Reinigung — oder wozu Meditation?
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Homo integralis meint nicht nur, daß wir uns das geschichtlich Verlorene wiederholen, unsere kollektiven Verluste. Handelt es sich um die Menschen, die dazu beitragen wollen, etwas für die Heraufkunft eines lebensrichtigen ORDINE NUOVO zu tun, die also, ob sie wollen oder nicht, mit ihrer Subjektivität gesetzgebend auftreten werden, so wird die Integration der eigenen Geschichte zum Politikum ersten Ranges.
Es folgt dann aus der bloßen Tatsache, daß wir Subjektivität haben, die Notwendigkeit einer Reinigung.
Auf dem biologischen Niveau arbeiten alle Koordinationen "uneigenwillig", "nichtegozentrisch". In der ganzen Anordnung des Zentralnervensystems, die funktioniert, wenn wir den kleinen Finger bewegen, gibt es keine Station, die ihr besonderes Projekt verfolgen würde. Die verschiedenen Ebenen in der Hierarchie der biologischen Information konkurrieren und diskutieren nicht, ebensowenig die parallel angeordneten Neuronen, die verschiedene Vermittlungen gleicher Stufenleiter ausführen.
Ich spreche da nicht von einem sozial einzuholenden Ideal, sondern von einer Tatsache, für den Vergleich. Im gesellschaftlichen Organismus werden alle diese Vermittlungsfunktionen von Akteuren ausgeübt, die in erster Linie ihrer eigenen Existenz und Subjektivität dienen möchten, jedenfalls, solange sie ihren spontanen Impulsen folgen.
Das erklärt und bestimmt den unvergleichlich hohen Störungspegel, zumal wir — wie die asiatische Philosophie früh festgestellt hat — in unserer Einzelnheit, Endlichkeit, Teilheit wesentlich unwissend sind. Der von unseren besonderen Interessen gesteuerte Eingriff, die geringste Beimengung egozentrischer Subjektivität, wo es um Angelegenheiten überindividueller Bedeutsamkeit geht, kann das Gleichgewicht des ganzen Ensembles stören.
Unser Ich — insofern es vielleicht nicht nur, aber auch ein von Abwehrmechanismen eingezäuntes Nichts gegenüber einem fremden Universum ist, d.h. sich so gesetzt hat — muß sich eine unendliche Kunstwelt schaffen. Da geht es nur bedingt um konkrete Dinge, die jeweils erforscht und getan werden müßten, sondern: Wenn die Erde erobert ist, muß der interplanetare Raum an die Reihe kommen, damit der Pioniergeist das nächste Objekt hat. Wie es Günter Nenning einmal ausgedrückt hat, ist unsere Praxis von Grund auf "prometheisch kriminell".
Jetzt wollen wir uns auch noch auf dieselbe Weise retten, mit einem kybernetischen Ökologieprojekt, das die ganze Komplexität erst einmal wissen und durchrechnen möchte; es geht unsere ganze hoffnungslose Abhängigkeit vom Werk unserer Köpfe und Hände schon gleich wieder ein. Nicht, daß der Mensch sich wichtig nimmt (er kann gar nicht umhin), sondern wie er das tut, in welcher Verfassung, das führt ihn ans Nichts. Wir betreiben ein planetarisches Geschäft, aber mit der Konkurrenz unserer beschränkten Sonderinteressen als Antrieb und organisierendem Zentrum.
Während wir keine wie auch immer geartete Autorität mehr anerkennen, gibt es natürlich die faktischen Mächte, bzw. die eine faktische Macht — aber unbewußt: die Megamaschine, die unseren Individualismus zur absurden Groteske macht.
Fragen wir uns um unserer selbst willen: Wie braucht — nachdem wir die ganze Erde brauchen — die ganze Erde uns? Wie braucht uns der intelligible Zusammenhang, der das irdische Gleichgewicht ist? Wie müssen wir sein, um es nicht zu stören? Wir werden sozial nichts anderes bewirken, als wir individuell sind. Nur von Verwandelten kann Verwandlung ausgehen.
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Wer seinem Körper feind ist (Brecht sagte, wer schon nicht richtig sitzt — und wer sitzt schon richtig?!), wer seinen Schatten nicht kennt und angenommen hat, nicht "mit Satan versöhnt ist", wer das andere Geschlecht in sich nicht erfahren hat, wer von dem Minderwertigkeitskomplex seines Ego regiert wird — ist untauglich, "Herr" oder Herrin bzw. "Frau der Welt" zu sein, und sei es im kleinsten Kreise.
Wir müssen diese "Wege zum Selbst" gehen, denn nur, soweit wir, was wir sind, bewußt sind, haben wir immerhin die Chance der Entscheidung. Und die Meister sagen, daß die befangenen Verhaltensweisen, deren wir uns bewußt sind, ihre Macht verlieren, mit der Zeit von selbst verschwinden. Oder es fällt von an sich sinnvollen Reaktionen die Verunreinigung ab. Sobald wir weltverändernd handeln wollen, ist unbewußt zu sein die Sünde. Die neue Welt fängt mit dem neuen Menschen an, diesem neuen Selbst, das sich in uns über das bedürftige Ego erheben kann, indem es erlebt, "in uns ist alles", jede(r) hat alles das Seine mit sich — was uns von den Anderen entgegenkommt, ist Geschenk darüber hinaus.
