3.3 Der <Mittwochskreis>, 1990-1993
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Die Idee zu einer erst lockeren - später auch festeren - Gemeinschaft auf Ostberliner Boden entstand zweistufig: zuerst Ostern 1990 während eines Seminars in Niederstadtfeld, dann - nach einigen Probeläufen - während eines Aufenthaltes in Italien im Oktober desselben Jahres.
Was Bahro wollte, war in der aufgebrochenen DDR mit den teils begeisterten, teils verschreckten, nach neuer Orientierung suchenden Menschen einen Kern von Gleichgesinnten zu finden, sie aufzuklären durch seine Vorstellungen von der Weltkrise und von einer erneuerten Gesellschaft.
Dabei war er sehr darauf bedacht, in diesen Kreis keine gleichgesinnten Westdeutschen aufzunehmen — zu der Idee gehörte also eine Art Vergeltung für seine bundesdeutschen Erfahrungen und eine neue Missionierung. Begonnen hat es so:
Am 2.3.90 gab es mit großer Beteiligung ein Wochenendseminar mit einer Podiumsdiskussion unter dem Titel <Deutsch-deutsche Visionssuche> im Westberliner Stadt-Haus Böcklerpark — u.a. mit Rainer Langhans, Petra Kelly, Eva Quistorp, Bärbel Bohley, Jochen Kirchhoff und Rudolf Bahro.
In einer Seminarpause holte er alle Leute aus dem Osten zusammen — hier sah er das erste Mal Marina Lehnert, die später seine (dritte) Frau werden sollte — und lud sie zu einem einwöchigen Seminar <Grundlagen ökologischer Politik> nach Niederstadtfeld (13.-19.4.) ein. Über dieses Seminar gibt es einen Bericht von Marina Lehnert:
»Im großen Kreis saßen wir beisammen, auf weißen Wollteppichen, auf Sitzkissen und Meditationshockern, ungefähr 30 Menschen aus der DDR, mit nur Reinhard Spittler, Beatrice und Rudolf Bahro aus der Lernwerkstatt. Gäste: der Soziologieprofessor Christian Sigrist aus Münster, die Tanz- und Bewegungstherapeutinnen Johanna Deurer und Ingrid Borate aus München. Reinhard begrüßte uns mit einem Gedicht von Hölderlin. In den Saal, dessen besondere Atmosphäre uns beim Eintreten sofort berührte, zog Heiligkeit, nicht die der Kirchen — es war die Heiligkeit des Menschen, des menschlichen Geistes, der bereit ist, liebevoll zu wirken. Wir erlebten eine festliche Woche. Die Tage waren erfüllt durch Begegnungen vieler Art. Als ganzen Menschen habe ich mich dort erfahren, und die anderen mit mir.« (Rückkehr, 313)
Was da im einzelnen geschah:
»Die Körperübungen mit Johanna und Ingrid ließen uns erleben, daß Körper und Geist eine Einheit sind, wir nicht gespalten sein müssen, daß unsere Gefühle Wirklichkeit sind, wir unsere Lebensenergie aktivieren können. Verkrampfungen in Körper und Geist lernten wir durch Übungen zu überwinden [...] Das Zusammenwirken von Körperübungen, Yoga, Meditation, Tanz und geistiger Anspannung beim Zuhören und im Gespräch erhöhte unsere gesamte Aufnahmefähigkeit auf ungeahnte Weise [...] Alles bildete eine wunderbare Einheit.«
Das tägliche Programm begann mit einem »Sonnengebet«, dann gab es Vorträge von Bahro oder Sigrist, nach dem Essen folgten die genannten Übungen, erneute Vorträge — oft ging die Diskussion bis Mitternacht. Und das Resümee von Marina:
»Wir lernten dort eine neue Lebensform kennen. ... In vielen wuchs der Wunsch, die eigene Lebensweise zu ändern. Wir sind dichter aneinander gerückt, verbringen den Tag anders als früher.« (Ebd.)
