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1.  Mitrochins Archiv 

 

 

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Grundlage dieses Buchs ist der beispiellose, unbeschränkte Zugang zu einem der geheimsten und am streng­sten bewachten Archive der Welt — dem des sowjetischen Auslands­nachrichten­dienstes, der Ersten Haupt­verwaltung (Ausland) des KGB. Bislang war der heutige russische Nachrichtendienst SWR überzeugt, daß ein Buch wie das vorliegende nicht geschrieben werden könnte.

Als das deutsche Nachrichtenmagazin <Focus> im Dezember 1996 meldete, das Bundesamt für Verfassungs­schutz (BfV) überprüfe auf der Grundlage des »umfangreichen Datenmaterials« eines nach England übergelaufenen früheren KGB-Offiziers »Hunderte detaillierte Hinweise auf russische 'Kundschafter'«, bezeichnete Tatjana Samolis, die Sprecherin des SWR, dies als »blanken Unsinn«. »<Hunderte von Namen>.... Das gibt es gar nicht!« erklärte sie. »Ein Überläufer kann die Namen von einem oder zwei, vielleicht von drei Agenten kennen — aber nicht von Hunderten!«1

Die Tatsachen sind noch weit sensationeller als die vom SWR dementierte Meldung. Das Material, das der KGB-Überläufer nach England mitbrachte, enthält nicht nur Angaben über ein paar hundert, sondern über Tausende sowjetischer Agenten und Nach­richten­dienst­offiziere in allen Teilen der Welt, darunter auch sogenannte Illegale, die, als ausländische Staatsbürger getarnt, mit falscher Identität im Ausland leben. Niemand, der irgendwann zwischen der Oktoberrevolution und dem Vorabend der Ära Gorbatschow für die Sowjetunion spioniert hat, kann heute noch davon ausgehen, daß sein Geheimnis sicher ist.

Als der britische Nachrichtendienst SIS 1992 den Überläufer mit seiner Familie aus Rußland heraus­schleuste, nahm er auch sechs randvoll mit den ausführlichen Notizen gefüllte Kisten mit, die er von 1972 bis zu seiner Pensionierung 1984 fast täglich über bis 1918 zurück­reichende streng geheime KGB-Akten angefertigt hatte. Nach Einschätzung des FBI ist der Inhalt der Kisten das »voll­ständigste und umfangreichste Nachrichten­material, das je von irgendeiner Quelle beschafft wurde«.

Der KGB-Oberst, der dieses außergewöhnliche Archiv angelegt hat, Wassili Mitrochin, ist heute britischer Staatsbürger. In den zwanziger Jahren in Zentralrußland geboren, begann er 1948 seine Laufbahn als Offizier des sowjetischen Auslands­nachrichten­dienstes, als die Auslands­aufklärung des KGB-Vorläufers MGB und der militärische Nachrichten­dienst (GRU) im Informations­komitee (KI) zusammengeschlossen waren.2

Als Mitrochin 1952 seinen ersten Auslandsposten antrat,3 war das KI wieder aufgelöst worden, und MGB und GRU waren in ihre alte Rivalität zurück­gefallen. Die ersten fünf Jahre im Nachrichten­dienst verbrachte er in der paranoiden Atmosphäre der Endphase des Stalinregimes, als die Nachrichten­dienste überall im Ostblock zu Hexen­jagden auf die Beteiligten an überwiegend eingebildeten titoistischen und zionistischen Verschwör­ungen aufgerufen waren.

Im Januar 1953 wurde dem MGB offiziell »mangelnde Wachsamkeit« bei der Jagd auf Verschwörer vorgeworfen. Die sowjet­ische Nachrichtenagentur TASS verbreitete die aufsehen­erregende Meldung, in den voran­gegangenen Jahren hätten sich der »Welt­zionismus« und westliche Geheimdienste mit einer »terroristischen Gruppe« jüdischer Ärzte verschworen, »um die Führung der Sowjetunion auszurotten«. In den letzten beiden Monaten von Stalins Herrschaft bemühte sich das MGB, seine erhöhte Wachsamkeit zu demonstrieren, indem es die an diesem fiktiven Komplott beteiligten Verbrecher verfolgte. Tatsächlich war diese anti­zionistische Kampagne nichts anderes als ein kaum verhüllter antisemitischer Pogrom.

Kurz nach Stalins plötzlichem Tod im März 1953 erhielt Mitrochin den Auftrag, die angeblichen zionistischen Verbindungen des Pariser Korres­pondenten der <Prawda>, Juri Schukow, der wegen der jüdischen Abstammung seiner Frau unter Verdacht geraten war, zu untersuchen. Mitrochin hatte den Eindruck, daß Stalins brutaler Sicherheitschef Lawrenti Berija beabsichtigte, Schukow in die »Ärzte­verschwörung« hineinzuziehen. Einige Wochen nach Stalins Begräbnis verkündete Berija jedoch, es habe nie ein Komplott gegeben. Die angeblichen Verschwörer wurden rehabilitiert.

Im Sommer 1953 einte die meisten von Berijas Kollegen im Parteipräsidium die Furcht vor einer anderen Verschwörung — der­jenigen, die Berija möglicher­weise plante, um durch einen Staatsstreich in Stalins Fußstapfen zu treten. Während eines Aufenthalts in einer westlichen Hauptstadt im Juli erhielt Mitrochin mit der Anweisung, es persönlich zu entschlüsseln, ein streng geheimes Telegramm, in dem ihm zu seinem Erstaunen mitgeteilt wurde, Berija sei »verbrecherischer partei- und staatsfeindlicher Aktivitäten« beschuldigt worden.

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Später erfuhr Mitrochin, daß Berija am 26. Juni während einer Sondersitzung des Parteipräsidiums aufgrund eines von seinem Haupt­rivalen Nikita Chruschtschow organisierten Komplotts verhaftet worden war. Aus dem Gefängnis schrieb Berija klägliche Bittbriefe an seine früheren Kollegen, in denen er sie anflehte, ihm das Leben zu lassen und die »geringste Arbeit« zu geben: »Sie werden sehen, in zwei oder drei Jahren werde ich mich wieder im Griff haben und immer noch nützlich für Sie sein.« Doch niemand hatte mehr Angst vor ihm, und seine Genossen spotteten nur noch darüber, daß er die Fassung verloren hatte.

Am 24. Dezember wurde bekanntgegeben, daß Berija nach einem Prozeß vor dem Obersten Gerichtshof hingerichtet worden sei. Da weder seine Verantwortung für Massenmorde in der Stalinära noch seine persönlichen Verbrechen als Serienvergewaltiger minderjähriger Mädchen in der Öffentlichkeit erwähnt werden konnten, wurde er einer absurden Verschwörung mit britischen und anderen westlichen Geheimdiensten für schuldig befunden, die das Ziel verfolgt habe, »den Kapitalismus neu zu beleben und die Herrschaft der Bourgeoisie wiederherzustellen«. 

Berija wurde so nach Jagoda und Jeschow in den dreißiger Jahren der dritte sowjetische Sicherheitschef, der unter anderem deshalb erschossen wurde, weil er angeblich als britischer Geheimagent gedient hatte. Den Käufern der Großen Sowjetenzyklopädie wurde getreu der stalinistischen Tradition geraten, mit einem »kleinen Messer oder einer Rasierklinge« den Artikel über Berija zu entfernen und statt dessen einen Ersatzartikel über die Beringsee einzufügen.4

Die erste offizielle Abrechnung mit dem Stalinismus war Chruschtschows berühmte Geheimrede in einer geschlossenen Sitzung des XX. Parteitags der KPdSU im Februar 1956. Stalins »Personenkult«, erklärte Chruschtschow, habe »eine Reihe außer­ordentlich ernster und schwerwiegender Verfälschungen der Parteigrundsätze, der innerparteilichen Demokratie, der revolutio­nären Gesetzlichkeit« zur Folge gehabt.5) Der Parteiorganisation des KGB wurde die Rede durch einen geheimen Brief des Zentral­komitees bekanntgemacht, und die Abteilung, der Mitrochin angehörte, diskutierte zwei Tage über ihren Inhalt. Er erinnert sich noch deutlich an die Schlußfolgerung des — später als KGB-Resident in Finnland stationierten — Abteilungsleiters Wladimir Schenichow: »Stalin war ein Bandit!«

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Manche Parteimitglieder waren zu erschüttert — oder zu vorsichtig —, um etwas zu sagen. Andere pflichteten Schenichow bei. Aber keiner wagte die Frage zu stellen, die, wie Mitrochin glaubte, allen auf der Zunge lag: »Wo war Chruschtschow, als alle diese Verbrechen begangen wurden?«

Nach der Geheimrede äußerte sich Mitrochin offener, als für ihn gut war. Obwohl seine Kritik an der Art und Weise, wie der KGB geführt wurde, nach westlichen Maßstäben gemäßigt war, geriet er in den Ruf, zu den Unzufriedenen zu gehören, und wurde von einem seiner Vorgesetzten als »Mitglied der Tölpeltruppe« abqualifiziert. Ende 1956 wurde er von den Operationen abgezogen und ins Archiv der Ersten Haupt­verwaltung versetzt, wo seine Arbeit vor allem darin bestand, Nachfragen anderer Abteilungen und von den örtlichen KGB-Gliederungen zu beantworten.6 Mitrochin entdeckte, daß Berijas persönliches Archiv auf Anordnung Chruschtschows vernichtet worden war, um das kompromittierende Material, das er über seine früheren Kollegen gesammelt hatte, aus dem Weg zu räumen, und wie Iwan Serow, KGB-Vorsitzender von 1954 bis 1958, Chruschtschow berichtete, hatten die Akten in der Tat viel »provokatives und verleumderisches« Material enthalten.7

Mitrochin war ein eifriger Leser der russischen Schriftsteller, die in den letzten Jahren der stalinistischen Herrschaft in Ungnade gefallen waren, aber seit Mitte der fünfziger Jahre wieder publiziert wurden, und er war hoch erfreut, als 1954 zum ersten Mal seit 1945 neue Gedichte von Boris Pasternak erschienen, des letzten großen russischen Dichters, dessen literarische Karriere vor der Oktober­revolution begonnen hatte. Sie waren in einer Literaturzeitschrift unter dem Titel »Gedichte aus dem Roman <Doktor Schiwago> erschienen, und in einem Begleittext wurde das noch unvollendete Werk, dem sie entnommen waren, kurz vorgestellt. Doch der fertige Roman wurde als zu subversiv eingestuft und erhielt 1956 keine Druck­erlaubnis.

