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7. Die Angst vor der Vergangenheit und die Unfähigkeit zu trauern

 

 

Die unvollständige »Bewältigung« unserer nationalsozialistischen Vergangenheit

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Das Thema Faschismus und Drittes Reich drängt schon seit längerem an die Oberfläche unseres kollektiven Bewußtseins. Personen und Gruppierungen aus unserer Zeit werden mit Personen und Gruppierungen aus der damaligen Zeit verglichen: Gorbatschow wurde mit Goebbels verglichen, die CSU oder auch die Grünen mit der NSDAP usw. Man beschwört die Gefahr der Wiederkehr der damaligen Verhältnisse, und zwar in allen Lagern unserer politischen Landschaft. In fast allen offiziellen Stellungnahmen ist die Floskel enthalten, die Vergangenheit dürfe nicht vergessen werden.

Und doch bestehen in den Auffassungen darüber, was mit Vergangenheits­bewältigung gemeint ist, große Unterschiede. Die einen wollen die Vergangenheit endlich zu den Akten legen, andere wollen sie »aufarbeiten« oder »bewältigen«. Gleichzeitig mit dem neuen Interesse an der »unbewältigten« Vergangenheit scheint sich eine Angst vor dieser Vergangenheit bzw. vor ihrer Wiederkehr auszubreiten.

Woran liegt das? 

Befinden wir uns in einer Epoche, in der wir uns endlich aufrichtig mit unserer national­sozialistischen Vergangenheit auseinandersetzen können, da wir von den damaligen Ereignissen zeitlich weit genug entfernt sind? Oder droht das damals Verdrängte jetzt wiederzukehren, sind wir in Gefahr, zu wiederholen, was damals so viel Unglück brachte?

Wiederholen wir vielleicht deshalb in unserem Bewußtsein und zum Teil auch in unserem Verhalten die Geschichte nach einem halben Jahrhundert, um jetzt eine neue Lösung der damals nur mit Gewalt lösbaren Konflikte zu finden?

Ich glaube, daß alle diese Fragen mit Ja zu beantworten, daß alle diese und noch viele andere Punkte als Ursachen unseres gegenwärtigen intensiven Interesses an der Vergangenheit zu verstehen sind. 

Aber was macht den Umgang mit der Vergangenheit so schwer?

Im Jahre 1967 versuchten die Psychoanalytiker Alexander und Margarete Mitscherlich Antworten auf die Frage zu finden, warum »bis heute die Epoche des Dritten Reiches ... nur unzulänglich kritisch durchdrungen wurde«.1) Die Autoren schrieben damals: 

»Wir — als ein Kollektiv — verstehen uns in diesem Abschnitt unserer Geschichte nicht. So wir überhaupt darauf zurückkommen, verlieren wir uns vornehmlich in Ausflüchten und zeigen eine trügerische Naivität; de facto ist unser Verhalten von unbewußt wirksam gewordenen Verleugnungen bestimmt. Infolgedessen ist unser Selbstvertrauen unsicherer, als es sein könnte.« 2

Diese Sätze könnten wir heute, nach zwanzig Jahren, fast unverändert wiederholen, vielleicht mit dem Zusatz, daß anscheinend derzeit doch ein kollektiver Versuch unternommen wird, die Vergangenheit zu verstehen, wenngleich auch Versuche zu beobachten sind, die Vergangenheit »nun endlich endgültig loszuwerden«.

Das Ehepaar Mitscherlich verstand die geistige Unbeweglichkeit in der Bundesrepublik als Folge der fehlenden Trauerarbeit, die »beim einzelnen dessen seelische Entwicklung, seine zwischen­menschlichen Beziehungen und seine spontanen und schöpferischen Fähigkeiten behindert«.3

Aber was verstehen Psychoanalytiker unter dieser Trauerarbeit, und was meinten die Autoren mit der seither so viel zitierten »Unfähigkeit zu trauern«?

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Im Alltagsbewußtsein ist der Begriff Trauer mit der Vorstellung von Weinen verbunden, eventuell von langem oder zu langem »Nachtrauern« nach dem Verlust eines nahestehenden Menschen. Erst Freuds Begriff der »Trauerarbeit« machte deutlich, daß und weshalb Trauer und die Fähigkeit zu trauern für die psychische Gesundheit des einzelnen und der Gesellschaft nötig sind. Trauerarbeit ist Trennungsarbeit. Es geht um die Trennung von einem geliebten Objekt, also zum Beispiel von einem geliebten Menschen, aber auch um die Trennung von Wunschvorstellungen und Idealen, die sich als nicht realisierbar oder als Irrweg auf der Suche nach einem glücklichen Leben erwiesen haben.

Ob man sich in diesem psychischen Prozeß der Trauerarbeit von dem verlorenen Objekt innerlich trennen kann, hängt damit zusammen, welche Beziehung vorher zu ihm bestanden hat. Habe ich das Objekt um seiner selbst willen geliebt, mit seinen angenehmen und unangenehmen Seiten, dann bin ich nach dem Verlust fähig, »Trauerarbeit zu leisten«, das heißt, ich kann mich schrittweise von ihm trennen, indem ich die ganze, reale Person in meine die Liebe bewahrende Erinnerung aufnehme. 

Habe ich das Objekt jedoch idealisiert, also zum Zweck der Bestätigung des eigenen Selbstwertgefühls überhöht, dann lasse ich es bei Verlust oder Enttäuschung plötzlich fallen. Es wird sofort vergessen und eventuell verteufelt, die Erinnerung an die gemeinsame Geschichte wird möglichst aus dem Gedächtnis verdrängt, als ob eine solche Geschichte gar nicht stattgefunden hätte. 

Diese plötzliche Abwendung hat zur Folge, daß der mit dem Verlieren der idealisierten Person oder mit der Enttäuschung durch diese Person verbundene Verlust an Selbstwertgefühl möglichst schnell wieder ausgeglichen werden muß, und zwar durch eine neue Idealisierung.

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Die Beziehung zwischen Volk und Führer im Dritten Reich beruhte weitgehend auf gegenseitiger Idealisierung. Schuld und Scham und alles Minderwertige und Schlechte wurden auf gemeinsame Außenfeinde projiziert, auf die Kommunisten, die Juden, die Zigeuner, die Kriegsgegner usw. Nach dem »Zusammenbruch« nicht nur des nationalsozialistischen Regimes, sondern auch dieser idealisierenden Beziehung drohte deshalb die Überschwemmung durch Schuld- und Schamgefühle. Was bisher von der »Vorsehung« oder von deren Vertreter, dem Führer, gewollt und deshalb richtig gewesen war, entpuppte sich als gemeines Verbrechen eines nicht mehr übermächtigen, sondern jetzt ohnmächtigen Gottes und seiner Gefolgschaft.

Nur wenige Menschen in unserem Volk hatten vorher eine andere Beziehung zur nationalsozialistischen Führung als die der Idealisierung oder der Verteufelung. (Die Verteufelung ist als Rückseite der Idealisierung nicht realistischer als die Idealisierung selbst.) 

Wegen der starken Spaltung im kollektiven Bewußtsein und in der Bevölkerung waren nur wenige Menschen schon vor dem Zusammenbruch fähig, sich selbst und ihre Mitmenschen in Regierung, Partei und in der übrigen Bevölkerung realistisch zu sehen, mit ihren »guten« und »bösen« Anteilen. Diesen Menschen fiel es nach dem Zusammenbruch leichter, Trauerarbeit zu leisten, sich zur eigenen Anfälligkeit für individuelle und kollektive Größenphantasien zu bekennen. Sie konnten das Bewußtsein dieser ihrer Schwäche und die damit verbundenen Schuld- und Schamgefühle leichter aushalten und so die eigene psychische und damit ein wenig auch die gesellschaftliche Struktur verändern, indem sie den »Zusammenbruch« auf diese Weise »nutzten«.

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Die unterschiedliche Fähigkeit zu trauern bei Menschen, die der Spaltung (Idealisierung und Verteufelung) erlegen waren, und bei anderen, die in ihrem Bewußtsein weniger gespalten hatten, zeigte sich im Umgang mit dem »Absturz«. Man kann mit einem Absturz aus großer Höhe prinzipiell auf zweierlei Weise umgehen: Man kann sagen: Ich bin gar nicht (mit)geflogen und auch nicht (mit)abgestürzt, von beidem habe ich jedenfalls nichts gespürt. Die Folge wird die sofortige Wiederholung von Höhenflug und Absturz sein. 

Oder man kann sagen: Ich sehe nun, daß ich mich zusammen mit anderen in sehr gefährlicher Höhe befunden habe, ohne die Gefahr wahrzunehmen. Der Absturz hat sehr weh getan, aber ich bin jetzt froh darüber, weil ich so die Chance habe, nicht wieder oder weniger in solche Gefahr zu geraten. Gefährlich war schon der Höhenflug, nicht erst der Absturz. Diese zweite Lösung entspricht nach psychoanalytischem Verständnis einer gelingenden Trauerarbeit. Sie öffnet die Augen für vergangene und gegenwärtige Realität und erweitert das Bewußtsein für die Gefahren des Höhenflugs.