Zwischen dem Hara und dem Herzchakra einerseits und dem Dritten Auge der objektiven geistigen Schau liegt noch eine andere, in der bisherigen Darstellung nicht hervorgehobene "Pforte": das 5. in der Höhe der Kehle gelegene Chakra, ohne dessen Durchschreiten die Beziehung zwischen Kopf und Herz nicht völlig aufgehen kann.
Das Herz unterscheidet zwischen warm und kalt, weist "Kaltes" ab, auch eine halbe Welt also ... Die 5. Pforte führt in das "Königreich der Reinigung". Hier ist die Authentizität, die subjektive Wahrhaftigkeit unserer Kommunikation das Thema. Unsere Fähigkeit zur objektiven Wahrheit setzt voraus, daß wir uns selbst erkannt haben bis in die dunkelsten Winkel unserer Motivation. Anders können wir gar nicht wissen, was wir fallen lassen müssen, wenn wir Wahrheit wollen.
Nach der "Hochzeit zwischen Herz und Hara" dürfen wir uns also die andere "alchimistische Hochzeit von wachem und schlafendem Bewußtsein, Licht und Schatten, bewußter und unbewußter, rationaler und emotionaler Seite" (Sam Keen im entsprechenden 5. Kapitel seiner "Königreiche der Liebe") nicht ersparen wollen, wie wir wohl geneigt sind, weil hier das Klima umschlägt, weil der Weg zunächst von der erotischen Ekstase in die Kälte führt — das Herz hat nicht nur "seine Gründe, die der Verstand nicht kennt", wie uns Pascal gesagt hat, sondern da sind auch Süchte, da ist zum Beispiel die Sucht nach "ewigem" Sky-Dancing, wie die Tantriker ihre Euphorie benennen.
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In der Atmosphäre jenes Märchens, das ich erwähnte, gibt es bei Novalis auch dieses kleine Gedicht:
Ihr schaut in einen Wirbel
Von Menschenschicksal hin,
Und forscht und fragt vergebens
Nach dieses Rätsels Sinn.Einst wird es licht sich lösen,
Längst ist der Schlüssel da,
Denn war nicht Lieb und Einfalt
Dem Menschen immer nah?Es ist etwas darin, das nicht ungestraft verletzt werden darf. Dennoch wird es in solcher Einfalt allein mit der Liebe nicht aufgehen, schließlich sind wir individualisierter denn je, und das will sein Recht haben. Die eigentliche Intimität auszuklammern, das mag im alten Indien möglich gewesen sein. Das europäische Kunststück wäre, daß sich der Gott im Manne, die Göttin in der Frau nicht nur in ihrer archetypischen Natur, sondern zugleich in ihrer Individualität begegnen.
Nach meinem Einblick hat niemand dieses Thema tiefer auf- und kühner angefaßt als Dieter Duhm mit seinem Experiment eines "Kulturkristalls" in seiner "Bauhütte". Die These ist: Um der Liebe willen müßte der Mensch die Liebe erst einmal lassen, weil sie so unheilbar mit Korruption vermengt ist; Mann und Frau müßten erst einmal bedingungslos sich selbst finden, ihre Sexualität jenseits der Anhänglichkeit-Abhängigkeit-Verlustangst usw. sowie aller moralistischen Sentimentalität leben. Mit anderen Worten, sie müßten erst einmal durch das 5. Chakra hindurch bzw. auf dieser Ebene statt auf der des Herzens miteinander kommunizieren.
Freilich, sollte nicht der Kälte die Wärme vorausgegangen sein? Vor drei Jahren habe ich dort die große Distanz gespürt, in der sich die "nicht mehr anhaftenden" Monaden dann zunächst um so egozentrischer gegenüberzustehen scheinen. Kaum Du, keine Kommunion — sie verboten sich's einstweilen. Kritische Wachheit in der Umarmung. Wer kommt heil über diesen Grat?
Seltsamerweise war in dieser als exzessiv beleumdeten Liebesschule ein geheimer Asketismus spürbar, der keinen Vergleich zu scheuen braucht.
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Sollte der Weg zum Selbst unvermeidlich von der Magie des Eros fortführen? Aber dann bliebe es bei dem Ausgetriebensein aus der weiblichen Epoche, aus dem Umfangensein — keine Integration.135a Diese Magie mit hinaufzunehmen, setzt voraus, den spirituellen Egoismus, den Leistungstrip des yogischen Bergsteigers zu lassen, verlangt, einmal nichts erreichen zu müssen, auch keine "Heiligkeit". Sonst versäumt der Mensch erneut die letzte Hingabe — und nichts kommt in Ordnung.
Allerdings muß die Kälte ihre Stunde haben, und es könnte wichtig sein, auch wacher — aber nicht wachsam wie dieser Krieger Castanedas — in die Umarmung zu fallen. Nur wenn wir auch die Kälte riskieren, meint jedenfalls Sam Keen, und ich stimme ihm zu,
dürfen wir die Erfüllung jener Verheißung erhoffen, die sich uns flüchtig im Königreich des Herzens aufgetan hat. Ehe wir den Gipfel erstürmen, müssen wir von den vergifteten Illusionen, Projektionen und Verteidigungsmechanismen gereinigt werden, die unsere Persönlichkeit, das Ego und das gesellschaftlich konditionierte Selbst bestimmen. (Wir müssen vor allem uns selber) unsere geheimen Gedanken zum Ausdruck bringen ... Hierbei findet stets eine Art Striptease statt, in dessen Verlauf überflüssige Selbstbespiegelungen, Rollen und konditionierte Reaktionen untersucht und ausgeschieden werden. Die Persönlichkeit schwindet, indem wir hinter der Maske nach unserem wahren Gesicht suchen. [Diese Suche] ... wird in einer alles Äußerliche fördernden Welt zum unerläßlichen Abenteuer. Das Gesicht wahren, im Bekanntenkreis mithalten können, seine Sache "gut machen", der öffentlichen Meinung entsprechen — dies sind die tatsächlichen Zeichen jener Krankheit, an der unsere Gesellschaft leidet.
