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5.7  Opfer des Psychobooms 

 Bach/Molter 1976 

  5.8   5.9   5.10

 

166-188

Innerhalb des <Psychobooms> gibt es seit einigen Jahren — neben den Klienten seriöser Gruppen- und Einzeltherapien — ruhelose Opfer: es sind der <therapeutische Swinger> und der <Therapiesüchtige> — nur noch ein Schatten ihrer ehemaligen Person und dem Selbst­verwirklichungs­ideal der humanistischen Psychologie. Ihre Erfahrung ist Therapie-Erfahrung, ihre Welt ist die Therapie-Welt.  

Sie haben in den Gruppen <feeling> und Anfassen seriell probiert, urgeschrien und immer wieder aus sich herausgebrüllt, sie haben (therapeutische?) Methoden in ihr Leben gebracht. Die Gruppenerfahrung mit ihren Möglichkeiten der Erweiterung von Selbst- und Fremdwahrnehmung, der Ausdehnung auf Körperbezogenheit, nonverbale Kommunikation und Aktivität haben sie nicht in ihr Leben integriert, sondern ihr Leben hat sich in therapeutische Einstellungen aufgelöst. Seit sie den Gruppenerfahrungen kopflos verfallen sind, treiben sie sich herum. Sie schreiten jetzt alle Wege zum Reich der Freiheit therapeutisch ab — bis sie die ganze Welt auf einmal umarmen können.141

So strukturieren sie ihr Leben, sie versuchen, die Lebenslüge zu durchstoßen, um gruppenbezogenen Zugang zur Welt zu finden. Sie haben gelernt, aus dem Kino schreiend herauszulaufen oder vor der Verrichtung der Notdurft urzuschreien, wenn es ihnen <kommt>. Sie behaupten von sich, sie seien total frei, dabei spüren sie Schritt für Schritt die Zwänge im Alltagsleben. Sie haben noch jeweils — entsprechend der jeweiligen Richtung, auf der sie <stehen> — kleine Abhängigkeiten. 

Eine Patientin an Janovs Primär-Institut-Los-Angeles, berichtet von dem <Therapieablösungsbehälter>, der <Primal Box>, für den ehemaligen Primär-Institut-Klienten.(142) 

»Eine Primal-Box ist eine Riesenbox, fast wie ein kleines Zimmer, also eine große Kiste; die ist völlig solide aus Holz, an allen Seiten mit sehr dickem Schaumgummi gepolstert, überzogen mit wasserdichtem Material, etwa zwei Lautsprecher drin, eine Klimaanlage und ein kleines düsteres Lämpchen; mit anderen Worten: wenn du dich unsicher fühlst, einen Riesenprimal (Urschrei­erlebnis) in einer Wohnung zu haben, z.B. wo dich Nachbarn hören können — es ist mitten in der Nacht, du willst deine Nachbarn nicht wecken —, gehst du in die Box, hast deinen Wutanfall oder deinen Schluchzanfall oder hörst Musik, bis du ganz sanft in einen <Primal> gewiegt wirst. 

Es ist etwas ganz Großartiges. Es ist ein bißchen wie ein Entwöhnungsstück vom Institut. Am Anfang kannst du nirgends fühlen. Ich war ganz verkrampft und mußte ein Taxi zum Institut nehmen, mitten aus einem Film heraus, damit ich mein Gefühl haben kann. Und nach einer Weile weiß ich: ich kann nach Hause gehen, ich hab meine Box. Und der nächste Schritt ist natürlich, schöne Gefühle zu haben, wo immer man ist, wer immer auch zuschaut, wenn das noch so furchtbar peinlich ist, einfach loszulassen. Ich glaube, das ist für mich das Ende von Therapie im Sinne von aktiver Therapie. Ich brauche keine Therapeuten mehr, ich brauche die ganze Struktur nicht mehr. Ich bin meinen Gefühlen nahe genug, mitten in einem Film oder mitten auf einer Party zu brüllen, loszufluchen, loszu.... — ich weiß nicht was. 

Nach der Therapie sind die Leute ja noch lange nicht geheilt, jeder glaubt, nach seinen 6000 Dollar, die er Janov bezahlt hat, ist er o.k., und das stimmt natürlich gar nicht. Das Buch sagt, zwischen 6 und 8 Monaten ist man völlig befreit und glücklich und für 6000 kann man sein Ur-Ego ausformen — das stimmt nicht. Ich hab mindestens in der Zwischenzeit 1000 oder 1500 Dollar bar bezahlt, nachdem ich keine festen Gruppenstunden mehr hatte.«

Durch solche Therapieformen verfallen die Klienten der Illusion, sie seien, wenn sie eine Lügenmauer durchbrochen haben, schon im Reich der Freiheit und Wahrheit. Sie schließen sich hermetisch im künst­lichen Freiraum ihrer Therapiewelt ab, werden auf ganz unpolitische Weise anarchistisch, drehen sich nur um ihre Bedürfnisse und Scheinbedürfnisse, sind nicht kreativ in der Auseinandersetzung mit sozialer Wirklichkeit, sie verstehen nur noch das ganz Private und haben sich darin eingerichtet.

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Fragestellungen darüber hinaus verstehen sie nicht mehr. Sie haben sich ganz auf den jeweiligen Therapeuten oder die Gruppe eingelassen. In der Regel waren Therapeuten und Gruppe die ersten, die ihnen einmal intensiv zuhörten. Sie gaben gerne ihr Geld und kauften den Therapeuten, weil bei ihm alles so einfach schien. Doch dann merkten sie, wenn der Therapeut sein Geschäft mit ihnen gemacht hatte, daß die Therapie viel teurer wird, als Bücher und Werbe­prospekte versprechen. Sie wandern enttäuscht zur nächsten Therapie oder werden Abhängige eines Therapiekonzeptes, indem sie es immer wieder versuchen, in der Meinung, nicht hart genug an sich gearbeitet zu haben. 

Die schon erwähnte Primärpatientin, die zum Zeitpunkt des Interviews schon zweieinhalb Jahre in Primärtherapie war, berichtet von Mitpatienten, die sie schlichtweg als »Institutsabhängige« bezeichnet:143

»Ich nenne sie <Primal-Addicts>, das sind Leute, die schon 4 oder 5 Jahre im Institut sind und jeden Tag hingehen, und die scheißen nicht, ohne vorher ein Gefühl zu haben über ihre Mutti, und die werden nie davon wegkommen. Das Großartige am Institut ist, daß das Institut es gemerkt hat. Nach 4 oder 5 Jahren sagen sie: <Was machst du eigentlich noch hier?> Sie haben diesen Leuten verboten, ins Institut zu kommen. Sie haben gesagt: <Wir müssen dich gewaltsam auf deine eigenen zwei Füße stellen, weil du noch süchtiger geworden bist.> 
Ich kenne eine Frau, die ist im Institut jeden Tag. Am Morgen geht sie hin, um zu brüllen, und am Nachmittag geht sie ein bißchen hin. Die macht nichts. Sie arbeitet nicht, sie ist ständig in ihren Muttergefühlen. Solchen Leuten ist nicht zu helfen, und wenn du von Elite sprichst, tatsächlich gibt es nur eine Handvoll, die wirklich den vollen Genuß aus der Therapie ziehen können.« 

Die Gruppen haben etwas in ihnen in Bewegung gebracht, wodurch sie sich aus ihren ehemaligen Sozialverhältnissen gelöst haben. Aber sie regredieren auf infantile Bedürfnismuster, suchen für jede Perspektive und jeden neuen Schritt einen Therapeuten, werden Abhängige eines Institutes, der Urschreikiste usw. 

