Schwenger-1978      Start    Weiter 

Gnade und Ungnade: Angst machen sie beide ...  

Carl Amery an Wolfgang Harich       detopia:   Amery     Harich 

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Sehr geehrter Herr Harich!

Es ist unvermeidlich, daß ich Sie auf Rudolf Bahro anspreche. Fürchten Sie kein Plädoyer, keinen Solidaritätsappell. Es geht nicht um persönliche Schicksale, auch um seines nicht; und es geht, zunächst ganz strikt, nicht um Ihre Stellungnahme (oder Ihr Schweigen) zu seinem Schicksal. 

Es geht ganz einfach um die Tatsache, daß Ihr Buch vom Jahre 1975: <Kommunismus ohne Wachstum?> und Bahros Buch <Die Alternative> von 1977 die einzigen zusammen­hängenden, logisch operierenden, deshalb ganz ernst zu nehmenden Versuche aus dem Bereich der DDR sind, mit der Ökologie, das heißt mit dem Problem einer überhaupt noch bewohnbaren Zukunft fertig zu werden.

Daß ich Sie auf ein Buch anspreche, das bereits 1975 erschien, ist möglicherweise unfair. Ich arbeite selbst seit acht Jahren auf dem Felde, das Sie darin bestellen, und ich weiß deshalb, wie rasch und gründlich sich die Akzente verschieben können; wie schnell man gezwungen sein kann, die eigene Stellung zu modifizieren, zu revidieren, die Rangfolge der eigenen Erkenntnisse und Dringlichkeiten zu überprüfen und, wenn nötig, zugunsten einer drastisch veränderten zu verwerfen. 

So ist etwa, um nur ein Beispiel zu nennen, uns Ökologisten im Westen reichlich spät der Zusammenhang zwischen der Verwüstung des Planeten und der entfremdeten Arbeit aufgegangen — ein Zusammenhang, der innerhalb eines marxistischen Bezugssystems früher einsetzt oder doch einsetzen müßte. Aber die Phase des Generalismus, in der wir uns befinden (jedenfalls, was unser gemeinsames Problem betrifft), die unleugbare Vitalität, die von der ökologischen Bewegung ausgeht, die ungeheuer befruchtende Wirkung, die sie auf die existierenden politischen und sozialen Kategorien ausübt: all dies erlaubt uns, über alte Gräben und Wälle hinweg gesprächsfähig zu bleiben (wie ich hoffe).

Es zwingt aber auch zum Gespräch; etwa zum Gespräch über Bahros Buch <Die Alternative>, das, wie übrigens auch Ihre Interviews mit Freimut Duve anno 1975, in einem westdeutschen Verlag herauskam.

* Für diesen Brief wurden folgende Bücher verwendet:  <Die Alternative> (B/A); <Rudolf Bahro: Eine Dokumentation.> (B/D); Wolfgang Harich, <Kommunismus ohne Wachstum?> 1975 (zitiert als: H).


Ob Sie es vorziehen würden, es zu verschweigen, weiß ich nicht; ich fühle mich jedenfalls nicht dazu berechtigt, obwohl ich, als Nichtmarxist, reichlich Gründe hätte, dazu zu schweigen. Auseinandersetzungen um die relative Sauberkeit von Orthodoxien, die relative Präzision von dialektischen Geschichts­deutungen langweilen mich — und andererseits: wäre <Die Alternative> wirklich nichts anderes als das, wozu es von einem neuigkeitssüchtigen Medienhaufen hier in der Bundesrepublik gemacht wurde und wird — eine cause célèbre nämlich, mit deren Hilfe die DDR angeschwärzt werden kann —, ich hätte mich aus höchst simplen Gründen der intellektuellen Redlichkeit nicht an solcher Publizität beteiligt.

Nein, was mich zwingt, Sie auf die <Alternative> anzusprechen, ist die Tatsache, daß es sich um ein Buch handelt, das ins Fach der politischen Ökologie fällt. 