Das was Bahro sich vorgenommen hatte, war die Gründung einer »Wissenschaftskommune«, in der Erkenntnisarbeit, Selbsterkenntnis, spirituelle Übungen eine untrennbare Einheit bilden sollten. Er war Realist genug, um zu wissen, daß dies nicht im Rahmen einer Institutsgründung an einer Universität geschehen konnte. So suchte er den Standort dieser Kommune an vielen Orten, nur nicht in Berlin in Universitätsnähe.
Trotzdem verband er seine antiuniversitäre Grundhaltung mir der Erwartung, daß dieses ungewöhnliche Unternehmen von der Universität finanziert wird. Nur deshalb beschäftigte er sich — beraten von der aus Saarbrücken nach Berlin übersiedelnden Soziologieprofessorin Marina Lewkowicz — mit Konzeptionen für eine Institutsbildung, die den Gedanken seiner »Wissenschaftskommune« etwas kaschierten. Doch - wie mir Reinhard Spittler versicherte - war ihm die Kommune — und diese entstand allmählich als »Mittwochskreis« — anfangs wichtiger gewesen als ein Institut.
Was er erreichen wollte, steckte in seiner Fragestellung: Wie kann man Menschen so beeinflussen, daß sie bereit sind, für eine Erneuerung zu arbeiten? Dazu brauchte er große öffentliche Vorlesungen und ein festes Zentrum.
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Was also in den nächsten Wochen und Monaten folgte, läßt sich nicht scharf einordnen, ob es mehr zur Gründung eines Instituts oder zur Herausbildung einer festeren Gemeinschaft gehört. Ich behelfe mich so, daß ich das mehr Gemeinschaftliche in diesem, das mehr Akademische im nächsten Kapitel darstelle. Bei den jetzt folgenden beiden Vorbereitungstreffen läßt sich jedoch nichts trennen.
Im Anschluß an das Ökologie-Seminar zu Ostern in Niederstadtfeld kam es in Ostberlin, und zwar in einem Raum der Akademie der Künste, für ein Wochenende (18.05.90) zu einem Vorbereitungstreffen, bei dem mit ca. 40 Teilnehmern die Institutsgründung weiter bedacht wurde — bereits stilvoll eingebunden in Atemübungen, Meditationen und Eurhythmie. Ob dieser ungewöhnliche und natürlich auch ehrgeizige Plan ein Stück umgesetzt werden konnte, läßt sich schwer abschätzen, es gab Interessenten, die auf eine Stelle in diesem Institut hofften — und hält man sich an den kurzen Bericht von Karin Wolf (Rückkehr, 316), dann lichteten sich am zweiten Tag die Reihen recht stark.
Doch ein zweites Vorbereitungstreffen am 20.06.90, diesmal in der großen Wohnung von Ekkehard Maaß, einem Liedersänger und Nachdichter (etwa Bulat Okudshawas), in der Schönfließer Straße, brachte ein wenig mehr Klarheit. Später traf man sich in der Bahro-Thiele-Wohnung in der Gleimstraße, die anfangs auch das »Institut« beherbergen mußte. Nach Marina Lehnerts Erinnerungen stabilisierte sich der Kreis bei etwa 20 Teilnehmerinnen.
Ich nehme an, daß die therapeutische Funktion eine große Rolle spielte.
Einer der nächsten gemeinsamen Höhepunkte war im Juli eine »Enlightenment Intensive« genannte Begegnung in Niederstadtfeld unter Anleitung der Psychotherapeutin Karin Reese. In einer Vorlesung empfahl Bahro dies direkt als Methode »zur Durcharbeitung unserer Tiefenschichten« und beschreibt das so: »Es handelt sich darum, daß man sich inständig fragt: <Wer bin ich?> Das sind 4 Tage strenges Exerzitium, an dem beispielsweise etwa 20 Personen beteiligt sind. Unter einer Anleitung sitzen sich jeweils 2 Menschen gegenüber, die sich für 40 Minuten gewählt haben und nun gegenseitig fragen: Wer bist du? Alle 5 Minuten wechselt die Szene, und die bisher befragte Person übernimmt ihrerseits das Fragen. Wir können laut antworten, können aber auch schweigen in den Spiegel hinein, der das Gegenüber ist.«
Das wurde in einer öffentlichen Studium-generale-Vorlesung besprochen und noch erläutert, bis hin zu seinen persönlichen Enlightenment-Erfahrungen — daran zeigt sich, wie zwanglos sein Geist zwischen einer spirituell gedachten Gemeinschaft und seiner akademischen Veranstaltung (die mit der Zeit immer mehr in die Nähe eines »event« geriet) hin und her ging.