Empört über die Verfolgung eines seiner Lieblingsautoren, betrachtete Mitrochin die Ablehnung von <Doktor Schiwago> als typisches Zeichen für Chruschtschows Unkultur. »In einer sozialistischen Gesellschaft«, dekretierte der Erste Sekretär grob, »vollzieht sich die Entwicklung von Kunst und Literatur... wie von der Partei bestimmt.« Dennoch setzte Mitrochin seine Hoffnungen noch nicht auf den Sturz des Sowjetregimes, sondern auf einen künftigen neuen Sowjetführer, der weniger von der stalinistischen Vergangenheit besudelt war als Chruschtschow. 

Als 1958 einer von Serows Hauptkritikern, Alexander Schelepin, zum KGB-Vorsitzenden ernannt wurde, glaubte Mitrochin, in ihm den erwarteten neuen Führer zu erkennen.

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Der erst 40jährige Schelepin hatte sich als Partisanen­kommandant im Zweiten Weltkrieg einen Namen gemacht und als Erster Sekretär des Komsomol von 1952 bis 1958 Tausende junger Menschen für Chruschtschows Neuland­programm mobilisiert. Obwohl viele der neuen Kolchosen später aufgrund der Bodenerosion zugrunde gingen, schien die Kampagne auf kurze Sicht ein spektakulärer Erfolg zu sein. In sowjetischen Wochenschauen sah man endlose Reihen von Mähdreschern auf wogenden Getreidefeldern, die sich über die Ebene erstreckten, so weit das Auge reichte.

Wie Mitrochin gehofft hatte, erwies sich Schelepin rasch als der neue Besen im KGB, indem er viele alte Stalinisten durch junge Leute aus dem Komsomol ersetzte. Mitrochin war von der Art und Weise beeindruckt, wie Schelepin, wenn er eine Rede hielt, die vom Fernsehen übertragen wurde, nur kurz in seine Notizen schaute, statt wie andere Sowjetführer den vorbereiteten Text stur abzulesen, und dann direkt zu den Zuschauern sprach. Der neue Vorsitzende schien dem KGB ein neues Image zu verleihen. »Verletzungen der sozialistischen Gesetzlichkeit« verkündete er 1961, »sind vollständig eliminiert worden.... Die Tschekisten können der Partei und dem sowjetischen Volk mit reinem Gewissen ins Gesicht sehen.« 

Mitrochin erinnert sich daneben auch an einen Akt persönlicher Freundlichkeit. Als er sich 1960 um die Gesundheit eines nahen Verwandten sorgte, bat er Schelepin um Hilfe, um seinem Verwandten eine medizinische Behandlung in China zu ermöglichen, die er in der Sowjetunion nicht erhalten konnte, und der KGB-Vorsitzende erfüllte ihm seine Bitte, obwohl bereits die ersten Anzeichen für den späteren Bruch zwischen Moskau und Peking zu erkennen waren.

Wie Berija vor und Andropow nach ihm strebte Schelepin nach weit Höherem als dem KGB-Vorsitz. Dem russischen Historiker Roy Medwedew zufolge hatte er als 20jähriger Student auf die Frage, was er werden wolle, wie aus der Pistole geschossen geantwortet: »Ein Chef!«8 Für ihn war der KGB ein Sprungbrett zum Posten des Ersten Sekretärs der KPdSU. Im Dezember 1961 schied er aus dem KGB aus, behielt aber als Vorsitzender des mächtigen Komitees für Partei- und Staatskontrolle die Oberaufsicht über den Geheimdienst. Neuer KGB-Vorsitzender wurde sein junger, aber weniger dynamischer Protegé Wladimir Semitschastni, damals erst 37 Jahre alt.  

* (d-2015:)  wikipedia  Alexander Schelepin  1918-1994 (76)     wikipedia  Wladimir Semitschastny  1924-2001 (77)    wikipedia  Staschinski-Fall 

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Auf Chruschtschows Anweisung führte Semitschastni die Säuberung der Archive von Material fort, das allzu deutlich an die stalinistische Vergangenheit des Parteipräsidiums erinnerte, und verfügte die Vernichtung von neun Bänden mit Akten über die Liquidierung von ZK-Mitgliedern, höheren Geheimdienst­offizieren und ausländischen Kommunisten, die während der Stalinära in Moskau gelebt hatten.9

Mitrochin sah in Schelepin weiterhin den künftigen Ersten Sekretär und war daher nicht überrascht, daß er einer der Anführer des Komplotts war, das 1964 Chruschtschow stürzte. Die Erinnerung an Berija war bei den meisten Präsidiumsmitgliedern jedoch noch zu lebendig, als daß sie bereit gewesen wären, wiederum einen Sicherheitschef an der Spitze der Partei zu akzeptieren. 

Für die meisten seiner Kollegen war Leonid Breschnew, der Chruschtschows Nachfolge als Erster Sekretär (ab 1966 Generalsekretär) antrat, eine wesentlich beruhigendere Gestalt — liebenswürdig, leichtlebig und geduldig bei der Versöhnung wider­streitender Fraktionen; zugleich besaß er aber auch Geschick darin, seine Rivalen auszumanövrieren.

1967 fühlte er sich stark genug, um den unpopulären Semitschastni zu entlassen und den ehrgeizigen Schelepin kaltzustellen, indem er ihn von seinem bisherigen Posten ablöste und an die Spitze des vergleichs­weise einflußlosen Gewerkschaftsbundes abschob. Als er sein geräumiges neues Büro bezog, stellte Schelepin fest, daß sein Vorgänger, Wiktor Grischin, in einem Nebenzimmer etwas eingerichtet hatte, was Zhores Medwedjew später euphemistisch einen »mit Spezialausrüstung ausgestatteten Massagesalon« genannt hat. Schelepin rächte sich für die Degradierung, indem er Geschichten über Grischins Sexualleben in Moskau verbreitete.10

Hauptnutznießer der Kaltstellung von Semitschastni und Schelepin war Juri Andropow, der zum Vorsitzenden des KGB aufstieg. Andropow hatte, wie einer seiner Mitarbeiter es ausdrückte, einen »Ungarnkomplex«. Als sowjetischer Botschafter in Budapest während des ungarischen Aufstands von 1956 hatte er durch die Fenster der Botschaft entsetzt mit angesehen, wie Offiziere des verhaßten ungarischen Sicherheitsdienstes an Laternenmasten aufgehängt wurden. Seitdem verfolgte ihn die Erinnerung daran, wie schnell ein scheinbar allmächtiger kommunistischer Einparteienstaat ins Wanken geraten kann. Wann immer später andere kommunistische Regime in Gefahr schienen — Prag 1968, Kabul 1979, Warschau 1981 —, war er jedesmal überzeugt, daß, wie in Budapest 1956, nur militärische Gewalt ihr Überleben sichern könne.11

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Nachdem er Ungarn 1957 verlassen hatte, war er Leiter der für die Beziehungen zu den »Bruderparteien« im Ostblock zuständigen ZK-Abteilung geworden, und als er 1967 als erster hoher Parteifunktionär zum KGB-Vorsitzenden ernannt wurde, verfolgte Breschnew damit die Absicht, seine Kontrolle über Sicherheits­apparat und Geheimdienst zu stärken. Andropow sollte der am längsten amtierende und politisch gewiefteste aller KGB-Vorsitzenden werden, und er krönte seine fünfzehnjährige Tätigkeit an der Spitze des KGB, indem er 1982 Breschnews Nachfolge als General­sekretär antrat.

Die erste große Krise in Andropows Amtszeit als KGB-Vorsitzender war der Versuch der tschecho­slowak­ischen Reformer des Prager Frühlings, einen »Sozialismus mit menschlichem Antlitz« zu schaffen. Für den Kreml stellte dies eine unannehmbare Häresie dar. Wie Chruschtschows Geheimrede war auch der Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts in die Tschecho­slowakei am 21. August 1968 eine wichtige Wegmarke dessen, was Mitrochin selbst seine »intellektuelle Odyssee« nennt. Da er während des Prager Frühlings in Ostdeutschland stationiert war, konnte er die in den russischsprachigen Programmen des BBC World Service, von Radio Liberty, Voice of America, Deutscher Welle und der Canadian Broadcasting Company ausgestrahlten Berichte über die Tschechoslowakei verfolgen, hatte aber niemanden, dem er weit genug traute, um mit ihm über seine Sympathie für die Prager Reformen zu sprechen. 

Ein Ereignis hinterließ bei ihm einen besonders tiefen Eindruck. Ungefähr einen Monat, bevor die sowjetischen Panzer in Prag einfuhren, hatte ein Offizier der Direktion W (»Sonderaufgaben«) der Ersten Hauptverwaltung, Oberst Wiktor Rjabow, ihm angekündigt, er werde »für ein paar Tage nach Schweden fahren«, wobei er keinen Hehl daraus machte, daß sein wirkliches Ziel nicht Schweden hieß. Nach seiner Rückkehr erklärte er Mitrochin, am nächsten Tag werde in der Prawda ein interessanter Artikel erscheinen, was heißen sollte, daß er etwas mit seiner Mission zu tun hatte. Als Mitrochin die Meldung über den Fund eines »imperialistischen Waffenlagers« in der CSSR las, war ihm sofort klar, daß die Sache von Rjabow und anderen Offizieren der Direktion W inszeniert worden war, um die Reformer in Mißkredit zu bringen.

