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ERSTER TEIL

Mars im Exil 

  I  

25-41

Ich bin jung und reich und gebildet; und ich bin unglücklich, neurotisch und allein. Ich stamme aus einer der allerbesten Familien des rechten Zürichseeufers, das man auch die <Goldküste> nennt. Ich bin bürgerlich erzogen worden und mein ganzes Leben lang brav gewesen. Meine Familie ist ziemlich degeneriert, und ich bin vermutlich auch ziemlich erblich belastet und milieugeschädigt.

Natürlich habe ich auch Krebs, wie es aus dem vorher Gesagten eigentlich selbstverständlich hervorgeht. Mit dem Krebs hat es nun aber eine doppelte Bewandtnis: einerseits ist er eine körperliche Krankheit, an der ich mit einiger Wahrscheinlichkeit in nächster Zeit sterben werde, die ich vielleicht aber auch überwinden und überleben kann; anderseits ist er eine seelische Krankheit, von der ich nur sagen kann, es sei ein Glück, daß sie endlich ausgebrochen sei. Ich meine damit, daß es bei allem, was ich von zuhause auf meinen unerfreulichen Lebensweg mitbe­kommen habe, das bei weitem Gescheiteste gewesen ist, was ich je in meinem Leben getan habe, daß ich Krebs bekommen habe. 

Ich möchte damit nicht behaupten, daß der Krebs eine Krankheit sei, die einem viel Freude macht. Nachdem sich mein Leben aber nie durch sehr viel Freude ausgezeichnet hat, komme ich nach prüfendem Vergleich zum Schluß, daß es mir, seit ich krank bin, viel besser geht, als früher, bevor ich krank wurde. Das soll nun noch nicht heißen, daß ich meine Lage als besonders glückhaft bezeichnen wollte. Ich meine damit nur, daß zwischen einem sehr unerfreulichen Zustand und einem bloß unerfreulichen Zustand der letztere dem ersteren doch vorzuziehen ist.

Ich habe mich nun dazu entschlossen, in diesem Bericht meine Erinnerungen aufzuzeichnen. Das heißt, es wird sich hier weniger um Memoiren im allgemeinen Sinn handeln, als vielmehr um die Geschichte einer Neurose oder wenigstens einiger ihrer Aspekte. 

Es wird also nicht meine Autobiographie sein, die ich hier zu schreiben versuche, sondern nur die Geschichte und Entwicklung eines einzigen, wenn auch bis heute beherrschenden Aspektes meines Lebens, nämlich des Aspektes meiner Krankheit.

Ich will versuchen, mich an möglichst viel zu erinnern, was mir für diese Krankheit seit meiner Kindheit typisch und bedeutsam scheint.

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Wenn ich mich nun also an meine Kindheit erinnern soll, so will ich zuerst sagen, daß ich in der besten aller Welten aufgewachsen bin. Dem verständigen Leser wird es nach dieser Bemerkung sogleich einleuchten, daß dann die Sache notwendigerweise schief herauskommen mußte. Nach allem, was man mir über mich erzählt hat, muß ich ein sehr liebenswürdiges, lebhaftes, fröhliches und sogar strahlendes Kind gewesen sein; es läßt sich also leicht vermuten, daß ich eine glückliche Kindheit verlebt habe.

Anderseits kommt mir hier ein Artikel aus der psychologischen Seufzerecke einer Zeitschrift in den Sinn, worin es um einen jungen Mann ging, der mit seinem Leben durchaus nicht fertig werden konnte, nicht aus und ein wußte und sich nicht fähig fühlte, sein Leben zu meistern, was um so erstaunlicher sei, als er eine sehr glückliche Kindheit verlebt habe. Der Kommentar des psychologischen Briefkastenonkels dazu war sehr einfach gewesen: Wenn der betreffende junge Mann sich jetzt außerstande fühle, sein Leben zu bewältigen, so sei unzweifelhaft auch seine Kindheit nicht glücklich gewesen. 

Wenn ich aber nun bedenke, wie ich bis heute mein Leben bewältigt oder vielmehr nicht bewältigt habe, so kann ich nur vermuten, daß auch meine Kindheit nicht glücklich gewesen sein kann.

Ich kann mich freilich kaum an besonders unglückliche Einzelheiten aus meiner Kindheit erinnern; alles was mir von meinen Kinderjahren geblieben ist, sieht im Gegenteil meist ganz glückhaft aus, und ich hielte es für übertrieben, aus einzelnen Fällen kindlichen Kummers jetzt ein Aufheben zu machen, das ihnen nicht zukommt. Nein, es ging eigentlich immer alles gut und sogar zu gut. Ich glaube, das war gerade das Schlimme: daß immer alles allzu gut ging. Ich bin in meiner Jugend von fast allen kleinen Unglücken verschont geblieben, und vor allem von allen Problemen. Ich muß das noch genauer ausdrücken: ich hatte nie Probleme, ich hatte überhaupt keine Probleme. Was mir in meiner Jugend erspart wurde, war nicht das Leid oder das Unglück, sondern es waren die Probleme und somit auch die Fähigkeit, sich mit Problemen auseinanderzusetzen.

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Man könnte es paradoxerweise so sagen: 

Eben daß ich mich innerhalb der besten aller Welten befand, das war das Schlechte; eben daß in dieser besten aller Welten immer alles eitel Wonne und Harmonie und Glück war, das war das Unglück. Eine ausschließlich glückliche und harmonische Welt kann es doch gar nicht geben; und wenn meine Jugendwelt eine solche nur glückliche und harmonische Welt gewesen sein will, so muß sie in ihren Grundfesten falsch und verlogen gewesen sein. Ich will es also einmal so zu formulieren versuchen: nicht in einer unglücklichen Welt bin ich aufgewachsen, sondern in einer verlogenen. Und wenn eine Sache nur recht verlogen ist, so braucht man auf das Unglück auch gar nicht lange zu warten; das kommt dann schon ganz von selbst.