Es geht also bei der Fähigkeit zu trauern nicht nur allerdings auch um die Fähigkeit, traurig sein zu können oder weinen zu können. Entscheidend für den Vorgang der Trauerarbeit ist, daß aus der Trauer und dem Weinen die Fähigkeit entsteht, Vergangenheit und Gegenwart realistisch wahrzunehmen. Und zur realistischen bzw. vollständigen Wahrnehmung von Vergangenheit und Gegenwart gehört wesentlich das Bewußtsein der eigenen Beteiligung an vergangenen Irrwegen und Verbrechen, sei es in aktiver Form, sei es in Form passiven Mitläufertums.

Nach Alexander und Margarete Mitscherlich beruht die Angst vor der vollständigen Wahrnehmung der Vergangenheit vor allem auf der Angst vor Scham- und Schuldgefühlen. Die Scham stammt aus der narzißtischen Kränkung, daß der versuchte Höhenflug mit einem Absturz endete, daß sich das übersteigerte Selbstwertgefühl als Illusion entpuppte. Die Schuldgefühle stammen aus der Erkenntnis, daß das, was vorher gut und richtig zu sein schien, jetzt als falsch und verbrecherisch erkannt wird.

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Beide Gefühle, das der Scham und das der Schuld, behindern die Wiederholung des Höhenfluges, weshalb sie in der Zeit des Wiederaufstiegs der Bundes­republik Deutschland zu nationaler (Über-)Größe möglichst vermieden und verdrängt wurden.

Die Lähmung durch Scham- und Schuldgefühle braucht aber nur der zu fürchten, der meint, er könne sein Selbstwertgefühl nur durch die Wiederholung des Höhenfluges reparieren. Wer den Weg der Trauerarbeit geht, wer die Veränderung und neue Formen der Sicherheit im zwischenmenschlichen Kontakt sucht, für den ist das Zulassen von Scham- und Schuldgefühlen eine Erlösung. Wer nicht wieder fliegen will, ist froh, durch diese Gefühle am Boden festgehalten zu werden und so die Chance zu haben, erste Schritte einer menschlichen, den Menschen angemessenen Fortbewegung zu versuchen.

Neben der Angst vor der Lähmung, vor Scham- und vor Schuldgefühlen sehe ich auch die Angst vor der Wiederholung als wesentliches Element der Angst vor der Vergangenheit. Da sich im Bewußtsein eines Menschen, der »das Fliegen nicht lassen kann«, die »innere Szene«, die Vorstellung von der unausweichlichen Gewalt im Zusammenleben zwischen den Menschen in der Reaktion auf den Absturz nicht verändert hat, muß er immer fürchten, bei einer zu erwartenden Wiederholung der »Machtergreifung« der einen über die anderen selbst zu den Unterlegenen zu gehören. Er muß sich also ständig »in der Luft halten«, in seiner Phantasie bedroht von den Rächern für vergangenes und unverarbeitetes Unrecht. 

Die Gleichsetzung der Grünen oder auch der Friedensbewegung mit den Horden der SA durch die Propaganda vor allem der CSU hat meiner Ansicht nach nicht nur den Zweck, diese Bewegung zu verteufeln und dadurch politisch klein zu halten. Sie entspricht wohl auch einer Angstphantasie der »Väter«, nur durch gewalttätige »Söhne« abgelöst werden zu können. Ein Miteinander scheint nicht möglich zu sein, da die Vergeltung - wegen vermiedener Trauerarbeit - in der Phantasie immer noch aussteht. Allerdings sind solche Phantasien in beiden sich bekämpfenden Lagern weit verbreitet.

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 Wie wir versuchen, die Angst zu bewältigen 

 

Wenn die Trauerarbeit vermieden wird, dann dient dies also zur Vermeidung der Angst vor Scham- und Schuldgefühlen, aber auch zur Vermeidung der Angst vor der Wiederholung der damaligen Szenen, vor der Rache der Opfer und davor, das hilflose Entsetzen angesichts der hemmungslosen Grausamkeit von »Herrenmenschen« erleben zu müssen. Verschiedene Mechanismen halfen und helfen, diese Ängste nicht wahrzunehmen.

Schon bald nach dem sogenannten »Zusammenbruch« breitete sich die Phantasie aus, daß das Geschehene eigentlich gar nicht stattgefunden habe. Es habe keine Massenmorde an den Juden gegeben, der Krieg sei den Deutschen nur aufgezwungen worden, zumindest Hitler, mit dem man sich identifizierte, habe ihn nicht gewollt und auch sonst von den eventuellen Verbrechen im nationalsozialistischen Staat nichts gewußt. Diese Verleugnung diente zugleich der Vermeidung von Scham und Schuld, denn wo kein »Höhenflug« war, war auch kein »Absturz«. Auch die Folgen des Höhenflugs sollten nicht existieren: Die durch die Teilung Deutschlands entstandene Grenze zwischen den beiden deutschen Teilstaaten wurde ignoriert. Als wäre nichts geschehen, erhob die Regierung der Bundesrepublik Deutschland den Alleinvertretungs­anspruch für Bürger, von denen sie gar nicht gewählt worden war. 

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Die Nicht-Wahrnehmung des politischen Geschehens bei vielen Deutschen führte zur politischen Apathie. Die Aufmerksamkeit der Bevölkerung richtete sich fast ausschließlich auf die Möglichkeiten und Notwendigkeiten des Wiederaufbaus, der »Zusammenbruch« des alten Systems verwandelte sich in eine »Befreiung zum Konsum«.

 

Eine andere Möglichkeit, das eigene Bewußtsein vom Geschehenen zu entlasten und die Angst vor Bestrafung zu verdrängen, bestand und besteht in der Projektion des Bösen auf andere. Dies geschah und geschieht individuell und kollektiv. Der individuellen Schuld und Scham kann man entgehen, indem man sich und anderen versichert: »Ich war nicht dabei, wir waren das nicht. Ich bin erst später geboren, ich kann also keine Schuld tragen.« Oder: »Eine böse Minderheit hat damals die gute Mehrheit überwältigt und gezwungen mitzumachen.« 

Die kollektive Schuld und Scham wird verdrängt durch die Behauptung, daß der Krieg eigentlich von den Russen angefangen wurde oder daß sich Deutschland durch den Zweiten Weltkrieg von den beschämenden Folgen der Niederlage von 1918 notgedrungen befreien mußte, daß also die Ursache und damit die Schuld für den Zweiten Weltkrieg bei den Siegermächten des Ersten Weltkriegs lag.

Die Massenmorde Stalins und die Vertreibung der Deutschen aus den Ostgebieten werden aufgerechnet gegen die Greueltaten, die von Deutschen oder wie es verharmlosend heißt: »in deutschem Namen« begangen wurden. So konnten und können die deutschen Kriegstoten nicht wirklich betrauert werden; sie wurden und werden zur Aufrechnung gebraucht. Würden wir sie wirklich betrauern, dann müßten wir in gleichem Maße auch alle anderen Toten dieser Zeit in allen Lagern betrauern, und jeder Gedanke an Rache oder Wiederherstellung nationaler Größe würde sich auflösen. 

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Schon während des Dritten Reiches hätte eine echte Trauer über die vielen Toten innerhalb und außerhalb des deutschen Volkes zur Verhinderung weiterer Qualen und weiterer Opfer geführt. Das Erleben von Schmerzen führt dazu, in Zukunft Situationen zu vermeiden, in denen wieder Schmerzen zugefügt oder erlitten werden. Nur wenn der Schmerz und das schmerzende Ereignis verleugnet werden, kann man fortfahren, sich selbst und anderen Schmerzen zuzufügen.

 

Im Kampf um die Schuld haben sich zwei Lager gebildet: Die einen beschwören ununterbrochen die Schuld und manchmal sogar die eigene Beteiligung an der Schuld, während die anderen die »gesellschaft­liche Dauerbüßeraufgabe« ablehnen. Um diesen Kampf besser zu verstehen, halte ich es für wichtig, zwischen Schuld und Beschuldigung zu unterscheiden. 

Der Begriff Schuld bezeichnet die Tatsache, daß man etwas getan hat. Die Beschuldigung ist ein zweiter Vorgang, der zunächst einmal getrennt von der Schuld selbst zu betrachten ist. Dieser zweite Vorgang, die Beschuldigung, besteht in einem Vorwurf, in moralischer Entrüstung, in Entwertung, Ausstoßung und so weiter. Die Beschuldigung ist der (unabdingbare) Vorläufer der Bestrafung. Aber sie ist nicht die notwendige Folge von Schuld. Es gibt viel Schuld, auf die keine Beschuldigung folgt, und umgekehrt gibt es häufig Beschuldigung, wo keine Schuld ist. 