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Sie schwanken ständig zwischen übermenschlicher Kraft und tiefer Depression, neuer Lebensfreude und Verrücktwerden, totalem Glück und Selbstmord­absichten. Sie haben an die Stelle ihrer anerzogenen bürgerlichen Ideale vorübergehend die von den Therapieschulen und ihren »Sekten« propagierten Ideologien gesetzt, aus ihrer Suggestivkraft suchen sie Gewinn für ihr Leben zu ziehen. Aber sie sind zum Teil ausgebeutete, regredierte Anhängsel omnipotenter und narzißtischer Therapeuten bzw. ihrer Institute. Sie lernen nicht für ihr Alltagsleben. Sie leiten eine neue Fehlsozialisation künstlich ein, weil es ihnen nicht gelingt, die Narben ihrer Sozialisation künstlich zu verändern.

Unsere Augenzeugin der Primärtherapie, eine junge Schweizerin, berichtet über ihre eigene Erfahrung, ihr ist der Urschrei nicht genug, sie sucht weiter:

»Wie ich anfänglich den Urschrei gelesen habe, war ich überzeugt, daß das das Ende meiner Probleme sein würde, das ist es, ich muß es haben, sonst sterbe ich. Ich hab's gehabt, ich bin nicht gestorben, und jetzt hab ich bemerkt, und das hab ich schon sehr lange hier bemerkt, daß die Therapie für mich ein Augen- und ein Seelenöffner war. Aber ich hab in einer geschlossenen Welt gelebt, und jetzt komm ich heraus.
Jetzt bin ich heraus. Da ist eine ganze Welt von Sachen, die ich überhaupt noch nie gesehen habe. Wenn man die Augen sehr gut geschlossen hat, sieht man nichts. Ich hab nichts gesehen. Und jetzt seh' ich Sachen, Sachen, die mich neugierig machen, ich will sie alle kosten. Ich weiß heute, daß Primärtherapie der erste Schritt zu einem fühlenden Dasein ist.
Das war für mich die Therapie. Das ist nicht das Ende, es ist der erste Schritt. Und tatsächlich bin ich weiter interessiert, ich bin in Sandstone, offene Beziehung, freie Sexualität. Ich mache <creative aggression> mit George Bach. Ich werde wahrscheinlich noch dieses Jahr EST durchmachen, was mich stark interessiert. Diese Sachen sind ja alle gleich. Die sind alle gleich, von einem anderen Winkel gesehen. Sie sind nur ein bißchen anders verpackt.«

Sie war noch nicht frei — nach immerhin 2,5 Jahren —, als sie uns über ihre Erfahrungen berichtete. (Janov verbreitete anfangs die Verheißung der Heilung innerhalb von sieben bis acht Monaten.) 

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Danach kann sie jetzt immer und überall losbrüllen, sie kann jedem uneingeschränkt demonstrieren, woran sie ist. Manchmal, schränkt sie ein, gehe sie jedoch schnell auf eine Toilette, wenn das Urgefühl hochkommt. Die junge Frau kritisiert das Institut als sehr autoritär, sie fühlt sich teils noch zugehörig, aber die <Süchtigen> widern sie an. Sie ist dabei, sich vom Institut abzusetzen, sie will mit denen, die noch in Behandlung sind, den Kranken, letztlich nichts mehr zu tun haben. Jetzt ist sie auf der Suche nach neuen Therapien. 

 

Eine Voraussetzung, als <swinger> durch die therapeutische Szene zu ziehen, ist eine solide finanzielle Basis, oder man muß sich buchstäblich krummlegen, um die Dollars zusammenzukratzen. Vor allem für Europäer liegt da eine große Schwierigkeit. Bei längerem Aufenthalt in den USA erhalten sie selten Arbeits­erlaubnis. Einige, die wir getroffen haben, lösten das Problem der Arbeitsbeschaffung, indem sie pro forma heirateten. 

Ralf, ein junger deutscher Industrieller aus Süddeutschland, hatte diese Probleme nicht. Als wir ihn kennenlernten, hatte er schon eine fast unübersehbare Reihe von Therapieformen hinter sich: er kaufte sie wie <von der Stange>. In Deutschland hatte er schon alles durchprobiert von Psychoanalyse und Verhaltenstherapie über Selbsterfahrungsgruppen und alle möglichen Wochenendseminare bis hin zu kurzen Aufenthalten in Herrenalb mit Casriel-Gruppen und St. Coloman mit Urschreitherapie. Auch in den USA zog er schon durch mehrere <Janov-Abspaltungen> und jammerte darüber, daß das bis jetzt alles noch nicht das gebracht hat, was er sich erwartete: 

»Ich möchte ganz klar fühlen können, welche Präferenzen ich habe bezüglich Partnerwahl und Beruf. Ich möchte endlich meine blockierten Energien frei bekommen. Meinen Haupterfolg sehe ich darin, daß ich jetzt häufiger meinen Körper ganz locker halten kann. Wenn Gefühls­bewegungen kommen, spüre ich, daß Gefühle leichter hochkommen, ich kann besser durchatmen, statt mich zu verkrampfen, ich komme leichter in Gefühle hinein.«145) 

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Die Lektüre von Janovs Urschreibuch und seine Erfahrung in Herrenalb brachten ihn zu dem Entschluß, sich in USA <urschreibehandeln> zu lassen. Janov hatte eine zu große Warteliste. Er war ihm auch zu teuer. Er ging zu einer sog. <Primäralternative>. 

Janov hütet sein Patent mit Alleinvertretungsanspruch: »Die Urschrei- oder Primärtherapie sollte von niemandem praktiziert werden, der dazu nicht qualifiziert, d.h. nicht ausgebildet ist. Sie wird ausschließlich im <Primal Institute> in Los Angeles durchgeführt.«146) Deshalb greifen die Abspaltler zu umschreibenden Namen. Ralf ging zum <Feeling Training Center> (keine Verbindung zur <Feeling-Therapie>), in dem keine eigentlichen Fachleute arbeiten, sondern einige Sozialarbeiter, Leute mit Teilausbildung in Psychologie, einige davon sollen bei Janov gewesen sein. 

