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16. Schule und Gesellschaft 

 

Ruben Ardila 1979

 

 

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Ich pflegte weiterhin meine Freundschaft mit Felipe, der mich wegen meiner Freundschaft mit seiner Mutter "Onkel" nannte. Wir gingen viel spazieren, besuchten die Familien seiner Freunde, Schulen und Ausbildungszentren für Ersatzmütter.

Ein Kind kann uns lehren, die Welt in einer ganz neuen Dimension zu sehen, es läßt uns in die Kindheit zurückkehren, aber diese Kindheit war nicht mehr dieselbe wie vordem.  

Jetzt gab es weniger Frustrationen, weniger Kummer, weniger Groll. Die Kinder waren gesünder und glücklicher, sie hatten weniger Schuldgefühle. Es gab nur noch wenige Fälle von Eltern, die ihre Kinder mißhandelten oder sie mißbrauchten, es gab weniger Kinderselbstmorde, weniger Haß und Neid. Wir hofften, daß diese negativen Erscheinungen und Emotionen bald ganz verschwunden sein würden. Die Kinder brannten auch nicht mehr von zu Hause durch, wie sie es noch zu meiner Zeit getan hatten. Felipe und seine kleinen Freunde waren allerdings nicht in der Neuen Ära geboren worden, die ja erst vor vier Jahren begonnen hatte, weshalb zweifellos Spuren des alten Systems blieben. Aber es würde sicher der Tag kommen, an dem alles neu, alles besser wäre. Wenn der letzte Mensch aus der Alten Ära gestorben war, wenn wir alle gestorben waren...

Eines Nachmittags waren Felipe und ich in seiner Schule, weil es mich interessierte, mal zu sehen, wie eine solche Institution funktioniert, wenn ich ausnahmsweise nicht als Besucherführer und Fragenbeantworter herhalten mußte, sondern selbst Besucher und Fragensteller war. Das machte viel mehr Spaß. Man konnte alles mögliche fragen; verglichen mit meiner Rolle in der "Nationalen Planung", in der ich derjenige war, der für so viele Dinge Antworten und Lösungsvorschläge geben mußte, verglichen damit war das die reinste Erholung.

Die Schule von Felipe war weitläufig und voller Gärten. Sie lag am Stadtrand und ähnelte eher einem Ferienheim denn einer Schule. In gewisser Weise erinnerte sie mich an das Walden Zwei von Skinner.   Skinner bei detopia-2021 

Aber sie hatte auch Ähnlichkeit mit einem dieser Pionierlager, die es in der Sowjetunion gab. Als ich die Lehrerin darauf ansprach, antwortete sie:

"Die wichtigste Ähnlichkeit bezieht sich wohl auf den Einfluß, den die Kinder ganz allgemein für das 'Management' der Schule, beim Treffen von Entscheidungen und bei der Aufrechterhaltung der Disziplin haben. Genau wie in der sowjetrussischen Erziehung gibt es hier Kinderräte, die die anderen Kinder beurteilen, Belohnungen verteilen und Strafen auferlegen. Natürlich keine körperlichen Strafen, sondern vor allem solche vom Typ 'Verstärkerentzug' (also kontingenter Entzug einer bestimmten Anzahl oder Menge von Verstärkern bei unerwünschten Reaktionen). — Die Kinder diskutieren mit den Lehrern und Direktoren die Lehrpläne, passen auf, daß die Disziplin gewahrt bleibt und organisieren auch curriculare und außercurriculare Aktivitäten, zum Beispiel Exkursionen zur Beobachtung von Tieren im Gebirge oder sportliche Wettkämpfe."

"Das würde ich gerne in der Praxis sehen. Läßt sich das machen?"
"Ja, aber erst ein bißchen später. Im Augenblick trifft sich gerade der Kinderrat der Fünftklässler, aber ich denke, daß wir später hineingehen können."
"Und was ist mit der 'formalen' Erziehung? Den Unterrichtsinhalten?"

"Hier schätzen wir die personale und ganzheitliche Entwicklung des Individuums, seine Verhaltensnormen und seine Gefühle ebenso hoch ein wie formale Kenntnisse. Um letzteres zu erreichen, arbeiten wir mit den verschiedensten erziehungstechnologischen Hilfsmitteln, mit Filmen, sogenannten Lernmaschinen und so weiter; meist konstruieren wir selbst in der Schule audio-visuelle Hilfen, bauen Aquarien, Terrarien, oder stellen Münzsammlungen und Wandkarten zusammen. Alles, was man hier machen kann, machen wir uns selbst. — Filme, Unterrichtseinheiten und andere Sachen, die schwer herzustellen sind, besorgt uns die Regierung."