Hier will ich noch einen Hinweis zum chronologischen Aufbau meiner Jugenderinnerungen einschieben: ich fürchte, die zeitliche Aufteilung wird in diesem Bericht fast ganz fehlen. Ich werde nämlich weniger von einzelnen Erlebnissen erzählen (die man ja ohne weiteres in einer chronologischen Reihe aufeinander folgen lassen könnte), sondern mir eher über verschiedene Bewußtseinsstufen klar zu werden versuchen, bei denen ich mich meist nicht mehr erinnern kann, wann es sich um ein bloßes Ahnen, wann um eine mehr oder weniger nebulose Entwicklung und wann um eine Gewißheit gehandelt hat.

Außerdem wäre ich in meinen Jugendjahren noch gar nicht fähig gewesen, meine Eindrücke zu formulieren und mir meiner Reaktionen bewußt zu werden. Viele Dinge werde ich darum heute ganz anders zeitlich zusammenstellen, als ich es getan hätte, als ich diese Dinge wirklich erlebte, und kann daher von einer Menge Einzelheiten heute nicht mehr sagen, in welches Lebensjahr sie tatsächlich gefallen sind.

Das wichtigste Motiv meiner Jugendwelt ist sicher die Harmonie, von der ich schon gesprochen habe. Von den eigentlichen Kinderjahren — oder Nur-Kinder-Jahren — will ich hier Abstand nehmen, um nicht Gefahr zu laufen, etwas in meine Kindheit hineinzuprojizieren, das mir eher wahrscheinlich und plausibel scheint, als daß ich mich konkret zu erinnern vermöchte, daß ich es tatsächlich erlebt habe. Es soll also gleich von der Welt die Rede sein, wie ich sie als kleiner Junge erlebte. Diese Welt war nun eben über alle Maßen harmonisch. Den Begriff der Harmonie kann man hier nicht total genug verstehen.

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Ich bin aufgewachsen innerhalb einer so vollkommen harmonischen Welt, daß selbst den ausgepichtesten Harmoniker darob noch das große Grausen packen könnte. Die Atmosphäre meines Elternhauses war prohibitiv harmonisch. Ich meine damit, daß bei uns zuhause alles durchaus harmonisch zu sein hatte, daß alles gar nicht anders als harmonisch sein konnte, ja, daß es den Begriff oder die Möglichkeit des Unharmonischen gar nicht gab. Man wird hier sogleich einwerfen, daß die totale Harmonie ein Ding der Unmöglichkeit ist, daß es nur Licht geben kann, wo auch Schatten ist, und daß es um das Licht schlecht bestellt sein muß, das von keinem Schatten weiß noch wissen will. Und ich teile diesen Einwand.

Die Hamletfrage, die mein Elternhaus bedrohte, lautete: Harmonie oder Nichtsein. Es mußte alles harmonisch sein; etwas Problematisches durfte es nicht geben — denn dann ging die Welt unter. Alles mußte unproblematisch sein; oder falls es das nicht war, mußte es unproblematisch gemacht werden. Es durfte in allem immer nur eine Meinung geben, denn eine Meinungs­verschiedenheit wäre das Ende von allem gewesen. Heute leuchtet mir auch ein, warum eine Meinungsverschiedenheit bei uns zuhause einem kleinen Weltuntergang gleichgekommen wäre: wir konnten nicht streiten. Ich meine damit, daß wir nicht wußten, wie man das tat, streiten; genau so, wie jemand nicht wissen kann, wie man Trompete bläst oder Mayonnaise zubereitet.

Wir beherrschten die Technik des Streitens nicht, und darum unterließen wir es, so wie ein Nichttrompeter keine Trompetenkonzerte gibt. Daher waren wir darauf angewiesen, nie in die Situation zu kommen, streiten zu müssen. Die Folgen davon waren katastrophal: Alle waren immer derselben Meinung. Sollte es aber einmal den Anschein haben, als sei dem nicht so, so mußte es sich für uns notwendigerweise um ein Mißverständnis handeln. Es hatte dann nur irrtümlicherweise so geschienen, als liege eine Meinungsverschiedenheit vor; die Meinungen waren nur scheinbar geteilt gewesen, und nach Behebung des Mißver­ständnisses wurde offenbar, daß alle Meinungen in Tat und Wahrheit identisch waren.

Ich weiß heute, daß ich es in meiner Jugend nicht gelernt habe, eine eigene Meinung zu haben; ich habe nur gelernt, keine eigene Meinung zu haben. Ich habe als Junge und als junger Mann eigentlich auch nie eine Meinung gehabt.

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Ich bezweifle, daß ich das Wort »nein« von meinen Eltern gelernt habe (es mag wohl in der Schule einmal in meinen Wortschatz gelangt sein), denn es wurde in meinem Elternhaus nicht gebraucht, da es überflüssig war. Daß man zu allem ja sagte, wurde nicht als lästige Notwendigkeit oder gar als Zwang empfunden; es war ein in Fleisch und Blut übergegangenes Bedürfnis, das als das Natürlichste von der Welt empfunden wurde. Es war der Ausdruck der totalen Harmonie.

Im Grunde genommen war freilich das Ja-sagen schon eine Notwendigkeit (wenn auch keine bewußt empfundene): denn wie furchtbar wäre es gewesen, wenn einmal jemand nein gesagt hätte? Dann wäre unsere harmonische Welt in einen Horizont hineingestellt worden, dem sie sich durchaus nicht gewachsen fühlte, und den sie um jeden Preis »draußen« behalten wollte. So sagten wir eben ja. Vermutlich kann man nicht als Jasager geboren werden, so daß ich mich nicht als den geborenen Jasager bezeichnen kann; aber ich möchte feststellen, daß ich der perfekt erzogene Jasager war.