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In den schriftlichen Hinweisen von Karin Reese heißt es dazu: »Es ist eine Übung für Menschen, die bereit sind, ihre eigene Mündigkeit anzuerkennen und aus eigener Kraft an der vorgegebenen Leitfrage <Wer bin ich?> zu reifen. Vorausgesetzt ist die Entschlossenheit, sich selbst auf den Grund zu gehen, ein wacher Wille, Außenlenkung und Selbstbestimmung immer sicherer zu unterscheiden. Es geht um Loslösung aus Projektion und symbiotischer Vermischung, um treues Aushalten geschauter Wahrheit über Licht und Schatten der eigenen Existenz.« Zu den Exerzitien gehörte neben dem Fragen, dem »Koan« (zwölfmal 40 Minuten am Tag), das makrobiotische Essen, das Verbot von Alkohol und Zigaretten, der tägliche Spaziergang im völligen Schweigen.
Viele aus dem »Mittwochskreis« haben in Niederstadtfeld oder bei den Wiederholungen im November, diesmal im östlichen Birkenwerder (bei Oranienburg), oder im Dezember in Hirschluch (bei Storkow) oder zu späteren Zeiten, diese Selbstfindung erlebt — meist positiv.
Wie gesagt: Mittwochskreis und Institutsgründung liefen eine Zeitlang parallel. Wie beides ineinandergriff, zeigt auch ein internes Papier Bahros, betitelt Arbeitsform des Instituts für Sozialökologie:
Eröffnungskolloquium (verbal) Wissenschaft und ökologische Krise
Kolloquium
a) (in Niederstadtfeld — kleiner Kreis) Selbstorganisierte Kommunitäten — Johan Galtung
b) (in Berlin — großer Kreis) Weltregiment — große UNO — Richard Falk (Enzyklopädist)Enlightenment Intensive — Karin Reese
Tai Chi... und der Geist des Laudse — Klaus Moegling
Studium generale (mit ca. 15 Vortragenden) und Seminaren.
(Wäre dieser Plan zufällig in die Hände der Universitätsleitung gelangt — es wäre wohl nie zu einer Institutsgründung gekommen.)
Im Oktober fuhr ein Teil der Gruppe auf Einladung über den Südtiroler GRÜNEN Alexander Langer nach Cittá di Castello (Umbrien), um an der »Messe konkreter Utopien« teilzunehmen. Dort - so schreibt Maik Hosang - »während der Italienfahrt, in einer vormittäglichen Runde auf dem Weinberg vor der Villa Sacro cuore, verabredeten wir wöchentliche Begegnungen außerhalb des Universitätsbetriebes. Und so begannen sie dann, zweckmäßigerweise mittwochs am Abend, da zuvor sich ohnehin mehrere meist zum Seminar trafen.«
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Die ersten dieser Treffen fanden wieder in Bahros Wohnung statt, dann zog man zu verschiedenen anderen Teilnehmern, bis sich ein ziemlich fester Ort in der Wohnung von Thomas Thiele unmittelbar neben der Gethsemanekirche und später in Bahros neuer Wohnung in der Paul-Robeson-Straße im Prenzlauer Berg fand (doch man traf sich auch in der Canopus-Buchhandlung in der Husemannstraße).