"Die Schule macht einen wohlhabenden und blühenden Eindruck."

"Das sind alle Schulen. Es gibt eine Menge großer Säle und Gärten, überall ist viel freier Raum, viel Platz. Die Kinder sind daher viel an der frischen Luft, unter freiem Himmel. Wir legen großen Wert auf eine ganzheitliche Erziehung, auf die Schulung der sprachlichen Ausdrucksfähigkeit, die Formung der interpersonellen Beziehungen, auf die Förderung angemessener emotioneller Verhaltensweisen. Wichtig ist, daß das Kind sich 'sozialisiert', und wir sagen noch lieber, daß es sich 'humanisiert'. Die Schule wirkt in Einklang mit der Familie, der Gemeinschaft, der Arbeitswelt. Die Eltern kommen häufig hierher und wir besuchen sie zu Hause. Wir wollen, daß die Kinder aktiv am Leben der Erwachsenen teilhaben, daß sie schon früh die Rollen erlernen, die sie später ausüben werden, und daß sie sich schon früh in die Arbeitswelt einleben."

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"Jemand hat einmal gesagt, daß in der gegenwärtigen Gesellschaft die Kinder eigentlich völlig unnütz sind."

"Das war früher so. Die Schule war eines der Hauptelemente für die Entfremdung des Menschen. Heute ist sie das nicht mehr. Die Schulen waren früher Burgen der Sauberkeit, der Ordnung und der Langeweile, wie ein berühmter Erzieher einmal formuliert hat. Heute sind sie nicht mehr so sauber, nicht mehr so ordentlich — aber auch ganz bestimmt nicht mehr so langweilig."

"Sicherlich. Aber die formale Erziehung ist doch immer noch ziemlich rigide und sehr systematisch, nicht wahr? Man bedient sich heute, nach dem, was ich weiß, vor allem der Programmierten Instruktion, um den Lernstoff einprägen zu lassen und um Ablenkungen und Wissenslücken zu vermeiden."

"Ja, die Programmierte Instruktion, das Lernen über kleine und kleinste Wissenselemente, funktioniert ganz gut. Die Lernziele sind klar und präzise definiert und die einzelnen programmierten Schritte auf das vorhandene Wissensniveau des Schülers und seine Lernkapazität genau abgestimmt. Die Lerneinheiten, die kleinen Schritte, sind hierarchisch aufgebaut und bilden so ein schulisches Curriculum, einen Lehrplan neuen Stils.

Der Lernstoff kommt fertig programmiert, als 'Erziehungspaket' oder ,Lernpaket' hier an. Aber es wäre falsch anzunehmen, daß irgend jemand etwas gelehrt bekäme, ohne daß man ihm die Gründe dafür erklärte, ihm also die Funktion dieses Stoffes für die Erziehung klarmachte; und dazu gehört auch, daß der gesamte Lehrstoff intellektuelle, körperliche, emotionale und soziale Elemente und Faktoren enthält. Zum Beispiel messen wir der sportlichen Betätigung eine sehr große Bedeutung bei. (Bestimmt wird sich das auf lange Sicht so auswirken, daß unser Land sehr gute Sportler bekommen wird.)"

Oder Menschen, die körperlich gesund, fit sind, dachte ich. Sport ist eine wichtige Sache, da im Sinne einer ganzheitlichen Entwicklung des Menschen die Erkenntnis wichtig ist, daß wir auch den Körper fördern, aufbauen, schützen müssen, weil er schließlich das physiologische Substrat allen Verhaltens ist. Aber deswegen mußte man nicht unbedingt davon überzeugt sein, daß unser kleines Land eines Tages Weltmeister in irgendeiner Sportart aufweisen würde ... Da gab es doch noch ein ganz schönes Stückchen Wegs zurückzulegen, und nicht zuletzt so manche anderen Sachen, die Priorität hatten.

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"Wir glauben fest an die Selbsterziehung", fuhr die Lehrerin fort (eine sehr attraktive Frau von ungefähr 25 Jahren), "wir sind der Auffassung, daß in Wirklichkeit niemand irgend jemanden etwas lehrt. Wir müssen dahin kommen, daß man das Lernen lernt. Diese Selbsterziehung auf allen Ebenen ist das Ziel unserer Schule, der Schule überhaupt. Es ist eigentlich eine Selbsterziehung zur Freiheit."