Wieweit wir - oder vielleicht auch nur: wieweit ich - dieses ewig unausgesprochene Nein als ein Skelett im Schrank empfanden, fällt mir heute schwer zu ermessen. Irgendwie und irgendwann muß sich dieses Skelett doch auch einmal gerührt haben; aber ich kann mich nicht mehr daran erinnern. Es muß wohl ein sehr behutsames Rühren gewesen sein. Meine Eltern dachten ohnehin nicht gern an Skelette und werden wohl auch nicht gehört haben, was sie nicht dachten. Mein eigener Geschmack war viel makabrer als der meiner Eltern; vielleicht habe ich es als kleiner Junge manchmal gehört, ohne mir dessen bewußt zu werden.

Damit im Zusammenhang muß gestanden haben, daß nicht nur das Neinsagen ein Ding der Unmöglichkeit war, sondern daß uns oft auch das bloße Aussagen über alle Maßen schwer wurde. Jeder der etwas sagte, mußte dessen ein bißchen eingedenk sein, daß die anderen auf seine Aussage immer mit ja antworten sollten und wollten, so daß wir aus Zartgefühl alle Aussagen vermieden, auf die den anderen das natürliche Jasagen etwa hätte schwerfallen können. Wenn es galt, ein Urteil darüber abzugeben, wie einem etwas gefallen hatte, etwa ein Buch, so mußte man, wie beim Kartenspiel, zuerst die möglichen Reaktionen der anderen erwägen, bevor man seine Karte ausspielte, um nicht Gefahr zu laufen, etwas zu äußern, das des allgemeinen Beifalls nicht sicher war. Oder wir hielten mit dem Urteil so lange zurück, bis wir hoffen konnten, daß ein anderer sich zuerst vorwage und seine Meinung zum besten gebe, der wir uns dann beifällig anschließen konnten.

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Wir warteten also darauf, daß endlich einer die Katze aus dem Sack ließ und die Aussage machte, es sei, zum Beispiel, »schön« gewesen. Darauf fanden wir es alle auch »schön«, sogar »wunderschön« oder »großartig«. Hätte der erste Sprecher aber »nicht schön« gesagt, so hätten wir ihm ebenso beigepflichtet und es auch »gar nicht schön« und sogar »abscheulich« gefunden.

Ich gewöhnte mich daran, kein eigenes Urteil zu fällen, sondern immer nur den Urteilen der anderen beizustimmen. Ich gewöhnte mich daran, nicht selbst die Dinge zu schätzen, sondern immer nur die richtigen Dinge zu schätzen: was die anderen als richtig ansahen, gefiel mir auch, und was die anderen nicht als richtig betrachteten, dem zollte auch ich keinen Beifall. Ich las »gute Bücher«, und sie gefielen mir, weil ich wußte, daß sie »gut« waren; ich hörte »gute Musik«, und sie gefiel mir aus demselben Grund. Was aber »gut« war, bestimmten die anderen und nie ich selbst. Ich verlor jede Fähigkeit zu spontanen Gefühlen und Vorlieben. Ich hatte erfahren, daß klassische Musik »gut«, daß Schlager und Jazz aber »schlecht« waren. Darum hörte ich klassische Musik, wie das meine Eltern taten, und fand es »gut«, und ich verabscheute Jazz, von dem ich wußte, daß er »schlecht« war, obwohl ich noch gar nie Jazz gehört hatte und überhaupt keine Ahnung davon hatte, was Jazz eigentlich war. Ich hatte nur gehört, daß er »schlecht« war, und das genügte mir.

Eine andere zweifelhafte Jugendvorliebe wird mir in diesem Zusammenhang wieder gegenwärtig: die für das »Höhere«, von dem hier auch noch ausgiebig die Rede sein wird. Ich wußte, daß — um bei diesem Beispiel zu bleiben — Jazz schlecht war, beobachtete aber, daß alle meine Klassenkameraden in der Schule, und überhaupt alle Gleichaltrigen, gerne Jazz und gerne Schlager und jede Art von »schlechter« Musik hörten, und kam zu folgendem Schluß: ich hatte eben bereits das »Richtige« gemerkt und war beim »Höheren« angelangt; ich hatte bereits eingesehen, was gut und schlecht war. Meine etwas zurück­gebliebenen Klassenkameraden waren noch auf der Stufe der »schlechten« Musik stehengeblieben, während ich mich bereits zu den Höhen der »guten« Musik emporgeschwungen hatte.

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Daß ich gar nicht verglichen hatte, daß ich nie zwischen der einen und der anderen Art von Musik gewählt, sondern daß ich blindlings das Vorurteil von der »guten« klassischen und der »schlechten« modernen Musik akzeptiert hatte, war mir vollkommen unbewußt geblieben. Ich war nicht über die Erkenntnis herausgekommen, daß in der Kunst alles Alte grundsätzlich »gut« und alles Moderne grundsätzlich »schlecht« war: Goethe und Michelangelo waren »gut«, denn sie waren tot; aber Brecht und Picasso waren »schlecht«, denn die waren modern. Ich glaubte, ich hätte eine Hürde genommen und mich zum Liebhaber des Klassischen erhoben, wo ich mich in Wirklichkeit nur nie an diese Hürde herangewagt und sie nur umgangen hatte. Ich hatte auf diese Weise ein bißchen das »Höhere« für mich gepachtet und konnte auf die noch nicht so Hohen herunterblicken, ohne zu ahnen, wie hohl meine scheinbare Höhe in Wirklichkeit war.