Es nimmt - mit anderen Worten - die Forderung ernst, die Sie in Ihrem <Kommunismus ohne Wachstum?> erhoben haben; die Forderung nämlich, die bisherige Leitwissenschaft, die politische Ökonomie, durch eine neue Leitwissenschaft, eben die politische Ökologie, zu ersetzen.

Dies spricht Bahro allerdings nirgends aus; und ich vermute, daß es ihm auch gar nicht bewußt ist. Sein Buch und das Ihre sind im Ansatz, in der Methode, in der Wahl der Belege grundverschieden — ja, man hat den hartnäckigen Eindruck, daß <Die Alternative> geradezu in die Lücken von <Kommunismus ohne Wachstum?> hineingeschrieben wurde. 

Was Sie begründen, was Sie belegen, das verschweigt Bahro nicht, aber er setzt es (schon) als selbstverständlich an — die Notwendigkeit nämlich, unsere Verhältnisse auf der Erde dem Ende des Wachstums zuzuorientieren. Er sagt es so:

Wenn die Entwicklung der nächsten Jahrzehnte darauf hinausliefe, daß die 10 bis 15 Milliarden Individuen, auf die sich der Bestand der Menschheit nach den gegenwärtigen Extrapolationen einpendeln soll, den Verbrauchs- und Emittierungs­maxima der entwickeltsten Länder nachjagen, werden sich die kommenden Generationen damit befassen, Sauerstoff für die Atmosphäre, Wasser für die Flüsse, Kälte für die Pole herzustellen ... 

In dem technokratischen und szientistischen Glauben, der Fortschritt von Wissenschaft und Technik auf seinen eingefahrenen Bahnen werde die sozialen Probleme der Menschheit lösen, liegt eine der lebensfeindlichsten Illusionen der Gegenwart. Die sogenannte wissenschaftlich-technische Revolution, die jetzt noch überwiegend in dieser gefährlichen Perspektive vorantreibt, muß von einer neuen gesellschaftlichen Umwälzung her umprogrammiert werden. 

Die Idee des Fortschritts überhaupt muß radikal anders interpretiert werden, als wir es gewohnt sind.

(B/A, S. 311)

«Muß interpretiert werden» — das ist ein Passiv. Es sagt nichts über das Subjekt des Satzes aus, beantwortet nicht die Frage: wer interpretiert, wer programmiert?

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Für Sie, Herr Harich, besteht kein Zweifel: es ist die Partei, und zwar die Partei in ihrem Sosein in den Ländern des «real existierenden» Sozialismus — allerdings im Bunde mit der Wissenschaft. Nun, welche Partei sich Bahro wünscht, hat sich herumgesprochen — sicher auch bei Ihnen: einen Bund der Kommunisten, den er im Hier und Heute des real existierenden Sozialismus eindeutig als Opposition, als Hebel und Instrument der Kritik und der Veränderung, und zwar gegen die Machthaber, sieht.

Ihre Position ist da ganz anders — war es jedenfalls 1975. Sie sahen eine Zeit des rationierenden Verteilungskommunismus voraus, in dem das Absterben des Staates schon gar nicht, das des Zwangs noch lange nicht vorgesehen sein kann. Denn in einer Welt der Knappheit kommt es nicht auf Freiheit an; auch nicht auf das, was Marx und Engels die «volle Entfaltung der Produktivkräfte» genannt haben. Worauf es ankommt, ist die Gleichheit. Sie sagen es klar:

«Der Sinn der Weltgeschichte liegt, falls sie überhaupt einen hat, in der fortschreitenden Verwirklichung des Prinzips der Gleichheit aller Menschen. Dieses Prinzip konstituiert alle übrigen sittlichen Werte, die einer vernünftigen Regelung der zwischenmenschlichen Beziehungen zugrunde liegen müssen. Gesellschaftlichen Ordnungen, die dem widerstreiten, wohnt eine — auf die Dauer stets explosive — Dynamik inne, die sie instabil macht und somit den homöostatischen Zustand, in den die Menschheit bei Strafe ihres Untergangs überführt werden muß, vereitelt».   (H, 162)

Für Bahro steht ein anderes Stichwort im Vordergrund.