"Zur Freiheit? Aber das ist doch alles sehr geplant, und es wird, wie schon so oft gesagt wurde, nichts dem Zufall überlassen. Die Operante Konditionierung .interessiert' sich schließlich vor allem für die Kontrolle des Verhaltens, nicht für die Freiheit — aber dies ist vermutlich sowieso nur ein sprachliches Problem und ein Ballast, der unserer Kultur von früheren Epochen vererbt worden ist. Die Freiheit ist ein Mythos. Je mehr man darüber nachdenkt, um so klarer wird einem das. Wie können Sie da behaupten, daß wir Männer und Frauen zur Freiheit hin erziehen und unterrichten?"

"Nun, weil sie viele Entscheidungen selbst treffen. Weil sie die Konsequenzen kennen, die ihre Handlungen nach sich ziehen. Sie wissen, daß die Dinge, die sie tun, Auswirkungen haben, Ergebnisse mit sich bringen, also zu irgend etwas führen. Sie wissen, daß eine Handlung, eine Verhaltensweise nicht für sich allein quasi im Vakuum existiert, sondern daß sie immer eine Vorgeschichte hat, ein Umfeld — und: Folgen. Und diese Folgen oder Konsequenzen des gezeigten Verhaltens bewirken wiederum etwas, sie wirken sich dahingehend aus, daß dieses Verhalten häufiger oder weniger häufig in Zukunft auftritt. Die positiven Konsequenzen dahingehend, daß..."

"Ja, ja", unterbrach sie Felipe, der gerade aus dem Garten kam und eine Rose für die Lehrerin brachte, "wollen wir nicht lieber hineingehen? Ich möchte sehen, was beim Kinderrat der Fünftklässler los ist."

Der "Kinderrat" war dazu da, die Leistungen und das Verhalten der Klassengemeinschaft zu überprüfen, einschließlich der Schulnoten, der Kameradschaftlichkeit, des moralischen Entwicklungsstandes, der Kreativität, der sportlichen Aktivitäten und des Gruppengeistes. — Alles Dinge, die sehr schwer zu messen und zu operationalisieren sind, dachte ich. Alles sehr mentalistisch und multivariat ... Außerdem, was wußten denn diese Kinder schon über die Ziele der Neuen Ära, was wußten sie denn darüber, was gut oder schlecht für den Menschen war?

"Sind Sie verheiratet?" fragte ich die Lehrerin, obwohl das eigentlich nicht hierhin gehörte. "Sie wissen viel über Kinder, aber Sie sind doch noch recht jung."

"Ja, ich bin verheiratet. Ich habe zwei Kinder, die im Kindergarten sind. Hier arbeite ich halbtags und habe dann den Rest des Tages Zeit für meine Kinder und meinen Mann."

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Es gab also doch noch 'traditionelle' Familien mit Vater, Mutter und Kindern. Und Frauen, die für ihren Mann und ihre Kinder sorgten. Wie wunderbar! Hoffentlich ging das nie verloren. Ich hatte schon gedacht, daß bei so vielen Veränderungen der familiären Struktur die traditionellen Paare und Familien völlig verschwunden wären.

Der "Kinderrat" saß gerade "zu Gericht" über einen kleinen Kameraden, der mehrere Tage die Schule geschwänzt und einen wichtigen Lernschritt in Mathematik versäumt hatte, der sich zwischen das Vorangegangene und den nachfolgenden Schritt einfügte, so daß es für ihn sehr schwierig sein würde, auf den Stand seiner Kameraden zu kommen. Es gab Belohnungen und Strafen (wie schon erwähnt vom Typ des Verstärkerentzuges), und zwar für Gruppen und für einzelne Individuen. Im vorliegenden Fall würde das Verhalten dieses kleinen "Faulpelzes" darauf hinauslaufen, daß das Lernniveau aller Kameraden, also der Gruppe, beeinträchtigt würde. Die Strafe würde auf die Gruppe zurückfallen. Das war natürlich schlimm und hieß konkret, daß die Klasse am nächsten Tag "F" die geplante Ornithologie-Exkursion nicht würde durchführen können, auf der man eigentlich die typischen Nestbauweisen der Tropenvögel hatte beobachten wollen. Das war eine Sache, die sie brennend interessierte; aber wenn der Gruppen-Punktwert erheblich fiel, durften sie die Exkursion eben nicht machen. — Die ganze Gruppe litt somit unter den aversiven, also nachteiligen Konsequenzen eines einzigen Schulkindes, das es vorgezogen hatte, an den Wochentagen spazierenzugehen, anstatt am Mathematik-Unterricht teilzunehmen.

"Siehst du ein, daß du mit deinem schlechten, unangepaßten Verhalten all deinen Kameraden großen Schaden zugefügt hast?" fragte mit einer gewissen Feierlichkeit der Gruppenführer, ein zwölfjähriger Junge, der für sein Alter einen ernsten Blick hatte und überhaupt einen reifen Eindruck machte.