Bald nach der Zerschlagung des Prager Frühlings saß Mitrochin im Auditorium, als Andropow in der ostdeutschen Außenstelle des KGB in Berlin-Karlshorst eine Rede hielt. Andropow beeindruckte ihn wie Schelepin damit, daß er sein Publikum direkt ansprach und ihm seine Gedanken mitteilte, ohne, wie die meisten sowjetischen Funktionäre, an einem vorbereiteten phrasenhaften Text zu kleben.

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Mit seiner asketischen Erscheinung, den zurückgekämmten silbrigen Haaren, der Stahlrandbrille und seinem intellektuellen Auftreten schienen Andropow Welten von stalinistischen Gaunern wie Berija und Serow zu trennen. Seine Begründung der Invasion der Tschechoslowakei war wesentlich differenzierter als jene, die man der sowjetischen Öffentlichkeit gegeben hatte. Sie sei das einzige Mittel gewesen, um die durch den Großen Vaterländischen Krieg entstandene europäische Ordnung zu erhalten. Diese politische Notwendigkeit, erklärte er, werde selbst von unorthodoxen Figuren wie dem großen Physiker Pjotr Kapiza akzeptiert, der anfangs Sympathie für die Prager Revisionisten gezeigt habe.

Mitrochin zog aus der Invasion des Warschauer Pakts völlig andere Schlußfolgerungen. In seinen Augen bewies die Vernichtung des »Sozialismus mit menschlichem Antlitz«, daß das sowjetische System nicht reformierbar war. 

Er erinnert sich noch deutlich an ein merkwürdig mythologisches Bild, das sich ihm immer stärker aufdrängte: Es zeigte das russische Volk in den Fängen einer »dreiköpfigen Hydra« aus KPdSU, privilegierter Nomenklatura und KGB.

Als er aus Ostdeutschland nach Moskau zurückgekehrt war, hörte Mitrochin weiterhin russischsprachige Rundfunksendungen aus dem Westen. Da die Sender von sowjetischer Seite gestört wurden, mußte er ständig die Frequenz wechseln, bis er ein verständliches Programm fand, so daß er die Nachrichten häufig nur in Bruchstücken mitbekam. Zu den Neuigkeiten, die ihn am tiefsten beeindruckten, gehörten die Meldungen der Chronik der laufenden Ereignisse, einer Samisdat-Zeitschrift*, die 1968 zum ersten Mal von Dissidenten herausgegeben wurde, um sowjetische Menschen­rechts­verletzungen bekannt­zumachen. Im Titelblattkopf der Chronik war der Artikel über die Freiheit der Meinungsäußerung aus der Allgemeinen Erklärung der Menschen­rechte der Vereinten Nationen abgedruckt, der in der Sowjetunion tagtäglich verletzt wurde.

Während der Kampf gegen die »ideologische Subversion« verschärft wurde, konnte Mitrochin zahlreiche Beispiele dafür beobachten, wie der KGB das sowjetische Rechtssystem manipulierte.

* Samisdat (verkürzt von russ. samostojatelnoje isdatelstwo, »Selbstverlag«: seit Ende der fünfziger Jahre in der Sowjetunion übliches illegales Publikationssystem ohne offizielle Druckgenehmigung, also auch ohne Zensur.

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Später kopierte er das unterwürfige Glückwunsch­schreiben, das der Vorsitzende des Obersten Gerichts­hofs, A.F. Gorchin, im Dezember 1967 aus Anlaß des 50. Jahrestages der Gründung der Tscheka an Andropow schickte. Darin erklärte er:

»Die sowjetischen Gerichte und das Komitee für Staatssicherheit der UdSSR sind gleich alt. Aber das ist nicht der Hauptgrund, der uns vereint; der Hauptgrund ist die Übereinstimmung unserer Aufgaben. Wir bemerken voller Freude, daß die Staatssicherheitsorgane und die Gerichte ihre schwierigen Aufgaben im Geist gegenseitigen Verständnisses und vernünftiger fachlicher Beziehungen erfüllen.«12

 

Nach Mitrochins Beobachtungen häuften sich sowohl in der geheimen hausinternen Zeitschrift KGB Sbornik als auch in den KGB-Akten die Belege dafür, daß Andropow persönlich davon besessen war, gegen Abweichungen aller Art vorzugehen, und darauf beharrte, daß der Kampf für Menschenrechte Teil einer weitreichenden imperialistischen Verschwörung sei, welche die Grundlagen des sowjetischen Staates auszuhöhlen versuche. 1968 gab Andropow den Befehl des Vorsitzenden des KGB Nr. 0051, »Über die Aufgaben der Staatssicherheitsorgane bei der Bekämpfung ideologischer Sabotage durch den Gegner«, heraus, in dem er mehr Tatkraft im Kampf sowohl gegen Dissidenten im Innern als auch gegen ihre imperialistischen Helfer im Ausland forderte.13

Als glühender Bewunderer des Kirow-Balletts empörte sich Mitrochin besonders über den Plan der Ersten Haupt­verwaltung, den er in den Akten entdeckte, den ehemaligen Star des Balletts, Rudolf Nurejew, der sich in den Westen abgesetzt hatte, zum Krüppel zu machen.

Anfang der siebziger Jahre wurden Mitrochins Ansichten besonders vom Kampf der Dissidenten beeinflußt, den er sowohl anhand der KGB-Akten wie auch in westlichen Rundfunk­sendungen verfolgen konnte. »Ich war ein Einzelgänger«, sagt er im Rückblick, »aber ich wußte jetzt, daß ich nicht allein stand.« Obwohl er nie daran dachte, sich offen auf die Seite der Menschen­rechts­bewegung zu stellen, ließ er sich vom Beispiel der Chronik der laufenden Ereignisse und anderer Samisdat-Veröffentlichungen in der Idee bestärken, eine geheime Variante der von den Dissidenten unternommenen Dokumentation der Verfehlungen des sowjetischen Systems zu schaffen. Nach und nach nahm das Projekt in seinem Kopf die Gestalt eines privaten Archivs über die Auslands­operationen des KGB an. 

(d-2015:) R.Nurejew bei detopia  

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Die Gelegenheit, dieses Dossier anzulegen, erhielt er, als die Erste Hauptverwaltung im Juni 1972 aus ihren beengten Räum­lichkeiten in der Lubjanka in ein neues Gebäude in Jasenewo am südöstlichen Stadtrand von Moskau umzog. In den nächsten zehn Jahren war Mitrochin — mit eigenem Büro sowohl in der Lubjanka als auch in Jasenewo — allein verantwortlich dafür, daß das Archiv der Ersten Hauptverwaltung, das 1970 rund 300.000 Akten umfaßte,14 vor dem Transport in die neue Zentrale überprüft und versiegelt wurde. Während er die Akten prüfte, Inventarlisten anlegte und Registerkarten schrieb, konnte er in seinen beiden Büros jede Akte einsehen, die ihn interessierte.  

Für gewöhnlich verbrachte er den Montag, Dienstag und Freitag in Jasenewo. Mittwochs ging er in die Lubjanka, um an den geheimsten Akten der Ersten Hauptverwaltung zu arbeiten, jenen der für die Aktivitäten von Illegalen zuständigen Direktion S. Nachdem er einen Stoß Akten inspiziert hatte, wurde dieser in versiegelten Behältern verstaut und am Donnerstagmorgen unter Mitrochins Aufsicht nach Jasenewo transportiert. Im Unterschied zum Rest der Ersten Hauptverwaltung blieb die Direktion S noch für ein Jahrzehnt in der Lubjanka. So kam es, daß Mitrochin mehr Zeit für deren Akten — die geheimsten der Ersten Hauptverwaltung — aufwendete als für diejenigen anderer Abteilungen des sowjetischen Auslands­nachrichten­dienstes. Die »Illegalen« hatten innerhalb des KGB eine beinah mystische Stellung erlangt. Bevor sie im Ausland stationiert wurden, mußten sie einen etwas melodramatischen feierlichen Eid ablegen:

»In tiefer Wertschätzung für das von Partei und Vaterland in mich gesetzte Vertrauen und erfüllt von einem Gefühl großer Dankbarkeit für die Entscheidung, mich an die vorderste Front im Kampf zum Wohle meines Volks zu stellen ... will ich als würdiger Sohn des Heimatlandes eher zugrunde gehen, als die mir anvertrauten Geheimnisse zu verraten oder Material, das den Interessen des Staates politischen Schaden zufügen könnte, in die Hände des Gegners fallen zu lassen. Mit jedem Herzschlag schwöre ich, an jedem Tag, der vergeht, der Partei, dem Heimatland und dem sowjetischen Volk zu dienen.«15

Die Akten zeigen, daß vor dem Zweiten Weltkrieg die größten Erfolge von mehreren legendären Nachrichtendienstoffizieren erzielt wurden, die häufig als die »Großen Illegalen« bezeichnet werden.

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Nach dem Krieg hatte der KGB an seine Vorkriegs­triumphe anzuschließen versucht, indem er neben den »legalen Residenturen«, die unter diplomatischer oder anderer amtlicher Tarnung in ausländischen Haupt­städten operierten, ein umfangreiches Netz »illegaler Residenturen« aufbaute, und wie die Akten belegen, konnte die Direktion S bemerkens­werte Erfolge erzielen. KGB-Illegale etablierten sich mit falschen Identitäten als ausländische Staatsbürger in höchst unterschiedlichen Berufszweigen, als costaricanischer Diplomat oder als Klavierstimmer des Gouverneurs des Staates New York. Noch in der Ära Gorbatschow zeichnete die Propaganda den sowjetischen Illegalen als edelste Verkörperung der ritterlichen Ideale im Dienst des Nachrichtendienstes. Der ehemalige britische KGB-Agent George Blake schrieb 1990:

»Gegenüber dieser Kategorie von Geheimdienstmitarbeitern habe ich stets den größten Respekt empfunden. Sie sind gezwungen, ihre falsche Identität so intensiv zu leben, daß sie tatsächlich eine neue Person werden müssen.... Sie müssen ständig auf der Hut sein, sie leben in einem Zustand permanenter Anspannung. ... Nur ein Geheimdienst, der für eine große Sache arbeitet, kann von seinen Mitarbeitern ein derartiges Opfer verlangen. Deshalb wohl hat allein der KGB, zumindest in Friedenszeiten, illegale Residenten gehabt.«16

Der SWR setzte die KGB-Tradition der Verherrlichung der Illegalen fort. Im Juli 1995 verlieh der russische Präsident Boris Jelzin dem bekanntesten in Amerika geborenen Illegalen, Morris Cohen, einen Monat nach dessen Tod postum den Titel »Held der Russischen Föderation«.