Ralf beschreibt einen typischen Therapieablauf während der dreiwöchigen Intensivzeit, wo er allein in einem Hotel wohnte: keine Kontakte, kein Radio oder Fernsehen, Isolation. Spaziergänge waren erlaubt, aber er durfte mit niemandem sprechen. 

»Man liegt meist nackt auf einer Matte, damit der Therapeut alle Körperspannungen beobachten kann. Sie verwenden die Technik der Hyperventilation: man atmet zehn bis fünfzehn Minuten tief durch. Viele geraten dadurch in Gefühlsausbrüche. Der Therapeut fragt: <Woran denkst du jetzt? Geh mehr in dein Gefühl hinein oder bleib' bei deinem Gefühl.> Manchmal fordert er auf: <Ruf nach deiner Mutter, streck die Hände nach ihr aus. Sag ihr, was du von ihr möchtest, wenn du wütend auf sie bist, schlag mit den Händen, Armen und Beinen um dich.> Das bringt einen meistens schon ganz schön in die Gefühle hinein. Man wird eben immer wieder aufgefordert, es möglichst laut auszudrücken, in dem Gefühl zu bleiben, meistens endet das dann mit Schreien oder mit Weinen. Das geht natürlich nur für kurze Zeit, 5 oder 10 Minuten, bei manchen auch 20 Minuten, dann ebbt es ab. Dann fühlt man sich erleichtert. Manchmal massieren sie einem dann den Nacken oder geben schon mal einen Schlag in den Solarplexus, um Muskelspannungen zu beseitigen, denn verkrampfte Muskeln halten Gefühle zurück. Darin besteht eigentlich die ganze Therapie.« 

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Ralf flog schließlich aus dem <Center> raus, weil er, wie er behauptete, mit seinen Therapeuten nicht zurechtkam. Er nippte noch an einigen anderen Ansätzen und landete kurz vor seiner Rückkehr nach Deutschland noch in dem dreiwöchigen Intensivprogramm der <Feeling-Therapeuten>. Selbstkritisch sagt er: »Die Intensivzeit ist ein großes Lockmittel, jeder Preis wird bezahlt. Je nach Marktzuspruch, Warteliste und Zahl von Patienten erlauben sie sich, fast jeden Preis zu nehmen.« 

Neben den schwierigen ökonomischen Bedingungen, welche Europäer in den USA in therapeutischer Behandlung erwarten, sollten sich diejenigen, die sich mit dem Gedanken tragen, sich in USA einer Therapie zu unterziehen, vorher gründlich mit dem Sprachproblem auseinandersetzen. Viele nicht englisch­sprechende Klienten haben uns über sprachliche Schwierigkeiten berichtet. Auch in den sogenannten expressiven Therapien, wo das Ausagieren von Gefühlen im Vordergrund steht, verhindern oft sprachliche Barrieren Weiterkommen und führen zu Mißverständnissen zwischen Patient und Therapeut. 

Zu der sprachlichen Isolation kommt noch ein mangelndes historisches Bewußtsein der meisten amerikanischen Gruppenteilnehmer hinzu. Deutsche z.B. werden oft zwei Stereotypen untergeordnet, ohne daß sie weiter reflektiert werden: wenn Patienten rigide Verhaltensmuster zeigen, sind es Nazis, wenn sie von traumatischen Kriegserlebnissen berichten, sind es arme Opfer der Nazis. 

Wir halten es weiterhin für besser, daß Patienten während der Therapie nicht total aus dem Alltagsleben herausgenommen werden, um den Übergang von Therapie und Alltag besser zu verarbeiten. Für Europäer entsteht eine künstliche Arbeitslosigkeit, oder sie müssen Hilfsarbeiten verrichten, die sie in Europa niemals tun würden, das führt zu neuen, zusätzlichen Problemen.

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   5.8 - Vom Papperlapapp der Psychologie  

 

Nicht nur Ausländer in den Gruppen haben ein Sprachproblem, sondern die heute herrschende <Gruppeninflation> hat unter ihren oberflächlichen Anhängern eine Art neues <Psychogeplapper>148) hervorgebracht, mit dem sie z.B. auf Parties und Empfängen ihre Show abziehen. Wenn man das erste Mal auf solche Leute trifft, ist man erstaunt und fragt sich verwundert: »Wie ist es nur möglich, daß diese Leute so frei und offen reden können.« 

Mit der gleichen Leichtigkeit reden sie über Sexualität, offene Ehe, Empfängnisverhütung, breiten scheinbar ihr Innerstes aus. Dem verblüfften Betrachter, sprachlos ob solcher Redegewandtheit, rufen sie zu: »Ich wünschte, ich könnte in deinen Kopf reinschauen, du sprichst ja überhaupt nicht aus dem Inneren heraus, steh doch zu deinen Gefühlen.« Wenn es einem dann passieren sollte, daß man diese Leute ein zweites, drittes oder gar viertes Mal trifft, merkt man bald, daß man es mit psychologischen Schaumschlägern, den <Psychobabblern> zu tun hat. Ihre Sprache hat sich aufgelöst in eine Kombination stereotyper Redensarten, mit der alle Probleme zugedeckt werden. 

Wenn man ihnen Glauben schenken würde, haben psychologische Probleme überhaupt keine Tiefe, angefangene Themen sind bald erschöpft, das, was als Dialog begann, wird zum großen Monolog des <Psychobabblers>. Dieses Phänomen ist nicht so neu wie es scheint. Nach dem Kriege war die Psychoanalyse populär, und Einsicht in das Innere war ein Ziel, das jedermann erreichen wollte. Partygespräche in jener Zeit wimmelten von unverstandener Freudscher Terminologie, Amateuranalytiker tyrannisierten ihre Mitmenschen mit selbst gebastelten Analysen. Schlagworte waren: Verdrängung, Komplexe, Sublimierung, Wunscherfüllung und das Unbewußte.

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In Deutschland hat sich das neue <Psychogeplapper> noch nicht so durchgesetzt. In einschlägigen Kreisen — meist Intellektuelle oder solche, die sich dafür halten — ist das neue <Gebabbel> noch nicht salonfähig. Dort betreibt man noch eifrig <Amateur-Psycho-Archäologie>. 