Was nun die Reinigung von all unseren anpasserischen Lügen betrifft, so bildet die Kehle nach der alten Lehre
einen ganz besonderen physio-symbolischen Sitz dieser Bewußtseinsform. Was einst unkritisch aufgenommen worden ist, muß nun ›gekaut‹ und aktiv aufgelöst werden, damit es verdaut werden kann. Unterdrückte Worte und Gefühle müssen zum Ausdruck gelangen. Die Urteile - oder vielmehr die Vorurteile -, die wir in den Mund genommen haben, sollen hinuntergeschluckt werden. Krieche zu Kreuze und friß deine Worte. Nimm zurück, was du gesagt hast. Die Worte, die das Gehege unserer Zähne verlassen haben, enthalten unsere gesamten Urteile. Sie offenbaren unsere Projektionen. Was Peter über Paul spricht, sagt mehr über Peter als über Paul.
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Wenn das Bewußtsein die Stufe des fünften Chakras erreicht, besteht seine Hauptaufgabe im Reabsorbieren der Projektionen. Im tantrischen Körper-Mythos ist die feurige Energie des dritten Chakras — die Wildheit des Kriegers — zur Zerstörung der Ego-Festung einzusetzen. Aggression, Zorn und List, die wir einst zur Verteidigung gegenüber der Umwelt verwendet haben, müssen gegen unsere eigenen Verteidigungsmechanismen gerichtet werden. Unsere Kraft muß der Zerstörung unserer Paranoia dienen.
Soweit die Zitate aus Sam Keen.136
Ist nicht dies der Weg, der an die nächste Pforte, die zum "Königreich des Lichts", der objektiven Schau führt? Wir können nur jeweils soweit objektiv sein und die Welt zum Selbst machen, wie uns unsere unmittelbaren Interessen, Projektionen und Vorurteile nicht beherrschen.
Wozu Meditation?
Meditation ist der umfassendste Name für die Praxis dieser Reinigung, für die verschiedensten Wege inneren Handelns, d.h. der Innenweltveränderung, wo wir uns bisher einseitig auf Außenweltveränderung geworfen hatten137. Wir haben die "Umwelt" bewußter gemacht (Geist in sie hinein vergegenständlicht) als uns selbst. Dann ist es unvermeidlich, daß unser Inneres hauptsächlich als Automat, als Roboter der Außenwelt, vor allem inzwischen der von uns geschaffenen, fungiert. Solange wir noch nur Automaten der Großen Natur waren, gingen wir längst nicht das gleiche Risiko ein.
Dies sagt nicht etwa, Arbeit und Meditation müßten notwendig auseinanderfallen, grundsätzlich zeitlich getrennt sein. Arbeit kann geistvoll sein, und Meditation muß nicht Sitzen im Za Zen sein. Meditation meint nichts als die Methode, Bewußtheit unseres Handelns zu erreichen, sei dieses Handeln Arbeiten, sei es Lieben, sei es Fühlen, sei es Denken — wir denken nämlich meist auch nicht bewußt, sondern "es klappert die Mühle am rauschenden Bach".
Nicht nur deshalb, weil unser Erkenntnishorizont an sich beschränkt ist, wissen wir meist nicht, was wir tun, sondern auch, weil wir unseren Biocomputer einfach laufen lassen, wie er programmiert wurde, als wir der Prägung und Konditionierung noch kaum einen eigenen Formwillen entgegensetzen konnten. "Alltag als Übung" hat daher Graf Dürckheim* ein Buch genannt, das den Sinn von Meditation besonders verständlich macht — als einer Praxis der Freiheit, einer Praxis der Befreiung von allem unbewußten Fremdbestimmtsein.
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Meditation geht vor allem gegen die von links bis rechts alltäglich ungebrochen fortgesetzte Denkübung in Unfreiheit: nämlich die "Wirklichkeit", die "Umstände" für unentrinnbar zu erklären, alles so zu beschreiben, daß wir unsere Abhängigkeit bestätigt bekommen, unsere bequeme Ausrede, daß wir ja nicht anders können, und daß nichts anderes geht — mit "den Menschen, wie sie nun mal sind".
Das wehleidige Ich sagt: Schaffen wir zuerst die Bedrohungen, Kränkungen, Frustrationen ab (von ihm selbst gehen natürlich keine aus) — statt der Zügelung unserer Ängste, Eitelkeiten, Bedürftigkeiten. Aber wir sind so in die Welt gekommen, so geprägt und so konditioniert worden, daß wir immer eine Gefahr, eine Demütigung, einen Verlust zu gewärtigen haben, und darauf reagieren wir mit Sicherheitspolitik, mit Eifersucht, mit Rentenvorsorge. Wenn wir davon ausgehen und dabei bleiben wollen, schaffen und reproduzieren wir erst die Umstände, die uns beherrschen.