Die Ursachen der Beschuldigung liegen nicht nur in der Schuld, also in der Tatsache, daß der Beschuldigte die betreffende Tat ausgeführt hat. Ob eine Beschuldigung ausgesprochen wird oder nicht, hängt auch und vor allem damit zusammen, daß der Beschuldiger es aus persönlichen Gründen nötig hat, einen »Angeklagten« zu beschuldigen. Die Beschuldigung hängt also auch von der Beziehung zwischen dem Beschuldiger und dem Beschuldigten zur Zeit der Beschuldigung ab.

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Leider wird auch in der Psychoanalyse oft nicht zwischen Schuld, Schuldgefühl und Beschuldigung unterschieden. In Gesprächen, die von psycho­analytischem Denken beeinflußt sind, hat man oft den Eindruck, Schuldgefühle seien an sich etwas Neurotisches, etwas, das man eigentlich nicht zu haben brauche. Mit den auf diese Weise für unrealistisch erklärten Schuldgefühlen verschwindet dann oft auch die Schuld. Es sieht so aus, als hätte niemals jemand Schuld, da ja jedes Verhalten aus der Geschichte der jeweiligen Person und aus der Situation, in der sie sich befand, erklärbar ist. So entsteht der Eindruck, Psychoanalyse sei ein großes Unternehmen zur Ent-Schuldung oder Entschuldigung von Verbrechern jeder Art.

Da dies meiner Ansicht nach ein schwerwiegendes Mißverständnis von Psychoanalyse ist, möchte ich den Begriff »Schuldgefühle« hier noch einmal klarstellen. Er hat grundsätzlich zwei Bedeutungen, die zumeist miteinander vermischt werden. Nach der ersten, der häufigsten Bedeutung sind Schuldgefühle Selbstbeschuldigungen, die wohl auch deswegen als »neurotisch« im Sinne von »eigentlich überflüssig« angesehen werden, weil von einem Menschen, der sich selbst beschuldigt, die Aufforderung ausgeht, ihn zu entschuldigen, gegen seine Selbstbeschuldigung vorzugehen. Um diesem mehr oder weniger unbewußten Zwang nicht ausgeliefert zu sein, tendiert man dazu, die Selbstbeschuldigung bzw. die Schuldgefühle als neurotisch anzusehen. Das macht eine innere Distanzierung möglich, hebt aber den Kampf um Schuld oder Nicht-Schuld nicht auf. Dieser Kampf ist zumeist ein Scheingefecht, bei dem es eigentlich um Gut und Böse, um Wert und Unwert der sich beschuldigenden oder entschuldigenden Personen geht. Mit der Schuld selbst hat dieser Kampf, wie gesagt, nur indirekt zu tun.

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Die zweite Bedeutung des Begriffes Schuldgefühl, die aber seltener eindeutig gemeint ist, betrifft das Gefühl und das Wissen, schuldig geworden zu sein, etwas getan zu haben, was man nachträglich nicht getan haben möchte. Dieses Gefühl der Schuld kann mit Trauer und Schmerz einhergehen, mit Trauer und Schmerz darüber, daß man erkennt, an unmenschlichen Beziehungsformen aktiv oder passiv beteiligt gewesen zu sein. Hier handelt es sich um eine schmerzliche Verarbeitung des Geschehenen, die zur Veränderung der gegenwärtigen Beziehungen führt.

Im Kampf um die Schuld geht es aber beiden Seiten nicht um das schmerzvolle Wiedererleben der Vergangenheit. Hier geht es um Beschuldigung, um die Zuweisung von Schuld als etwas Bösem. Dieses Böse wird entweder wegargumentiert oder ausschließlich beim jeweils anderen festgestellt, oder auch in Selbstanklagen der eigenen Person oder dem eigenen Volk zugeschrieben. Aber weder Schuldbekenntnisse dieser Art noch Schuldzuschreibungen an andere machen verständlich und wiedererlebbar, was damals geschah. Die wirklichen Gefühle der damaligen Zeit sind hinter Schuldzuschreibungen und Rechtfertigungen verborgen. Sie zu entdecken oder wiederzuentdecken bedeutet nicht, die Schuld, also die Realität des damaligen Geschehens zu verleugnen, sondern den Zugang, vor allem den emotionalen Zugang, zur Realität der Geschichte zu finden.

 

Jede Psychoanalyse ist ein Stück Vergangenheitsbewältigung in diesem Sinn. Der Weg beginnt mit mehr oder weniger starken Schuldzuschreibungen an vergangene und gegenwärtige Bezugspersonen oder auch mit Selbstbeschuldigungen, die die Umkehrung von Schuldzuschreibungen an andere sind. In diesem Anfangsstadium stabilisiert sich der »Patient« durch Feindbilder. Er glaubt zu wissen, wer schuld war, wer gut und böse, wer Opfer und Täter ist. Und dieses »Wissen«, diese Art der »Vergangenheitsbewältigung« genügt ihm zunächst. Zwar leidet er an den ständigen Wiederholungen, aber er sieht nicht, daß diese unbewußten Wiederholungen auch damit zu tun haben, daß er krampfhaft versucht, die früher erlebten Szenen zu vermeiden. Er hat eine sehr verständliche Angst davor, daß noch einmal dasselbe geschehen könnte wie damals und daß er (noch einmal oder diesmal) zum Opfer zwischenmenschlicher Gewalt werden könnte.

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Sobald ihm die damaligen Szenen in der Erinnerung aufsteigen, versucht er sich unbewußt davor zu retten, in die Position des Ausgelieferten zu kommen. Und dieser Rettungsversuch besteht in den meisten Fällen darin, daß man Opfer und Täter benennt, daß man die »Täter« verdammt und die Opfer bedauert oder für »gut« erklärt. Dieses psychische »Zu-Gericht-Sitzen« erspart uns das Wiedererleben des Grauens, das Erleben der Angst und der Schmerzen dessen, der der Gewalt des anderen ausgeliefert ist.

Im Laufe der Analyse füllt sich allmählich dieses Schwarz-Weiß-Gemälde der Verurteilungen und Entschuldigungen mit Farben. Der »Patient« versucht erstmals, in Begleitung des Analytikers und in der Beziehung zu ihm, die Vergangenheit wiederzuerleben und diesmal die begleitenden Gefühle nicht durch Schuldzuschreibungen zu unterdrücken. Dieses Wiedererleben der damaligen Szenen macht es möglich, in Trauer und Schmerz ein Gefühl dafür zu entwickeln, daß diese Szenen Wirklichkeit waren. Entsprechend klarer kann die heutige Wirklichkeit wahrgenommen werden, und entsprechend weniger müssen heute die Gefühle von Trauer und Schmerz durch Beschuldigungen vermieden werden. In der Wiederholung kommen auch voneinander abgespaltene Gefühle wieder zusammen: Enttäuschung und Wut verbinden sich wieder mit Liebe und Hoffnung. So wird die Vergangenheit zu einem wichtigen Teil der Persönlichkeit, wie auch immer sie war.

Diese Art der Vergangenheitsbewältigung unterscheidet sich grundlegend von der juristischen. Das juristische Raster zur Wiedergabe von Vergangenheit kennt nur Schwarz oder Weiß, Schuld oder Unschuld. Schuld wird festgestellt, wenn jemand eine vom Strafgesetzbuch erfaßte Tat wirklich begangen hat.

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In Ausnahmefällen kann er vom Schuldspruch dadurch befreit werden, daß man ihm zugute hält, er habe nur reagiert, auf eine Bedrohung oder auf grausame Behandlung in seiner persönlichen Vorgeschichte. Ein weiterer Grund für »mildernde Umstände« ist die Zuerkennung von Unzurechnungsfähigkeit für die Tat wegen einer psychischen Erkrankung. Dieses juristische Raster ist Ausdruck des »Volksempfindens« und spiegelt den Umgang eines Volkes mit seinen »Schuldigen« wieder. In jedem Fall ist die juristische Lösung eines Konflikts eine Notlösung, die nur dann gebraucht wird, wenn die Beteiligten ihren Konflikt nicht persönlich und emotional lösen können.

Die juristische Aufarbeitung der Zeit des Nationalsozialismus entsprach unserem Bedürfnis nach Rückkehr zur »Ordnung«. Vorwiegend unter dem Druck der Siegermächte wurde versucht, die Schuldigen festzustellen und die bis dahin zum Teil verborgenen Massenverbrechen aufzuklären. Die Wiederaufrichtung von Recht und Ordnung und die Bestrafung der anderen dienten für viele Deutsche zur Entlastung des eigenen Gewissens. Daß im deutschen Volk selbst kaum ein Bedürfnis bestand und besteht, sich wirklich mit dem Geschehenen zu befassen und sich über die Fragen von Schuld und Sühne auseinanderzusetzen, zeigt die Tatsache, daß kein einziger Richter oder Staatsanwalt des Volksgerichtshofs verurteilt wurde und daß viele Urteile der damaligen Justiz bisher immer noch nicht revidiert wurden. Wo immer es möglich war, ließ man das Geschehene geschehen sein und beschäftigte sich mit dem (scheinbar) Neuen.

