Jean Baudrillard Der
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1976 Wikipedia.Autor *1929 in Reims bis 2007 (77) Bing.Autor Goog.Autor
detopia:
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Zum 1.Todestag 2008
Requiem für die Wirklichkeit
von Rudolf MareschVor genau einem Jahr starb Jean Baudrillard, Diagnostiker der Gegenwart, nach langer Krankheit im Alter von 77 Jahren. Die Nachrufe, die ihm seinerzeit alle großen Tageszeitungen widmeten, waren meist freundlich im Ton, sparten aber auch nicht mit Kritik. Würdigten die einen ihn als "aufmerksam beobachtenden Zeitgenossen, der verborgene Gesellschaftstendenzen analytisch vorwegnahm", hoben andere seinen mitunter sprunghaft-blumigen Sprach- und Denkstil hervor, der zwar von vielen Einfällen, Metaphern und Assoziationen lebte, 'aber meist im apodiktischen Ton vorgetragen wurde.
aus wikipedia 2021 Autor
Der aus einfachen Verhältnissen stammende Baudrillard studierte zunächst Germanistik an der Sorbonne in Paris. Von 1958 bis 1966 war er Deutschlehrer an einer französischen Oberschule. Zugleich betätigte er sich als Literaturkritiker und Übersetzer (Friedrich Hölderlin, Friedrich Engels, Bertolt Brecht, Peter Weiss) und studierte Philosophie und Soziologie an der Universität Paris-Nanterre. 1968 promovierte er dort mit der von Henri Lefebvre betreuten Arbeit Le Système des Objets (Das System der Dinge). Im gleichen Jahr übernahm er einen Lehrstuhl für Soziologie an der Universität Paris-Nanterre. Von 1966 bis 1970 unterrichtete Baudrillard als Maître Assistant und von 1970 bis 1972 als Maître de Conférences en Sociologie in Paris und erlebte dabei in Nanterre den Mai 1968.
Baudrillard sah sich selbst nicht als typischen Soziologen oder Philosophen: „Berufssoziologe wurde ich aus Opportunismus, so um das Jahr 1968. Damals war Soziologie die große Mode, und für mich erschloß sie die Möglichkeit einer akademischen Laufbahn: Ich verdiente damit besser. Ich fühle mich aber weder als Soziologe noch als philosophierender Philosoph. Allenfalls als Theoretiker. Als Metaphysiker, warum nicht.“[2]
1976 erschien sein Hauptwerk Der symbolische Tausch und der Tod, das sich unter anderem auf Gedanken von Georges Bataille bezog. Die dort entworfene ‚Simulationstheorie‘ entwickelte er in zahlreichen kleineren Schriften weiter – darunter die im angloamerikanischen Raum einflussreiche Textsammlung Simulacres et Simulation (1981).
Im Jahr 1987 habilitierte er sich mit L’Autre par lui-même (Das Andere selbst), das sein bisheriges Denken noch einmal prägnant zusammenfasste. Von 1986 bis 1990 war er Directeur Scientifique (Wissenschaftlicher Direktor) am IRIS (Institut de Recherche et d’Information Socio-Économique) an der Université de Paris-IX Dauphine. 1995 erhielt er (zusammen mit Peter Greenaway) den Siemens-Medien-Preis. 2003 war er Fellow des Kollegs Friedrich Nietzsche.[3]
Neben seiner Arbeit auf dem Gebiet der Philosophie widmete er sich auch der Fotografie.
Jean Baudrillard starb am 6. März 2007 nach langjähriger Krankheit in Paris.
Frühwerk
In seinen frühen Jahren war Baudrillard ein vergleichsweise typischer ‚linker französischer Intellektueller‘, der in Jean-Paul Sartres Zeitschrift Les temps modernes mitarbeitete und von Denkern wie seinem marxistischen Doktorvater Henri Lefebvre und den linksradikalen Situationisten beeinflusst wurde, aber auch durch Strukturalisten wie Roland Barthes und ethnologisch beeinflusste Soziologen wie Marcel Mauss und Georges Bataille.[4]
Schon seine ersten Bücher befassen sich mit Kulturtheorie, Ökonomie und Sprachkritik, oft mit Bezügen zur aktuellen, gesellschaftlichen Situation und provokanten oder zugespitzten Thesen als thematische Anknüpfungspunkte. Damit bewegte er sich im Umfeld sozialistischer Theorien, erweiterte diese jedoch durch ausgiebige Analysen der kulturellen Sphäre und der Konsumgesellschaft, sowie durch den Versuch einer Verknüpfung von Materialismus und Strukturalismus, in dessen Zuge er Marx’ Kritik der politischen Ökonomie zeichentheoretisch interpretiert.[5]
Um 1975 wendet er sich, beeinflusst durch die ethnologischen Studien von Marcel Mauss zum Gabentausch und von Bataille zur Verschwendung bzw. zum Potlatsch, dem Thema des „symbolischen Tausches“ zu. Fortan spielt der symbolische Tausch für Baudrillard die doppelte Rolle eines Gegenprinzips sowohl zur politischen Ökonomie des Kapitalismus wie auch zum marxistischen „Produktionsparadigma“, dessen Verhaftung im kapitalistischen Denken er in Le miroir de la production (1975) vehement kritisiert.[6]
In Der symbolische Tausch und der Tod (1976) setzt Baudrillard diesen ethnologisch geprägten Ansatz fort, indem er die Todesriten außereuropäischer Kulturen mit der „Verdrängung des Todes“ in der westlichen Kultur vergleicht und dabei ein Verschwinden des symbolischen Tausches mit dem Tod konstatiert.