Meditation als Weg der Reinigung, des Bewußtwerdens, der Innenweltveränderung, der inneren Emanzipation ist der eigentliche Zweck dessen, was wir üblicherweise für Meditation halten und was in Wahrheit nur ihr allerdings sorgsam zu bestellendes Vorfeld ist — vom Sitzen im Za Zen über alle möglichen Arten dynamischer Meditation (Yogastellungen, Atemübungen, nicht zu vergessen den Tanz) bis zu bioenergetischen, ganzheitstherapeutischen Verfahren wie Rebirthing und vielen anderen.
Es ist nicht wahr, daß es ohne diese Praktiken keine Reinigung gibt, aber es sind erprobte Öffner und Beschleuniger, und vor allem zielen sie alle auf einen entscheidenden gemeinsamen Punkt: In der Regel sind wir gar nicht wirklich bei uns und haben unsere Ursprungskräfte nicht parat; also müssen wir uns erst zentrieren, müssen unsere Energien erst aus den fremdbestimmten Aktivitäten zurückholen, zurückziehen, müssen erst zu uns kommen.
Was bedeutet eine einfachste Übung wie die Beobachtung des Atems, zwanzig Minuten lang?
Ich zähle die ersten fünf Minuten den vom Einatmen bis zum Ausatmen reichenden Atemzyklus nach dem Vollzug. Die zweiten fünf Minuten zähle ich die Zyklen jeweils vor dem Vollzug. Die dritten fünf Minuten verfolge ich den Atem auf seinem ganzen hoffentlich weiten Weg durch meinen Körper. Die letzten fünf Minuten konzentriere ich mich völlig auf den Ein- und Austritt des Atems an den Nasenlöchern.
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Wann achten wir schon einmal auf den unserer Aufmerksamkeit zugänglichsten unserer grundlegenden Lebensvorgänge, der die ganze Weisheit der Evolution in sich enthält? Dabei hat die Konzentration auf diesen Vorgang den Hauptzweck, einmal die klappernde Mühle in unserem Kopf auszuschalten, die unausgesetzt unsere gestrigen Urteile und Vorurteile repetiert und den uns so nötigen Neuanfängergeist erst gar nicht aufkommen läßt. Zwanzig Minuten lang, soweit unser Kopf halt bei dem Zählen und Beobachten bleibt, projizieren wir nicht, sind wir von der generellen Korruption durch die Außenwelt abgekoppelt. Zugleich liegt in den meditativen Praktiken eine Distanzierung, eine Entidentifizierung von der Ich-Ebene, die ja weitestgehend die innere Agentur der Fremdbestimmungen ist, zumal, soweit sie unreflektiert mitspielt.
Und dann fühlen wir bei regelmäßigem Üben immer mehr von jener Kraft in uns, die von sich selber sagt: "Siehe, ich mache alles neu." Wir fühlen uns Teil von jener Kraft, unabgetrennt und unseres unglücklichen Bewußtseins enthoben. Auch gelingt uns für Momente dieses objektive Schauen, mit dem das 6. Chakra, das "Dritte Auge" der Selbsterkenntnis, der Reinigung schon zu Hilfe kommt. Die Meditation macht uns — nicht nur für die Stunde der Übung, wenn wir sie uns zur Regel machen — empfänglich für die universale Sprache, für das ganze "Nicht-Ich", das für Momente zum Du werden kann, besonders, sobald wir uns klar sind, wie sehr das nichtgemachte das von uns gemachte Sein überwiegt.
So erfahren, ist Meditation nicht Bitten und Beten zu einem Gott, sondern Zurückkommen auf das Göttliche in uns selbst. Es liegt an jedem Menschen, es auf sich zu beziehen, wenn Hölderlin sagt: "An das Göttliche glauben die allein, die es selber sind." In ihrer doppelten Funktion der Reinigung und der Bereitung des Bodens dafür ist Meditation, besonders dann, wenn wir auf ihren Gewinn gestützt zugleich in der Welt handeln, die weitestgehende Praxis der Autonomie. Diese Autonomie wird einem einfach nicht von außen zugeteilt, sie ist keine Folge gesellschaftlicher Einrichtung, sondern ihre Quelle. Freie Menschen werden die zu ihnen passenden Institutionen haben.
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Unter unseren Bedingungen, wo — anders als etwa in Nordost-Brasilien — nicht Hunger und Krankheit die physische Startbahn zerstören, stellen wir uns nur selbst ein Bein, wenn wir auf die Ungunst der Umstände hinweisen. Die Umstände sind günstiger denn je. Die Megamaschine ist allmächtig — und sie ist ein Flop, den wir selbst veranstalten und andauernd selbst bestätigen, indem wir uns etwa erzählen, der Mensch könnte ohne sie nicht leben.