Der große »Schlußstrich« sollte und soll die Erlösung aus dem »Schatten Hitlers« und seiner Verbrechen bringen. Wir versuchen »zur Normalität zurückzukehren«, wobei die Normalität in Freiheit von Schuld zu bestehen scheint: »Normalerweise« sind wir anscheinend nicht schuldig. Um dieses Unschuldsbewußtsein herzustellen, werden die Versuche der (finanziellen) Wiedergutmachung, die Verjährung und ein Anspruch auf Absolution angeführt.

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Ein neues »bereinigtes« Geschichtsbewußtsein wird beschworen, das die Nation und ihre Aufbauleistung nach dem Krieg verherrlicht. Dabei wird vergessen, daß es gefährlich ist, gegen die eigene Vergangenheit zu leben, weil dies nur ein Leben gegen mich selbst sein kann.

Es ist wohl kein Zufall, daß die nationalsozialistische Vergangenheit gerade jetzt wieder auftaucht, nach vierzig Jahren relativer Ruhe und Gleichgültigkeit und in einer Zeit, in der es wieder um einen Untergang geht, diesmal aber um den möglichen oder wahrscheinlichen Untergang unserer Industriegesellschaft. Ich halte es auch für einen Ausdruck gesellschaftlicher Selbstheilungstendenzen, wenn wir jetzt beginnen, uns mit unserer Vergangenheit auseinanderzusetzen. Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Vergangenheit bedeutet immer auch den Versuch, mit der Vergangenheit zu leben, und sie bietet die Chance zu verstehen, welche kollektiven Mechanismen damals und heute in den Untergang führten und führen.

 

  Psychoanalytische Perspektiven des »Historiker-Streits« 

 

Als einen solchen Versuch verstehe ich auch den sogenannten Historiker-Streit, der seit der Mitte des Jahres 1986 die Bundesrepublik bewegt.4) Dabei ging und geht es im wesentlichen um die Frage, ob die Verbrechen des Nationalsozialismus aus heutiger Perspektive als ein einzigartiges Geschehen zu beurteilen oder ob solche Verbrechen mehrmals in der Geschichte geschehen seien, diesmal eben bei uns, und ob man jetzt darangehen könne, dieses Geschehen »historisch« einzuordnen.

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Leider wurden in diesem Streit der Historiker psychoanalytische Erkenntnisse über Vergangenheits­bewältigung und Trauerarbeit fast gar nicht berück­sichtigt. Die streitenden Lager standen und stehen sich wohl auch deshalb in unversöhnlicher Spaltung gegenüber.

Der Streit hätte eigentlich schon viel früher beginnen können, denn der Historiker Ernst Nolte, auf den sich die Kontroverse im Jahre 1986 hauptsächlich bezog, hatte schon 1980 unter dem Titel <Die negative Lebendigkeit des Dritten Reiches; Eine Frage aus dem Blickwinkel des Jahres 1980> die These vertreten, daß das Dritte Reich noch sehr lebendig sei, und zwar in negativer Form. 

Jedermann, insbesondere prominente Politiker, müßte sich hüten, in Zusammenhang mit den damaligen Tätern gebracht zu werden oder die damaligen Verbrechen zu verharmlosen. Die Auseinandersetzung mit dem Dritten Reich geschehe immer noch fast ausschließlich im Stil einer »Katastrophen- und Anklageliteratur«. Das stelle, so Nolte, eine »große, ja eine lebensbedrohende Gefahr (dar). Eine permanente negative oder positive Lebendigkeit hat nämlich notwendigerweise den Charakter des Mythos als der potenzierten Form der Legende; und zwar gerade weil sie zur gründenden oder stützenden Staatsideologie werden kann.«5

Den Versuch der »Historisierung« des Nationalsozialismus griff Nolte im Juni 1986 unter dem Titel »Vergangenheit, die nicht vergehen will«6 wieder auf. Er versuchte jetzt, das »Vergehen« der Vergangenheit zu erleichtern, indem er sich bemühte, die »Komplexität« jener Epoche erkennbar werden zu lassen. Auf diese Weise wollte er, wie er schrieb, ein »objektiveres« Bild dieses Zeitabschnitts zeichnen. Die komplexeren Zusammenhänge, die er zu diesem Zweck aufzeigte, waren die dem Völkermord an den Juden vorausgegangenen Völker- und Klassenmorde in Asien, insbesondere der Archipel GULag in der Sowjetunion, und führten zu der Überlegung, ob beides vielleicht etwas miteinander zu tun gehabt habe. 

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Er schrieb: »Vollbrachten die Nationalsozialisten, vollbrachte Hitler eine <asiatische> Tat vielleicht nur deshalb, weil sie sich und ihresgleichen als potentielle oder wirkliche Opfer einer <asiatischen> Tat betrachteten? War nicht der <Archipel GULag> ursprünglicher als Auschwitz? War nicht der <Klassenmord> der Bolschewiki das logische und faktische Prius des <Rassenmords> der Nationalsozialisten?« 7) 

 

Jürgen Habermas griff diesen Versuch der »Historisierung« des Nationalsozialismus am 11. Juli 1986 auf8) und verurteilte die »apologetischen Tendenzen in der deutschen Geschichtsschreibung«, die er bei Ernst Nolte und bei anderen deutschen Historikern sah. Er kritisierte, daß die Geschichtsschreibung sich in den Dienst der »Wiederbelebung des Nationalbewußtseins« stelle, wozu die Verharmlosung der nationalsozialistischen Verbrechen beitrage und auch die Interpretation dieses einzigartigen Geschehens als Reaktion auf bolschewistische Vernichtungsdrohungen. Habermas stellte fest, daß auf diese Weise das Feindbild Sowjetunion, von dem die heutige Bundesrepublik immer noch lebe, verfestigt würde.

Ich will und kann hier diesen Streit der Historiker nicht ausführlich wiedergeben.  

Mir geht es darum zu zeigen, daß in dieser übrigens ausschließlich von Männern »bestrittenen« Auseinandersetzung wesentliche Erkenntnisse der Psychoanalyse ausgeblendet wurden und damit gleichzeitig die »Farben« verlorengingen, die Gefühle, die in der Vergangenheit wirksam waren und die heute noch gerade auch in diesem Streit wirksam sind. 

Die vielfältigen Argumentationen lassen mehr oder weniger bei allen Beteiligten den Wunsch erkennen, durch »Historisierung« aus den Beschuldigungen und Entschuldigungen herauszufinden. Allerdings bestehen Unterschiede in der Auffassung darüber, was mit Historisierung gemeint sein könnte. 

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Die einen möchten wie Ernst Nolte die Vergangenheit endlich »vergehen« lassen, indem sie Zusammen­hänge zwischen verschiedenen Vernichtungs­aktionen herstellen. Die Gegner einer solchen »Zusammenhangstheorie« kritisieren diesen Versuch als unzulässige Entschuldigung durch Aufrechnung von Gewalt und Gegengewalt. Sie möchten die Tatsache der Schuld nicht auf diese Weise untergehen lassen.

Letztlich ging es nach meiner Beobachtung in diesem Streit um das Verständnis von Geschichtswissen­schaft und Wissenschaft überhaupt. Es ging um die Frage, ob Wissenschaftlichkeit darin besteht, daß das beobachtete Geschehen emotionslos eingeordnet wird, oder ob Wissenschaftlichkeit auch und gerade darin besteht, daß der Wissenschaftler und mit ihm die Laien emotionalen Anteil an dem beobachteten Geschehen und an der Beobachtung selbst nehmen. Das Problem beider Seiten in diesem Streit bestand für mein Empfinden darin, daß sie Beschuldigung und emotionale Beteiligung gleichsetzten, wobei die eine Seite beides beenden, die andere Seite beides erhalten wollte.

Aus dem Blickwinkel der Psychoanalyse geht es auch bei der »Historisierung« darum, Schuld oder Schuldgefühle im Sinne von Trauer und Schmerz einerseits vom Kampf um die Schuld andererseits zu trennen, der sich in Form von Be- und Entschuldigung immer weiter fortsetzt. Dieser Kampf wird, wie gesagt, durch die Angst vor dem Erleben von Scham und Schuld, aber auch durch die Angst vor der Wiederholung aufrechterhalten. Solange man den wissenschaftlichen oder ideologischen Gegner bekämpfen kann, braucht man sich nicht auf die verdrängten Gefühle einzulassen und von diesen zu sprechen.

 

Aber gerade die Unterscheidung zwischen trauernder Erinnerung und »Bewältigung« durch Anklage oder Verteidigung ist so schwer. Wenn wir uns die Berichte aus den Konzentrationslagern, aus der Kriegs- und Nachkriegszeit direkt vor Augen führen und dem Nach- und Miterleben

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keine rationalisierenden Schranken setzen, dann überfällt uns so große Angst, daß wir immer wieder geneigt sind, diese Angst durch Beschuldigung, Empörung und Distanzierung wegzuschieben. 