Die erste Schallplatte, die ich mir von meinem Taschengeld kaufte, war denn auch etwas durchaus Klassisches und »Richtiges« — vermutlich irgend ein langweiliges Stück von Mozart oder Beethoven —, und ich war sehr stolz auf meinen »richtigen« Kauf. Die erste Schallplatte, die mein um drei Jahre jüngerer Bruder kurz darauf von seinem Taschengeld erstand, war der damals sehr populäre »Kriminaltango«. Ich belächelte die Wahl meines kleinen Bruders, weil ich wußte, daß der Kriminaltango »kitschig« war; daß aber mein Bruder nach seinem eigenen Geschmack gewählt und nicht bloß der Zensur eines blutlosen und theoretisch richtigen guten Geschmackes nachgegeben hatte und daß seine Wahl die spontanere und im wahrsten Sinne des Wortes richtigere war, sollte mir erst viele Jahre später aufgehen.

Ich hatte damals kein Urteil, keine persönlichen Vorlieben und keinen individuellen Geschmack, sondern folgte in allem der alleinseligmachenden Meinung der anderen, des von mir anerkannten urteilenden Gremiums von Leuten, die die Öffentlichkeit darstellten und die wußten, was richtig und falsch war. Und immer, wenn ich glaubte, daß ich auch das Niveau dieses imaginären Gremiums erreicht hätte, freute ich mich und war stolz darüber. Wie ich es in meiner Familie gelernt hatte, zählte im Leben nicht die Meinung des einzelnen, sondern die Meinung der Allgemeinheit, und nur der befand sich am richtigen Platz, der diese allgemeine Meinung möglichst uneingeschränkt teilen konnte.

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Natürlich führte dieses beständige Streben nach der richtigen und alleinseligmachenden Meinung schon sehr bald zu einer großen Feigheit in allen Fragen des Urteils, so daß meine übergroß gewordene Scheu vor Zivilcourage jede spontane Stellungnahme unmöglich machte. Auf die meisten mir gestellten Fragen pflegte ich zu antworten, ich wisse es nicht, ich könne es nicht ermessen oder es sei mir gleich, nur dann vermochte ich eine Antwort zu geben, wenn ich im voraus wußte, daß sie jenem seligmachenden Kanon gerecht werden konnte. Ich glaube, ich war damals ein richtiger verschüchterter kleiner Kant, der immer nur so zu handeln können glaubte, daß es durchaus dem allgemeinen Gesetz entspräche.

Eine wunderliche Welt entstand daraus für mich, über die ich heute lachen konnte, wenn ich nicht wüßte, wie verderblich sie mir später geworden ist. Ich las also nur »gute« Bücher, d.h. ich besaß gar keine anderen, ich wußte gar nicht, was denn »schlechte« Bücher überhaupt seien. Ich wußte, schlechte Bücher waren »Schund« — von dem ich aber nicht wußte, was er denn eigentlich war. Ich war äußerst erstaunt, als mir einmal bewußt wurde, daß es möglich war, daß einem ein »gutes« Buch unter Umständen auch einmal nicht gefallen konnte. 

Ich hatte Scheffels Ekkehard gelesen und hatte das Werk natürlich »gut« gefunden. Ein gleichaltriges Mädchen, das das Buch in meinem Büchergestell sah, fragte mich einmal, ob mir das Buch gefallen habe. Ich dachte im stillen bei mir »Blöde Frage - es ist doch ein <gutes> Buch«, denn solche Selbstverständlichkeiten fragte man doch nicht, und ich antwortete natürlich mit ja. Als sie darauf mitteilte, daß/ihr selbst das Buch überhaupt nicht gefallen habe, kam ich aus der Verblüffung kaum mehr heraus, denn daß ein »gutes« Buch mißfallen konnte, ging über meinen Horizont. Nachher überlegte ich mir die Sache und kam zu dem Schluß, das Buch, nachdem es jenem Mädchen mißfallen hatte, von nun an auch als »schlecht« zu betrachten.

Solche kleinen Kindheitserinnerungen mögen freilich unbedeutend und lächerlich anmuten, und ich gebe gerne zu, daß sie an sich noch nicht viel aussagen. Aber ich bin überzeugt davon, daß solche kleinen anekdotischen Beispiele schon das ganze Verderben, das später über mich hereinbrechen sollte, in sich enthalten. 

Ich meine damit die Vergewaltigung meiner damaligen kleinen — oder besser gesagt schon klein gewordenen — Persönlichkeit, in der es nichts Eigenes geben durfte, weil sich alles an den Gesetzen des Richtigen und Allgemeingültigen auszurichten hatte, weil sonst die »Harmonie« Gefahr lief, angegriffen zu werden, und das, wußte ich, durfte nicht geschehen. 

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Das Ende der Harmonie wäre das Ende von allem gewesen Ich muß hier noch einmal wiederholen, daß diese Jugendzeit für mich nicht unglücklich war, sie war bloß »harmonisch«, und das war viel, viel schlimmer.

 

Einerseits gab mir das Bewußtsein, immer das Richtige zu tun und zu sagen, eine gewisse Sicherheit, anderseits aber eröffnete sich für mich ein Feld voller Gefahren, sobald ich einmal nicht mehr das Richtige wußte und mich auf mein eigenes Urteil hatte verlassen sollen, das eigene Urteil, das ich ja eben mit allen Kräften zu unterdrucken mich anhielt. So erinnere ich mich an ein Gespräch mit einem Schulkameraden, der mich fragte, für was ich mich eigentlich interessierte. Ich wußte keine rechte Antwort, so daß er sich zu erkundigen begann, ob ich mich für dies oder das oder jenes interessiere. In allen Fällen mußte ich nein sagen, wenn auch äußerst widerstrebend, da ich ja nicht gerne nein sagte und ahnte, daß sich der andere eben dafür interessierte, wofür ich ein persönliches Interesse verneint hatte.