Auf der "tierhaften", "profanen", vitalen Ebene verharrend und weiter in unsere Kämpfe um Selbstdurchsetzung verstrickt, können wir die Megamaschine nicht nur nicht aufhalten, wir können sie nur weiter vorantreiben. Sie ist unser wahrer Gott oder vielmehr Götze, der Niederschlag unseres kombinierten toten Geistes. Auf der spirituellen Ebene, vom Herzen über die Reinigung bis zur objektiven Schau, sind wir (mit) die Gottheit. Die Meister haben — und darin irrten sie trotz aller meist patriarchalen Einbindung nicht — immer gesagt, die gute Gesellschaft hinge davon ab, unsere Existenz auf dieser spirituellen Ebene zu stabilisieren. Meister Eckhart zum Beispiel hat das gemeint, wo er von jener "Stadt der Seele" spricht, die wir pflegen sollen als den Ort, wo Christus in uns geboren werden kann. Buddha würde ergänzen, wo er schon immer geboren ist, aber noch nicht wahrgenommen, nicht aktiviert, daher so oft zurückgebildet.
Mehr noch als das Volk neigen die Intellektuellen dazu, Spiritualität für unpolitisch zu halten. Sie sind entsetzlich unwissend, auch über die Grundlagen unserer eigenen Kultur. Und eher noch unwissender sind diejenigen, die angesichts des Bösen, das unvermeidlich hochkommt, wenn wir an die Arbeit der Reinigung gehen, vergessen, daß die Hitler eine Folge und nicht eine Ursache sind. Der schwarze Geist ist der pervertierte weiße. Eben weil Charisma als solches noch kein Beweis des Guten ist, brauchen die Grünen (ich meine nicht die Partei im Besonderen) die Reinigung.
So oder so sind von den Erleuchteten, den dunklen wie den hellen Spiritualen aller Zeiten, stets die tiefsten gesellschaftlichen Wirkungen ausgegangen. Aus dem meist ja Rembrandtschen Hell-Dunkel ihrer Geister haben sie den Kulturen in deren formativen Perioden die Form gegeben, natürlich im Kontakt mit den ihnen entgegenkommenden Bewußtseinsanteilen aller Mitglieder der Gemeinschaft bzw. Gesellschaft.
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"Neben" einer solchen Praxis noch extra Politik betreiben zu sollen, ist für den in dieser spirituellen Dimension beheimateten Menschen ein bodenloses Mißverständnis. Denn ihre Grundposition schließt das denkbar weitestgehende politische Konzept ein und die geeignete politische Aktion nicht etwa aus.
Unpolitische Spirituelle sind Menschen mit einer insgesamt zu schmalen Welt, auch innen. Evolutionär betrachtet, dient Meditation doch nicht der Erzeugung irgendwelcher psychischer Zustände und euphorischer Feelings, die sich einstellen und dem eigentlichen Sinn günstig sein können (nicht müssen). Sie dient dem politischsten Zweck, der heute denkbar ist, der weitestmöglichen Befreiung von der Ich-Perspektive, vom selbstsüchtigen Eigenwillen und der Befreiung zum rettenden Handeln, zum Neubau der Kultur, zur Veränderung der Institutionen. Und wer so die Welt zum Selbst macht, wird dadurch in der persönlichen Kommunikation und Kommunion mit den Anderen nicht weniger, sondern mehr individuell sein. Unser Personsein, die Einmaligkeit unseres individuellen Genotyps, die bei der Reinigung erst wirklich herauskommt, gehört grundlegend mit zur Wirklichkeit des Menschen.
Am beispielhaftesten für den homo occidentalis hat die Umkehr, um die es jetzt für uns geht, vielleicht Johann Gottlieb Fichte geistig vorgelebt, und es scheint mir wichtig, daß wir uns das vergegenwärtigen, auch wenn die Sprache unserer philosophischen Klassik schwierig ist. Fichte war der Philosoph des welterobernden Ichs gewesen und ist durch dieses Extrem hindurch zu einer Position umgekehrt, die mit der des Laudse identisch ist. Ich könnte auch, vielleicht genauer, sagen, er ist der abendländischen Logik des Durchbruchs, des kämpferischen Austritts aus dem Mutterleib, bis zum äußersten gefolgt, er hat den Triumph des Sieges exzessiv ausgekostet und so zuletzt den Ozean erreicht (wie Beethoven in seiner späten Großen Fuge auch).
Wilhelm Weischedel138 hat den letzten Fichte wunderbar in dieser Ankunft bei Laudse gezeichnet: Fichte, den er als den Philosophen der Freiheit anspricht, habe entdeckt, wenn die Freiheit sich nicht selber vernichten soll, dann kann sie nicht in schrankenloser Absolutheit stehen bleiben.
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Die Freiheit müßte untergehen, wenn sie keine ursprünglichen Schranken fände. Der Mensch ist eben nicht, wie es der junge Fichte gesehen hatte, reine Absolutheit; er ist zugleich ein endliches Wesen.
Am sichtbarsten wird die Endlichkeit für Fichte an der Tatsache, daß das Ich andere Wesen seinesgleichen als außer ihm befindlich voraussetzen muß ... Nicht mehr das vereinzelte Ich ist nun der Ausgangspunkt, sondern die Gemeinschaft freier Wesen, das "Reich der Geister" (in den Anführungen der Weischedelzitate kommt jetzt Fichte selbst zu Wort - R.B.). Doch auch diese Beschränkung der Freiheit durch den anderen Menschen reicht nicht aus, die Gefahren zu bannen, die darin liegen, daß das Ich sich selbst absolut setzt ...