Auch sogenannte Fachleute der deutschen Szene üben sich in psychoanalytischem Bildzeitungsstil. So kommt z.B. Ernest Borneman bei seiner Beurteilung der Encountergruppen und ihrer Wirksamkeit zu folgendem Schluß: 

»Ihre kryptoorgastische Wirkung des <coming through> bleibt bei vielen nicht aufs Psychische beschränkt, sondern äußert sich als psychischer Orgasmus. Aber selbst bei denen, die nur von einer psychischen Ekstase erfaßt werden, wird die Sprache derart mit libidinöser Energie aufgeladen, daß das Ausstoßen der Beichte oft einer Ejakulation gleicht.«149) 

Während in einer solchen Sprache zumindest noch Tiefe und Komplexität vorgetäuscht wird, kennt die neue <Psycho-Sprache> kaum noch Probleme, alles ist machbar. Auch das therapeutische <Do-it-yourself-Verfahren>, wie es Shepard beschrieben hat, zeigt geradezu simple Möglichkeiten — zumindest auf verbaler und geschriebener Ebene. Das behauptet jedenfalls ein dafür geschriebener Reklametext: 

»Dieses Buch wird ihnen helfen, Tausende von Dollars zu sparen und ihnen Kontrolle über ihr Leben und ihr Selbst geben. Nie mehr: bezahlte Berater, nie mehr: sexuelle Schwierigkeiten, keine Minderwertigkeitskomplexe mehr, keine psychosomatischen Leiden mehr und nie mehr: Schuldgefühle. Sie werden Größe und persönliche Macht besitzen und unbegrenztes sinnliches Vergnügen kosten. Sie gewinnen ein neues Selbstverständnis, ihr Geburtsrecht auf Gesundheit wird verwirklicht, sie entdecken neue Lebensstile.«150)

Wie einfach Heilung heute sein kann, demonstrierte auch Albert Ellis, der Begründer der Rational-Emotiven-Therapie, auf einem <workshop> in Los Angeles mit einem ihm eigenen <Psychogebabbel>:

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»Ich vertrete die Theorie, daß alle Menschen verrückt sind. Das ist die erste Prämisse, nicht nur einige sind bekloppt, sondern alle, weil das menschlich ist. Dafür gibt es keine besonderen Gründe; wenn man sich so bescheuert anstellt wie die Psychoanalytiker, dann sucht man nach bestimmten Ursachen, das ist deren eigene Verrücktheit, daß sie so denken, man ist verrückt, weil man verrückt ist, das ist menschlich. Auch übernehmen wir keine Skripts von den Eltern, das ist Eric Bernes eigenes Problem. Man macht sich sein Skript selbst, man schustert sich diese verdammten Skripts selbst zusammen. 

Man übernimmt Normen von seinen Eltern, moralische, ethische und religiöse, und diese Normen sind nicht mal so schlecht, das heißt doch nur, daß man in einer Gesellschaft leben will; die meisten von uns wollen das, wir sind keine Einsiedler, dann verhält man sich besser nett anderen Leuten gegenüber, macht sich nicht selbst runter, hat ein paar intime Beziehungen, wir nennen das dann Liebe oder Ehe, hat ein paar interessante und sinnvolle Freizeitbeschäftigungen, wie ich sage in einem neuen rationalen Lebensstil; man ist also nicht total verrückt, sondern nur überwiegend, man ist, weil man ist, wenn man natürlich nach Gründen sucht, wie es die beknackten Psychoanalytiker machen, bekommt man das Warum, das man sich selbst zur Voraussetzung macht, anstatt auf das Wie zu schauen, wie man etwas macht, nämlich auf die stupiden Eltern zu hören, auf die Gesellschaft zu hören und deren Scheiße zu übernehmen. 

Das ist ihr eigenes Talent, sich unzufrieden zu machen, Dinge zu verabsolutieren und dazu noch magisch zu denken; wir alle sind geborene Magier, meine Aufgabe ist es, Sie von dieser Magie zu heilen. Genau das werde ich Ihnen in den nächsten 35 bis 40 Minuten zeigen und beibringen. Dann werden Sie den Rest Ihres gottverdammten Lebens ohne diesen ganzen Quatsch auskommen. Es ist einfach, aber sehr sehr hart.«151)

Der Fairneß halber müssen wir erwähnen, daß sich Albert Ellis in seinen Büchern und Artikeln nicht so übersimplifizierend und undifferenziert ausdrückt. Wenn aber die <Profis> in der Öffentlichkeit schon einen solchen Stil voller Plattitüden pflegen, wundern wir uns nicht, wenn die <Laien> zu verkümmerten <Psycho-Stotterern> werden.

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  5.9  Die Morgendämmerung des Zeitalters der Erleuchtung — oder Östlicher Ausverkauf  

 

Mit dem Verschwinden der farbenfrohen und blumengeschmückten Hippies Ende der sechziger Jahre schien auch die Zugkraft eines ihrer Propheten, Maharishi Maheshi Yogi, zu Ende zu sein. 

Die Beatles und Mia Farrow hatten bei ihm Erleuchtung und kosmisches Bewußtsein gesucht. Die Beach Boys suchten mit Maharishi ihren sinkenden Stern zu retten. Maharishi begleitete die Beach Boys auf einer großangelegten Konzerttournee durch die Vereinigten Staaten. Die Konzerthallen füllten sich nur spärlich. Die Tournee mußte wegen mangelnder Nachfrage unterbrochen werden. 

Die Beatles brachen ihren Aufenthalt in den Bergen Indiens, wo Maharishi in einem großen Bungalow lebte, vorzeitig ab. John Lennon, der damalige Sprecher der Band, bezeichnete die ganze Sache mit dem kosmischen Bewußtsein schlichtweg als <Bluff>.152) 

Maharishi hat die Zeiten dieser Bitternis gut überlebt. Transzendentale Meditation ist heute in der westlichen Welt so bekannt wie Marx und Coca-Cola. Mit gigantischen Feierlichkeiten in der Schweiz, Indien, Kanada, Argentinien und Abidjan, Afrika, rief <seine Heiligkeit>, Maharishi Maheshi Yogi, Begründer der <Wissenschaft> der kreativen Intelligenz, die <kommende Morgendämmerung des Zeitalters der Erleuchtung> aus. Jede Eröffnungsfeier ist begleitet von einer Festschrift, die in goldenen Lettern die <umwälzenden> Errungenschaften der transzendentalen Meditation und der <Wissenschaft> der kreativen Intelligenz preist. 