Ich sah auf mich zukommen, daß wir in bezug auf das Interesse an allen diesen Dingen verschiedener Meinung sein wurden, was ich doch nach Möglichkeit zu vermeiden gewohnt war. Schließlich fragte er mich, ob ich auch so gerne Tiere hatte. Obwohl ich vor allen Tieren Angst hatte, brachte ich es nicht über mich, ihm noch einmal mit nein entgegnen zu müssen, log und sagte ja, wenn auch innerlich davor bangend, daß dieses Ja entsetzliche Folgen haben und er mich dazu einladen konnte, in seiner Gesellschaft mit Tieren zu spielen. Vielleicht weil ihm mein Ja nicht sehr überzeugend geklungen hatte, wollte er noch wissen, ob ich mich denn vielleicht für Autos interessiere. 

Jetzt wollte ich aber erst recht derselben Meinung sein wie er, log abermals und bejahte wiederum. Da erwiderte er, daß er selbst überhaupt nichts für Autos übrig habe. So hatte ich es gerade zweimal verfehlt. Die erste Lüge aus Höflichkeit hatte er mir nicht geglaubt, mit der zweiten Lüge aus Höflichkeit aber hatte ich eben mein Vorhaben vereitelt, mit ihm derselben Meinung sein zu können. Ich wollte nur höflich und derselben Meinung sein wie er, ehrlich sein konnte ich nicht. Gelernt aber hatte ich nichts daraus. Ich glaube, daß ich mir auf diese Weise jahrelang die Freundschaft anderer Menschen verscherzt habe, da ich Angst davor hatte, ich könnte einmal mit jemandem verschiedener Meinung oder es könnte sonst etwas nicht »richtig« sein. Um diesen Eiertanz durchhalten zu können, durfte ich nie ehrlich sein.

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Es mag nun ein bißchen übertrieben scheinen, daß ich nie eine eigene Meinung gehabt haben soll; es scheint unmöglich, daß sich für mich nicht mehr Konfliktsituationen ergeben haben sollten, die mich dazu hätten zwingen müssen, Farbe zu bekennen. Aber ich war tatsächlich in der Kunst des Ausweichens sehr gut geschult, und wenn ich auf unangenehme Fragen nicht einfach eine Stellungnahme verweigerte, standen mir eine Menge Umgehungstechniken zur Verfügung.

Einer der beliebtesten Helfer in der Not, wenn es sich um Zivilcourage handelte, war in meiner Familie das »Schwierige«. »Schwierig« war das Zauber- und Schlüsselwort, um alle offenstehenden Probleme hintanzustellen und somit alles Störende und Unharmonische aus unserer heilen Welt auszusperren. Wenn sich bei uns zuhause, etwa im Gespräch am Familientisch, eine heikle Frage einzuschleichen drohte, so hieß es sogleich, die Sache sei halt »schwierig«. Damit sollte angedeutet werden, daß das betreffende Problem so komplex und reich an unfaßbaren Möglichkeiten sei, daß es sich von selbst verbiete, darüber zu diskutieren, so, als übersteige das Problem das Fassungsvermögen des Wortschatzes und des menschlichen Geistes. Das Wort »schwierig« hatte etwas Absolutes an sich.

So wie man kaum über das Unendliche sprechen kann, weil der Mensch als endliches Wesen kein Vorstellungsvermögen dafür hat, so schienen sich auch die »schwierigen« Dinge im Raum des Menschenunmöglichen zu bewegen. Man brauchte bloß dahinter zu kommen, daß eine Sache »schwierig« war, und schon war sie tabu. Man konnte dazu sagen: Aha, das ist ja »schwierig«; also sprechen wir nicht darüber und lassen wir das. Man mußte dann gar nicht mehr darüber sprechen, ja, man konnte dann sogar gar nicht mehr darüber sprechen; vielleicht durfte man gar nicht mehr darüber sprechen, weil es »für den Menschen nicht gut ist, vom Schwierigen zu sprechen«. Ich möchte das Wort »schwierig« als nahezu magisch bezeichnen: man sprach »schwierig« über eine Sache, als sagte man einen Zauberspruch darüber, und die Sache war verschwunden.

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Zu den »schwierigen« Dingen gehörten aber fast alle menschlichen Beziehungen, die Politik, die Religion, das Geld und selbst­verständlich die Sexualität. Ich glaube heute, daß alles Interessante bei uns zuhause »schwierig« war und folglich nie besprochen wurde. Wenn ich mich jetzt zu erinnern suche, worüber wir zuhause denn überhaupt sprachen, so kommt mir fürs erste nicht viel in den Sinn; das Essen vermutlich, das Wetter wahrscheinlich, die Schule natürlich, und selbstverständlich die Kultur (wenn auch nur die klassische und die von Leuten, die schon tot waren).

Dagegen kann ich mich noch erinnern, wie ich zum ersten Mal in meinem Leben erfuhr, daß man auch über etwas Aufregendes und Interessantes reden kann. Es war auf einer Schulreise, wo wir die Nacht im Massenlager einer Alphütte verbrachten. Davor hatte ich Angst gehabt, wohl weil ich mir vorgestellt hatte, daß mir meine Kameraden meine Angst ansehen und mich darum mit dummen Streichen quälen würden. Stattdessen stellte ich fest, daß die anderen Jungen nach dem Lichterlöschen sich im Dunkeln noch miteinander über die interessantesten Dinge von der Welt unterhielten, und daß ich bald mit in ein Gespräch gezogen war. Es ging darin um religiöse Probleme, um die Vorzüge einer ziemlich verschrobenen christlichen Sekte, der einer meiner Kameraden angehörte. Darum aber war es ein großes Erlebnis für mich, auf einmal über spannende Themen zu sprechen, weil ich diese Erfahrung noch nie gemacht hatte.