In Wahrheit gäbe es nun für Fichte Freiheit nur als je schon bestimmte, und zwar von ihrem Grunde, man könnte sagen vom kosmischen Evolutionsgesetz bzw. -geist her bestimmte Freiheit, d.h. im Ursprung der Freiheit walte eine tiefere Notwendigkeit. Und deshalb:
Wer in den Grund der Freiheit zurückgeht, muß die Freiheit hinter sich lassen. Diese muß sich in die reine Hindeutung auf ihren Ursprung verwandeln. Sie muß den Untergang ihrer Selbstmächtigkeit auf sich nehmen, um im Absterben die wahre lebendige Realität, den Grund, zum Vorschein zu bringen. Es ist "das der Endlichkeit nie abzunehmende Schicksal: nur durch den Tod hindurch dringt sie zum Leben. Das Sterbliche muß sterben, und nichts befreit es von der Gewalt seines Wesens". "Das Ich muß gänzlich vernichtet sein." Darin sieht der späte Fichte die dringlichste Aufgabe für den Menschen, auch und gerade im Blick auf seinq Gegenwart, die er das Zeitalter der vollendeten Selbstsucht nennt.
Es ist ungeheuer bedeutungsvoll, daß diese Position bei Fichte den Durchgang durch die Bejahung des Ichs, durch diese westlich-abendländische Errungenschaft der äußersten Ichstärke voraussetzt. Auf dieser Grundlage fährt Weischedel fort:
Wenn der Mensch diese radikale Abtötung der Eigenmächtigkeit auf sich nimmt, gelangt er in Wahrheit über sich hinaus. Wer in einem letzten Sinne die Absolutheit der Freiheit aufgibt, der entdeckt, daß diese sich nicht selber hervorgebracht hat. Er erblickt im Grunde seiner selbst das wahrhaft Absolute: die Gottheit. Wenn "der Mensch durch die höchste Freiheit seine eigene Freiheit und Selbständigkeit aufgibt und verliert, wird er des einigen wahren, des göttlichen Seins ... teilhaftig". An die Stelle des absoluten Ichs tritt so der absolute Gott (der sich so, wie ihn Fichte nimmt, kaum wesentlich vom Dau unterscheiden dürfte - R.B.). Das ist die große und entscheidende Kehre im Denken Fichtes. "Gott allein ist, und außer ihm ist nichts", kann er nun sagen. Der Mensch aber ist nichts aus sich selber heraus; was er wesentlich ist, ist er als "Dasein und Offenbarung Gottes" ... "Leben in Gott ist frei sein in ihm" ...
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Der Mensch, der von dorther Organ der Schöpfung ist, würde die Bedingung des kategorischen Imperativs erfüllen: Sein Verhalten könnte tatsächlich Maßstab einer allgemeinen Gesetzgebung sein. Gewiß, im konventionellen Sinne "politisch" wäre er damit nicht mehr, stünde jenseits der alten Polis wie der modernen Massenrepublik, stünde, genauer gesagt, über allen politischen und sozialen Veranstaltungen, obwohl er weiterhin — und sogar besonders verantwortlich — an ihnen teilnähme. Er würde das Ganze nicht vom Menschen, von der Gesellschaft her anthropozentrisch denken, sondern kosmozentrisch, biozentrisch, "theozentrisch" auf die Gesellschaft hin: auf eine seinsgerechte Sozialisation, eine meditativ geführte Kultur des Menschen hin.
Ich will zum Schluß dieses Kapitels meine eigene Erfahrung mit der spirituellen Praxis streifen, ich meine, mit der spirituellen Praxis im engeren Sinne, denn die Kommunistische Partei, in der ich mich mit 17 gebunden hatte, war auch eine Kirche, war es für mich anfangs mehr als die christliche, und die Geister Hölderlins, Fichtes, Beethovens sind mit mir gewesen. In meinem Kreise haben wir in den 50er Jahren über die kommunistische Sache disputiert wie die Mönche über den rechten Gottesbegriff.
Für mich kam die erste Wohltat der Psychoanalyse Anfang der 70er Jahre von ein paar in die DDR gedrungenen Schriften Wilhelm Reichs. Ich entnahm, daß die eigenen intimsten Frustrationen, Konflikte, Hemmungen und Verstrickungen bloß Variationen einer Problematik sind, die uns alle unglücklich macht oder jedenfalls daran hindert, das Leben frei zu genießen, da zu sein, die Welt, die Anderen, die Natur zu fühlen. Insofern war tatsächlich allein schon das Denken und Lesen befreiend, einfach das Herankommen an den eigenen biographischen Stoff, und daß von Reich die Ermutigung ausstrahlte, Ja zur eigenen Sinnlichkeit zu sagen und einige der lebensfeindlichsten Moralitäten dahinzustellen, an die ich intellektuell nicht glaubte, die mich aber dennoch unbewußt beherrschten.
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Obwohl Reich streng materialistisch und antimystisch argumentierte (jedenfalls in den mir damals zugänglichen Werken aus den 20er Jahren), spürte ich zugleich den religiösen Untergrund des Eros heraus. Er vertrug sich auch gut mit Laudse, bei dem in der DDR-Ausgabe, die ich hatte, allerdings der Mystiker, der yogische Praktiker ziemlich versteckt war. Der Hinweis auf die Atemmeditation als Weg der Kontaktaufnahme mit dem Dau ging mir damals nicht auf, als ich las:
ohne geschäftigsein, ans eine mich haltend
kann die Seele sich dann noch zerstreuen?die atemkraft sammelnd, geschmeidig werdend
kann man nicht rückkehren zum kindsein?den blick läuternd zur schau des tiefen
kann man nicht frei werden von Unreinheit?Angestrichen habe ich mir damals in diesem 10. Spruch nur die beiden Stellen "kann sich öffnen und schließen das himmelstor ohne das weibliche?" — und das Wort, wonach "behüter, nicht beherrscher" das tiefste Wirkprinzip sei, an das der Mensch sich halten sollte.