Simulationstheorie
Der symbolische Tausch und der Tod enthält auch eine erste systematische Fassung seiner Simulationstheorie. Baudrillard unterscheidet drei Zeitalter des Zeichens bzw. „drei Ordnungen des Simulakrums“: Nach dem Zeitalter der „Imitation“ und demjenigen der „Produktion“ leben wir heute im Zeitalter der „Simulation“ – einem gesellschaftlichen Zustand, in dem Zeichen und Wirklichkeit zunehmend ununterscheidbar werden. Die Zeichen, so Baudrillard, haben sich von ihrem Bezeichneten gelöst und seien „referenzlos“ geworden. Die Zeichencodes der modernen Städte, der Werbung und der Medien gäben nur noch vor, entschlüsselbare Botschaften zu sein. In Wahrheit dagegen seien sie reiner Selbstzweck, mit dem das Gesamtsystem der Gesellschaft aufrechterhalten wird, damit „jeder an seinem Platz bleibt“. Die Zeichen „simulieren“ eine künstliche Realität als Hyperrealität, anstatt eine wirkliche Welt abzubilden.
Vorformen und Andeutungen dieser Idee hatte Baudrillard bereits in seinen vorherigen Schriften formuliert: In das System der Dinge untersuchte er die Zeichenfunktion von Gebrauchsgegenständen, die längst wichtiger geworden sei als ihre technische Funktion. Konsumgüter existierten nicht primär als Gegenstände des Gebrauchs, sondern sie würden in ihrer ideellen Dimension als Zeichen für einen bestimmten Lebensstil konsumiert. Der Konsum, so schloss Baudrillard damals, sei eine absolut idealistische Praxis.[7] Deren Sinn sei Substitution, die als praktizierter Hedonismus und Alternative zur Aufgabe individueller Wünsche genutzt werden könnte. Aber erst seit Der symbolische Tausch und der Tod, sowie in zahlreichen darauf folgenden kleineren Schriften, z. B. Die Präzession der Simulacra (1978) oder Transparenz des Bösen (1990), wird das Konzept der Simulation zentral.
Die Entwicklung hin zur Simulation, die er auch als „strukturale Revolution des Werts“ bezeichnet, spiele sich parallel zu den Zeichen der Massenmedien auch im Bereich der Ökonomie ab.[8] Dort entspreche ihr die Verselbständigung der Konsumtion auf Kosten der Produktion,[9] oder die Verselbständigung des Tauschwerts auf Kosten des Gebrauchswerts.[10] Baudrillard entwickelt somit, auch mit Bezug auf Ferdinand de Saussure und mit einer historisch-kritischen Analyse verschiedener Kulturstufen, eine Kritik der Marxschen ökonomischen Theorien von außerhalb der Ökonomie.[11]
Medientheorie
Auch die medientheoretische Stoßrichtung der Simulationstheorie, die vor allem auf Massenmedien wie das Fernsehen gemünzt ist, hatte Baudrillard bereits in einer früheren Schrift, Requiem für die Medien (1972), vorgedacht. Darin wendet er sich unter anderem gegen die zeitgenössische Kritik der Medien als Instrument der Manipulation. Stattdessen entwickelt er sein Konzept der „Simulation“ als Alternative zu den klassischen Manipulationsmodellen. In Requiem für die Medien zeichnet Baudrillard ein kritisches Bild der Massenmedien, deren Apparaturen dazu dienten, Kommunikationsprozesse hierarchisch zu vereinseitigen, anstatt sie zu befördern: „... die Medien sind dasjenige, welches die Antwort für immer versagt, das, was jeden Tauschprozess verunmöglicht, es sei denn in Form der Simulation einer Antwort, die selbst in den Sendeprozess integriert ist.“[12]
Anknüpfend an Marshall McLuhans Werk The Medium is the Massage („Das Medium ist die Massage“) betont Baudrillard gegen Hans Magnus Enzensberger und dessen Aufsatz Baukasten zu einer Theorie der Medien (1970) gerichtet, dass es unmöglich sei, Massenmedien kritisch zu verwenden. Baudrillard spricht in diesem Zusammenhang von einer medialen „Rede ohne Antwort“, durch welche die eigene Tätigkeit der Konsumenten behindert würde.
Terrorismus
In den 1980er und 1990er Jahren beherrschen Reflexionen über das scheinbare „Ende der Geschichte“ und das Verschwinden des Ereignisses hinter der Simulation das Denken Baudrillards (Das Jahr 2000 findet nicht statt, 1984; Die Illusion des Endes oder Der Streik der Ereignisse, 1992). Selbst der Krieg sei – als Ereignis und konfrontative Herausforderung – "verschwunden", wie Baudrillard in seinen kontrovers aufgenommenen Analysen zum Golfkrieg 1991 folgert.