Obwohl ich mir heute vorstellen muß, daß das oben erwähnte nächtliche Gespräch in der Alphütte nicht das einzige gewesen sein kann, das den Namen eines fesselnden Gesprächs verdiente, und daß ich sicher noch auf eine Menge anderer Anregungen gestoßen sein muß, so verfiel ich während meiner ersten Jugendzeit doch nie darauf, die Gesprächsarmut meines Elternhauses als einen wirklichen Mangel zu empfinden. Ich kannte zwar Orte, an denen es interessanter zuging als bei mir zuhause; aber ich empfand die Atmosphäre meines Elternhauses nie als schal. Ganz im Gegenteil. Ich sah es als ein besonderes Verdienst meiner Eltern an, daß sie alles »schwierig« fanden, denn das schien mir der Beweis für ein höheres Niveau zu sein: ich selbst in meiner Beschränkung sah die Dinge alle noch so einfach, daß sie mir durchaus verbalisierbar vorkamen. Meine Eltern aber schienen mir erfahrener und klüger zu sein und hatten bereits ein höheres Niveau erreicht, auf dem sie einsahen, daß die Dinge »nicht so einfach«, sondern eben »schwierig« waren, so »schwierig« sogar, daß man gar nicht mehr darüber sprechen konnte. 

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In meinem unglücklichen Drang nach dem »Höheren« versuchte ich auch, dieses erhabene Niveau der tieferreichenden Erkenntnis zu erlangen und auch einzusehen, daß die Dinge »schwierig« waren. So gewöhnte ich mir auch an, wie ich es von meinen Eltern gelernt hatte, über nichts mehr nachzudenken und mich im Abglanz der von mir entdeckten Schwierigkeit der Dinge zu sonnen. 

Daß man sich zuerst einmal alles überlegen muß, ehe man den buddhaähnlichen Zustand der so hohen geistigen Vollkommenheit erreicht, in dem man sich über gar nichts mehr den Kopf zu zerbrechen braucht, davon ahnte ich zu der Zeit natürlich noch nichts. (Wobei man wohl noch hinzufügen muß, daß ein solcher Buddha wohl eher alles als »einfach« denn als »schwierig« bezeichnen dürfte.) Dieses postulierte höhere Niveau meiner Haltung war eben auch äußerst bequem für mich, wie für uns alle: wir brauchten uns nie zu engagieren, wir brauchten uns nie festzulegen oder gar bloßzustellen; wir brauchten bloß immer alles »schwierig« zu finden.

Wenn in meiner Erinnerung das »Schwierige« vor allem die Domäne meiner armen Mutter war, so war mein armer Vater der Meister des »Unvergleichlichen«. Meine Mutter begnügte sich meist damit, die Dinge an sich »schwierig« zu finden; mein Vater ging gern noch einen Schritt weiter und machte den Dingen den Garaus, indem er sie aus ihrem natürlichen Zusammenhang herausriß und sie für unvergleichbar erklärte. Immer wieder fand er sich außerstande, verschiedene Dinge miteinander in Beziehung zu bringen; er pflegte zu sagen, »das ließe sich gar nicht miteinander vergleichen«, und ließ somit alles im luftleeren Raum stehen. Dabei bewährte sich seine Kunst vor allem bei sehr ähnlichen Dingen, die zu einem Vergleich geradezu hätten herausfordern müssen. Auf diese Weise ließ sich eine Diskussion über den Wert oder Unwert der Dinge leicht vermeiden, denn einen wirklichen Wert kann eine Sache nur im Vergleich zu anderen haben, so wie das Licht nur im Vergleich zum Dunkel hell sein kann.

Während diese Eigenart meines Vaters im nur ästhetischen Bereich eine harmlose Marotte blieb, nahm sie, vor allem auf politischem Gebiet, gern groteske Formen an. 

So war es zum Beispiel zur Zeit der Abstimmung über die Einführung des Schweizer Frauenstimmrechts ganz im Sinne meines Vaters gesprochen, daß zwar alle Länder der Welt außer der Schweiz das Frauenstimmrecht kennten, daß die Schweiz deswegen aber noch lange nicht als rückständig zu betrachten sei, weil das Stimmrecht in anderen Ländern mit dem der Schweiz eben gar nicht zu vergleichen sei, so daß man daraus auch nicht folgern könne, daß das Frauenstimmrecht für die Schweiz gut sei. 

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Auch meine arme Mutter machte sich diese Lehre bereitwillig zu eigen und wurde eine radikale Gegnerin des Frauenstimmrechts. Selbst als das Frauenstimmrecht tatsächlich eingeführt wurde, beharrte meine Mutter auf ihrer Meinung und betonte immer wieder, wie zuwider ihr dieses ungewollte Recht und wie sehr sie immer noch dagegen sei.

Daß es unstatthaft war, die russische mit der spanischen Justiz zu vergleichen, leuchtete in meinem Elternhause ein, denn die Russen waren ja Kommunisten, und darum war es böse, wenn sie ihre Landsleute umbrachten; die spanische Regierung aber war ja gegen die Kommunisten, und darum war es nicht böse, wenn sie ihre Landsleute verfolgte. Und außerdem war der Terror für die Spanier eigentlich ein Glück, denn so hatten sie doch »Ruhe und Ordnung«. (Der feine Vergleich zur Sowjetunion, die wohl der Staat ist, in dem am meisten »Ruhe und Ordnung« herrscht, wurde nicht gezogen.) Aber auch ein Vergleich zwischen spanischen Konzentrationslagern und deutschen der Nazizeit war nicht möglich; daraus, daß Hitlers Faschismus schlecht war, ließ sich noch lange nicht schließen, daß Francos Faschismus auch schlecht sei, denn diese beiden Dinge waren eben »gar nicht zu vergleichen«.

Es schien, als ob die Dinge der Welt an und für sich unvergleichbar seien. Die nicht mit anderen verglichenen Dinge sind aber immer an sich wertlos und stehen einsam und unverstanden in einem kalten irrealen Raum. Sie ermuntern weder zu Kritik noch zu Beifall; sie engagieren nicht, sie wirken nicht; sie sind eben unvergleichbar.