Meine erste intensive Meditationserfahrung hatte ich vor fünf Jahren in dem zu Graf Dürckheims Rütte gehörigen Johannishof im Schwarzwald. Dürckheim nennt seinen Weg <Initiatische (also ungefähr: einweihende) Therapie>. Es ist aber Heilen in dem weitesten Sinne gemeint, wo damit die personale Harmonie wiederhergestellt, das eigene Inbild reiner zur Erscheinung gebracht wird. Damals ist es ein in diesem Geist entworfenes, in zen-buddhistische Formen gekleidetes Exerzitium "Enlightenment Intensive" unter der Leitung von Karin Reese gewesen. Einziges Thema einer ganzen Woche war das Koan (wie im Zen die paradoxen Sprüche heißen, die den Menschen auf sich selbst werfen sollen) "Wer bin ich?".
Umrahmt bzw. unterbrochen von ein paar "Arica" genannten Körperübungen, ein paar Lesungen, Spaziergängen, Meditationen und bewußt vollzogenen Hausarbeiten, die aber alle streng eingeordnet waren, bestand das Exerzitium darin, sich in den ersten drei Tagen je zehn Mal vierzig Minuten lang auf nichts als jene Frage zu konzentrieren. Außerhalb des Rituals, auch bei den schönen, einfachen Mahlzeiten, war Schweigen verlangt, und die Einhaltung einer Art von Armuts- und Keuschheitsgelübde.
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Am Anfang jeder der dreißig Runden wählte man neu den Partner bzw. die Partnerin, und alle fünf Minuten nach einem Glockenzeichen wechselnd, stellte man ihm/ihr die Frage "Wer bist Du?" Es wurde zwar, manchmal auch dringlicher, je nach dem Gegenüber, auch nachgebohrt, aber es mußte nicht gesprochen, nicht geantwortet werden. Dasein angesichts der Frage genügte. Früh und nach dem Mittagessen etwa sollte die Selbstaussage mit der körperlichen Befindlichkeit beginnen. Hin und wieder wurde darauf hingewiesen, daß es nicht um Reflexion, Diskussion ging (die Partner sollten nicht in ein Gespräch verfallen, etwa jeweils "ihre" fünf Minuten als Antwort oder Widerspruch zu den vorigen fünf Minuten ihres Gegenübers anlegen, sondern der Fragende sollte jeweils nur Spiegel sein), vielmehr um Aussage des eigenen personalen Seins, der Existenz selbst.
Drei oder vier von uns wurden durch diese Konfrontation mit sich momentan zu Ausbrüchen getrieben, und meine erste Reaktion war, daß ich Gott sei Dank kein solches Elend herauszuschreien hätte. Der andere tat mir leid. Das habe ich dort noch nicht gelernt, erst später, auch etwa auf die größere Zuverlässigkeit meiner Verdrängungen zu schließen, auf das Kettenhemd um meinen innersten Kern statt des schweren Blechs um die Außenhaut, das leichter scheppert. Schwerer als andere zu verunsichern, jedenfalls im Kern, bin ich geblieben. Aber ich empfinde es nicht mehr nur als einen Vorteil. Im übrigen aber waren das Sensationen am Rande.
Im Zentrum blieb diese Frage, die mir im Fortschreiten des ersten Tages immer blödsinniger vorkam, obwohl ich den Sinn der Übung ungefähr einzusehen vermochte. Blöd kam mir die Frage vor allem für mich selbst vor, obwohl es zeitweise Spaß machte, Sachen von mir auszusagen, die ich normalerweise nicht Wort werden ließ oder sogar noch niemals klar gedacht hatte. Was die anderen sprachen, war interessanter, manchmal direkt faszinierend, und noch spannender war die stumme Verbindung, die mit dem oder jener (nicht mit allen) sich einstellte. Manche Menschen haben sich gegenüber dem ersten Eindruck beim Eintreffen und sogar noch gegenüber der Erfahrung der ersten Runde völlig für mich verwandelt, bis zur äußeren Unkenntlichkeit, und zwar ausnahmslos in Richtung größerer Schönheit, edleren Wesens. Dabei mochten manche Selbstaussagen zunächst von bestürzender Häßlichkeit gewesen sein.
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Es war wirklich eine Reinigung, die vor sich ging. Eine ältere Frau, die mir am ersten Tag ganz in ihrer Neurose befangen schien, sprach am dritten Tag aus ihrem Wesen. Am zweiten hatte sie furchtbar geweint. Nun sagte sie, sie habe es immer gewußt, daß sie ihr Verhalten gewählt habe, daß sie, ernsthaft genug, dennoch spielte, Schwäche spielte, und daß dies um ihrer Macht willen gewesen war, oder um ihrer Ohnmacht willen, anders zu dem Ihren zu gelangen. Und es gab keinen Gesprächstherapeuten, der sie darauf gebracht hätte. Das Koan selbst und die Vielzahl der "Spiegel" und Selbstaussagen ihr gegenüber hatten sie geführt, und vielleicht noch der schöne Raum mit der Kerze und der Ikebana-Schale, wogegen man sich beim Verlassen des Raums verneigte als gegen den schon von uns in ihm versammelten Geist.
