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1.  Zwischen Feuer und Eis

Brandenburg-1999

Die einen sagen, die Welt wird im Feuer enden, 
Die anderen sagen, im Eis.

<Feuer und Eis> von Robert Frost

19-45

In großen Lettern zierte die Abkürzung <OID> das Titelblatt der Dokumentation, die ich anläßlich einer Tagung der <AGU>, der <Amerikanischen Geophysikalischen Gesellschaft>, an eine Schautafel im Foyer geheftet hatte. Ich war gekommen, um diese schriftliche Dokumentation meiner Thesen zu präsentieren, und tat dies in einem Raum, in dem es von solchen Schautafeln wimmelte, auf denen Wissenschaftler die Ergebnisse ihrer Arbeit vorstellten.

Mein Name ist John Brandenburg. Ich habe schon häufig an solchen Präsentationen wissen­schaftlicher Forschungs­ergebnisse teilgenommen und die unterschiedlichsten Reaktionen erlebt — von leiden­schaftlichen Wortgefechten bis hin zu völliger Gleichgültigkeit —, aber Reaktionen, wie ich sie diesmal auslöste, waren mir noch nie begegnet.

OID steht für Oxygen Inventory Depletion (Verminderung des Sauerstoffanteils) und bezeichnet eine besorg­nis­erregende Entdeckung, die ich mit meiner Co-Autorin Monica Rix Paxson und unserem Partner Stephen Corrick gemacht habe, während wir dieses Buch schrieben.1 Sie besagt, daß durch die stetige Zunahme des Kohlendioxids in der Erdatmosphäre deren Sauerstoffgehalt abnimmt.

Das Akronym auf der Titelseite zog bereits die Aufmerksamkeit der Vorübergehenden auf sich, und während ich noch damit beschäftigt war, die zweite Seite aufzuhängen, bemerkte ich einen Kollegen (sein Namensschild wies ihn als einen Mitarbeiter der NASA-Zentrale aus), der stehenblieb und wie gebannt auf meine Schautafel starrte.

Meine Dokumentation war kurz und prägnant, nicht mehr als unbedingt nötig: ein paar Gleichungen, ein paar Erläuterungen, ein Kosten-Nutzen-Diagramm, eine Grafik und einige Fußnoten. Während der Mann las, wurden seine Augen größer. Ich befestigte mein letztes Blatt und wollte mich ihm gerade zuwenden, um ihm die Details unserer Arbeit zu erklären. »Das ist ja unglaublich!« stieß er in diesem Moment hervor und stürmte davon, als hätte er ein Gespenst gesehen. 

Ich blickte ihm nach und fragte mich, ob er davonlief, um jemandem von der Dokumentation zu berichten oder weil er sich weigerte, das Gelesene zu akzeptieren. Was von beidem es war, konnte ich nicht sagen, aber mir war auf einmal sehr unbehaglich zumute. Sicher, ich hatte nicht gerade beruhigende Neuigkeiten zu überbringen, aber mit einer so heftigen Reaktion hatte ich nicht gerechnet.

Bald kamen andere, die nicht weniger interessiert schienen: Studenten und Wissenschaftler aus aller Welt, von Indien bis Indiana, von China bis Europa. Ich hätte dieses Interesse erfreulich gefunden, wenn jemand gutgemeinte Zweifel geäußert oder unseren Thesen gar widersprochen hätte. Aber niemand stellte Fragen oder erhob Einwände, als ich die Ergebnisse unserer Untersuchung erläuterte. Statt dessen nickten die Leute bedrückt, als wären die OID-Prognosen eine längst bekannte Tatsache. Eine solche Zustimmung hatte ich nicht erwartet.