In der Schweiz, wo andere ihre Reichtümer in Bankkonten verstecken, eröffnete Maharishi am 21. April 1975 die <European Research University> (MERU) als europäische Forschungsuniversität, <um das wissenschaftliche Potential der gesamten europäischen Gemeinschaft zu nutzen und so das Zeitalter der Erleuchtung für alle Zeiten zu begründen.>153) 

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Mit dieser Kombination von Kreativität, Wissenschaft und Intelligenz trifft die transzendentale Meditation genau die heutige Marktlage im Dienste psychischer und religiöser Bedürfnisse. Die TM hat sich zu einer weltweiten Handelsorganisation mit Monopolanspruch etabliert. Sie hat in den USA mittlerweile Patentrechte. Sie hat die verblichenen Helden der Hippiebewegung nicht mehr als Aushängeschild notwendig: Dazu tragen jetzt seriöse Wissenschaftler mit dem Segen Maharishis bei, um der Kritik des Mystizismus vorzubeugen. Maharishi, der in den früheren Jahren sich über der Wissenschaft stehend fühlte, sagte dazu in seiner Festansprache in der Schweiz: 

»Ich möchte betonen, daß ich mich hiermit nicht in den Bereich des Mystizismus oder der Mysterien begebe. Es handelt sich um nichts als die reine Wissenschaft, und wenn ich sage reine Wissenschaft, dann meine ich die reine Wissenschaft des Jahres 1975. Es ist nicht meine Verantwortung, wenn einige berühmte oder bekannte Wissenschaftler ihre Ohren verschließen. Es ist schon immer das Schicksal aller großen wissenschaftlichen Entdeckungen gewesen, die Wissenschaftler ihrer Zeit zu schockieren.«154) 

Maharishi betont in seiner Rede weiter, daß jetzt hinter der transzendentalen Meditation glücklicherweise eine Weltorganisation steht, die in der Lage ist, die hervorragendsten Professoren für Physik, Chemie, Biologie, Medizin und sogar Psychiatrie und Psychotherapie zusammenzurufen. Auch Theologen machen mittlerweile Werbung für TM. Pater Paul Lannig, katholischer Priester und Mitglied des Ordens der Hl. Familie in Lebenhan, übt seit Januar 1974 die Technik der TM aus. Er schreibt <An alle katholischen Priester, die sich in die TM einführen lassen wollen!>: 

»Meine rheumatischen Beschwerden, die mich sehr belästigten, sind fast völlig verschwunden. Die Atmosphäre im Kloster und im Dorf hat sich gereinigt; das äußert sich in der Lösung alter Probleme und in gewachsenem Vertrauen, sowie zunehmender Hilfsbereitschaft, die mir entgegengebracht werden, weil ich selbst an Klarheit und Festigkeit gewonnen habe und somit mehr Kraft, Ruhe und Freude ausstrahlen kann.«155) 

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Schon sprechen die TM-Anhänger vom sogenannten <Maharishi-Effekt>. Maharishi und mit ihm seine Fans glauben, daß, wenn nur 1% der Bevölkerung einer Stadt täglich TM ausübt, sich die Lebensqualität dieser Stadt entscheidend verbessert. Die Kriminalitätsrate sinkt, Alkohol- und Drogenprobleme werden geringer.

Wie steht es nun mit der Wissenschaftlichkeit von TM?  

Tatsächlich konnte Robert Keith Wallace, der heutige Präsident der Maharishi International University (MIU) in Fairfield, USA, in Laboratoriums­untersuchungen seit 1963 nachweisen, daß TM ein tiefes Stadium der Ruhe und Entspannung produziert. Die Ergebnisse seiner Messungen, vor, während und nach der Meditation, veröffentlichte er in >Science Magazine<. Zur weiteren Erforschung bildete er ein Team mit Herbert Benson,156) Herzspezialist an der Harvard University. Sie machten weitere Experimente und veröffentlichten die Ergebnisse in Fachzeitschriften. Von jetzt an konnte die Wissenschaft in den Werbefeldzug für das Mantra Yoga, wie es Maharishi lehrt, mit einbezogen werden. Namen wie University of California und Harvard University sind begehrte Markenzeichen und stehen für höchste Qualität.

Die TM-Organisation druckte Auszüge aus diesen Artikeln mit den so wissenschaftlich aussehenden Tabellen in ihren Werbezeitschriften. Auf keinem Poster fehlt der Hinweis auf die Wissenschaft. Die mit TM verbündete Wissenschaft klebt an Litfaßsäulen und hängt in Schaufenstern.

Inzwischen werden unter der Aufsicht von TM weitere Untersuchungen durchgeführt, und in <Fundamentals of Progress> sind die Ergebnisse veröffentlicht worden (MIU 1974). In diesem Sog der Wissenschaftlichkeit hat sich auch das Ziel der transzendentalen Meditation von Transzendenz, Erleuchtung und kosmischem Bewußtsein zur Befreiung von Streß verändert. TM dient jetzt dem Kampf gegen Streß und der Verbesserung der Lebensqualität. Nach dem Psychiater Harold Bloomfield ist TM in der Lage, »Streßsymptome aus einem weiten Bereich diagnostischer Kriterien zu beseitigen, egal, ob es sich um Depressionen, Angst oder Schlafstörungen handelt.«157) 

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Die <Massendienstleistungsorganisation> TM bietet heute die Technik der transzendentalen Meditation Menschen »aller sozialen Schichten, ungeachtet ihrer Bildung, Religion, Rasse oder Nationalität« an. In Deutschland kann man für DM 500,- ein paar Blumen, süße Früchte und ein weißes Taschentuch, sein Mantra, ein geheimnisvolles Wort aus dem Sanskrit, bekommen. Bei der feierlichen Einführungszeremonie überreicht der <Novize> die mitgebrachten Geschenke dem TM-Lehrer. Dieser führt ihn in einen Raum, wo er Kerzen und Räucherstäbchen anzündet und die Geschenke auf einen Altar legt, über dem das Bild Jai Guru Dev thront. Dann folgen Gesänge in Sanskrit und schließlich die Enthüllung des heißersehnten Mantras. 

2x20 Minuten transzendentale Meditation pro Tag versetzen dann den Meditierenden in einen natürlichen Hauptbewußtseinsstands der als <ruhevolle Wachheit> umschrieben wird. Die regelmäßige Wiederholung dieser tiefsten Ruhe löst tiefverwurzelte Spannungen und Streßfolgen und führt zu einer »ganzheitlichen Stabilisierung und Entfaltung aller körperlichen, geistigen und sozialen Aspekte des Menschen«,158) was immer man darunter verstehen will. Die Missionare der TM betonen, daß es sich dabei weder um Konzentration, Kontemplation, noch Autosuggestion handelt, und deshalb voraus­setzungslos von jedermann leicht erlernt werden kann. TM hat die Botschaft, wie man den Rest seines Lebens in Freude und Frieden leben kann.159) Wer allerdings die DM 500,- sparen und aus den Büchern über TM erfahren will, wie er diese Meditation erlernen kann, wird bitter enttäuscht, er muß eines der Weltplancenter aufsuchen und sich ein Mantra erkaufen. In Deutschland bestehen mittlerweile gut 30 dieser Zentren in allen größeren Städten des Landes mit rund 54.000 Anhängern.160)

Herbert Benson, der Harvardherzspezialist, war mit dem ganzen Rummel, der um TM veranstaltet wurde, nicht zufrieden. Besonders mißfiel ihm, daß sein Name und die medizinische Fakultät der Harvarduniversität zu Propagandazwecken mißbraucht wurde, und in seinem Buch <The relaxation response>,161) das auf einer Reihe weiterer Forschungen über Meditation basiert, stellt er klar, daß es stimmt, daß viele Menschen ein von Streß überstrapaziertes Leben führen, was zu erhöhtem Blutdruck, Magengeschwüren, Asthma und Lebensverkürzung führen kann. Meditation ist nur eine Methode, diesem Streß zu begegnen. 