So werden Entsetzen und Trauer immer wieder mit Verurteilung vermischt und durch Verurteilung verdrängt. Zumeist gelingt diese »juristische« Bewältigung so selbstverständlich und perfekt, daß von Entsetzen und Trauer keine Spur mehr zu sehen ist.

Emotionale Auseinandersetzung bedeutet Berührung, Berührung mit Tätern und Opfern. Aber wir sprechen lieber nicht über die Vergangenheit, es könnte ja sein, daß der Gesprächspartner ein Nachkomme von Tätern oder von Opfern ist. Und dann könnte die Berührung vielleicht gefährlich und ängstigend werden. So bleibt die Trennung zwischen Tätern und Opfern erhalten, eine Trennung, die schon damals - und jetzt wieder - die Grausamkeiten überhaupt möglich machte. Wo Täter und Opfer sich nicht berühren, sich nicht berühren lassen, erhalten sie die Kluft aufrecht, die zur Destruktion führt.

Die emotionale Auseinandersetzung mit der Vergangenheit hat aber auch unausweichlich die emotionale Auseinandersetzung mit der Gegenwart und mit den Wiederholungen der Vergangenheit in der Gegenwart zur Folge. Dies scheint mir ein weiterer Grund für die Vermeidung dieser Auseinandersetzung zu sein. Wenn wir uns auf die Schrecken der Geschichte einließen, dann müßten wir auch die Schrecken der Gegenwart erkennen. Wir könnten nicht mehr davon ausgehen, daß das alles »vorbei« ist. Wir müßten sehen, daß die Vernichtung von Leben und Menschen immer noch und immer wieder geplant wird und geschieht. Wir müßten erkennen, daß die Täter unter uns sind, und zwar nicht nur in Gestalt von ehemaligen Mitgliedern der SS oder der SA. Wir alle sind Täter und Opfer zugleich in der Vernichtung von Leben und Überlebensmöglichkeit für uns und unsere Kinder.

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Der Versuch der »Historisierung« hat also nur eine Chance, wenn darunter die Wiederbelebung der damals durch Gewalt unterdrückten oder durch Gewalt »gelösten« Konflikte verstanden wird.  

Wenn wir diese Konflikte auf neue Weise durchstehen und dabei unsere Menschlichkeit wiederfinden, haben wir eine Chance, heute die Gewalt unter den Menschen und zwischen den Menschen und der Natur zu verringern. Die »Versachlichung« der Argumente alleine genügt dazu nicht, im Gegenteil. Viele Menschen haben ihre Väter im Krieg verloren. Sie wagen es nicht, diesen Verlust wirklich zu betrauern. Der Schmerz wäre zu groß. So bleiben sie innerlich distanziert, und die Folge ist, daß sie in ihrem Bewußtsein keinen Vater haben, nie einen Vater hatten. Sie arrangieren sich, aber sie arrangieren auch zumeist die Wiederholung der Vaterlosigkeit. Frauen glauben, ihre Kinder ohne die Väter der Kinder versorgen zu können und zu müssen. Männer erleben sich weiterhin als nur zuständig für den »Krieg«, nicht als Partner und Väter in der Familie. Der Zerfall der mitmenschlichen Beziehungen und die Vorstellung, daß man sich mit Gewalt im privaten wie im öffentlichen Leben abfinden kann und muß, setzen sich fort. Die Anklage gegen die Eltern bleibt so lange bestehen, wie man nicht sehen kann, daß man selbst das wiederholt, was die Eltern getan haben. Und umgekehrt wird die Vergangenheit so lange wiederholt, wie man nicht von der Anklage zum Wiedererleben der Schmerzen und der Trauer übergehen kann.

Beim Studium der Texte zum Historiker-Streit, an dem sich auch Philosophen und Soziologen beteiligten, begegnete ich der Phantasie, daß derjenige schuldig im Sinne von böse ist, der ein einmaliges, ein einzigartiges Verbrechen begangen hat. Man streitet um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Verbrechen, so als müßten diese Greueltaten und vor allem auch die im Krieg verübten Taten dann nicht als

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Verbrechen angesehen werden, wenn sie nicht einzigartig oder wenn sie eben »ganz normal« im Krieg geschehen wären. Wer tut, was andere auch tun oder getan haben, ist »normal«. Wenn dazu noch festgestellt werden kann, daß er nur reagiert hat, also in Notwehr gehandelt hat, dann ist er endgültig entschuldigt - ganz im Sinne der auch jetzt wieder geplanten »Vorwärtsverteidigung«.

Ich glaube, daß dieser Streit zumindest partiell auch davon ablenkt, worum es derzeit »im Untergrund« geht, nämlich um die Erkrankung unserer Gesellschaft damals und heute. Der Begriff der Erkrankung hat für mich weder etwas mit Beschuldigung noch mit Entschuldigung zu tun. Eine psychische Erkrankung besteht immer auch in zerstörter Mitmenschlichkeit, und das ist etwas sehr Schmerzliches, oft auch etwas sehr Erschreckendes. Wenn man psychische Erkrankung beim Individuum und im Kollektiv nicht nur fachlich diagnostiziert, sondern sich auf die darin enthaltenen Gefühle und Gefahren, auf die Not und die Lebenswünsche einläßt, dann hört man auf, den Kranken zu beschuldigen. Statt dessen beginnt man, sich ängstlich zu fragen, ob man das, was in dieser Erkrankung an Gewalt und Destruktivität zu erkennen ist, nicht auch selbst tun könnte oder sogar tut.

 

  Wiederholt wird, was nicht verstanden wurde 

 

Die beschriebenen Mechanismen dienen also der Abwehr gegen die Angst vor der Wiederholung und vor dem Wiedererleben des Grauens. Wir hoffen, daß sich die in der Geschichte erlebten Schrecken nicht wiederholen, wenn wir einen Schlußstrich ziehen, wenn wir die Schuldigen benennen oder wenn wir aufhören, die Schuld auf uns zu nehmen. 

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Aber die Geschichte wiederholt sich gerade in den Teilen, die wir nicht verstanden haben. 

Eine künstliche »Beendigung« von beschämenden oder ängstigenden Ereignissen in unserem Bewußtsein rettet uns nicht davor, gerade diejenigen Verhaltens­weisen zu wiederholen, die wir am meisten fürchten.

Auch moralische Proklamationen oder gar die beim Zusammenbruch des »Dritten Reiches« erlittenen »Schläge« genügten nicht für eine grundsätzliche Veränderung. Größenphantasien, Rücksichtslosigkeit und Unmenschlichkeit kehrten zurück, sobald es die »Atmosphäre« wieder zuließ. Die allgemeine Meinung, daß »so etwas nie wieder geschehen darf«, änderte nichts an der unausweichlichen Wiederkehr nicht betrauerter Ereignisse.

Der Zwang zur Wiederholung wird von Generation zu Generation weitergegeben, und dies in dem Maße, in dem die Eltern nicht verstehen, weshalb sie das taten, was sie taten, und in dem die Kinder die Eltern nicht so sehen, wie sie sind, sondern so, wie sie aus ihrer Sicht sein sollen oder wie sie nicht sein sollen. 

Die unvollständige Abgrenzung der Generationen voneinander, die sich in der Idealisierung und Verteufelung der Eltern durch die Kinder ausdrückt, behindert bei den Kindern das Verständnis für ihre eigenen Tendenzen, genau das zu tun, was sie bei ihren Eltern verteufeln oder idealisieren. Wer seine Eltern nicht realistisch sehen und lieben kann, kann auch sich selbst nicht realistisch sehen und lieben. Er gibt blind die Gewalt, die er von seinen Eltern erfahren hat, an seine Kinder weiter, auch wenn er sich bemüht, genau das nicht zu tun.

Die Geschichte wiederholt sich allerdings nicht wörtlich. 

Die Gewalt der Eltern erscheint bei den Kindern zumeist in einem anderen Gewand. Doch blieben einige ideologische Grundsätze über den »Zusammenbruch« hinaus fast unverändert erhalten und entfalten sich gerade jetzt wieder zu allgemeiner Wirksamkeit und Bedeutung: Leistung soll sich wieder lohnen, Pflichterfüllung, Opferbereitschaft und Gemeinsinn sind Schlagworte der Wahlkämpfe damals wie heute. 

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Man weiß wieder, was richtig und falsch ist, wo oben und wo unten ist. Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit scheinen für die perfekte Bewältigung aller Aufgaben zu genügen. Die innere Sicherheit und Ordnung soll durch eine Verstärkung der Polizei und die Erweiterung der Fahndungsbefugnisse garantiert werden, die äußere Sicherheit durch Auf- und Wettrüsten. Der wirtschaftliche Erfolg scheint die noch immer vorhandene Phantasie vom auserwählten Volk zu bestätigen. 

Die Beschäftigung mit der Vergangenheit verstehen viele Mitbürger als Ausdruck einer neurotischen Sucht zur Selbstbeschuldigung, nicht als Chance zur Veränderung.