Wie es dort zuging, berichtet wieder Maik Hosang: Kaum ein Abend ähnelte einem anderen, doch an Ritualen entstanden allmählich das »Hören einer Musik, Befindlichkeitsrunden, einfaches Essen, Gespräch und Austausch über Ach und Wehe des Universitätsinstituts«. (Rückkehr, 325). Anders erlebte die Sekretärin Barbara Hohenberg diese Abende: Die »Befindlichkeitsrunden« hätten die Probleme, die die Teilnehmer miteinander hatten, meist unter den Teppich gekehrt, es sollte ja Harmonie entstehen, es wurde wenig Konkretes besprochen, man wartete darauf, daß etwas Kluges gesagt wird — doch meist kam nichts.
Von der Reise zur »Messe konkreter Utopien« am 8. Oktober 1990 nach Berlin zurückkehrend, ging die Gruppe direkt vom Zug zur ersten Vorlesung des neu ernannten Professors ins Audimax der Humboldt-Universität.
Ein weiterer Treffpunkt der Gruppe - »nicht für alle Tage, doch für nicht-alltägliches Tun« - wurde in einem Haus im Westberliner Grunewald durch die Soziologin Marina Lewkowicz geschaffen. Hier wurde gemeinsam der Jahreswechsel 1990/91 gefeiert, gab es eine »Liturgische Nacht« zum Ausklang des Wintersemesters (übrigens ausgedehnt auf 26 Stunden), hier traf man sich zum Nachdenken über den Golfkrieg.
Ein Höhepunkt war ein einwöchiges Seminar »Drama der Geschlechter am Beispiel von Mozarts Opern« im Frühling 1991 mit Vorträgen von Bahro, Jochen Kirchhoff und Marina Lewkowicz, dem Anhören der kompletten Opern und anschließenden Analysen.14 Der theoretische Hintergrund dieses »Sinnesfestes« war natürlich, die Spiritualität Mozarts sichtbar zu machen, der praktische: die Liebes- und Beziehungsprobleme in der Gruppe zu thematisieren. Wie Spittler sich erinnert, war es eine sehr geglückte Woche, man ging auch später — schließlich war es das Mozart-Jahr — gemeinsam in die Harry-Kupfer-Inszenierung des Don Giovanni in der Komischen Oper.
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Kurz darauf wurde — ebenfalls im Grunewalder Haus — am 21. April die »Gemeinschaft für Sozialökologie« (Vereinsregister-Eintrag 15.10.1992) gegründet, die den »Mittwochskreis« nicht ersetzen sollte, sondern die Funktion hatte, als eingetragener Verein die juristische Person für Antragstellungen abzugeben — etwa für ABM-Stellen oder für die spätere Gründung des LebensGutes Pommritz (siehe dazu das entsprechende Kapitel).
Die Präambel verrät noch nicht die praktische Absicht:
»Die Gemeinschaft für Sozialökologie ist ein Zusammenschluß von Menschen, die einen Weg aus der ökologischen Krise suchen. Da sie diese als eine Krise der menschlichen Existenz begreifen, wollen sie durch die Verbindung von Wissenschaft, Spiritualität und Körpererfahrung nach alternativen individuellen und gemeinschaftlichen Lebensformen suchen. Die Gemeinschaft ist ein Versuch, sich vom konfrontativen, egozentrischen und moralisierenden Geist der Gegenwart zu befreien. Einzelnes und Gemeinschaftsleben sollen Antwort finden auf die in unserer Zivilisation wirkenden selbstzerstörerischen Kräfte. Es ist der die Gemeinschaft vereinende Gedanke, daß die ökologische Krise nur im Menschen selbst überwunden und durch Veränderungen unserer gewohnten Lebensweise gelöst werden kann.«
Neben diesem etwas gestelzten Text ist der §2 der Satzung (Ziel und Zweck des Vereins) deutlicher: »Sie [die Gemeinschaft] dient der Kommunikation zwischen Frauen, Männern und Kindern, die ihr Wirken auf ein friedliches soziales Miteinander von Menschen unterschiedlicher Religion, Wissenschaft, Bildung, Kunst und Politik für ein neues Denken und einen friedlichen Umgang der Menschen untereinander und mit der Natur einsetzen; die sich um neue wie auch traditionelle Formen des Zusammenlebens bemühen; und die nach achtungs- und liebevollem Zusammensein der Generationen und Geschlechter suchen.«
Etwas besser versteht man den »Mittwochskreis« noch dank einer krisenhaften Situation, die Ende 1991 zu einer Selbstreflexion führte. Dieser Zeitpunkt war bestimmt durch langsam sich anhäufende Probleme bei den einzelnen Teilnehmern wie der Gruppe insgesamt. Ein reichliches Jahr war vergangen seit der internen Institutsbildung, seit dem Beginn der Vorlesungen und — überwiegend schmerzhaft erlebt — seit der Wiedervereinigung und damit einem Leben in einer westlich-kapitalistischen Gesellschaft.