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Maharishi lehrt eine besondere Meditationstechnik. Bensons Tests in den Harvardlaboratorien zeigen jedoch, daß es nicht notwendig ist, diese besondere Technik, vergeheimnist mit dem Personenkult um Maharishi, anzuwenden, um streßreduzierende Ergebnisse zu erhalten. (Für die Maharishianhänger ist es strengstens verboten, anderen ihr Mantra mitzuteilen, selbst gute Freunde schalten da auf stur.) 

Hier zeigen sich die Parallelen zu EST und ARICA. Ähnliche Techniken, die zum Traditionsgut des Juden- und Christentums gehören, wie sich wiederholende kurze Gebete und Sätze in einer bestimmten Tonlage oder selbstgebastelte Mantras, bringen die gleichen physiologischen Veränderungen, wie sie bei der transzendentalen Meditation festgestellt wurden. Benson gibt folgende Anweisung: Man setze sich ruhig hin, entspanne die Muskeln, schließe die Augen, atme nur noch durch die Nase aus und ein und sage stillschweigend das Mantra: one. Bei jedem Ausatmen wiederhole man: one 10 bis 20 Minuten. Nach den Testergebnissen arbeitete dieses Mantra genauso gut wie Maharishis Sanskritmantras.

Einen mehr spielerisch-kreativen Weg, sein eigenes Mantra zu finden, bietet die LeShan-Technik an:162) Man öffne ein Telefonbuch, schließe die Augen, tippe mit dem Finger auf einen x-beliebigen Namen, schließe wieder die Augen, tippe auf einen anderen Namen, nehme die erste Silbe jedes Namens, und fertig ist das Mantra. (Der Juniorautor kam mit dieser Technik auf das Mantra Staspri, der Senior entdeckte Leemo). Die TM-Organisation behauptet, daß diese Art der Meditation nichts mit Religion zu tun habe, Meditieren sei genauso säkular wie Alkohol und Zigarettenrauchen, nur eben viel gesünder, eine neue Art der >Gesundheitssucht<. Aus unserer Sicht enthält diese Weltlichkeit einige Ungereimtheiten, die eine Werbestrategie verrät, die mit Paradoxien arbeitet. Einmal erscheint uns die fast göttliche Verehrung, die Maharishi von seinen Anhängern genießt, mehr als verdächtig.

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Wir lehnen den Starrummel ab. Maharishi behauptet von sich selbst, er sei ein Mönch und Schüler Jai Guru Devs. Über ihn schreibt Maharishi: »Im zarten Alter von 9 Jahren, als sich die anderen Kinder der Welt auf Spielplätzen tummelten, war er bereits in dem Gedanken der Entsagung gereift, und durch ständiges und tiefes Nachdenkken war er von der Nutzlosigkeit und Vergänglichkeit weltlicher Vergnügen überzeugt.«163) 

Im Geiste dieses <personifizierten Brahmanandam> (universelle Glückseligkeit oder Kosmisches Bewußtsein) jettet Maharishi als lebende Litfaßsäule für TM jedoch um die ganze Welt, um die TM-Zentren in 89 Ländern mit <seiner Heiligkeit> zu inspirieren. Im September 1975 z.B. besuchte Maharishi ein TM-Trainingszentrum in Courchevel in den französischen Alpen. Für Seine Heiligkeit stand ein Helikopter bereit, um ihm das Fahren mit dem Wagen in die Berge zu ersparen.

Eine weitere Ungereimtheit wird in den Innovationsriten zur TM deutlich. Wir vermuten, daß nur wenige der Eingeführten wissen, was sich hinter dem Sanskritgemurmel versteckt, das sie bei der Einführung zu hören bekommen: »Dem Herrn Narayana, dem lotusgeborenen Brahma, dem Schöpfer... ich verbeuge mich vor ihm, an seiner Tür beten die Götter Tag und Nacht um Vervollkommnung...«.164) Einige jüdische und christliche Gruppen haben bereits zum Protest aufgerufen, da sie in der Verbreitung der TM den vorläufig noch getarnten Versuch der Missionierung zum Hinduismus vermuten. 

Die TM-Leute behaupten, daß sie den Schlüssel zur besten aller Welten besitzen. Wie die Ausbreitung der TM beweist, lassen sich solche unsinnigen Behauptungen ganz gut als Verkaufs- und Werbetricks verwenden, um den genuinen* Hunger nach Religiosität auszubeuten und die Paradiesvorstellungen vieler wenigstens vorübergehend zu befriedigen. 

Wenn man von dem ganzen Zirkus absieht, den TM aufzieht, und TM rein pragmatisch als eine Meditationstechnik betrachtet, müssen wir zugeben, daß man für 40 Minuten am Tag wenigstens für seine allgemeine Fitneß eine ganze Menge herausbekommt. 

*  (u2011) genuin: ...

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Aber es werden auch schon Stimmen laut, die davor warnen, bei emotionalen Problemen, besonders bei Depressionen, TM auszuüben, da manche Leute durch den ritualistischen Aspekt von TM so ergriffen werden, daß sie glauben, magische Kräfte seien am Werk. Andere sprechen sogar von einem Trip ähnlich wie bei LSD. Wenn die Auswirkungen des Trips verklungen sind, bleibt Angst, die ohne die Hilfe anderer nicht überwunden werden kann.

Bis November 1975 durften die TM-Leute in Los Angeles die öffentlichen Räume in den Stadtbibliotheken benutzen, da die TM-Organisation als gemeinnützig galt. Der Fernsehjournalist Ashman deckte diesen Schwindel auf, als er in der <Los Angeles Free Press>165) riesigen Aktienbesitz der TM-Firma nachwies. Der Magistrat von Los Angeles untersagte sofort jede weitere Benutzung der öffentlichen Räume.