«Der Kommunismus kann nicht anders vorrücken, als indem er sich am Menschen beweist, an seinem sichtlichen und erlebbaren Aufstieg zur Freiheit, und das heißt vor allem in äußerer auch zu innerer Freiheit. Die Geschichte kommt uns hier mit einer unentrinnbaren Herausforderung. Unsere Zivilisation ist an jene Grenze der Ausdehnung gelangt, wo die innere Freiheit des Individuums als Bedingung des Überlebens erscheint. Sie ist einfach die Voraussetzung für den einsichtigen kollektiven Verzicht auf die so verhängnisvolle wie subjektiv zwecklose Fortsetzung der materiellen Expansion. Die allgemeine Emanzipation wird zur absoluten historischen Notwendigkeit» (B/D, S. 16).

Gleichheit bei Harich, Freiheit bei Bahro. Es ist klar, daß sich die Begriffe nicht ausschließen, wären sie durch den Begriff der Brüderlichkeit überwölbt. Denn Brüderlichkeit allein vermag die Quadratur des Zirkels aufzulösen, die in der praktischen Widersprüchlichkeit von Freiheit und Gleichheit liegt und, folgerichtig, in der politischen und gesellschaftlichen Praxis, die selten brüderlich ist, kaum je aufgelöst wurde und wird.

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Sie selbst, Herr Harich, sprechen des öfteren von Brüderlichkeit. Sie fordern viel von der kommunistischen Gesellschaft der Zukunft: viel Verzicht auf Bedürfnisse, was nur logisch ist: es wird der einzige Weg sein, die Bewohnbarkeit des Planeten zu erhalten. Sie sprechen von freiwilliger Zustimmung der örtlichen und globalen kommunistischen Gesellschaft etwa zur Umsiedlung von fünfzig Millionen Indern nach Rumänien ...

«... und eines Tages werden, um eine gleichmäßigere Verteilung der Erdbevölkerung zu erreichen, die aus ökologischen Gründen sehr zu empfehlen wäre, von einer kommunistischen Weltregierung sowieso Umsiedlungsaktionen im globalen Maßstab durchgeführt werden müssen ...» (H, S.41)

Sie sprechen von einem egalitären, aber gleichzeitig von einem würdigen, niveauvollen Dasein in einem solchen homöostatischen Zustand der Menschheit (Ihre Adjektive, nicht die meinen). Aber Sie betonen gleichzeitig und unmißverständlich, daß solche Brüderlichkeit des starken weltlichen Arms bedarf, um ihre Schwäche zu unterstützen, und das vermutlich auf immer, zumindest auf lange, lange Zeit:

«Es ist klar, daß dafür das gesellschaftliche Eigentum an allen Produktionsmitteln, vom proletarischen Staat verwaltet, die unabdingbare Voraussetzung ist. Aber es genügt noch nicht. Der proletarische Staat muß vielmehr, darüber hinaus, über die Machtmittel verfügen, auch den Konsum der Individuen zu kontrollieren, und zwar nach Kriterien, die ihm die Ökologie an die Hand gibt» (H, S. 179).

Wer oder was ist aber dieser proletarische Staat der Zukunft? Womit kontrolliert er? Er ist, wie schon gesagt, der Staat des real existierenden Sozialismus. Er ist der Staat, dessen historische Herkunft und dessen Wurzeln Bahro so leidenschaftslos und unerbittlich analysiert. Er ist, mit anderen Worten, der Staat der asiatischen Produktionsweise, der Despotie. Natürlich ist solche Despotie nicht mehr die alte, frühhistorische der Bewässerungskulturen oder der Mongolenherrschaft; sie ist vielmehr modifiziert, angepaßt an die Bedürfnisse einer nichtkapitalistischen Industriegesellschaft. Aber es gilt für sie genau die kritische Attacke, die Bakunin auf den Marxismus geritten hat und die Marx selbst 1873 zurückwies, weil diese Beschreibung eben nicht seiner Auffassung entspreche:

«Bakunin hatte dort gesehen <einen Despotismus der regierenden Minderheit, um so viel gefährlicher, als sie erscheint als Ausdruck des sogenannten Volkswillens>. — <Aber diese Minderheit, sagen die Marxisten)> (Marx fragt dazwischen: Wo?), wird aus Arbeitern bestehen. Ja, mit Erlaubnis, aus gewesenen Arbeitern, aber die, sobald sie nur Repräsentanten oder Regierer des Volkes geworden sind, aufhören Arbeiter zu sein und sehen werden auf die ganze gemeine Arbeiterwelt von der Höhe der Staatlichkeit; sie werden nicht mehr das Volk vertreten, sondern sich und ihre Ansprüche auf die Volksregierung.> Diese <intelligente und deswegen privilegierte Minderheit> werde regieren, <wie wenn sie die wirklichen Interessen des Volkes besser begriffe als das Volk selbst>. Man werde den Begriff <wissenschaftlicher Sozialismus> zur Begründung solcher Ansprüche mißbrauchen ...» (B/A, S. 47)

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Nun geht aus Ihrer gesamten Argumentation, Herr Harich, deutlich hervor, daß Sie eben dies, die Vertretung der wahren, noch unbegriffenen Interessen des Volkes durch eine intelligente Minderheit, durch die «Partei», beraten durch die «Wissenschaft», für den richtigen, den einzig möglichen Kurs in eine bewohnbare Zukunft halten:

«Ein sozialistisches Regime, das die Rationierung von Gebrauchswerten als zweckmäßig erachtet, wird von niemandem ... gedrängt, einen anderen, aggressiven Ausweg zu suchen, und es kann mit Leichtigkeit bei der Praktizierung der notwendigen Maßnahmen dafür sorgen, daß zugleich das Prinzip sozialer Gerechtigkeit streng bewahrt bleibt» (H, S. 39).

Und in der Tat: warum soll eine Despotie nicht eine gerechte Despotie sein, wenn sie durch eine intelligente, wissenschaftlich beratene Minderheit ausgeübt wird? Warum sollte der Menschheit als ganzer das Schicksal erspart bleiben, das den Sumerern, den Ägyptern, den Völkern Asiens zustieß, als die geschichtliche Notwendigkeit es erforderte? Schließlich ist dies eine Art der Arbeitsteilung, wie sie der chinesische Philosoph Menzius schon vor zweitausendfünfhundert Jahren als «universal anerkanntes Prinzip» beschrieb (ich zitiere nach Bahro):

«Einige arbeiten mit dem Geist und einige mit den Körperkräften. Diejenigen, die mit dem Geiste arbeiten, beherrschen andere, und diejenigen, welche mit ihrer Kraft arbeiten, werden von anderen beherrscht. Die, welche beherrscht werden, tragen andere, und die, welche herrschen, werden von anderen getragen» (B/A, S. 145).

Wie nahe übrigens auch die moderne Bürokratie der Mystik jahrtausendentfernter Priesterkasten steht, hat Marx erkannt und führt es in seiner Kritik am Hegelschen Rechtsdenken aus:

«Der allgemeine Geist der Bürokratie ist das Geheimnis, das Mysterium, innerhalb ihrer selbst durch die Hierarchie nach außen als geschlossene Korporation bewahrt. Der offenbare Staatsgeist, auch die Staatsgesinnung, erscheinen daher der Bürokratie als ein Verrat an ihrem Mysterium. Die Autorität ist daher das Prinzip ihres Wissens, und die Vergötterung der Autorität ist ihre Gesinnung.»