Zur Klärung der Befindlichkeit und der Perspektive des Kreises wurde für den 11. Januar 1992 ein Treffen (in Zeesen bei Königs Wusterhausen) anberaumt, für das sich die Teilnehmer etwa folgende Fragen beantworten sollten: Welche Vorstellungen und Erwartungen hatte ich für das Institut? Sind sie bis jetzt erfüllt worden, bin ich enttäuscht worden? Wie stelle ich mir unsere Institutsarbeit in Zukunft vor? 22 Antworten kamen zusammen — von 13 Frauen und von neun Männern, unter ihnen auch Rudolf Bahro.
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Mit ihm einsetzend, soll die Atmosphäre des Kreises beschrieben werden.
Er schildert, wie er sich 1987 nach der Begegnung mit Beatrice für die kommunitäre und familiäre Perspektive in Niederstadtfeld entschieden hatte, daß dann Hannah geboren wurde, die durch ihre langsame und etwas behinderte Entwicklung ihn besonders brauchte, so daß er sich ihr im ersten Jahr (1988/89) ganz intensiv hingab. Doch dann sei der »Anruf« gekommen, »der von dem Untergang der DDR und dem unerwarteten Verlauf des sowjetischen Reformprozesses für mich ausging«, und habe sein Leben auseinandergerissen.
Fast zwanghaft sei er in die DDR zurückgekehrt, doch ebenso stark hätten die Lernwerkstatt und seine Tochter Hannah seine Anwesenheit in Niederstadtfeld verlangt. Was er in Berlin wollte, »war von vornherein, unter den besonderen Bedingungen in Ostdeutschland die allgemeine Idee und Praxis einer >Umkehr in den Metropolen< einzubringen, zu vermitteln und so weit wie möglich auszubreiten«. Das sollte über die Universität geschehen, aber eingeschlossen in diese Idee war auch, »neben den Vorlesungen andere Formen anzubieten, die dem therapeutischen und meditativen Bereich entlehnt sind«, um dadurch einen in nuce kommunitär sich empfindenden Kreis von engagierten Menschen zu sammeln.