Ashman selbst wurde daraufhin von TM-Fanatikern mit beleidigenden und manchmal drohenden Telefonanrufen bombadiert. Er bemerkt dazu lakonisch: »Offensichtlich stimmen nicht alle, die durch TM Frieden gefunden haben, damit überein, daß Kritiker ein Recht auf ihren eigenen Standpunkt haben.«166) 

Als Bluff erweist sich weiter die Bezeichnung <Wissenschaft der kreativen Intelligenz>. Gary Swartz legte TM-Lehrern Kreativitätstests vor. Ergebnis: Sie schnitten schlechter ab oder nur genauso gut wie die Kontrollgruppen.167)

TM fördert sicherlich einen Aspekt der Kreativität, am besten zu beschreiben mit der Selbstverständlichkeit und Leichtigkeit, mit denen Kinder ein Spiel entwickeln. Aber das wesentlichste Element voll entwickelter Kreativität, die Fähigkeit zu Begegnung und Kontakt, fehlt völlig im TM-Konzept. Inneres Gespanntsein, neugierige Unruhe, <konstruktiver Streß> und nicht ein <natürlicher Hauptbewußtseinszustand> ermöglichen kreatives Denken und Handeln.

Denn wie Rolo May schreibt, nimmt TM die innere Spannung, der Erlebnishorizont wird zu glatt, alle Probleme scheinen gelöst, da bleibt nichts mehr, was Handeln herausfordert. Deshalb ist es besser, das Chaos auszuhalten, sich der »Komplexität und Ratlosigkeit« zu stellen, bis sich neue Formen und Lösungen finden.

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5.10 - EST: Sei wie Du bist — oder Westlicher Ausverkauf 

 

Cal Worthington, ein ehemaliger Schauspieler in Hollywoods Cowboyfilmen, ist heute einer der erfolgreichsten Gebraucht- und Neuwagenhändler Kaliforniens. Werner Erhard, alias Jack Rosenberg, ehemaliger Autoverkäufer, ist heute einer der erfolgreichsten Psychohändler in den USA.

Cal Worthingtons täglich auf den kalifornischen Bildschirmen aufflimmernder musikalischer Werbespruch könnte gut auch für Werner Erhards EST-Programm stehen: »Ich werde mich auf den Kopf stellen, bis meine Ohren rot werden, wenn Sie ein besseres Schnäppchen als Cal/EST bekommen.«

Die amerikanische <Psychology today> nennt Erhard den <Supergeschäftsmann der Pop-Psychologie>, dessen Geschäft darin besteht, »daß Tausende gebildeter Bürger sich eine 250-Dollar-Eintrittskarte für <Erhard-Seminars-Training (EST)>, den jüngsten Pop-Psycho-Trip, kaufen. Die meisten kommen aus dem Training unaussprechlich befriedigt, eifrig bestrebt, ihre Freunde dazu zu bekehren169)

Werner Erhard pflegt auch schon Überseeverbindungen, er hat sein Programm in Europa (Paris, Köln) vorgestellt. EST (lateinisch est = ist) ist auch die simple Philosophie, die Erhard in 68 Stunden an zwei Wochenenden in Riesensälen mit bis über 200 Teilnehmern vermitteln will: Sei wie Du bist, das ist des Rätsels Lösung. — Wie das zu verstehen ist, charakterisiert eine Erhard verehrende Journalistin so: »EST — die neue lebensverändernde Philosophie, die dich zum Boß macht.«170) 

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Am 20. August 1975 stellte Werner, wie er genannt wird, vor einem begeisterten Publikum seine Philosophie unter dem Titel »Etwas über nichts« in der Los Angeles Sportarena vor. Wir zitieren aus einem Tonbandmitschnitt:171)

»Wichtig ist für Sie allein, daß Sie realisieren, daß die Leute hier in diesem Raum mit Ihnen zusammen sind. Sie sollten sich echt die Erlaubnis geben, darüber nachzudenken. Was Sie jetzt fühlen sollten, selbst, wenn Sie jetzt nichts fühlen, ist, daß Sie sich klar darüber sind, daß jedermann in diesem Raum mit Ihnen zusammen ist. Es ist doch interessant, daß Sie eigentlich gar nichts tun müssen, damit die Leute mit Ihnen zusammen sind. Sie müssen nicht hallo sagen, Sie müssen sich nicht anfassen, Sie müssen sich nicht einmal anschauen. Das einzige, was Sie tun müssen, ist, sich selbst klarzumachen, daß all diese Leute hier sind, und daß das von der Tatsache abhängt, daß sie diesen Leuten erlauben, daß sie mit Ihnen zusammen sind. Es handelt sich also um den Akt, daß Sie sind. Nur das zählt...« 

Viele Prominente gehören zu Erhards Anhängern. Die Ehefrau eines bekannten Hollywood-Drehbuchautors sagte in einem Gespräch über ihre EST-Erfahrung: »Wissen Sie, wir mußten einfach dahin, um bei den Parties jetzt mitreden zu können. Alles spricht über EST.«172)

Auch wir müssen über EST sprechen, weil wir glauben, daß diese Organisation der unternehmerisch phantastisch kommerzialisierte Ausverkauf des <Human Potentialities Movement> und der Encounterbewegung ist. Wie das beim Ausverkauf so üblich ist, kann der Kunde da durchaus ein paar ausgezeichnete Fänge machen, doch für viele bleibt nur Ausschuß übrig. Erst zu Hause merken sie — vorher geblendet durch den Reklamewald und die glitzernde Staffierung —, daß es das nicht ist: EST ist nicht genug und man selbst ist sich erst recht nicht genug, und es ist gar nicht so perfekt, so zu sein, wie man ist. 

Der EST-Konzern wird mustergültig verwaltet. Erhard hat nicht nur einen neuen Kult, sondern auch eine viele Millionen schwere Korporation geschaffen, deren Volumen sich bisher jährlich verdoppelt hat. Als Präsident der Organisation fungiert Don Cox, ehemals Professor an der <Harvard Business School> und General Manager der kalifornischen <Coca-Cola-Bottling-Company>.

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Die Arbeit leisten nicht einmal hundert Angestellte und ein Heer von unbezahlten Freiwilligen, die von 4-40 Stunden pro Woche für EST schuften — nach dem Motto »Werner dienen und EST fördern«. Diese Freiwilligen sorgen auch für das Anwerben neuer Kunden. Bei Einführungsabenden erzählen sie fast schon stereotyp, wie EST ihr Leben verändert hat. Der Seniorautor besuchte einen solchen Abend in Los Angeles. 

Die Teilnehmer setzten sich zusammen aus Leuten, die ein 2-Wochenende-Training hinter sich hatten und jetzt >Zeugnis ablegen wollten<, sowie aus Gästen. Nach einer Einführungsrede eines sehr jungen Trainers, dem frenetisch applaudiert wurde, teilte man die Teilnehmer in Gruppen von 60 Personen verschiedenen Räumen zu. Hier begann eine ziemlich verrücktmachende Geschichte. Man hatte uns gesagt, daß wir jede Frage stellen könnten, die wir beantwortet haben wollten. Genau das Gegenteil passierte, jede Frage wurde beiseite geschoben mit »ich weiß nicht«, oder »das ist für jeden verschieden«, man sagte, es sei nicht hilfreich, den Prozeß zu beschreiben, den die Fragen betrafen. Verrücktmachend dabei ist, daß man eingeladen wird, Fragen zu stellen, aber nicht die geringste Information erhält außer Allgemeinplätzen.