Wiederholen wir die grundsätzliche Frage: ist, angesichts der globalen Drohung, der wir ins Antlitz blicken, eine solche bürokratische Herrschaft, ein solches «Besserwissen» im wörtlichsten Sinne, gepaart mit absoluter Kontrollvollmacht auch über die privaten Konsumgewohnheiten — ist dies vielleicht die einzige Rettung? Ist dieses «Besserwissen» und damit auch die Vollmacht über die Nichtwisser, die Privaten, die «Idioten» (was ja nichts anderes als laienhafter Privatmann heißt) identisch mit der Entlastungsfunktion der Institutionen, die uns gewissermaßen den Fluch der Freiheit aus den schwachen Händen nehmen?

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Sie berufen sich ja, was Anthropologie betrifft, ohne Ziererei auf Arnold Gehlen, der gerade diese Entlastungsfunktionen der Institutionen hervorgehoben hat. Indem die Autoritäten kommandieren, ökologisch belehrt von der Wissenschaft, nehmen sie dem Untertanen die Verantwortung ab für all die Verzichte, denen er sich notgedrängt und notgedrungen unterwerfen muß.

Verzeihen Sie, Herr Harich, daß ich hier folgendes feststelle: Rudolf Bahros großes Verdienst um die ökonomische Sache besteht darin, gerade das entgegen­gesetzte Prinzip, nämlich das der Emanzipation, als Grundbedingung des Überlebens der Art in den Mittelpunkt gestellt zu haben. Bahro postuliert und belegt in unserem Zusammenhang folgende Tatsachen: Erstens die Verantwortungsunfähigkeit der Herrschend-Wissenden im real existierenden Sozialismus, also in der historisch aus der asiatischen Produktionsweise gewachsenen Verfassung; zweitens die Verantwortungslosigkeit der Beherrschten; und drittens das Fehlen eines einigermaßen vollständigen Rückmeldungskreislaufs.

Jede dieser Tatsachen widerspricht den ökologischen Erfordernissen der Gegenwart und Zukunft, und zusammen entziehen sie dem real existierenden Sozialismus jeden Vorsprung in dieser entscheidenden Menschheitsproblematik, den er etwa durch Abschaffung des Akkumulationsprinzips und die Zentralisierung der Kommandohöhen haben könnte. Dies bedarf der Ausführung.

Erstens: Die Verantwortungsunfähigkeit des herrschenden Apparats ist unausweichlich, weil seine Entscheidungsfindung zu kompliziert, das heißt zu zentralisiert ist. Er hat zu handeln auf Grund von so vielen Parametern, daß sie unmöglich alle richtig in die Entscheidungsfindung eingehen können. Deshalb werden, ohne daß die Herrschenden sich dessen bewußt sind, die selbsterhaltenden Interessen des Apparats vorgezogen, ohne die Zweit-, Dritt- und Viertfolgen in Rechnung zu setzen:

«Es ist überhaupt ein Unsinn, anzunehmen, eine Gesellschaft, die noch in wesentliche Untergruppen unterschieden ist, könnte ihre allgemeinen Interessen auf einen wissenschaftlichen Generalnenner bringen, der den sozialen Widersprüchen unvoreingenommen die Entwicklungsrichtung vorschreibt. Wenn die Rationalität nur über den Staat und die Partei realisiert werden kann, dient die Wissenschaft diesen Institutionen und wird zum sozialen Kampfmittel der mit ihnen verbundenen sozialen Schicht... Unser System besitzt gar kein soziales Organ für unvoreingenommene Erkenntnis, für eine objektive Analyse der bestehenden Verhältnisse» (B/A, S. 289/290).

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Um dies zu verdeutlichen, darf ich ein Beispiel heranziehen, das Ihnen, Herr Harich, naheliegen muß. 

Anläßlich eines Besuchs in Moskau im Sommer 1976 hatte ich Gelegenheit, mit den Redakteuren der Zeitschrift Woprossi filosoßi, also des Blattes, das seinerzeit das von Ihnen mit Recht hochgeschätzte Symposium «Mensch und Umwelt» veranstaltet hatte, ein längeres Gespräch über unser Thema zu führen.