Das sei ihm mit dem Aufbau eines Instituts für Sozialökologie auch gelungen, dessen Profilierung auf das Thema »Sozialökologische Gemeinschaften« für ihn der Schlüssel zu einer ökologischen Wende sei. Fast gleichzeitig mit der Institutsidee — die als solche ja keine neue Lebensform bezeichne — kam dann der Gedanke dieser speziellen Gemeinschaft auf, mit der Schritte auf ein gemeinschaftliches Leben hin getan werden sollten. Sehr deutlich bezeichnet Bahro das Institut als ein Hilfsmittel zur Umsetzung dieser Vorstellung, während die Gemeinschaft kein Mittel, sondern der Weg sein könnte. Und er schließt: »Warum wir darin erst mal steckengeblieben sind, wäre die erste Frage.«
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Aus den Antworten sollen nur wenige anonym wiedergegeben werden. Was es für sie an Erwartungen gab und immer noch gibt, nennt:
Frau A.:
»>Jugendträume< von einer anderen Lebensweise zu verwirklichen [...], >aussteigen< zu können aus bürokratisierter, technisierter Gesellschaft — nicht >einsteigen< zu müssen in den hier eingezogenen Kapitalismus. [...] Gemeinsam Raum und Zeit zu finden, unsere Ängste, Zwistigkeiten und Verletzungen, die wir zufügen und erfahren, zu klären, unsere Wünsche nach liebevollem Miteinan-der-Umgehen leben zu können.«Frau B.:
»Geistig theoretische Beschäftigung mit der Krise der Zivilisation. Konzentriertes Wahrnehmen der Welt, wie sie ist, wie sie geworden ist und wie sie anders sein könnte. Finden von Orientierung für mich und meine Energien.«Mann C.:
»In der bestehenden Welt leben müssen und wollen und zugleich darüber hinauszugehen versuchen. Die ja zum Teil sinnvollen Entwicklungen der Moderne (die Unabhängigkeit des einzelnen von Gruppen- und Naturzwängen; durch Telefon, Auto, Computer und Kopierer, mögliche Beziehungsvielfalt usw.) nicht aufgeben und zugleich die damit verbundenen Schädigungen (Verlust der Unmittelbarkeit und Intensität, Einsamkeiten, Ersatzbefriedigungen, Zerstörungen unseres natürlichen Selbst und der Natur um uns) vermeiden. [...] Aber wir wollen keine Gruppe, deren Geist sich im wechselseitigen Erleichtern der Einsamkeiten und Notlagen beschränkt, auch keine Sekte, deren feste Regeln und Rituale verpflichten und abschrecken, auch keinen Therapiekreis, dessen Horizont sich in der wechselseitigen Befreiung erschöpft. Es geht uns mehr um die Gemeinschaft des Geistes als um den Geist der Gemeinschaft. «Frau D.:
»Gemeinschaft, die nach außen hin vorleben und andere Menschen anregen möchte und die Möglichkeiten für menschliche Harmonie, Ruhe, Einkehr und Kommunikation schafft, braucht einen Ort — ein festes HEIM.« Für sie selbst heißt das: »Einkehr in mich selbst, Ruhe, Spiritualität, Kommunikation mit anderen, Erlebbarmachen eigener Widersprüche, Offenheit, Engagement im politischen und sozialen System der Welt-Wirklichkeit.«Frau E.:
»Meine Hauptsuchrichtung: >neue< Spiritualität — innerhalb und außerhalb der Kirche — weder Steckenbleiben in individuellen Gefühlen (bei stillschweigender Akzeptanz ungerechter gesellschaftlicher Strukturen) — noch Wegdrängen von emotionalen und religiösen Bedürfnissen, um >den Realitäten Rechnung zu tragen<; sowie von emotionaler Offenheit und Ehrlichkeit getragene Gemeinschaft (verbindliche Gruppe), um Gefühlsoffenheit leben zu können.«
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Aus den Antworten der Teilnehmer läßt sich als zentrale Sehnsucht herauslesen, daß man Ruhe, Meditation und Musik suchte, liebevoll mit sich und anderen umgehen wollte, um schließlich bewußter mit sich selbst zu werden. Gleichzeitig gab es auch Kritik an der Praxis des Kreises:
Frau F.:
»Ich sehe, daß wir uns unseren Individualismus vorleben. [...] Ich sehe selten <neues Denken> und ich sehe kaum <neues Leben>.«Frau G.:
»Welche Art der Begegnung kann überhaupt stattfinden? [...] Wieviel der <alten, normalen> Welt klebt uns an? Sind wir nicht genauso belanglos, langweilig wie die >Welt draußen<? Was unterscheidet uns davon?«Frau H.:
»Es befremdet mich, daß in dieser Gemeinschaft, die sich Extra-Veranstaltungen zur Sensibilisierung leistet, partiell merkwürdig unsensible Verhaltensweisen dominieren. [...] Wesentliche Vorhaben sind nicht das Ergebnis gemeinsamer Nachdenklichkeit, gemeinsamen Erwägens und Beschließens, sondern werden als Quasi-Beschlüsse dem einen oder anderen bestenfalls mitgeteilt.«Ein Fazit von Frau I.:
»Gab es zunächst eine sehr starke Ausstiegseuphorie, so wandelte sich das in eine Art Ankunft in unserer Gegenwart, bei dem, was wirklich und wesentlich ist, wer wir sind; ebenso geschieht Annäherung an unsere Vergangenheit — als jüngere eben das Ereignis DDR, der Zusammenbruch des Ostens —, an Geschichte überhaupt.«
Soviel also in — wie ich meine — sehr eindringlichen und deutlichen Selbstaussagen und Erwartungen an eine Gemeinschaft, die neben dem oder beinahe schon als Institut existiert und sich aus ihrer Krise (der Beziehungen zu sich und anderen, der Ziele, des Umgangs mit der »Welt«) herausarbeiten will. Und es dürfte kein Zufall sein, daß in dieser Auswahl die Männer so unterrepräsentiert sind.