Aus den von Mitrochin eingesehenen Akten der Direktion S ergibt sich ein ganz anderes Bild der Illegalen. Neben eifrigen Offizieren, die ihre Tarnung und professionelle Disziplin während ihrer gesamten Mission aufrechterhielten, gab es andere, die mit dem Kontrast zwischen der sowjetischen Propaganda über die kapitalistische Ausbeutung und dem wirklichen Leben im Westen nicht zurecht kamen.

Ein noch dunkleres, in den Akten der Direktion S verborgenes Geheimnis ist die Tatsache, daß eine der Hauptaufgaben der Illegalen in den letzten 25 Jahren der Sowjetunion darin bestand, Dissidenten in anderen Ländern des Warschauer Pakts aufzuspüren und zu kompromittieren. Der schmutzige Kampf gegen die »ideologische Subversion« gehörte ebenso zu den Pflichten der Direktion S wie zu denen der anderen Einheiten der Ersten Hauptverwaltung.

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Als Mitrochin 1972 daranging, sein verbotenes Archiv anzulegen, war er verständlicherweise vorsichtig. In den ersten Wochen versuchte er sich die Codenamen und die wichtigsten Angaben aus den Akten einzuprägen, um sie am Abend zu Hause zu Papier zu bringen. Nachdem er diese Methode als zu langsam und zu schwerfällig aufgegeben hatte, machte er sich auf Papierfetzen in winziger Schrift Notizen. Anschließend zerknüllte er die Zettel und warf sie in den Papierkorb, um sie abends wieder hervor­zuholen und in seinen Schuhen versteckt aus dem Haus zu schmuggeln. Im Lauf der Zeit gewann er jedoch an Zutrauen, da er bemerkte, daß sich die Wachen von Jasenewo auf gelegentliche Kontrollen von Aktenmappen und Brieftaschen beschränkten. Nach einigen Monaten begann er seine Notizen auf normales Büropapier zu schreiben, das er in Jackett- und Hosentaschen mit sich nahm.

In den zwölf Jahren, in denen Mitrochin die Akten der Ersten Hauptverwaltung durcharbeitete, wurde er nicht ein einziges Mal kontrolliert. Es gab allerdings einige angstvolle Momente. Von Zeit zu Zeit wurde er, wie andere Offiziere der Ersten Haupt­verwaltung auch, beschattet — wahrscheinlich von Observierungs­teams der Siebenten (Überwachung) oder Zweiten Hauptverwaltung (Gegenspionage). Einmal ging er, mit seinen Beschattern im Schlepptau, in das Sportartikelgeschäft des Fußball­klubs Dynamo Moskau, wo er sich zu seinem Schrecken neben zwei Engländern wiederfand, die seine Beschatter möglicher­weise für Spione hielten, mit denen er ein Treffen verabredet hatte. Bei einer Leibesvisitation wären seine Notizen über streng geheime KGB-Akten sofort entdeckt worden. Er verließ hastig den Laden und suchte mehrere andere Sportgeschäfte auf, um seine Beschatter davon zu überzeugen, daß er sich auf einer echten Einkaufstour befand. Als er zu seinem Wohnhaus kam, standen im neunten Stock in der Nähe seiner Wohnungstür zwei Männer. Doch als er die Tür erreichte, waren sie verschwunden.

Offiziere der Ersten Hauptverwaltung waren verpflichtet, solche Vorkommnisse zu melden, aber Mitrochin hielt sich nicht daran, um eine eventuelle Untersuchung zu vermeiden und keine unnötige Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.

In seiner Wohnung versteckte er die Notizen bis zum Wochenende unter seiner Matratze. Dann schaffte er sie in seine Datscha am Stadtrand von Moskau, wo er soviel wie möglich mit der Schreibmaschine abtippte. Das Material häufte sich allerdings derart an, daß er gezwungen war, einen Teil in handschrift­licher Form zu belassen.

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Die ersten Papiere verstaute er schließlich in einer großen Milchkanne, die er unter dem Fußboden vergrub.17 Die Datscha war auf einem erhöhten Fundament erbaut, und der Abstand zum Erdboden war gerade groß genug, um unter das Haus kriechen und mit einem kurzstieligen Spaten ein Loch graben zu können. Als die Kanne voll war, verstaute er die Notizen in einem Waschkessel aus Zinn. Am Ende waren neben der Milchkanne drei Zinnkessel und zwei Aluminiumkisten unter der Datscha vergraben.

Im Sommer arbeitete Mitrochin in einer zweiten Familiendatscha bei Pensa an den Notizen. Dann transportierte er sie in einer alten Provianttasche, während er selbst Bauernkleider trug, um nicht aufzufallen. Im Sommer 1918 war in dem rund 560 Kilometer südöstlich von Moskau gelegenen Pensa einer der ersten Bauernaufstände gegen die Herrschaft der Bolschewiken ausgebrochen. Lenin gab den Kulaken (Großbauern) die Schuld und wies die örtlichen Parteiführer an, mindestens hundert von ihnen öffentlich zu hängen, damit »die Menschen im Umkreis von Hunderten von Kilometern sie sehen und zittern«.18 In den siebziger Jahren war Pensas konterrevolutionäre Vergangenheit längst vergessen, und Lenins blutrünstige Anordnung wurde in einer geheimen Abteilung des Lenin-Archivs vor der Öffentlichkeit verborgen.

Die KGB-Akten, die Mitrochin emotional am meisten aufwühlten, waren diejenigen über den Afghanistan­krieg. Am 28. Dezember 1979 verkündete Babrak Karmal, der neue afghanische Staatschef, der von Moskau auserwählt worden war, um die »brüderliche Hilfe« der sowjetischen Streitkräfte zu ersuchen, die bereits in sein Land eingefallen waren, über Radio Kabul, sein Vorgänger, Hafisullah Amin, sei als »Agent des amerikanischen Imperialismus« von einem »Revolutionstribunal« zum Tod verurteilt worden. In Wirklichkeit war er, wie Mitrochin dem Strom der im Archiv eingehenden Akten über den Krieg entnahm, zusammen mit seiner Familie und seinen Gefolgsleuten umgebracht worden, als KGB-Sondereinheiten in afghanischer Uniform den Präsidenten­palast in Kabul stürmten.

Die Beamtinnen, die damit beschäftigt waren, die KGB-Berichte über den Afghanistankrieg abzulegen, nachdem sie im Politbüro und anderen Gliederungen der sowjetischen Hierarchie zirkuliert waren, hatten so viel Material zu bewältigen, daß sie Mitrochin manchmal 30 Akten gleichzeitig zur Prüfung vorlegten. Vor der Bevölkerung wurden die in den Akten beschriebenen Schrecken sorgfältig geheimgehalten.

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Über die systematische Zerstörung afghanischer Dörfer, die Flucht von vier Millionen Menschen und den Tod von einer Million Afghanen in einem Krieg, den Gorbatschow später als »Fehler« bezeichnete, war in den sowjetischen Medien nichts zu erfahren. Die 15.000 Särge mit den in Afghanistan umgekommenen sowjetischen Soldaten wurden auf den Militärflugplätzen ohne das militärische Zeremoniell und die feierliche Musik, mit denen im Krieg gefallene Helden bei der Heimkehr ins Vaterland normaler­weise geehrt wurden, in aller Stille entladen, um sie anschließend insgeheim beizusetzen. Den Familien wurde nur mitgeteilt, ihre geliebten Angehörigen seien »in Erfüllung ihrer internationalistischen Pflicht« gestorben. Einige Soldaten wurden in der Nähe der Gräber von Mitrochins Eltern auf dem Friedhof des Klosters Kusminski beigesetzt. Auf ihren Grabsteinen fand sich kein Hinweis auf den Krieg in Afghanistan. Während des Krieges hörte Mitrochin von einigen freimütigen Kollegen in Jasenewo zum ersten Mal offene Kritik an der sowjetischen Politik. »Schämen Sie sich wegen des Krieges nicht, ein Russe zu sein?« fragte ihn ein anderer Oberst aus der Ersten Hauptverwaltung. »Ein Sowjetbürger zu sein, meinen Sie!« platzte es aus Mitrochin heraus.

Als Mitrochin 1984 pensioniert wurde, lag ihm der Krieg immer noch auf der Seele, und er verbrachte die ersten anderthalb Jahre seines Rentnerdaseins damit, aus seinen Notizen das Material über Afghanistan herauszuziehen und, mit erläuternden Kommentaren versehen, in einem umfangreichen Band zusammen­zustellen. Obwohl Gorbatschow, nachdem er 1985 zum General­sekretär der KPdSU gewählt worden war, Glasnost forderte, glaubte Mitrochin nicht, daß das Sowjetsystem es jemals zulassen würde, die Wahrheit über den Krieg ans Tageslicht zu bringen. Jedenfalls dachte er immer häufiger darüber nach, wie er sein Archiv in den Westen schaffen konnte, um es dort zu veröffentlichen.

Der realistischste Plan, den Mitrochin vor dem Zerfall der Sowjetunion erwog, bestand darin, einen Sitz im örtlichen Partei­komitee zu ergattern, das die Genehmigungen für Auslandsreisen erteilte, Reisegenehmigungen für sich und seine Familie zu besorgen und eine Schiffsreise von Leningrad nach Odessa zu buchen. In einem der westeuropäischen Anlaufhäfen der Kreuzfahrt hätte er sich dann mit den Behörden in Verbindung setzen und mit ihnen verabreden können, sein Archiv in einem toten Briefkasten in der Nähe von Moskau zu deponieren, wo es ein westlicher Geheimdienst abgeholt hätte. Er ließ die Idee jedoch wieder fallen, weil es schwierig gewesen wäre, sich von seiner Reisegruppe zu trennen und den stets aufmerksamen Reiseführern lange genug zu entwischen, um seine Geschichte zu erzählen und die Übergabe zu arrangieren.