Zum Abschluß unseres Gesprächs erlaubte ich mir, die Frage nach dem hinreichenden Bewußtsein und der hinreichenden Motivation in ein konkretes Beispiel zu kleiden. Angenommen, die planende Behörde schickt einen guten Mann nach Kasachstan mit dem Auftrag, den Ernteertrag um fünfzig Prozent zu erhöhen. Wird der Mann über den Überblick verfügen, der es ihm ermöglicht, sämtliche Parameter der ökologischen Rechnung einzubeziehen? Wird dieser Überblick nicht um so schwerer zu erreichen sein, je zentralistischer, das heißt, je großräumiger und unbeschwerter von lokalen Ein- und Absprachen sein Plan konzipiert ist? Wird ihn nicht gerade der allerbeste Wille dazu nötigen, das Problem isoliert — und damit falsch anzugehen? 

Die Frage war hinterlistig, ich gebe es zu; und die Antwort der Redakteure war bezeichnend: hier handle es sich, wurde mir gesagt, um kein marxistisches, sondern um ein allgemein menschliches Problem.

Nun, Sie und ich wissen, daß das nicht stimmt, jedenfalls nicht so. Es war zum Beispiel kein Problem der Jäger- und Sammlervölker, und es war kein Problem der europäischen und asiatischen freien Subsistenzbauern, die mit ihrem durchschnittlichen Intellekt sehr wohl in der Lage waren, eine massive und kulturell höchst fruchtbare Stabilität zwischen Natur und Gesellschaft herzustellen. Das Problem wird allgemeinmenschlich in dem Augenblick, wo der einzelne des Überblicks über seinen Lebensbereich beraubt wird, indem man ihm «Weise», Qualifizierte vor die Nase setzt, die allein berechtigt sind, den Apparat auch des Wissens zu bedienen.

Und dies führt zweitens zur Verantwortungslosigkeit der Beherrschten; führt, mit Bahros Worten, zur Subalternität.

«Zunächst ist ein Subalterner einfach ein im Rang Untergeordneter, der über eine von oben abgegrenzte Kompetenz hinaus nicht selbständig handeln und entscheiden darf ... Wenn jedoch diese Rolle das soziale Gesamtverhalten der ihr Unterworfenen bestimmt, wenn sich ihr gesamter Lebensprozeß hauptsächlich im Zeichen irgendwelcher untergeordneter Teilfunktionen für ein unkontrollierbares Ganzes abspielt, dann wird die Subalternität... zur Eigenschaft des ausführenden Individuums. Sie beherrscht nun das subjektive Verhalten, und sogleich tritt als ihr Pendant die Verantwortungslosigkeit für allgemeinere Zusammenhänge hinzu» (B/D, S. 19).

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Verantwortungsunfähigkeit oben, organisierte Verantwortungslosigkeit unten; dies ergibt die dritte Tatsache, mit der es nun wirklich ökologisch wird: das Fehlen jeder realen Rückkopplung, jedes Kreislaufs von Informationen. Denn der Kreislauf, insbesondere der Informationskreislauf im weitesten Sinne, ist das vornehmste Kennzeichen ökologischer Lebenszusammenhänge. Es ist nicht vorstellbar, daß ein politisch-gesellschaftliches System, dem jede Außensteuerung fehlt, der vorhandenen Herausforderung gerecht werden kann. Das enge Geflecht von Theorie und Praxis; das safe fail-System von Versuch und Irrtum; das heißt aber vor allem die stetige und multilaterale, nichthierarchische Kontrolle: das sind die Voraussetzungen für ökologisches Funktionieren — und damit auch die Voraussetzungen für die Bewältigung des ökologischen Dilemmas. Dies, so scheint mir, hat Rudolf Bahro innerhalb seines Kontextes hervorragend begriffen und dargestellt. (Die von ihm vorgeschlagenen konkreten Lösungen haben mich nicht überzeugt, aber das steht auf einem anderen Blatt.)