Als Schlußpunkt möchte ich den schönen Satz der zuletztgenannten Frau I. anfügen: »Es gibt, glaube ich, wenige Orte, an denen Geist anwest. Ein solcher ist durch Rudolf möglich geworden.«
Der »Mittwochskreis« existierte seit diesem Zeitpunkt stets parallel zum Institut und löste sich allmählich auf nach dem Tod von Beatrice 1993 (dazu das Kapitel Glück und Unglück: Rudolf und die Frauen) und dem dadurch bei Bahro ausgelösten tiefen Schock, der — auch mit Blick auf seine kleine Tochter Hannah — zu einer persönlichen Neuorientierung führte.
Das Bindeglied zwischen diesem sich gut kennenden Kreis und den großen öffentlichen Vorlesungen waren die Workshops, deren Programme im Audimax ausgelegt wurden und deren Teilnehmerzahl auf etwa 40 Personen festgelegt wurde. Zu diesen Workshops — die ganz selten in Berlin stattfanden — wurden prominente Wissenschaftler und Außenseiter eingeladen, um neue Erfahrungen auszuprobieren, sich in Themen einführen zu lassen, die weit von akademischen Veranstaltungen entfernt lagen und wohl der New-Age-Bewegung zugerechnet werden können.
Bereits im ersten Semester seiner Vorlesungstätigkeit fanden die im oben wiedergegebenen internen Papier (Arbeitsform des Instituts für Sozialökologie) genannten Treffen mit Johan Galtung, Richard Falk, die Körperübungen mit Klaus Moegling oder der Enlightenment-Kurs mit Karin Reese statt.
Die späteren Workshops alle aufzuzählen, würde mehrere Seiten füllen. Es ist beeindruckend, mit welcher Konsequenz und in welcher Kontinuität besonders interessierte Teilnehmer der Studiumgenerale-Vorlesungen die Möglichkeit bekamen, auf direktem Wege über diesen originellen Professor sich mit Dingen und Problemen zu beschäftigen — und zwar aktiv, nicht nur hörend —, mit denen ein normaler »Ossi«, aber auch ein Durchschnitts-»Wessi« sonst schwerlich oder nie Kontakt bekommt. Für die Universität wäre das keine Wissenschaft — also mußte es draußenbleiben. Aber der Reiz mußte für die Teilnehmer auch darin bestehen, daß die Workshops durch Bahro auch nicht ganz draußen waren. Und der gemeinschaftsstiftende Effekt muß groß gewesen sein.
Das Themenspektrum von 1991/92 beispielsweise reichte von der Golfkrise (mit Alfred Mechtersheimer und Abdul Mottaleb Husseini) über den »Krieg der Geschlechter« (mit Monika Evers, Rainer Langhans und Helenka Marha) und dem Musik-Erleben (mit Joachim-Ernst Behrendt) bis zu Tantra-Übungen (mit Advaida Maria Bach) und zur Atemtechnik (mit Ulrich und Christa Lange).
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(Von Herzberg)