit verantwortlich, das aber im Grunde nur den Mann als Mittelpunkt sah.

Es war und ist ein sehr egozentrisches oder auch mannzentrisches Denken und alles andere als allgemein und neutral. In dieser Hinsicht kann ein Denken, das wirklich von einem matriarchalen Bewußtsein ausgeht, menschlich viel umfassender sein als bisher.

 

Es ist ja so, daß das patriarchale Denken im Grunde nicht einmal den Männern genutzt hat. 

Richtig, und deshalb findet ja heute tatsächlich auch ein Bewußtseinswandel bei vielen Männern statt, über den ich mich außerordentlich freue. Mit solchen Männern bin ich auch im Rahmen meiner Arbeit in Kontakt, mit Männern, die erkennen, daß sie das matriarchale Bewußtsein mindestens so viel angeht wie Frauen, obwohl diese die Initiatorinnen bzw. die Protagonistinnen sind.

Noch einmal zur Praxis, jedenfalls soweit sie mich angeht: Ich sitze nicht nur am Schreibtisch, sondern habe selbst versucht, mit anderen Frauen in kleineren Gruppen zu arbeiten, mit Frauen, die meine Arbeit schätzen und anerkennen, zu versuchen, wie wir anhand dieses mythischen Musters miteinander umgehen können. Das sind regelrechte Experimente, um festzustellen, wie sehr wir noch Patriarchales verinnerlicht haben, wenn wir den Versuch machen, uns selbst so souverän und autonom zu fühlen wie matriarchale Frauen.

Es sind Praxisversuche, die noch ganz im Anfang stecken, aber es sind eben Versuche, auf der Basis eines anderen Denkens neue Formen der Selbsterkenntnis, der Beziehung untereinander und der Einstellung zu unserer umgebenden Welt zu finden.

Ich versuche ganz einfach, ein Netz unter Frauen zu schaffen, die ganz persönlich oder auch aus politischem Bewußtsein heraus mit ihren Bezügen zur Welt nicht zufrieden sind, die etwas verändern wollen, aber nicht wissen, wie. Wir versuchen das gemeinsam herauszufinden. Was ich sehr spannend daran finde, ist der Standpunkt, den ich auch selbst vertrete: Hier treffen sich Frauen, die nicht den Wunsch haben, sich in irgendwelche Kunst- oder Mythosgruppen zurückzuziehen, sondern die gleichzeitig politisch wach sind und auch politisch arbeiten.

Es sind Frauen dabei, die z.B. in der Frauenhaus-Bewegung aktiv sind, Frauen, die sich in der Friedens­bewegung engagiert haben und die dennoch zur gleichen Zeit in dieser intensiven kleinen Gruppenarbeit praktisch mit sich und ihrer Umgebung arbeiten wollen, weil die politische Arbeit nach außen allein nicht zu Veränderungen ausreicht. Diese Doppeltheit ist für mich das einzig Akzeptable.

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