Ist die ökologische Herausforderung damit «systemneutral»? Oder gar grundsätzlich unlösbar? Ich glaube nicht. Ich teile Bahros — und Ihre — Meinung, daß die Herausforderung alle unsere politischen und ökonomischen Überlegungen zwangsläufig nach links führen wird; ich glaube aber auch, daß sie vieles an uraltem, im besten Sinne konservativem Gedankengut wiederbeleben muß, was wir auf den Abfall der Geschichte werfen zu können glaubten. Nicht von ungefähr zitiert Bahro den ältesten «konservativen» Kulturkritiker Chinas, Lau-Dse, der im Buch <Dau-De-dsching> vor zweitausendfünfhundert Jahren die erste große Arbeitsteilung so beschrieb:

Aber eines scheint mir sicher: keine zentralistische Lösung wird den Verhältnissen gerecht werden — und keine Lösung, welche die Produktionsformen außer acht läßt und sich ausschließlich auf Produktionsverhältnisse konzentriert.

Ich komme zum Schluß. Er besteht aus zwei Fragen, die nun doch persönlich werden müssen. Die erste, allgemeinere: Glauben Sie, bei aller Reserve, die Sie aus theoretischen Gründen gegen Bahro haben dürften, daß wir ökologisch Engagierten auf einen so originellen und unerschrockenen Diskussionspartner verzichten können, wenn es uns mit unserem Engagement ernst ist?

Die zweite Frage, die sich daraus ergibt, ist notwendigerweise noch unangenehmer. Sie schrieben 1975:

«... daß ich ... hier sehr ungern neuerlich in Konflikte geriete mit meiner — ja nach wie vor wachstumsbejahenden Obrigkeit. Daß ich deren politische Omnipotenz, wie überhaupt die autoritären Strukturen unseres Systems, für überlebensnotwendig erkläre, kann ihr zwar nur recht sein ... Mit Pluralismus, mit dem Ruf nach mehr Freiheit und dergleichen habe ich offensichtlich nichts im Sinn; ganz im Gegenteil» (H, S. 172).

Nun, Ihr Konflikt mit der Obrigkeit ist offensichtlich ausgeblieben. Aber berührt es Sie nicht etwas seltsam (objektiv meine ich, als marxistischen Theoretiker), daß jemand wie Sie, der im Grunde viel unbarmherziger mit der reinen Lehre verfuhr als Bahro — der ihre optimistisch-aufklärerische, ihre Hoffnungskomponente kappte und die Menschheit auf einen grimmigen Verteilungs-Babouvismus zurückverwies —, daß also jemand wie Sie trotzdem «resozialisiert», das heißt persönlich sicher bleibt, während Rudolf Bahro, dem es gerade darauf ankam, die ökologisch bedingte Notwendigkeit mit der marxistischen Tradition und dem Prinzip Hoffnung zu versöhnen, in der autoritären Oubliette verschwindet? 

Liegt da nicht der Schluß nahe, daß Sie, wie Sie ja selbst offen schreiben, die «politische Omnipotenz» der Herrschenden für überlebensnotwendig erklären, während Bahro sie als entscheidendes Überlebenshindernis aufzeigt?

(Und, bitte, antworten Sie mir nicht, daß Bahro wegen nachrichtendienstlicher Tätigkeit sitzt. Ein gewisses Niveau sollte die Diskussion wahren.)

Aber heißt das nicht letzten Endes, daß das Überleben des Apparats, gleichgültig wie entfremdet, wie entfremdend, wie zukunftsmörderisch seine Strukturen auch sein mögen, den Erfordernissen marxistischer Erkenntnis­findung noch allemal vorgezogen wird? (Dies ist eine Frage für den marxistischen Theoretiker Harich, nicht für mich...)

Nicht ohne gespannte Erwartung Ihrer Rückäußerung

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Ihr Carl Amery 

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