Auch die antidepressiv wirkenden Ideologien und Verhaltensweisen aus der Zeit des »Dritten Reiches« sind immer noch oder wieder neu zu erkennen: Wie zu Beginn der dreißiger Jahre haben wir die Phantasie, nach der erlittenen Niederlage »wieder wer zu sein«. In der narzißtischen Größenphantasie wird die Angst unterdrückt, die latent unter allem oder über allem liegt, die Angst vor dem Atomkrieg, vor dem Sterben der Umwelt, vor der Kernenergie, vor der Arbeitslosigkeit. Man ist wieder optimistisch, das gilt als gesund. Je größer die Angst und die Gefahren, desto größer der öffentlich vorgetragene Optimismus. Das alles ist Wiederholung, vor der wir uns eigentlich immer gefürchtet haben, die wir aber durch Verdrängung oder durch gute Vorsätze alleine nicht vermeiden konnten. Wie in den dreißiger Jahren helfen uns die Idole Wirtschaftswachstum, Technik, Konsum und Wiederaufbau über das Erleben der Angst hinweg- so scheint es wenigstens.

Auch der Imperialismus unserer Zeit hat sich gegenüber dem Imperialismus der dreißiger Jahre umgekleidet. Deshalb ist er so schwer wiederzuerkennen. 

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Die meisten Menschen denken immer noch in den alten Kategorien des Imperialismus und halten deshalb einen revanchistischen Versuch des Ostblocks, Westeuropa zu »erobern«, oder einen ebensolchen Versuch des Westens, die »Ostgebiete« zurückzugewinnen, für nötig oder für wahrscheinlich. Das Schlagwort »Volk ohne Raum« hat sich aber inzwischen verwandelt. Es heißt heute zum Beispiel »Volk ohne Energie«. Genauso wie damals dem deutschen Volk nicht wirklich der Raum fehlte, so wenig fehlt uns heute die Energie. Aber der implizite Schlachtruf »Volk ohne Energie« dient wie damals der Legitimation zur Machtergreifung, jetzt nicht mehr nur gegenüber den Nachbarvölkern und gegenüber der Dritten Welt, sondern auch und besonders gegenüber den zukünftigen Generationen. 

Damals verfielen Juden, Russen, Polen, Tschechen, Franzosen, die eigenen Soldaten dem Holocaust, weil die Mehrheit des deutschen Volkes glaubte, ein Herrenvolk zu sein, das die Lebensinteressen anderer Völker nicht zu berücksichtigen brauchte. 

Heute glaubt die Mehrheit der Bevölkerung in den Industrienationen, daß die »modernen und modernsten Staaten«, in denen sie leben, selbstverständlich ihren großen Energiebedarf auf Kosten der eigenen Umwelt und der Dritten Welt decken müssen. Aber der totalitäre Wahnsinn vernichtet damals wie heute nicht nur die anderen, sondern auch die eigene Bevölkerung und vor allem die eigenen Nachkommen. Die deutsche Industrie steht wieder »an der Spitze«, das Töten geschieht wie damals auch jetzt zum Teil industriell.

Dies alles ist nur möglich, weil heute wie damals keine lebendige und mitleidende Beziehung zwischen den Subjekten und den Objekten des Tötens besteht. Die euphorische Aufbruchstimmung in immer neue Dimensionen des Industriezeitalters verdeckt die politische Lethargie der einzelnen und der Massen. Es fehlt wie damals die Fähigkeit der Bevölkerung zur Antizipation, die Fähigkeit, die Art und die Folgen ihres Verhaltens zu verstehen. 

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Ein »gütiger« Nebel hüllt uns ein, damit wir nicht sehen müssen, was wirklich ist: Es wird schon nicht so schlimm sein, wahrscheinlich passiert gar nichts. Wo kämen wir denn hin, wenn wir uns über alles aufregen sollten? Wir verlören ja unsere Handlungsfähigkeit, und die brauchen wir gerade jetzt, wenn die Gefahren vielleicht wirklich groß sind. Oder andererseits: Vielleicht ist alles noch viel schlimmer, als wir denken. Aber wir können - leider und Gott sei Dank - nichts tun als anklagen - die anderen.

Wenn wir nun im Nebel der vagen Ängste und Hoffnungen versinken, so ist das unter anderem auch die Folge oder Fortsetzung davon, daß wir und unsere Eltern damals schon nicht richtig hingesehen und erlebt haben, was wirklich war. Die Toten des Ersten Weltkriegs und zum Teil auch wieder des Zweiten Weltkriegs wurden als »heldische Opfer« gefeiert. Der Verlust in den beiden Kriegen wurde nicht ausreichend betrauert. Die Realität des Krieges war schon damals so entsetzlich, daß man ihn nur noch bagatellisieren, heroisieren oder als unausweichliche Notwendigkeit rationalisieren konnte. Die Angst vor dem Wiedererleben oder Nacherleben der Vergangenheit war nicht auszuhalten, und so blieben wir unfähig, uns auf die Realität einzulassen, auf die beziehungslose Grausamkeit, die zwischen Menschen möglich war und ist. Die Fähigkeit zu trauern ist die Fähigkeit, die Realität wahrzunehmen, sich auf die Realität einzulassen.

Um das Entsetzen nicht zu spüren, um die Angst vor Tod, Alter, Krankheit, vor dem beschämenden Absturz nicht zu erleben, wurde nach dem Ersten und nach dem Zweiten Weltkrieg eine Maschinerie des Aufbaus in Gang gesetzt, die von den Kräften der Enttäuschung und der Wut aber auch von der Angst vor Mord und Selbstmord angetrieben wurde. Diese Maschinerie ist deswegen so schwer anzuhalten, weil die ungelebten Gefühle der Angst, des Schreckens, der Kränkung und der Verzweiflung zutage träten, sobald sie stillstünde.

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Wenn man merkt, daß man die Vernichtung nicht mehr aufhalten kann, beginnt man, sie orgiastisch zu »feiern« und voranzutreiben. Das vermindert die Angst, da man in dem entsetzlichen Geschehen von der passiven in die aktive Rolle wechselt. (Diese orgiastische Heroisierung und die unaufhaltsame Steigerung von Mord und Selbstmord ist derzeit im Iran gut zu beobachten.) Die umgewandelte Verzweiflung führt dazu, daß jede Hilfe abgelehnt, jeder Kontakt abgeschnitten wird. 

Die Enttäuschung vieler Deutscher darüber, sinnlos »verheizt« worden zu sein, gelitten zu haben für eine Niederlage, getötet zu haben, ohne dafür durch den »Endsieg« anerkannt und gelobt zu werden, wird in einer suizidalen Phantasie überwunden. Die Verzweiflung über die Sinnlosigkeit der eigenen Leiden und der eigenen Verbrechen wird voluntaristisch verklärt: All' das wollten wir; wir konnten ja gar nicht anders; wir wollen auch jetzt alles, was wir tun. Damals wie heute können wir nicht aufhören, Krieg zu führen gegen die Umwelt, gegen die Dritte Welt, gegen die Schwachen. Wir träumen vom Aufschwung, doch oft scheint es, als könnte nur noch der »Zusammenbruch« (unserer Wirtschaft) den Frieden mit der Natur, mit unseren »Feinden«, mit der Dritten Welt und schließlich mit uns selbst ermöglichen.

Die Krankheit, die ich hier beschreibe, gleicht einer schweren Depression, die im Gegensatz zur Trauer insbesondere darin besteht, daß die Realität nicht wahrgenommen und vor allem nicht erlebt wird. Das Grundgefühl der Depression ist die Verzweiflung, weil der Kontakt zu den Mitmenschen und zur Realität verloren ist. Ein verzweifeltes Um-sich-Schlagen ist die Folge, ein Nicht-aufhören-Können, sich selbst und andere zu zerstören. Die Verzweiflung muß aber nicht immer bewußt erlebt werden. Sie kann sich auch in optimistischen Machtgebärden verstecken, die dann andere zur Verzweiflung bringen. 

Die narzißtische Persönlichkeit oder der Narzißmus als Volkscharakter macht es möglich, alles Schlechte, alle Angst nach außen zu verschieben und nach dem Prinzip »nach mir die Sintflut« oder »außerhalb von mir die Sintflut« zu leben.

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Weil und soweit die Ereignisse des Dritten Reiches nicht trauernd erlebt und nacherlebt wurden, wiederholen sich auch die alten Feindbilder. Das Böse, Bedrohliche scheint von außen zu kommen: die Kommunisten und die »jüdische Weltverschwörung« als alte Feinde der Nationalsozialisten und als neue Feinde des kapitalistischen Westens. Die jüdischen und bolschewistischen »Untermenschen« sind noch heute für viele Mitbürger das Bedrohungspotential schlechthin. Sie werden phantasiert als gewalttätiger Mob, der den Besitzenden entreißen will, was diese sich »rechtmäßig« erworben haben. 