Der "Angeklagte" gab keine Antwort, nickte aber bejahend mit dem Kopf.
"Und hältst du das für richtig?"
Es folgte eine verneinende Antwort, wiederum mit dem Kopf.
"Nun gut, was schlägst du nun vor? Welche Lösung hast du für unser Problem?"

"Ich werde mehr lernen und die Mathematikprüfung wiederholen", sagte der "Angeklagte" mit stockender Stimme. "Wenn zwei von euch mir helfen, könnte ich mich darauf vorbereiten und nächste Woche die Prüfung ablegen. Dann könnten wir alle am darauffolgenden Tag ,F' auf die Ornithologieexkursion gehen."

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"Sehr gut. Wer von euch möchte unserem Mitschüler in Mathematik helfen? Ich brauche zwei Freiwillige, die mit ihm in der Freizeit die Additionstheorie wiederholen, damit er die verlorene Zeit wiedergutmachen kann."

Zwei Mädchen hoben fast gleichzeitig die Hand; sie erhielten den Auftrag, ihrem Kameraden in Mathematik Nachhilfeunterricht zu geben.

"So läuft alles hier", erklärte mir die Lehrerin, "die Probleme mit der Disziplin sind alle auf der Gruppenebene lösbar und die Kinder nehmen das auch sehr ernst. Sicher wird der Tag kommen, an dem es überhaupt keine Disziplinschwierigkeiten mehr gibt, weil alle so gut konditioniert sind, daß keiner mehr einfach bummeln geht, anstatt Mathematik zu lernen. Aber ;., noch ist dieser Tag nicht gekommen."

"Ich befürchte nur, daß diese öffentliche 'Gerichtsverhandlung', diese Kontrolle seitens der Kameraden, eine peinliche Situation für den 'Angeklagten' produziert und unnötige Schuldgefühle schafft."

"Das weiß ich nicht, aber auf alle Fälle sollte das auch Gegenstand einer Evaluation, einer Überprüfung sein. Das sollten wir in der Meditationszeit am Jahresende machen. Nichts darf fest fixiert, ein für allemal unveränderbar sein. All das ist schließlich Wissenschaft und deshalb auch Gegenstand von Irrtum und Verbesserung. — Schuldgefühle bei Kindern zu erzeugen, ist etwas, das man um jeden Preis vermeiden will; wir wollen ja im Gegenteil glückliche und kreative Kinder haben, — Kinder, die ihre Gefühle ausdrücken und soziale Beziehungen aufbauen. Wir wollen, daß sie selber die Wissenschaft entdecken, statt sie mechanisch mit Hilfe irgendeiner Lernmaschine zu erlernen."

"Eine Mischung also aus Montessori-Methode und Operanter Konditionierung. Glauben Sie, daß das funktioniert?"

"Ja, das glaube ich. Allerdings steht die endgültige Überprüfung, die Evaluation, noch aus. — Ich habe übrigens vergessen, ein System der Sozialisation — oder <Humanisation> — zu erwähnen, das auch ein Werk dieser Kinder ist und sich als sehr effizient erwiesen hat. Wenn ein Kind das erste Mal in die Schule kommt, wird es von einer Gruppe 'adoptiert', und man zeigt ihm alle formellen und informellen Regeln und Normen dieser Institution. Die älteren Kinder bringen die jüngeren in die Schule und bringen sie auch wieder nach Hause, spielen mit ihnen in der Schule und nach Schulschluß und lehren sie die sozialen Normen ebenso wie neue Spiele. 

Sie führen sie in die Welt der Erwachsenen und der Arbeit ein. Häufig ist folgender Fall, daß eine Gruppe älterer Kinder, sagen wir aus der 4. Klasse, sich eines <I-Männchens> aus der 1. Klasse annimmt, es 'adoptiert'. Sie benehmen sich wie ältere Geschwister; und sie leisten eine enorm wichtige Arbeit damit. Dieses System ist in der Tat schon überprüft worden und seine Wirksamkeit ist erwiesen. Es stellt eine Innovation im Erziehungsbereich dar, die weitreichende Folgen, Implikationen hat. Sie wissen doch: <Niemand ist eine Insel>. Und die Menschen, die für das Leben eines anderen Menschen die größte Bedeutung haben, sind die, die ihm am ähnlichsten sind: in diesem Fall also die Kinder für die anderen Kinder. 

Erziehen, das müssen die Kameraden, die Altersgenossen, und nicht die Lehrer. Niemand kann einen anderen erziehen, aber die Mitschüler und Gleich­altrigen können viel dabei helfen, daß jedes Kind sich selbst erzieht."

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