Die Islamische Revolution im Iran begrüßte er, sie sei ein Beweis von Lebenskraft:
„(Der Iran) stellt die einzige aktive Kraft dar, die das strategische Monopol und den Terrorismus der zwei Großmächte herausfordert... Es spielt keine Rolle, ob um den Preis von religiösem Fanatismus, moralischem Terrorismus oder auch nur gewöhnlicher Barbarei. Zweifellos kann nur die rituelle, keineswegs nur archaische Gewalt, die Gewalt einer Religion, eines Tribalismus, welche die Modelle der westlichen Welt ablehnt, eine solche Herausforderung der Weltordnung darstellen.“ – Le Monde,13. Februar 1980, eig. Übers.
Eine Reaktion gegen die Simulation sieht er jedoch im Terrorismus, den er bereits in den 1970er Jahren anlässlich der Todesnacht von Stammheim untersucht hatte. In den Anschlägen vom 11. September 2001 schließlich erblickt er einen Verweis auf das Ereignis als solches, einen Versuch, durch das "reine Ereignis" den Zirkel der Simulation zu durchbrechen, indem es dem System die „symbolische Gabe des Todes“[13] vergelte und es damit selbst – der Logik des Gabentauschs folgend – zu einer Art Selbstmord zwinge: „Die terroristische Hypothese heißt, dass sich das System in Beantwortung der vielfachen Herausforderung des Todes und des Selbstmordes selbst umbringt.“[14]
In seinen Analysen der Terroranschläge betont Baudrillard zugleich aber auch, dass der Terrorismus „keine zeitgenössische Form der Revolution gegen Unterdrückung und Kapitalismus“ darstelle und nicht zu rechtfertigen sei.[15] In einem Interview mit dem Spiegel analysiert er den Terrorismus außerdem als fatale, unausweichliche Reaktion auf das Machtungleichgewicht der Globalisierung. Den dadurch losgetretenen Konflikt bezeichnet er als „Vierten Weltkrieg“ – einen Krieg „der Gattung Mensch mit sich selbst“,[15] der im Unterschied zum „Dritten Weltkrieg“, dem Kalten Krieg, ein entgrenzter, asymmetrischer und unkontrollierbarer Krieg sei, der nicht mehr eindeutig gewonnen werden kann.
Amerika
Das Leben Baudrillards wurde stark von seinem Verhältnis zu den Vereinigten Staaten geprägt, das man als kritische Distanz bezeichnen könnte. In Amerika reflektiert er die Erlebnisse seiner Reiseerfahrungen in das Land. Einerseits zog ihn die Gesellschaft dort an, andererseits kritisiert er sie als „vollendet primitive Originalversion einer Modernität“. Zugleich jedoch beschrieb er dasselbe Amerika als „Paradies“, von dem er sagte: „Mag es auch beklagenswert, monoton und oberflächlich sein, es gibt kein anderes.“
Rezeption
Der US-amerikanische Ökonom Jeremy Rifkin bezieht sich auf Baudrillard[16] und interpretiert dessen Aussagen wie folgt: Menschen, die sich als autonomes Individuum verstehen, werden langsam zum Anachronismus. Der neue Mensch verstehe sich eher als Knoten unterschiedlichster Beziehungen. Baudrillard schreibt: „Wir existieren nicht mehr länger als Subjekte, sondern eher als Terminal, in dem zahlreiche Netze zusammenlaufen“.[17]
Der Schweizer Komponist Alfons Karl Zwicker komponierte eine Hommage à Jean Baudrillard (2010) für Ensemble.
Kritik
Baudrillards These vom Ende der Geschichte in der Simulation bildete Anlass zu zahlreichen Ein- und Widersprüchen. Vor allem seine Deutungen der Terroranschläge von New York und Washington als „Mutter aller Medienereignisse“ überzogen ihn mit starker Kritik, ebenso wie seine provokante Behauptung einige Jahre zuvor, „der Golfkrieg hat nicht stattgefunden“.
Auch sein oftmals assoziativer und unsauberer Stil brachte Baudrillard den Vorwurf mangelnder Wissenschaftlichkeit ein. So verwendete er oftmals mathematisch-physikalische Begriffe wie Raum-Zeit, Paralleluniversum, Möbiusband etc. in einer Weise, die nicht dem Verständnis der Mathematik oder Physik entspricht.
Die Naturwissenschaftler Alan Sokal und Jean Bricmont bezeichneten sein Werk, wie das einer ganzen Reihe anderer postmoderner und poststrukturalistischer Philosophen, als „Eleganten Unsinn“ (vgl. auch Sokal-Affäre).
Noch in den späten Siebzigern wurde Baudrillards Denken, auch aufgrund seiner zum Teil gewagten Thesen, bisweilen mit Science-Fiction verglichen.
Jean Baudrillard Der symbolische Tausch und der Tod