Eine Auseinandersetzung mit Marxismus und Judentum fand in der breiten Bevölkerung bisher nicht statt. Heute kommt noch ein neues Feindbild dazu: die »Nazis« oder die als Wiederauflage der Nazis verstandenen Minderheiten. Feindbilder behindern den »Umgang«, die Auseinandersetzung mit den Feinden. Wer sich nicht mit seinen Feinden auseinandersetzt, wer sie nicht als Konfliktpartner »berührt«, der rüstet sie auf und trägt so zur Eskalation der Gewalt bei. Heute wie damals fehlt die Auseinandersetzung mit den Gefühlen, Wünschen und Zielen der damaligen und heutigen »Terroristen«.

Der kollektive Narzißmus zur Abwehr gegen depressive Gefühle trägt ähnliche Züge wie beim Übergang von der Weimarer Republik zum national­sozialistischen Staat. Ein narzißtischer Mensch kann es nur schwer aushalten, daß andere anderer Meinung sind als er selbst. Er fühlt sich dadurch zu sehr infrage gestellt, sein labiles Gleichgewicht ist leicht bedroht. So ist die kollektive Unfähigkeit zur Demokratie damals und jetzt zu verstehen. Demokratisches Bewußtsein ist mit narzißtischer Depressionsabwehr nicht zu vereinbaren.

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Die Fähigkeit zur Demokratie besteht darin, aus der »Artenvielfalt« der Wünsche, Ängste und Meinungen gemeinsame Lösungen zur Verbesserung der Lebensqualität entstehen zu lassen. Gerade die Artenvielfalt der Meinungen ist aber für narzißtische Menschen schwer auszuhalten. Sie wissen dann nicht mehr, was richtig und was falsch, was oben und was unten ist. So war der erste Versuch einer Demokratie in Deutschland, die Weimarer Republik, zum Scheitern verurteilt, weil die deutsche Bevölkerung vor allem unter dem Druck der Wirtschaftskrise nicht fähig war, die Vielfalt der Meinungen auszuhalten. Man kehrte nach kurzen ängstlichen Versuchen zurück zur Idealisierung eines Führers, zu Recht, Ordnung und klaren hierarchischen Verhältnissen.

Viele Mitmenschen fürchten heute wie damals »Weimarer Verhältnisse« und neue Ansätze von Basisdemokratie, weil ihnen diese Versuche im Gegensatz zur Ordnung durch eindeutige Mehrheitsverhältnisse zwischen wenigen Großparteien chaotisch erscheinen. Zwar glaube ich, daß die Fähigkeit zu demokratischen Beziehungen im deutschen Volk seit damals zugenommen hat, doch scheint es mir wichtig, die heutigen Ängste vor der »Unordnung« parallel zu den damaligen Ängsten vor dem Chaos zu verstehen. Demokratie muß nicht an sich Angst machen, sie macht uns nur in dem Maße Angst, wie wir unser persönliches Gleichgewicht durch die andere Meinung unserer Mitmenschen bedroht fühlen.

Wer es nicht aushält, sich selbst im Konflikt zu anderen zu erleben, drängt zum Konformismus, das heißt, er schließt sich entweder stillschweigend der Mehrheitsmeinung an, oder er versucht mit Gewalt andere zur Nachfolge zu zwingen. Die scheinbar friedliche Nachfolge ist aber nur möglich, wenn der zwischen den Verbündeten bestehende Konfliktstoff auf einen gemeinsamen Feind projiziert wird. Dann ist auch die »Verliebtheit« in den gemeinsamen Führer oder in das gemeinsame Ideal möglich.9) 

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Dem deutschen Volk wurde 1945 dieser Führer genommen. Natürlich konnte sich dadurch nicht über Nacht die psychische und psychosoziale Notwendigkeit auflösen, Konflikte innerhalb der Gemeinschaft durch Projektion von Feindbildern und Idealisierung von Führern und von deren Ideen auszuschalten. So traten an Stelle des »Führers« ziemlich schnell die Sieger, vor allem die Amerikaner. Wenn man sich mit den Siegern identifizierte, konnte man gleichzeitig sein Gewissen entlasten und den Traum vom »Endsieg« weiterträumen jetzt auf der anderen Seite. Ein Feind, der Kommunismus, konnte im neuen Lager beibehalten werden.

Was trotz der neuen demokratischen Verfassung nach dem Zusammenbruch blieb, war ein sadomasochistisches Verhältnis des Volkes zu den neuen Führern in Ost und West. Die gläubige Abhängigkeit von populistischen Führern, die zum Zweck des Machterhalts Optimismus um jeden Preis verbreiten, hat selbst­zerstörerische Qualitäten. Denn falscher Optimismus ist gefährlicher als realistischer Pessimismus. Wir haben noch eine (hoffentlich) lange gemeinsame Entwicklung vor uns, bis wir als Individuen und im Kollektiv fähig sein werden, unterschiedliche Wünsche, Ängste und Überzeugungen auszuhalten, ohne sie im Bewußtsein verdrängen oder durch äußere Gewalt unterdrücken zu müssen. Die Idealisierung eines »freien Landes« wie der USA hatte noch nicht zur Folge, daß wir selbst innerlich frei wurden.

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  Erinnern heißt verändern  

 

Neben den vielen Hinweisen auf Wiederholungen der Vergangenheit in unserer Zeit gibt es auch zahlreiche Ansätze, in denen Veränderungen möglich waren und möglich sind. Eine gesunde Vergangenheits­bewältigung geschieht nach Freuds Erkenntnis im »Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten«10 und zwar in vielen kleinen Schritten. Die Größe dieser Schritte entspricht der Angst vor dem Wiedererleben der damaligen Schrecken. Ist die Angst sehr groß, dann sind die Schritte sehr klein. Der Antrieb für die Schritte auf diesem Weg der Vergangenheitsbewältigung kommt aus dem Leidensdruck, und das heißt: Das Leiden unter dem Status quo ist größer als die Angst vor der Veränderung.

Lange Zeit war dieser Leidensdruck durch unser wirtschaftliches Wohlergehen vermindert. Wir aßen und verbrauchten, um die Schrecken der Vergangenheit und damit gleichzeitig die Schrecken der Zukunft nicht sehen zu müssen. Allmählich lassen sich das Unbehagen an der Gegenwart und die Angst vor der Zukunft immer weniger beiseite schieben. Das ist der Zeitpunkt, zu dem sich Einzelpersonen oft in psychoanalytische Behandlung begeben. Die eigenen Verdrängungsmechanismen werden als Fessel erlebt, die ein besseres Leben oder auch das Überleben behindern.

Um sich auf den schmerzvollen Prozeß der Erinnerung und des Wiedererlebens einlassen zu können, ist es nötig, daß man sich einigermaßen sicher fühlt, nicht schuldig gesprochen zu werden, heute nicht abgelehnt zu werden wegen des Verhaltens und vor allem wegen der Gefühle von damals. Wir hören immer wieder, wie Väter, die als Soldaten im Krieg waren oder mehr oder weniger aktiv am damaligen Geschehen beteiligt waren, ihre Kinder schlugen oder sich wortlos abwandten, als diese zum ersten Mal die Frage zu stellen wagten: »Hast du auch jemanden getötet?« 

Die Angst vor der Schuld und die Angst vor dem Wiedererleben der damaligen Schrecken läßt die Eltern verstummen und bringt auch die Kinder zum Schweigen. 

So wird die Gewalt und die Angst vor der Gewalt unverändert von einer Generation an die andere weitergegeben solange Erinnerung und Trauer nicht zugelassen werden.

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Ob die Gefahr besteht, daß die damaligen »Täter« jetzt schuldig gesprochen werden, hängt weniger von ihrer »objektiven Schuld« ab als von unserer Angst vor der Wiederholung hier und jetzt. Ist diese Angst zu groß, dann können wir die vollständige Erinnerung nicht zulassen. Statt dessen »sitzen wir moralisch zu Gericht«. Wir unterscheiden in Schuldige und Nicht-Schuldige. Die Eltern sind schuldig oder die Vorgesetzten oder »die Nazis«, usw. Dieses Zu-Gericht-Sitzen mindert zwar die Angst, es verhindert aber auch die Veränderung. Denn Veränderung ist nur möglich, wenn sich das Bewußtsein verändert, und das heißt: wenn die Vergangenheit in der Gegenwart wiederhergestellt wird, vollständig, auch emotional mit allen bis dahin unbewußt gebliebenen Anteilen.

Wie schwer es ist, die verdrängten Anteile aus der Zeit des Dritten Reiches emotional wiederzuerleben, kann jeder selbst empfinden, wenn er versucht, sich in die Angst und das Entsetzen der Menschen in den KZs, an der Front oder auch in den Luftschutzkellern einzufühlen - ohne dabei zu Gericht zu sitzen. Die Erinnerung verändert nur dann das Bewußtsein und in der Folge auch das Verhalten, wenn wir nicht bei der »Gerichtsverhandlung« bzw. der Schuldzuschreibung stehenbleiben, sondern unsere Menschlichkeit zurückgewinnen, indem wir die damaligen Menschen, Opfer wie Täter, als Mitmenschen sehen, mit Trauer und Schmerz über das, was sie erlitten, und das, was sie taten.