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Als im November 1989 die Berliner Mauer fiel und der Ostblock sich aufzulösen begann, gab sich Mitrochin selbst den Rat, Geduld zu üben und auf seine Gelegenheit zu warten. In der Zwischenzeit fuhr er fort, seine handschriftlichen Notizen in seiner Moskauer Wohnung und auf den beiden Datschen bei Moskau und Pensa abzutippen und einen Teil von ihnen zu einzelnen Bänden zusammenzufassen, die jeweils eins der Hauptzielländer der Ersten Hauptverwaltung betrafen — zuerst und vor allem die Vereinigten Staaten, die im KGB-Jargon »Hauptgegner« genannt wurden. Im Oktober 1991 teilte Mitrochin die Erleichterung der meisten Moskauer über das Scheitern des Putschversuchs der Hardliner, die Gorbatschow stürzen und den Einparteienstaat wieder­herstellen wollten. Für ihn war es nicht überraschend, daß Wladimir Krjutschkow, 1974 bis 1988 Leiter der Ersten Haupt­verwaltung und von 1988 bis zum Putsch KGB-Vorsitzender, der Hauptdrahtzieher des gescheiterten Staatsstreichs war.

Obwohl Krjutschkow im Umgang mit der Öffentlichkeit geschickter war als die meisten KGB-Vorsitzenden vor ihm, hatte er lange Zeit für das gestanden, was Mitrochin an der Ersten Hauptverwaltung am meisten verabscheute. Als junger Diplomat an der sowjetischen Botschaft in Budapest hatte Krjutschkow durch seine kompromißlose Ablehnung des »konterrevolutionären« ungarischen Aufstands von 1956 die Aufmerksamkeit von Botschafter Juri Andropow auf sich gelenkt, und als dieser 1967 zum KGB-Vorsitzenden aufstieg, wurde Krjutschkow Leiter seines Sekretariats und loyaler Helfer in seiner Kampagne gegen die »ideologische Subversion« in allen Formen. Aus den von Mitrochin eingesehenen Akten geht hervor, daß Krjutschkow später als Leiter der Ersten Hauptverwaltung eng mit der Fünften Verwaltung (ideologische Subversion) im Kampf gegen Dissidenten im In- und Ausland zusammenarbeitete.19

So machte er einen hohen Offizier der Fünften Verwaltung, I.A. Markelow, zu einem seiner Stellvertreter mit Zuständigkeit für die Koordination des Kampfes gegen die ideologische Subversion.20 Der gescheiterte Putsch vom August 1991 stellte ein angemessen schändliches Ende von Krjutschkows KGB-Karriere dar. Statt die Sowjetunion und den Einparteienstaat abzustützen, beschleunigte er nur ihren Niedergang.

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Am 11. Oktober 1991 löste der Staatsrat der zerfallenden Sowjetunion den KGB in seiner bisherigen Form auf. Die Erste Hauptverwaltung wurde unter dem Namen SWR als vom inneren Sicherheits­dienst unab­hängiger Auslands­nachrichtendienst der Russischen Föderation neu konstituiert. Doch statt seine sowjetische Vergangenheit abzustreifen, betrachtete sich der SWR als Erbe der Ersten Hauptverwaltung. 

Erster Leiter des SWR wurde der Akademiker Jewgeni Primakow, vormals Direktor des Instituts für Welt­wirtschaft und internationale Beziehungen und einer der führenden außenpolitischen Berater Gorbatschows. In seiner Akte, die Mitrochin gelesen hat, wird er als inoffizieller Mitarbeiter des KGB mit dem Codenamen MAXIM identifiziert, der regelmäßig im Geheimdienstauftrag in die USA und den Nahen Osten geschickt wurde.21 1996 wurde er Jelzins Außenminister und zwei Jahre später Ministerpräsident Rußlands.

Das Auseinanderbrechen der Sowjetunion in den letzten Monaten des Jahres 1991 öffnete Mitrochin endlich den Weg in den Westen. Im März 1992 bestieg er den Nachtzug in die Hauptstadt einer der soeben unabhängig gewordenen baltischen Republiken.22 Bei sich hatte er einen Koffer, in dem zuoberst Brot, Wurst und Getränke für die Reise, darunter Kleidung und ganz unten Beispiele seiner Notizen lagen. An seinem Reiseziel angelangt, suchte er am nächsten Tag unangemeldet die britische Botschaft auf, wo er einen »Verantwortlichen« zu sprechen wünschte.

Bisher hatte er die Briten immer für ziemlich förmlich und »ein bißchen geheimnisvoll« gehalten; aber die junge Diplomatin, die ihn empfing, war nicht nur »jung, attraktiv und sympathisch«, sondern sprach auch in fließendem Russisch mit ihm. Mitrochin teilte ihr mit, daß er bedeutsames Material aus KGB-Akten bei sich habe, und als er in seinem Koffer zu wühlen begann, um unter Lebensmitteln und Kleidung die Notizen hervorzuziehen, ließ die Diplomatin Tee kommen. Während Mitrochin seine erste Tasse englischen Tee trank, las sie einige der Notizen. Dann stellte sie Fragen. Er erzählte ihr, daß die Notizen nur einen kleinen Teil eines privaten Archivs darstellten, das auch Material über KGB-Operationen in Großbritannien umfasse. Schließlich willigte er ein, einen Monat später wieder in die Botschaft zu kommen, um mit Vertretern des SIS zu sprechen.

Von der Leichtigkeit, mit der er die russische Grenze passiert hatte, ermutigt, nahm Mitrochin auf seine zweite Reise ins Baltikum 2000 Seiten mit maschinegeschriebenen Notizen mit.

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Als er am Morgen des 9. April in der Botschaft eintraf, identifizierte er sich gegenüber den SIS-Offizieren durch seinen Paß, den Parteiausweis der KPdSU und den Bescheid über seine KGB-Pensionierung. Dann übergab er ihnen den dicken Stapel mit Notizen und beantwortete den ganzen Tag über ihre Fragen über ihn selbst, sein Archiv und darüber, wie er es zusammengetragen hatte. Am Ende sagte er zu, in zwei Monaten wiederzukommen, um einen Besuch in England vorzubereiten. Anfang Mai meldete die Moskauer SIS-Station, sie habe eine Nachricht erhalten, in der Mitrochin mitteilte, daß er den Nachtzug am 10. Juni nehmen werde. Als er am 11. Juni in der baltischen Hauptstadt eintraf, hatte er einen Rucksack voller Material aus seinem Archiv bei sich. Das Gespräch mit den SIS-Offizieren drehte sich zum größten Teil um seinen für den Herbst geplanten Englandbesuch.

Am 7. September betrat Mitrochin, von SIS-Offizieren begleitet, zum ersten Mal britischen Boden. Die nahezu chaotischen Zustände in Moskau noch vor Augen, machte London einen tiefen Eindruck auf ihn. Für ihn war die Stadt »das Modell dessen, wie eine Hauptstadt sein sollte«. Selbst der dichte Verkehr schien ihm nur ein Beweis für ihre Lebendigkeit zu sein. Einen Teil seines Aufenthalts in England verbrachte Mitrochin in einer sicheren Wohnung in London, wo er vom SIS befragt wurde; die restliche Zeit hielt er sich in Fort Monckton bei Gosport auf, das in den Napoleonischen Kriegen zur britischen Marine­verteidigung gehört hatte und heute eine Ausbildungsstätte der britischen Nachrichtendienste ist. Dort traf er auch die endgültige Entscheidung, Rußland zu verlassen, und vereinbarte mit den SIS-Offizieren, wie er selbst, seine Familie und sein Archiv außer Landes gebracht werden sollten. Am 13. Oktober wurde er wieder nach Rußland eingeschleust, um seine Ausreise vorzubereiten.

Am 7. November, dem 75. Jahrestag der Oktoberrevolution, traf Mitrochin mit seiner Familie in der baltischen Hauptstadt ein, in der er Verbindung zum SIS aufgenommen hatte. Einige Tage später waren sie in London, um ein neues Leben zu beginnen.

Mitrochin erlebte diesen Augenblick mit gemischten Gefühlen. Einerseits konnte er sich zum ersten Mal, seit er achtzehn Jahre zuvor begonnen hatte, sein Geheimarchiv anzulegen, sicher fühlen; andererseits empfand er die Trennung von seinem Heimatland, das er wahrscheinlich nie wiedersehen würde, als schmerzlichen Verlust. Dieses Gefühl ist vergangen, aber nicht die Verbunden­heit mit Rußland. Mitrochin ist heute britischer Staatsbürger.

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Mit einer Seniorenkarte der Eisenbahn hat er seine neue Heimat in allen Richtungen durchquert und mehr davon gesehen als viele, die dort geboren sind. Seit 1992 hat er mehrere Tage in der Woche an seinem Archiv gearbeitet, die restlichen handschriftlichen Notizen abgetippt und Fragen beantwortet, die Nachrichtendienste aus aller Welt zu seinem Material haben. 

Ende 1995 kam er das erste Mal mit Christopher Andrew zusammen, um über die Arbeit an dem vorliegenden Buch zu sprechen.

Obwohl es in Rußland nicht hätte geschrieben werden können, ist Mitrochin weiterhin wie im Jahr 1972 davon überzeugt, daß die geheime Geschichte des KGB ein Teil der sowjetischen Vergangenheit ist, den kennenzulernen das russische Volk ein Recht hat. Seiner Ansicht nach gehören die weltweiten Auslands­operationen des KGB, auch wenn sie häufig vernachlässigt werden, zur Geschichte der internationalen Beziehungen im 20. Jahrhundert.