Für mich selber wurde das Sprechen am zweiten und am dritten Tag immer sinnvoller. Einerseits: Wie wenig von dem Ausgesagten gehört mir allein, wie wenig bin ich in meinen aussagbaren Eigenschaften ich selbst! In wievielem, was andere über sich sagen, erkenne ich mich wieder! Andererseits: das Nichtaussagbare ist das Wichtigste, und auch das wiederum ist nicht übermäßig individuell. Ich erkannte einigermaßen bestürzt, wieviel Wille zur Macht mich zu dem Auftritt gegen die DDR-Zustände getrieben hatte, und wie sehr der mit meiner in der Kindheit und Jugend lange unbefriedigten Sehnsucht nach der Frau* zusammenhängt.
Am beglückendsten aber war, wie ich mit wachsendem Erstaunen, wachsender Freude wahrnahm, wie sich der innere Lebensstrom verbreiterte und verstärkte. Ich empfand ihn wieder wie mit siebzehn bei Beethovens Es-Dur-Konzert, das mir damals die Wirbelsäule hinaufgesprungen war. Es erreichten mich in dem Hause Botschaften von den Anderen und im Walde Botschaften von den Bäumen, die ich ewig nicht mehr richtig wahrgenommen hatte.
Am vierten Tag, als die dreißig Sitzungen schon abgeschlossen waren, gab es ein Gespräch über die ökologische Krise, wie es in diesem politisch ganz inhomogenen Kreis vorher unmöglich hätte zustande kommen können.
* (d-2009): Bahro meint hier zuvörderst die (eigene) Mutter - eben als Mutter und Frau ?
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Mehrere Male in den letzten Tagen jener Woche dachte ich nicht, sondern sah, daß es offenbar in allen Menschen eine sonst höchstens in der Freundschafts- und Liebeskommunion wahrnehmbare Seinsebene gibt, wo wir wirklich alle eins sind, selbst mit gleichwohl weniger verwandten Seelen. Gesellschaft müßte nicht auf Differenzen gegründet sein, und cum grano salis könnten wir selbst intim mit jedem Menschen bis ans Ende zusammenleben, wenn wir den Zugang zu dieser gemeinsamen Ursprungsquelle finden und jene(r) Andere auch.
Frappierend war auch, in wie kurzer Zeit einander vorher fremde Menschen, jede(r) für sich und alle zusammen, in einen höheren Zustand gelangen können. Natürlich verliert sich das meiste wieder, besonders fürs Soziale, wenn alle immer wieder in ihre verschiedenen Alltage auseinanderlaufen. Ich fragte mich, warum wird der Alltag, werden Woche, Monat, Jahr nicht von solcher Mitte, solchen Festen her gelebt und gestaltet? (Denn es wurde immer festlicher aufs Ende hin, und es gab dann auch noch ein veritables Fest, wie eine Kammermusik zu Sechzehn.) Warum fahre ich als politischer Wanderprediger in der Bundesrepublik und in der Welt herum, anstatt einen solchen Ort zu schaffen? Die Frau allerdings, die mir in jener Woche an den offenen Platz der Gefährtin für so eine Vision zu rücken schien, war, was ich nicht erkannte, eine Iphigenie, jener Typus der Priesterin, die den Mann fürchtet.
Nach einigem Abstand von dem Ereignis und von der euphorischen Stimmung sah ich dann um so klarer, wie rein man die eigene Gestalt haben müßte und was es hieße, eine hier in Deutschland, in Europa vollgültige sozial kulturelle Gestalt zu schaffen. Auch hat mich immer noch der alte Perfektionismus nicht völlig losgelassen, ich habe die Gymnasiastenangst vor dem eigenen Versagen, den melancholischen, menschenscheuen Anteil meines Potentials nicht so weit hinter mir wie ich gern möchte. Um so besser weiß ich, was doch selbstverständlich ist, daß wir viele Verschiedene sein müssen, Männer und Frauen, die Altersgruppen, die Talente, die Charaktere.
Seit jenem Enlightenment Intensive ist verhältnismäßig viel Zeit vergangen. Jetzt muß es einfach sein. Ich möchte also, daß sich jene melden, die prüfen wollen, ob wir nicht für mehr als intellektuellen Austausch zusammenkommen sollten, z.B. hier in Worms, wo ich zu diesem Zweck ein altes Haus gekauft und Ende 1986 begonnen habe, Menschen für Wochenenden einzuladen.
Laßt uns beginnen, diesen kollektiven Fürsten zu formen. Es ist leicht, ein politisches Programm zu formulieren — bisher hat sich nachher immer herausgestellt, daß unter seinen Trägern Menschen waren, die charakterlich genau entgegengesetzt funktionieren. Überdies wird die intellektuelle Verständigung leicht, wenn wir einander als ganze Menschen kennen.
Ganzheitliche Politik müßte unweigerlich hohle Phrase bleiben ohne eine Praxis der Integration und Meditation. Laßt uns die menschliche Substanz assoziieren, reinigen und präzisieren, mit der wir auch zur Ausführung jenes Programms taugen würden, wenn die Stunde schlägt. #
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