In fast allen Religionen gibt es die Vorstellung von Buße als dem Bemühen um die Wiederherstellung eines ungestörten Verhältnisses zwischen der Gottheit und den Menschen. Wo sie nur als Strafe für Schuld oder als Bestrafung von Schuldigen gesehen wird, wird Buße zu einem Instrument von Herrschaft. 

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Dann bleiben nur noch Sack und Asche, Scham und Schuld für die »armen Sünder«, die sich verständlicherweise gegen diese Behandlung wehren, solange es geht. Wo aber die Buße in ihrer ursprünglichen Bedeutung von »Nutzen, Vorteil und Besserung« verstanden wird, ist sie eine Chance zur Veränderung, zur Vermenschlichung unmenschlich gewordener Beziehungen. Trauer und Schmerz über die Ereignisse in der Vergangenheit können uns heute aus dem Zwang zur moralisierenden Trennung zwischen Opfern und Tätern befreien und uns helfen, uns selbst und unsere Eltern und Großeltern besser zu verstehen.

Solange wir unsere Eltern als Verursacher unseres Unglücks beschuldigen müssen, so lange schneiden wir uns gleichzeitig die eigenen Wurzeln ab. Um nicht von diesen Eltern abzustammen, um nicht mit ihnen zusammen schuldig zu sein, versuchen wir, uns neue, bessere Wurzeln zu erschaffen: saubere, heroische. Daraus entsteht eine Pseudopersönlichkeit, die in ihren Aktionen und Reaktionen steril ist und dem Zwang zur Wiederholung der Szenen ihrer Vorfahren ausgeliefert bleibt. Nur wer seine wirklichen Wurzeln anerkennt, mit allen damit verbundenen Ängsten, Hoffnungen, Ideologien, Verbrechen und Veränderungs­wünschen, ist fähig, die Spaltung in Gut und Böse aufzulösen und das Grundbedürfnis, alle seine Mitmenschen zu lieben und von ihnen geliebt zu werden, wiederzufinden.

Die derzeit wiederholt geforderte »Historisierung des Nationalsozialismus«11) könnte uns, wie ich gezeigt habe, herausführen aus der krampfhaften Distanzierung vom »Bösen« des Dritten Reiches und uns gleichzeitig die Augen öffnen für die Gefahren und Möglichkeiten unserer Gegenwart. Wir müßten nicht mehr hin- und herschwanken zwischen den Extrempositionen: die Bundesrepublik Deutschland als bestes, fortschrittlichstes und freiestes Land, oder: die Bundesrepublik Deutschland als schlechtestes Land, als Land des Nationalsozialismus, als Atomstaat, als Land der Arbeitslosen und der Ausbeuter von Natur und Dritter Welt.

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Geschichtsverfälschung und Gegenwartsverfälschung hängen zusammen, weil alles, was in der Vergangenheit verdrängt wurde, in der Gegenwart nicht gesehen und unbewußt wiederholt wird. Wir könnten, uns auf unsere gegenwärtige Verletzbarkeit und Unsicherheit besser einlassen, wenn wir die Erfahrungen des Dritten Reiches nicht als einen unglücklichen Ausnahmezustand oder als Produkt böser »Irrer« verstünden, sondern als eine immer bestehende Gefahr, zum Beispiel unter dem Deckmantel der Arbeitsbeschaffung und des wirtschaftlichen Aufstiegs in unmenschliche Beziehungsstrukturen zu geraten.

Diese Art der »wertfreien« Betrachtung der eigenen Geschichte wird nur möglich, wenn die bisher vermiedenen Gefühle wieder zugelassen werden. Der »aufrechte Gang« entsteht nicht durch das Heraustreten aus dem Schatten der Geschichte, sondern durch die sachliche und emotionale Beschäftigung mit der Vergangenheit, durch das Akzeptieren der eigenen, wenn auch traurigen und schmerzlichen Wahrheit. Man verliert dabei das Gefühl von Überlegenheit und den Glauben an den permanenten Fortschritt. Man gewinnt dabei Selbstbewußtsein, ein Bewußtsein seiner Selbst, das viel weniger labil ist als das Bewußtsein einer auf Geschichtsfälschung aufgebauten Pseudopersönlichkeit.

Wenn Trauerarbeit eine ständige Annäherung an die Realität ist, dann geschieht diese Annäherung nicht nur an die Realität der Vergangenheit, sondern auch an die Realität der Zukunft. Die Überschätzung der eigenen Möglichkeiten in dem vom Deutschland des »Dritten Reiches« geführten Krieg an allen Fronten war eine Folge der fehlenden Trauerarbeit in bezug auf die Niederlage im Ersten Weltkrieg. Diese Niederlage war nur mit Scham erlebt und unfähigen Führern oder bösartigen Feinden als Schuld zugeschrieben worden. 

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Wären Trauer und Schmerz zugelassen worden, dann hätte das zur Vermeidung der Wiederholung, zur realistischen Einschätzung der eigenen Kräfte geführt. So mußte das Töten und Getötetwerden in noch viel schrecklicherer Form wiederholt werden. Die narzißtische Kränkung forderte den Ausgleich, die Rache und führte zur Überschätzung der eigenen Größe. Ich glaube, wir sind heute wieder in der Gefahr, das Töten und den kollektiven Selbstmord in noch einmal gesteigerter Form zu wiederholen, weil wir unsere Kräfte und Abhängigkeiten falsch einschätzen.

Die Realität der Gefahren (Hochrüstung, Kernenergie, Umweltzerstörung) können wir nur sehen, wenn wir nicht in einem machtpolitisch-angstabweisenden Wunschdenken be-fangen, sondern fähig sind, Sorge zu tragen für uns und unsere Nachkommen. Die Lebenswünsche, der Mut und die für Veränderungen nötige Kreativität können nur auftauchen, wo ein Gefühl von Betroffenheit und ein Verständnis für die eigene Bedeutung in der Geschichte der Menschheit zugelassen werden. Andererseits sind Angst und Verzweiflung nur auszuhalten, wo Auswege oder Überlebenschancen zu sehen sind. 

So kehrt bei der Trauerarbeit immer beides zusammen wieder: die Angst und der Mut.

Aber Trauerarbeit macht eben auch Angst. Jede Revolution, jede Veränderung bisheriger Denk- und Gesellschaftsstrukturen macht Angst. Die Revolution der Trauerarbeit besteht nicht darin, daß die bisher Unterdrückten jetzt endlich an die Macht kommen, daß also die Herrschaftsverhältnisse nur umgekehrt werden. Die Revolution der Trauerarbeit beruht auf der schrittweisen Auflösung der Spaltung zwischen Gut und Böse, zwischen Freund und Feind. Das macht es nötig, sich vollständig (und immer wieder) neu zu orientieren. Die alte Orientierung bestand in der Trennung von Tätern und Opfern. Das diente dazu, daß jeder sich selbst jeweils zu den Guten, und das sind zumeist die Opfer, zählen konnte. 

Die Auflösung dieser Spaltung hat mit falschem Pazifismus nichts zu tun. Es geht vielmehr um eine ehrliche, möglichst vollständige Begegnung mit der Realität und mit der Tatsache, daß Menschen nicht alles können, was sie können wollen, daß sie verletzbar, abhängig, aufeinander angewiesen und sterblich sind. Die Trauer über den Verlust der Größenphantasien führt zur Auflösung der Feindbilder.

Diese Veränderung ist derzeit deutlich zu sehen. Nicht nur im Westen, auch in der UdSSR kommt eine intensive Beschäftigung mit der Vergangenheit in Gang. Durch die damit verbundenen Veränderungen in der UdSSR relativiert sich das Feindbild »Kommunismus« bei uns. Gleichzeitig werden die USA, der bisherige »Führernachfolger«, entidealisiert. Das Bewußtsein der gegenseitigen Abhängigkeit breitet sich immer weiter aus. Es wird vielen Menschen bewußt, daß aus dem Schatten der Vergangenheit herauszutreten nicht heißt, die Vergangenheit beiseite zu schieben oder idealistisch zu verfälschen, sondern die alten Feinde zu neuen Freunden zu machen und die alten »Freunde« zu entidealisieren, das heißt, eine freiere und damit auch freundschaftlichere Beziehung zu ihnen aufzunehmen.

Dieser Vorgang braucht Zeit.

Es müssen Ungeheuerlichkeiten als wirklich geschehen und als in der Zukunft prinzipiell wiederholbar erlebt werden. Der einzelne muß sich vorstellen können, daß er potentieller Täter und potentielles Opfer von Vernichtung ist. 

Aus dem veränderten Verständnis von Vergangenheit und Gegenwart entsteht aber auch ein neuer Sinn für unser Leben: Wir können uns an der Trauerarbeit und damit an der Veränderung beteiligen, die uns vielleicht noch retten kann. 

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 Ende 

 

 

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 Thea Bauriedl    Das Leben riskieren   Psychoanalytische Perspektiven des politischen Widerstandes