Die Operation, in deren Rahmen Mitrochin im November 1992 in den Westen geschleust wurde, war offenbar so erfolgreich, daß der SWR sein Verschwinden nicht bemerkte und seine KGB-Pension weiterhin auf sein Moskauer Konto überwies. Da er und seine Familie zwei Datschen und eine Mietwohnung in Moskau besaßen, nahmen ihre jeweiligen Nachbarn vermutlich an, daß sie sich an einem der anderen Wohnsitze aufhielten. In England ist kein Wort über Mitrochin und sein Archiv an die Medien durch­gesickert.

Da aber Teile des Archivs an viele andere Nachrichtendienste und Regierungen übergeben wurden, traten, wie kaum anders zu erwarten, auch einige Lecks auf. Der erste, wenn auch etwas verstümmelte Hinweis auf Mitrochins Archiv erschien neun Monate nach seinem Übertritt in den USA. Im August 1993 veröffentlichte der Washingtoner Enthüllungs­journalist Ronald Kessler einen zum Teil auf Insiderinformationen beruhenden Bestseller über das FBI, der einen kurzen Abschnitt über sensationelle »FBI-Ermittlungen aufgrund der Informationen eines ehemaligen KGB-Mitarbeiters, der Zugang zu KGB-Akten hatte«, enthält:

»Nach seiner Darstellung haben in den letzten Jahren viele hundert Amerikaner — möglicherweise mehr als tausend — für den KGB spioniert. Die Informationen waren so detailliert, daß das FBI rasch in der Lage war, die Glaub­würdigkeit der Quelle zu bestätigen.... Bis zum Sommer 1993 hat das FBI in den meisten Großstädten Agenten auf diese Fälle angesetzt. In [der FBI-Akademie] Quantico fand eine streng geheime Konferenz statt, auf der eine entsprechende Strategie entwickelt wurde.«23

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Die Namen der von dem Überläufer enttarnten »vielen hundert Amerikaner« nennt Kessler nicht. In einem Interview der Washington Post bestätigte ein ebenfalls nicht namentlich genannter »US-Geheimdienst­offizier«, »daß das FBI genaue Informationen erhalten habe, die zu einer »bedeutendem Zahl laufender Ermittlungen über KGB-Aktivitäten in den Vereinigten Staaten geführt haben«. Zu der Frage, »wie viele Personen betroffen sind«, wollte er sich jedoch nicht äußern.24 Das Nachrichten­magazin Time meldete, »mit dem Fall vertraute Quellen« hätten den KGB-Überläufer als früheren Mitarbeiter der Ersten Hauptverwaltung bezeichnet, Kesslers Angaben zur Zahl sowjetischer Spione in den USA aber als »stark übertrieben« zurückgewiesen.25

Tatsächlich enthalten Mitrochins Notizen die Namen von »vielen hundert« KGB-Offizieren, Agenten und Kontakten, die seit den zwanziger Jahren zu verschiedenen Zeiten in den Vereinigten Staaten tätig waren. Aber Kessler bezieht diese Zahl fälschlicher­weise auf die »letzten Jahre« und nicht auf die gesamte Geschichte der sowjetischen Spionage in den USA. Im Gegensatz zu seinen Zahlenangaben wurde die Unterstellung, der ehemalige KGB-Mitarbeiter sei in die Vereinigten Staaten übergelaufen, ohne Widerspruch hingenommen. Als aber keine weiteren Informationen über den Unbekannten an die Öffent­lichkeit drangen, erlosch das Medieninteresse rasch.

Mehr als drei Jahre gab es kein neues Leck, bis im Oktober 1996 in der französische Presse der Vorwurf erhoben wurde, Charles Hernu, der von 1981 bis 1985 Verteidigungsminister gewesen war, habe von 1953 bis mindestens 1963 für östliche Geheimdienste gearbeitet und Präsident Francois Mitterrand sei zwar vom Sicherheitsdienst DST darüber informiert worden, habe aber den Skandal vertuscht.26

Le Monde berichtete, der britische Nachrichtendienst habe der DST seit 1993 »eine Liste mit rund 300 Namen von Diplomaten und Beamten des Quai d'Orsay, die angeblich für Geheimdienste des Ostblocks gearbeitet haben«, zukommen lassen.27 In Wirklichkeit standen auf der Liste der Namen aus Mitrochins Archiv, die der SIS an die DST weitergab, nur wenige Diplomaten und Beamte des französischen Außen­ministeriums, und Hernu war nicht darunter.28 Keiner der auf beiden Seiten des Kanals erschienenen Medienberichte über die Namensliste des SIS stellte eine Verbindung zu Kesslers Geschichte über einen Überläufer mit Zugang zu KGB-Akten her.

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Im Dezember 1996 meldete das deutsche Nachrichtenmagazin Focus, nach »zuverlässigen FOCUS-Inform­ationen« habe der SIS dem Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) Hunderte von Namen deutscher Politiker, Geschäftsleute, Rechtsanwälte und Polizeioffiziere, die mit dem KGB in Verbindung standen, übergeben. Diesmal wurde als SIS-Quelle ein russischer Überläufer genannt, der ständigen Zugang zur »Registratur des früheren KGB« gehabt habe. In einer späteren Ausgabe berichtete Focus:

»Die Bundesanwaltschaft überprüft seit einem Monat zahlreiche neue detaillierte Hinweise auf ein bis heute nicht enttarntes Agentennetz des früheren sowjetischen Geheimdienstes KGB in Deutschland. Die Karlsruher Fahnder konzentrieren sich dabei in erster Linie auf Moskauer Quellen, die nach der politischen Wende von den KGB-Nach-folgediensten übernommen und womöglich aktiviert worden sind. Grundlage für die Ermittlungen sind umfangreiche Agentendaten, die ein russischer Überläufer aus dem Moskauer Geheimdienst nach London schmuggelte. Nach intensiver Auswertung übergab der britische Geheimdienst dem Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) in Köln im Frühjahr 1996 alle Informationen über konspirative KGB-Verbindungen in Deutschland.«29

Im Juli 1997 kam es zu einem weiteren Leck in Österreich. Presseberichte zitierten ein KGB-Dokument, das die Weg­beschreibung zu einem geheimen Waffen- und Sprengstofflager mit dem Codenamen GROT enthielt, das 1963 in der Nähe von Salzburg für Sabotage­operationen angelegt worden war.30 Nicht erwähnt wurde, daß das Dokument aus Mitrochins Archiv stammte, dem darüber hinaus zu entnehmen ist, daß der Zugang zu dem Waffenlager 1964 im Zuge von Straßenarbeiten versperrt wurde. Der KGB hatte beschlossen, nicht den Versuch zu unternehmen, es wieder zu öffnen, und als die österreichischen Behörden 1997 versuchten, es aufzuspüren, blieb es unauffindbar. Mitrochins Notizen belegen, daß derartige geheime KGB-Lager mit Waffen und Funkausrüstung, zumeist durch Sprengsätze gesichert, über weite Teile Europas und Nordamerikas verstreut sind.31) 

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Die Pressemeldung, die der Enthüllung von Mitrochins Archiv am nächsten kam, erschien im Juni 1998 wiederum in Focus. In dem Artikel hieß es, ein Oberst der Registratur der Ersten Haupt­verwaltung mit »direktem Zugriff auf alle Dossiers über Moskaus Kundschafter« habe handgeschriebene Kopien aus der KGB-Zentrale geschmuggelt und auf seine Datscha bei Moskau gebracht. 1992 sei er nach Großbritannien übergelaufen, und die auf der Datscha versteckten »brisanten« Notizen seien von SIS-Offizieren nach London geschafft worden. Vier Jahre später habe der SIS im Rahmen einer Operation mit dem Codenamen WEEKEND das BfV über das Deutschland betreffende Material aus dem Archiv informiert: »Der Überläufer präsentierte dem deutschen Verfassungsschutz Hunderte von präzisen Hinweisen auf Moskaus Agentennetz in der Bundesrepublik.« Ein »hoher BfV-Mann« wird mit dem Kommentar zitiert: »Uns wurde ganz mulmig. Moskau besitzt offenbar tonnenweise Erpressungsmaterial.« Das BfV habe neue Hinweise auf 50 Spionagefälle erhalten und zwölf Ermittlungsverfahren eingeleitet.32)

Der Focus-Artikel stieß allerdings verbreitet auf Skepsis, zum einen, weil die Geschichte von einem geheimen KGB-Archiv, das aus einer russischen Datscha herausgeschmuggelt wurde, unglaubhaft klang, und zum anderen, weil das einzige von Focus angeführte Beispiel für die darin gesammelten Informationen die sensationelle Behauptung war, der frühere Bundeskanzler Willy Brandt, »die Ikone der deutschen Sozialdemokratie«, sei während des Zweiten Weltkriegs ein sowjetischer Spion gewesen. Dies wurde von Juri Kobaladse, dem Chef des Pressebüros des SWR, sofort als »völlig absurd« dementiert.

Auf die Frage, wieso der SWR in diesem Fall von seiner üblichen Praxis abweiche, zu solchen Vorwürfen keinen Kommentar abzugeben, antwortete Kobaladse: »Es wäre natürlich sehr schmeichelhaft, einen solch hochrangigen Politiker auf unserer Erfolgsliste zu haben, aber um der historischen Wahrheit willen halten wir es für notwendig, diese Erfindung, die für politische Zwecke mißbraucht werden könnte, zurückzuweisen.« Auch die Vorstellung eines auf der Datscha eines KGB-Obersten gelagerten geheimen Archivs verwies er ins Reich der Legende. Quelle der Brandt-Geschichte könne nur Michail Butkow sein, ein ehemaliger KGB-Major in der Osloer Residentur, der sich 1991 nach Großbritannien abgesetzt hatte.33

Obwohl Kobaladse in bezug auf das geheime Archiv falsch lag, wies er die Behauptung, Brandt habe für die Sowjetunion spioniert, zu Recht zurück. Aus Mitrochins Notizen geht hervor, daß der KGB in der Tat eine Akte über Brandt (POLJARNIK) führte, die belegt, daß er während des Exils in Stockholm der NKWD-Residentur Informationen zukommen ließ.