Ein EST-Trainierter berichtete über seine Erfahrungen: »Ich war die beiden Wochenenden meist gelangweilt, bis ich dann erkannte, was wirklich mit mir los war, sie fühlen sich danach einfach großartig.« Er sprach nicht über seine Gefühle, teilte nicht mit, was er wirklich erlebt hatte. Trotz dieser Mystifizierung — oder gerade deswegen — wurden die Gäste neugierig. Diese Neugierde nutzten die EST-Helfer aus und begannen sofort harte Verkaufs­gespräche. Bei einem anderen Einführungsabend in New York sagte man den Gästen, die nächsten Wochenenden seien schon alle ausgebucht. Kurz vor Schluß kam einer herein mit der Meldung, es seien einige Plätze überraschend frei geworden, die Leute im Saal rissen sich darum.

Zuerst wird man also weich gemacht, die ganze Sache wird ein bißchen verharmlost bis zu einem Punkt, wo der Widerstand schwach wird. Dann packen die EST-Leute zu. Sie nutzen den <Wa(h)ren-Charakter> von EST voll aus.

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Zur EST-Politik gehört es, ihren <Graduierten> das Verbot aufzuerlegen, Details über den Trainingsprozeß zu berichten. Nur diejenigen werden als Freiwillige zugelassen, die ein solches Agreement — ähnlich Gelöbnissen bei den Nazis — treffen. Diese Gelöbnisse schaffen Solidarität auf Kosten von Kritik- und Mitteilungsfähigkeit. Was die EST-Leute mitteilen nennen, spielt sich als ein totaler Monolog vor einem großen Publikum ab. Sie sind Produkte einer hochtechnisierten psychologischen Hühnerfarm, wo alle das Lied des Meisters gackern. Niemand kann beschreiben, was passiert, aber alle wissen, daß es hilft (That's it). 

Diese Art der Verschleierung hat denselben regressiven Effekt wie <Mutter weiß es am besten>. Das erstaunlichste daran, die Leute fressen das. Sie lieben ihr Disneyland, wo man so schön die Realität vergessen kann. EST-Anhänger laufen Gefahr, der Realität zu entfliehen, sie verlassen sich auf Werner, den Führer, mit seiner unendlichen Weisheit, um solche Weisheit zu erlangen, sind 250 Dollar geradezu sensationell billig. 

Was passiert nun an EST-Wochenenden? Ein Teilnehmer aus New York berichtet mit kritischer Distanz. 

»Die Wochenenden laufen ungefähr so ab: sie machen dich in einer Art Massenmarathon fix und fertig, sie lassen einen stundenlang nicht zur Toilette. Einen von uns ließen sie nicht aus dem Raum, er pißte in die Hosen. Sie holen dich auf die Bühne und machen dich psychologisch fertig, beschimpfen dich <Arschloch, Scheißkerl>. Dann bauen sie dich wieder auf: <Sei wie du bist. — Das ist alles. - Für mich eine hypnotische Methode, dich zum EST-Kult zu bekehren. Bei allen, die ich kenne und die durch EST gegangen sind, sehe ich keine Veränderung, sondern nur ein oberflächliches Hoch. Sie sind noch genauso neurotisch. Sie sind überwältigt von der EST-Terminologie, sie plappern die EST-Sprache. - <Werner> — wie er verehrend genannt wird — umhüllt sich mit Mystizismus. Wenn man fragt, mit wem und wo hat er studiert, was lehrt er, Buddhismus, Zen usw.?, dann sagen seine Roboter: <Oh, er hat alles studiert.> - Mir mißfällt diese Mentalität, die Nazis haben einmal Mißerfolg gehabt, wenn es nicht mit Gewalt geht, versucht man es mit <sanfter> Massengehirnwäsche 173) 

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Eine ähnliche Erfahrung machte eine unserer Interviewerinnen174) mit einem angehenden Transaktions-Therapeuten in einer Supervisionsgruppe. Marty, ein junger Ingenieur, konnte nur euphorisch und missionierend sagen, daß sich sein Leben nach EST entscheidend verändert hat. Der Therapeut und seine Gesprächspartnerin konnten sich diesem Urteil nicht anschließen, sie sahen noch die gleichen neurotischen Verhaltensweisen wie vorher. Doch Marty blieb bei seiner Behauptung: »Vorher war ich nicht, was ich bin.« Wer und was war er wohl?

Es gibt auch positive Stimmen über EST, die den kommerziellen Rummel gerne in Kauf nehmen, weil sie sagen, daß EST für sie eine wichtige Erfahrung bedeutet: Ein Naturwissenschaftler faßte seine persönlichen Konsequenzen aus EST so zusammen: 

»Der Zentralpunkt von EST ist, daß man es erlebt und nicht intellektualisiert. Für mich war es eben so, daß ich doch immer Erlebnisse und Ereignisse intellektualisiert habe. EST hat mir vor Augen geführt, wie wenig das auf lange Sicht bringt, und daß man eben mehr auf das Leben selbst eingestellt sein sollte; man soll nicht theoretische Vorstellungen von seiner Existenz haben, sondern man soll einfach seine Existenz leben.«175)

Die Ehefrau, die selbst durch EST gegangen ist und der Sache skeptischer, aber nicht ablehnend gegenübersteht, bestätigte die veränderte Lebenseinstellung ihres Gatten. Für die ganze Familie sei das Zusammen­leben besser geworden. 

Wir wollen den Wert solcher Erfahrungen nicht herabmindern. Um Mißverständnisse auszuschließen: wir kritisieren an EST den diktatorisch faschistoiden Feldwebelansatz: erst die Leute entwürdigen, sie beschimpfen, dann am Schluß sagen, du bist o.k., folge nur EST

Was die Teilnehmer aus einer solchen Erfahrung machen, ist glücklicherweise nicht immer im Sinne der EST-Ideologie, mit der es Werner Erhard gelungen ist, Techniken zur Anwendung zu bringen, die Macht über andere garantieren: Er nutzt die Beklemmung, die über einer großen Zuhörerschaft liegt, und ihren Hunger nach Ordnung und Struktur geschickt aus. Er kombiniert die Auswirkungen von Wiederholung und Ermüdung. Er rechnet mit der Leichtgläubigkeit und Duckmäuserei der Leute, die neben einem sitzen, und der durch strenge Regeln geschaffenen künstlichen Impotenz eines großen Auditoriums und der masochistischen Befriedigung, die daraus resultiert, daß man sich selbst vertrauensvoll in die Hände eines Mannes begibt, dem man Omnipotenz zubilligt.

187-188

 

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