Dies war auch mein Bild von der Welt. Es gab keine Konflikte, und es konnte auch keine geben, denn die Dinge der Welt glitten in einem System der vollkommenen Beziehungslosigkeit reibungslos aneinander vorbei. Und offenbar war diese Reibungslosigkeit etwas Positives: denn wo keine Reibung ist, da ist Harmonie, und wo Harmonie ist, da ist alles in Ordnung, Daß ich nicht über dieser reibungslosen Welt stand, sondern selbst so ein Ding im kalten irrealen Raum war, wußte ich natürlich nicht. 

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Im Gegenteil kam mir auch diese Unfähigkeit, verschiedene Dinge miteinander zu vergleichen, ebenso wie die Erkenntnis des »Schwierigen« als der Ausdruck eines höheren geistigen Niveaus vor. Ich merkte, daß man gescheit war, wenn man nicht verglich. Offensichtlich war ich zu der Zeit noch nicht etymologisch gebildet und wußte noch nicht, daß das Wort »intelligent« auf »inter-legere« zurückgeht und genau das Gegenteil dessen bedeutet, was sich mir als der Inbegriff aller Gescheitheit herauszubilden begann.

Alles aber, was nicht »schwierig« oder »unvergleichbar« und auf diese Weise totzuschlagen war, wurde bei uns zuhause gewöhnlich auf »morgen« verschoben, dieses Lieblingsdatum aller Schwachen, denen es Trost verheißt, daß »morgen« im allgemeinen »niemals« bedeutet. Wie viele Formeln gab es aber nicht, um unter dem Deckwort »morgen« nein zu sagen!

Das ist ein sehr interessantes Problem; ich werde es mir gerne in den nächsten Tagen überlegen.
Ihr Angebot fesselt uns sehr; wir werden uns morgen oder übermorgen gerne damit beschäftigen.

In meinem Elternhaus galt also die Devise: Nur nichts überstürzen! Dieses Nicht-Überstürzen bestand aber normalerweise darin, daß die Dinge überhaupt nie in Angriff genommen wurden.

Wie oft war ich nicht staunender Zeuge der immer wieder gleichen Szene, daß meinen Eltern ein Vorschlag oder ein Angebot unterbreitet wurde, bei dem ich genau wußte, daß es ihnen von vornherein nicht in den Kram paßte, zu dem sie sich aber aus Höflichkeit nicht getrauten, nein zu sagen, und für das sie darum immer mit der allergrößten Zuvorkommenheit und dem Versprechen dankten, sie würden es sich »gerne« überlegen. Und gründlich natürlich. Jede Entscheidung mußte »gründlich« durchdacht werden, je gründlicher, desto länger, so daß aus dem »lange« jedesmal ein »allzulang« und ein »überhaupt nicht mehr« werden konnte. Auch hiervor hatte ich Ehrfurcht zu empfinden gelernt; auch hier verehrte ich die würdige Skepsis meiner Eltern, die ewige Angst, man könne am Ende doch nicht das »Richtige« treffen, als eine Überlegenheit, die mehr darstellte als die primitive Fähigkeit, auch einmal ganz »ungründlich« ja und nein sagen zu können. Das Wort »spontan« gehörte nicht zu unserem Vokabular.

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Ich bin mir dessen bewußt, daß ich hier ein philosophisches Thema anschneide, das natürlich über den engen Raum meiner persönlichen Erinnerungen hinausgeht. Für den Philosophen ist es freilich möglich, daß der wahre Intellektuelle der ist, der sich immer alles unter Berücksichtigung aller seiner Aspekte überlegt und sich demzufolge nie entscheidet und nie handelt; das mag für den rein philosophischen Bereich wohl zutreffen. Ebenso wahr aber scheint mir zu sein, daß der im Leben versagt, der immer nur überlegt und vor lauter Gescheitheit überhaupt nie handelt. Wer sich immer nur alles »gründlich« überlegt und sich jeder Stellungsnahme enthält, dessen Überlegungen sind zuletzt wertlos und fallen wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Aber wie hätte ich das als Junge merken können, der ich selbst in einem Kartenhaus lebte?

Nun wird man hier freilich einwenden, gar so meinungslos, wie ich es oben beschrieben habe, könne es selbst in meinem Elternhaus nicht zugegangen sein, und jemand müsse doch den Ton angegeben haben. Ja, freilich hat jemand den Ton angegeben, der Vater natürlich; denn daß der Vater die Meinung bestimmt, das ist eben das »Richtige«. Mein Vater war es gewöhnlich, der sagte, wie die Dinge waren, und wir pflichteten ihm bei, denn er mußte es ja besser wissen als wir. Dieser Richtlinie folgte meine Mutter unbedingt. Sie vermied jede direkte Aussage, um nicht Gefahr zu laufen, eventuell nicht mit der Meinung meines Vaters übereinzustimmen; hatte er sein Votum einmal abgegeben, so konnte sie getrost und ohne Risiko ja dazu sagen. Sollte dieses System des Einverständnisses einmal nicht reibungslos funktionieren, so war meine arme Mutter bereit, die nötigen Korrekturen vorzunehmen.

Wenn wir hier als Beispiel den Termin für eine bestimmte zu erledigende Sache annehmen wollen, so konnte es meiner Mutter unvorsichtigerweise passieren, daß sie als Stichtag etwa den Dienstag vorschlug. Zog dann mein Vater aber den Freitag vor (der meiner Mutter, ohne daß er es gewußt hätte, gar nicht gelegen kam), so war es meiner Mutter ein leichtes, sich plötzlich einfallen zu lassen, daß ihr der Freitag eigentlich noch viel, viel besser passe als der Dienstag, daß er dem Dienstag in jeder Hinsicht vorzuziehen sei und daß im Grunde genommen der Dienstag gar nicht in Frage kommen könne. 

Das eigentlich Lächerliche an diesem ganzen Vorgang ist, daß in den meisten Fällen für meine Eltern ein dritter Wochentag, zum Beispiel der Mittwoch, ganz problemlos gewesen wäre, so daß sich ohne unnötige Opfer mit der Wahl des Mittwochs ein sinnvoller Kompromiß hätte finden lassen können. 