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Aber in dieser Akte ist auch vermerkt, daß er zugleich mit britischen und amerikanischen Nachrichten­dienst­offizieren in Kontakt stand — ebenso wie mit dem früheren norwegischen Sekretär von Leo Trotzki, der dem NKWD als der größte Verräter in der sowjetischen Geschichte überhaupt galt.34 Brandts Absicht war es, allen drei Mitgliedern der Großen Allianz der Kriegszeit jede Information zukommen zu lassen, die dazu beitragen konnte, Hitlers Niederlage zu beschleunigen. Was die Sowjetunion betraf, so kalkulierte er zutreffend, daß der beste Kommunikations­kanal nach Moskau über die Stockholmer Residentur verlief. Das wirklich Peinliche in der POLJARNIK-Akte ist nicht Brandts Verhalten, sondern das des KGB. Dieser versuchte nämlich 1962, fast sicher mit Zustimmung Chruschtschows, Brandt zur Kooperation zu zwingen, indem er damit drohte, die Beweise über seine Verbindung zur Stockholmer Residentur während des Krieges zu benutzen, um ihm »Unannehmlich­keiten« zu bereiten. Doch der Erpressungsversuch schlug fehl.

Wenngleich von den Medien meist unbemerkt, haben außer dem BfV und der österreichischen Gegen­spionage auch viele andere Geheimdienste überall auf der Welt, von Skandinavien bis Japan, über Jahre hinweg Hinweise aus Mitrochins Archiv verfolgt. In den meisten Fällen führten diese Hinweise nicht zur Strafverfolgung, sondern wurden für die Spionageabwehr genutzt, um ungelöste Fälle abzuschließen und noch in der KGB-Ära begonnene SWR-Operationen zu neutralisieren. Es gab allerdings auch eine Reihe von Verurteilungen, die auf Mitrochins Archiv zurückgingen.

In einem Fall hätte Mitrochin beinah als Zeuge vor Gericht erscheinen müssen. Der Angeklagte war Robert Lipka, der in den sechziger Jahren vom Militär zur National Security Agency (NSA), dem für die Fernmeldeaufklärung zuständigen Geheimdienst der USA, abkommandiert worden war und den Mitrochin als KGB-Agenten enttarnt hatte.35 Im Mai 1993 hatte FBI-Agent Dmitri Droujinsky, als in Washington stationierter GRU-Offizier mit dem Namen Sergei Nikitin getarnt, Kontakt zu Lipka aufgenommen. Lipka beschwerte sich bei ihm, daß man ihm für seine ein Vierteljahrhundert zurückliegende Spionagetätigkeit immer noch Geld schulde, worauf er in den nächsten Monaten insgesamt 10.000 Dollar von »Nikitin« erhielt. Offenbar glaubte er, straf­rechtlich nicht mehr verfolgt werden zu können.

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»Die Verjährungsfrist ist abgelaufen«, sagte er zu »Nikitin«, der ihn jedoch korrigierte: »Nach amerikanischem Recht gibt es für Spionage keine Verjährungsfrist.« Das sei egal, erwiderte Lipka; er werde »niemals irgend etwas gestehen«. Nach längeren FBI-Ermittlungen wurde Lipka im Februar 1996 schließlich in seinem Haus in Millersville, Pennsylvania, verhaftet und angeklagt, Geheim­dokumente an die Sowjetunion weiter­gegeben zu haben.36

Da er aber alle gegen ihn erhobenen Vorwürfe bestritt, erwartete Mitrochin, im Mai 1997 vor dem Bezirksgericht in Philadelphia aussagen zu müssen. Doch dann besann sich Lipka eines anderen und legte ein Geständnis ab. Sein Verteidiger, Ronald F. Kidd, hatte ihn überredet, einen Handel mit der Staatsanwaltschaft zu akzeptieren, der seine Strafe auf achtzehn Jahre Gefängnis mit der Möglichkeit, bei guter Führung vorzeitig entlassen zu werden, begrenzte. Andernfalls hätte er eine lebenslange Haftstrafe gewärtigen müssen. Obwohl Mitrochins Name im Prozeß nicht fiel, waren es offenbar die Beweise aus seinem Archiv, die Lipkas Meinungs­umschwung bewirkten. »Wir haben erkannt, wie schwerwiegend die Beweise waren«, erklärte sein Verteidiger vor Reportern. »Andererseits war der Staatsanwaltschaft klar, daß sie den Prozeß nicht durchziehen konnte, ohne den geheimnis­vollen Zeugen [Mitrochin] zu präsentieren.« Nach Lipkas Verurteilung gab die stellvertretende Staatsanwältin Barbara Cohan zu: »Wir hatten einen sehr heiklen Zeugen, der, wenn er hätte aussagen müssen, hinter einem Wandschirm und unter einem angenommenen Namen ausgesagt hätte, und jetzt müssen wir ihn nicht einmal vorladen.«37

Es gibt noch andere, die bisher wie Lipka glaubten, davongekommen zu sein, und jetzt durch Mitrochins Archiv an ihre Spionage­tätigkeit im Kalten Krieg erinnert werden. Einige von ihnen werden sich auf den folgenden Seiten wiederfinden. Etwa ein Dutzend bedeutende Fälle, in denen derzeit noch ermittelt wird — auch in führenden NATO-Staaten —, können aus rechtlichen Gründen nicht erwähnt werden, da sie noch nicht vor Gericht gekommen sind. Wahrscheinlich wird jedoch nur eine kleine Minderheit der im vorliegenden Buch genannten sowjetischen Agenten strafrechtlich verfolgt werden. Aber der SWR wird sich, während er die umfassendste und intensivste Schadens­bewertung in der russischen Geheimdienst­geschichte vornimmt, nie sicher sein können, ob die von Mitrochin identifizierten Spione inzwischen nicht zu Doppelagenten geworden sind.

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Nach jeder der angeführten Enthüllungen aus Mitrochins Archiv hat der SWR zweifellos die übliche Schadens­bewertungs­prozedur abgespult, um Quelle und Umfang der nach außen gedrungenen Informationen zu ermitteln. Seine offizielle Stellungnahme von 1996 — die noch im Juni 1998 im wesentlichen wiederholt wurde —, in der die Vorstellung, ein Überläufer könnte einem westlichen Nachrichtendienst die Namen von Hunderten sowjetischer Agenten genannt haben, als »blanker Unsinn« abgetan wurde, zeigt, wie weit die Ergebnisse der internen Untersuchungen von der Wahrheit entfernt waren. Erst als 1999 die Veröffentlichung des vorliegenden Buchs angekündigt wurde, begann der SWR zu ahnen, welchen Aderlaß an Nachrichtenmaterial er erlitten hatte.

Einige der von Mitrochin gelesenen Akten geben einen lebendigen Eindruck davon, mit welcher Wut die Zentrale des KGB traditionell auf Lecks reagierte. Als 1974 John Barrons Buch KGB — The Secret Work of Soviet Secret Agents erschien, das auf Informationen sowjetischer Überläufer und westlicher Nachrichten­dienste beruhte, wurden beim KGB nicht weniger als 370 Schadens­bewertungen und andere Berichte verfaßt. Der Washingtoner Resident Michail Polonik (ARDOW) wurde angewiesen, alle verfügbaren Informationen über Barron, der damals Redakteur beim Reader's Digest war, zu beschaffen und Vorschläge zu unterbreiten, wie er zu kompromittieren sei.38 In den meisten der vom KGB ergriffenen »aktiven Maßnahmen« gegen Barron wurde dessen jüdische Herkunft hervorgehoben, aber die Behauptung, er gehöre einer zionistischen Verschwörung an — ein Lieblings­thema der sowjetischen Desinformation —, stieß außer im Nahen Osten auf wenig Resonanz.39

Einfallsreicher waren die aktiven Maßnahmen gegen einige der Journalisten, die Artikel über Barrons Buch geschrieben hatten. So wurden von KGB-Agenten beschaffte Blankoexemplare von »Informationskarten« der österreichischen Staatspolizei benutzt, um österreichische Journalisten zu kompromittieren, denen vorgeworfen wurde, sie hätten Material aus Barrons Buch verwendet, um die »friedliebende« Politik der Sowjetunion zu verunglimpfen. Erfundene Einträge auf den Karten, die Dienst A, die für aktive Maßnahmen zuständige Einheit der Ersten Hauptverwaltung, vornahm, sollten belegen, daß die Staatspolizei glaubte, die Journalisten steckten mit der CIA unter einer Decke. Fotokopien der Karten wurden an die österreichischen Medien verteilt.

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In den von Mitrochin eingesehenen Akten sind aktive Maßnahmen gegen Barrons Buch in so entlegenen Ländern wie der Türkei, Zypern, Libyen, dem Libanon, Ägypten, Iran, Kuwait, Somalia, Uganda, Indien, Sri Lanka und Afghanistan aufgeführt.40

Ebenso große Kopfschmerzen wie Barrons Buch bereitete der Zentrale das 1990 erschienene Buch von Christopher Andrew und Oleg Gordiewski, KGB — Die Geschichte seiner Auslandsoperationen von Lenin bis Gorbatschow, das sich auf KGB-Doku­mente und andere Informationen stützte, die Gordiewski während seiner Tätigkeit als britischer Agent im KGB von 1974 bis 1985 gesammelt hatte.41 Wie zu erwarten, reagierte die Zentrale mit aktiven Maßnahmen gegen das Buch und seine Autoren.42  

Die Reaktion des KGB im allgemeinen und seines Vorsitzenden Krjutschkow im besonderen wies allerdings auch einen wichtigen neuen Aspekt auf. In einem streng geheimen Befehl vom September 1990 betonte der KGB-Vorsitzende die Bedeutung von Beeinflussungs­operationen und anderen aktiven Maßnahmen, die »eine der wichtigsten Aufgaben des Auslands­nachrichtendienstes des KGB« darstellten, und forderte dazu auf, »regeren Gebrauch von Archivmaterial« zu machen, um der Öffentlichkeit ein positives Bild des KGB und »seiner berühmteren Fälle« zu vermitteln.43

Der erste westliche Autor, dem im Rahmen dieser Imagekampagne Material aus dem KGB-Archiv angeboten wurde, war der rührige John Costello, ein freiberuflicher britischer Historiker, der ein feines Gespür für die Forschung mit einer Vorliebe für Verschwörungs­theorien verband.44  1991 veröffentlichte er unter dem Titel Ten Days to Destiny ein Buch über den mysteriösen Englandflug des Hitler-Stellvertreters Rudolf Heß, in dem er sowohl vom SWR ausgewählte KGB-Akten als auch westliche Quellen auswertete. Seine These, Schlüssel der ganzen Affäre sei ein Komplott des britischen Geheimdienstes, wurde allerdings von den meisten Fachleuten als unwahrscheinlich abgelehnt.