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Die Verleugnung ihrer Gefühle und der Verzicht meiner Mutter waren ganz sinnlos gewesen. Sie hatte die »Harmonie« schonen wollen, hatte diese Schonung aber auf eine ganz unnütze und verlogene Art geübt. Meine Eltern waren in einem solchen Fall nicht eigentlich »einverstanden« gewesen; sie hatten es nur vermieden, über die Dinge zu diskutieren. Wenn ich heute an all die vielen ähnlichen nutzlosen Opfer zurückdenke, die in meiner Familie um der Harmonie willen gebracht worden sind, so kann ich nur zum Schluß kommen, daß es nicht Werke der Großzügigkeit gewesen sind, sondern Werke der Feigheit.

Soweit ich mich erinnern kann, haben meine Eltern, die dreißig Jahre lang miteinander verheiratet gewesen sind, nur einmal miteinander gestritten. Die ungewohnte Situation des elterlichen Uneinsseins war zwar sehr schmerzlich für das ganze Haus, aber was den eigentlichen Streit betraf, so wurde am Ende doch nichts daraus: Meine Eltern verstanden nicht zu streiten, und so brachen sie das Experiment, nachdem sie einen Tag lang schweigend voreinander verharrt hatten, unverrichteter Dinge wieder ab. Das Experiment wurde auch nicht mehr wiederholt, da meine Eltern gemerkt hatten, daß ihnen die Fähigkeiten dazu mangelten.

Eine überaus merkwürdige Szene kommt mir in diesem Zusammenhang in den Sinn, die ich stellvertretend für hundert andere erzählen will. Eine gebildete Tante war bei uns zuhause eingeladen und berichtete von einer Bilderausstellung des Malers Hans Erni. Dieser Maler war meinen Eltern verdächtig, weil sie argwöhnten, daß er ein Kommunist sei; darum schon konnten seine Bilder nicht eigentlich schön sein. Die Tante aber meinte, die Ausstellung sei herrlich gewesen. 

Meine Mutter, die gerade mit Teeeinschenken beschäftigt gewesen war, hatte sich ein bißchen verhört und statt »herrlich« »gräßlich« verstanden, was sie auch eher hatte erwarten dürfen, da Erni ja Kommunist war. So beeilte sie sich, sich einverstanden zu erklären und ihrerseits zu betonen, wie gräßlich sie Erni fände. Natürlich beharrte die mißverstandene Tante jetzt erst recht auf ihrer Meinung und auf ihrem »herrlich«, so daß meine Mutter das Wort jetzt richtig verstand, in ihrer Meinung unverzüglich umschwenkte und Erni ebenfalls als »herrlich« betrachtete.

Ganz allgemein war bei meiner Mutter eine große Vorliebe für das Wort »oder« zu bemerken. Sie stellte etwas fest und fuhr dann fort: Oder es ist etwas anderes. Meine arme Mutter pflegte zu sagen: Ich fahre am nächsten Freitag um halb elf Uhr nach Zürich; oder ich bleibe zuhause. Heute abend gibt es Spaghetti zum Essen; oder es gibt Wurstsalat.

Man muß sich fragen: Wo bleibt da die Wirklichkeit? Ich gehe fort; oder ich bleibe zuhause. Ich bin anwesend; oder ich bin gerade abwesend. Die Erde ist rund; oder sie ist dreieckig. Wenn man zuviel »oder« sagt, verlieren die Worte jedes Gewicht und jeden Sinn; die Sprache zerfällt in eine amorphe Masse von bedeutungslosen Partikeln; nichts ist mehr fest, und alles wird unwirklich.

Es ist mir heute unmöglich, meine Reaktionen auf meine Umwelt chronologisch einzuordnen. Als Kind und Junge muß ich sicher auf der Seite meiner Eltern und besonders auf der Seite meiner armen Mutter gestanden und mit ihr gehofft haben, daß sich jede drohende Meinungs­verschiedenheit auf die sanfteste und konfliktloseste Weise einrenken lassen möge; mit der Zeit begannen mich die Verlogenheiten dieser ewigen Harmonie zu stören. 

Ich kann nicht mehr sagen, wann das war; die ersten Anzeichen davon mögen noch in meiner Kindheit liegen, aber das ganze Ausmaß der Krankheit meiner Welt wurde mir erst spät, furchtbar spät bewußt. Einerseits stieß ich mich an den verlogenen Ausreden meiner Mutter, andererseits war ich selbst schon viel zu sehr auf Harmonie versessen und verlogen und feig, um mich selbst in eine Konfliktsituation zu wagen und mich eingehender darum zu kümmern, warum ich mich an etwas stieß. 

Ich betrachtete die Handlungsweise meiner Mutter als eine ein bißchen lächerliche Schwäche, als eine liebenswürdige Marotte, die man eher belächeln als tadeln muß. Den Begriff der »liebenswürdigen Marotte« hatte ich in einem Buch gelesen und mir sogleich zu eigen gemacht. Ich fühlte, daß ich ihn gut brauchen konnte, um in meinem Weltbild alles auszuleimen, was sich vielleicht einmal als nicht ganz dicht erweisen könnte. 

Ich begann sogar zu ahnen, daß ich Fehler hatte und daß meine ganze Welt verfehlt und schadhaft war, aber ich scheute vor dem kompromittierenden Wort »Fehler« zurück und wollte mich durchaus nur an die »liebenswürdigen Marotten« halten; natürlich deshalb, weil im Wort »Fehler« unausgesprochen schon der Aufruf zum Erkennen und Sich-Stellen und Wiedergutmachen steckt, während die Marotte, und ganz besonders die »liebenswürdige«, viel eher etwas war, das man hegen und pflegen, vielleicht ein bißchen belächeln, auf jeden Fall aber kultivieren mußte.

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