Zwei Jahre darauf schrieb er zusammen mit dem SWR-Berater und früheren Offizier der Ersten Haupt­verwaltung Oleg Zarew eine weit weniger umstrittene Biographie des sowjetischen Nachrichten­dienstoffiziers und Überläufers Alexander Orlow, das im Klappentext als das »erste Buch aus KGB-Archiven« bezeichnet wurde. Es enthält eine Danksagung an den vormaligen KGB-Vorsitzenden Krjutschkow und den letzten Leiter der Ersten Hauptverwaltung, Leonid Schebarschin, für die Anregung zu dem Projekt. Costello fügte einen »persönlichen Dank« an den SWR hinzu — »für die durchgängige Unterstützung dieses Projekts, mit der sie einen neuen Präzedenzfall für Offenheit und Objektivität in der Erforschung der Geheimdienste geschaffen haben«.45

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Die Zusammenarbeit zwischen Costello und Zarew diente als Vorbild für weitere Kooperationen zwischen jeweils einem vom SWR ausgewählten russischen und einem westlichen Autor — ein Projekt, das ursprünglich vom New Yorker Verlag Crown Books gefördert, dann aber aufgegeben wurde. Für jedes Buch der Reihe, die Themen aus der Periode von der Zwischen­kriegszeit bis zur Frühphase des Kalten Krieges behandelt, hat der SWR den Autoren exklusiven Zugang zu von ihm ausgewählten streng geheimen Dokumenten aus dem KGB-Archiv gewährt. Alle bisher erschienenen Bände enthalten interessantes und gelegentlich bedeutsames neues Material; manche beeindrucken darüber hinaus durch ihre historische Analyse.

Ihre Hauptschwäche, an der die Autoren keine Schuld tragen, besteht jedoch darin, daß die Dokumente nicht von ihnen, sondern vom SWR ausgewählt wurden, und das mitunter in höchst selektiver Art und Weise. So hat der SWR verschiedenen russischen und westlichen Autoren nacheinander vier unterschiedliche Teile der umfangreichen KGB-Akte über den berühmtesten britischen KGB-Agenten, Kim Philby, zur Verfügung gestellt. Um sowohl Philbys heroisches Image als auch das Ansehen des russischen Nachrichtendienstes zu wahren, hat der SWR darauf geachtet, keine Akten aus Phiibys letzten Wochen als Chef der SIS-Station in den Vereinigten Staaten (dem Höhepunkt seiner Laufbahn als sowjetischer Spion) freizugeben, in denen für ihn bestimmte Gelder und Instruktionen verschwanden und er sich mit seinem inkompetenten Führungsoffizier, der schließlich in Ungnade nach Moskau zurückbeordert wurde, überwarf. Mitrochins Notizen über jene Teile der Philby-Akte, die der SWR immer noch als für die Veröffentlichung ungeeignet betrachtet, machen diese possenhafte Episode erstmals bekannt.46

 

Der SWR hat sogar die Existenz mancher Akten öffentlich geleugnet, die er als peinlich empfand. Als das amerikanisch-russische Autorenteam einer Geschichte der Konfrontation von KGB und CIA in Berlin in der Zeit bis zum Mauerbau, die teilweise auf vom SWR ausgewählten Dokumenten beruht, um Einsicht in die Akte des KGB-Agenten Alexander Kopazky, alias Igor Orlow, bat, behauptete der SWR, die einzige Akte über »Igor Orlow« betreffe einen Besuch, den er 1965 der sowjetischen Botschaft in Washington abgestattet habe, um sich nach der Möglichkeit zu erkundigen, in der Sowjetunion Asyl zu erhalten.

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Bei dieser Gelegenheit habe er erzählt, das FBI habe versucht, ihn zu dem Geständnis zu bewegen, »daß er in den vierziger und fünfziger Jahren in Deutschland mit dem sowjetischen Nachrichten­dienst zusammen­gearbeitet habe«. Trotz dieses Dementis war Kopazky einer der angesehensten Agenten des KGB. Wie aus seiner angeblich nicht vorhandenen KGB-Akte, die Mitrochin gelesen hat, hervorgeht, waren im Lauf der Zeit nicht weniger als 23 Führungs­offiziere für ihn zuständig.47

Neben den für die Publikation im Westen bestimmten historischen Gemeinschaftswerken verfertigte der SWR auch mehrere weniger anspruchsvolle Bücher für den russischen Markt. 1995 gab er aus Anlaß des 75. Jahrestages der Gründung des sowjetischen Auslandsnachrichtendienstes, als dessen Erbe er sich versteht, einen Band mit Lebensbildern von 75 Nachrichten­dienstoffizieren — allesamt, wie es scheint, sans peur et sans reproche — heraus, die sich kaum von den unkritischen Hagiographien der KGB-Ära unterscheiden.48

Zwei Jahre später begann der SWR mit der Publikation einer vielbändigen Geschichte der Auslands­operationen des KGB, deren jüngster, 1997 erschienener Band die Zeit bis zum Beginn des Großen Vaterländischen Krieges umfaßt.49 Obwohl das Werk eine Fülle zumeist verläßlicher Informationen enthält, präsentiert es eine selektive und geschönte Darstellung der Geschichte des sowjetischen Nachrichtendienstes. Außerdem konserviert es, wenn auch in gemäßigter Form, einige der traditionellen Verschwörungstheorien des KGB. Sein literarischer Herausgeber, Lolly Samoiski, war früher ein hochrangiger Analytiker der Ersten Hauptverwaltung, der in der Zentrale und den ausländischen Residenturen für seinen Glauben an eine weltweite »freimaurerisch-zionistische Verschwörung« bekannt war.50  1989 veröffentlichte er ein Pamphlet mit dem großspurigen Titel Behind the Facade of the Masonic Temple, in dem er den Freimaurern unter anderem die Schuld am Ausbruch des Kalten Krieges anlastet.51) 

Absicht der vom SWR jeweils getroffenen Auswahl von Themen und Dokumenten für die historische Darstellung vergangener Operationen ist es, den sowjetischen Nachrichtendienst als pflichtbewußten, professionell arbeitenden Geheimdienst erscheinen zu lassen, der dieselben Aufgaben wie seine westlichen Pendants erfüllte, aber den Wettstreit mit Ihnen in den meisten Fällen für sich entschied.52  Sogar unter Stalin scheint er, aus dieser Perspektive gesehen, weniger Täter als Opfer des Terrors gewesen zu sein,53 obwohl Ende der dreißiger Jahre die Jagd auf »Volksfeinde« im Ausland zu seiner Hauptaufgabe wurde.

Auf ähnliche Weise versucht der SWR, die Operationen des Auslands­nachrichtendienstes im Kalten Krieg von der Verletzung der Menschenrechte durch den KGB im Inneren zu trennen. Tatsächlich aber wurde der Kampf gegen die »ideologische Subversion« im In- und Ausland sorgfältig koordiniert. Der KGB spielte bei der Unterdrückung des ungarischen Aufstands 1956, bei der Zerschlagung des Prager Frühlings 1968, bei der Invasion Afghanistans 1979 ebenso eine Hauptrolle wie 1981, als das polnische Regime gedrängt wurde, die Gewerkschaft Solidarnosc auszuschalten. Eng mit der Verfolgung von Dissidenten innerhalb der Sowjetunion verknüpft waren die sogenannten PROGRESS-Operationen der Ersten Haupt­verwaltung gegen Dissidenten in den anderen Ländern des Ostblocks und die ständige Belästigung derjenigen, die im Westen Zuflucht gesucht hatten. Mitte der siebziger Jahre wurde der Kampf gegen die ideologische Subversion sogar auf führende westliche Kommunisten ausgedehnt, die nach Ansicht Moskaus von der eigenen harten Linie abgewichen waren.

Über diese und viele andere Operationen enthält Mitrochins Archiv sehr viel Material aus KGB-Akten, die der SWR immer noch vor der Öffentlichkeit geheimhalten möchte. Im Unterschied zu den vom SWR freigegebenen Dokumenten, von denen das jüngste aus den frühen sechziger Jahren stammt, umfassen Mitrochins Notizen fast den gesamten Kalten Krieg. Der größte Teil des Materials, auf dem sie beruhen, unterliegt in Moskau weiterhin der Geheimhaltung. Manche der Original­dokumente, die Mitrochin gelesen hat, existieren möglicherweise nicht mehr. So wurde 1989 der größte Teil der umfangreichen Akte über Andrej Sacharow, der von Andropow einst als »Staatsfeind Nummer eins« betrachtet worden war, vernichtet. Wenig später gab Krjutschkow bekannt, daß sämtliche Akten über Dissidenten, die nach dem berüchtigten Artikel 70 des Strafgesetzbuchs (anti­sowjetische Agitation und Propaganda) angeklagt worden waren, dem Reißwolf übergeben würden.  

Insofern hat Mitrochin, um Costellos Lob für Krjutschkow und seine SWR-Nachfolger von 1993 aufzugreifen, einen »neuen Präzedenzfall für Offenheit und Objektivität beim Studium der Nachrichten­dienst­geschichte« geschaffen, den vermutlich keiner von ihnen für möglich gehalten hat.

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