»OID«, sagte einer der Umstehenden so, als wollte er den Klang des Wortes auf der Zunge zergehen lassen. »Das hört sich an wie O weh«, scherzte er ohne die Spur eines Lächelns. Der Mann hat recht, dachte ich, als mir bewußt wurde, wie zutreffend dieser Ausruf der Angst in diesem Fall war. »Im nachhinein scheint es offensichtlich«, bemerkte ein Student der Universität von Ohio, nachdem er eine Weile über die Bedeutung unserer These nachgedacht hatte. »Ich frage mich nur, warum noch niemand den Sauerstoffgehalt der Luft gemessen hat?«

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»In der Klimastation am Mauna Loa hat man das, soviel ich weiß, getan«, antwortete ich. »Nachdem wir vor sechs Monaten unsere Entdeckung gemacht hatten, rief ich dort an, um Messungsdaten in Erfahrung zu bringen, und als ich mich erkundigte, ob eine Verringerung des Sauerstoffs in der Atmosphäre festgestellt worden sei, bekam ich zur Antwort: <Was denken Sie denn?> gefolgt von der freundlichen Aufforderung, es gefälligst selbst herauszufinden. Das hatten wir bereits getan. Ich habe keine Ahnung, warum, jedenfalls wollten sie mit ihren Daten nicht herausrücken. Und aus genau diesem Grund hielten wir es für geraten, unsere OID-Erkenntnisse hier an dieser Stelle publik zu machen.«

Kurz darauf tauchte ein dänischer Wissenschaftler auf, sah sich unsere Dokumentation an und lächelte breit. »Es gibt diese Messungen«, sagte er und nickte zufrieden. »Ich habe die Ergebnisse vor zwei Monaten während einer nicht öffentlichen Tagung gesehen. Die Leute waren zufrieden, daß die Ergebnisse ihre Vermutungen bestätigten.«2) In Anbetracht der Tatsache, daß wir über ein Phänomen mit möglicherweise katastrophalen Folgen sprachen, wirkte er verblüffend unbekümmert.

Aber so ist dieser widersprüchliche Triumph, den man als Wissenschaftler manchmal empfindet — wie die bittere Befriedigung, die der Erbauer der Titanic, im Ballsaal des Schiffes sitzend, verspürt haben muß, als sein Meisterwerk, seiner Berechnung folgend, in exakt zwei Stunden sank, womit bewiesen war, daß er recht gehabt hatte, auch wenn er sich jetzt bedauerlicherweise noch an Bord befand.

»Ich halte unsere Einschätzung noch für zurückhaltend«, erklärte ich dem dänischen Wissenschaftler. »Sie geht davon aus, daß der Sauerstoffgehalt der Atmosphäre um 50 bis 70 Teilchen pro Million zurückgegangen ist, nicht genug, um dem Menschen zu schaden, aber immerhin eine bedenkliche Entwicklung. Was haben deren Messungen ergeben?« fragte ich, in der heimlichen Erwartung, daß es vielleicht noch schlimmer war, als wir errechnet hatten.

Der Däne sah mich bloß an und nickte lächelnd. Dann verschwand er ohne ein weiteres Wort. Immerhin hatte sich dieser Mann einigermaßen liebenswürdig verhalten. Als ich sechs Monate zuvor anläßlich der Frühjahrs­tagung der AGU zusammen mit einer Gruppe von Wissenschaftlern eine Analyse der Aufnahmen der Marssonde Global Surveyor präsentierte, war ein an diesem Projekt beteiligter Wissenschaftler derart außer sich geraten, daß er einem Mitglied unserer Gruppe Schläge androhte.

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Einige Regierungsvertreter schienen diesen Bildern vom Mars eine sehr große Bedeutung beizumessen. Und plötzlich schien dies, zu unserer größten Überraschung, auch auf unsere Thesen zur Erdatmosphäre zuzutreffen.

Irgendwann sprach mich eine Frau an, die vor unserer Schautafel stehengeblieben war, und forderte mich auf, mit ihr zu kommen. »Ich zeige Ihnen, weshalb es so ist«, erbot sie sich. Neugierig geworden entschuldigte ich mich und folgte ihr zu einer wesentlich aufwendiger gestalteten Schautafel mit farbigen Illustrationen, in denen sie ihre eigene wissenschaftliche Arbeit präsentierte. In der Mitte der Tafel befand sich eine großformatige Satellitenaufnahme — eine mosaikartige Karte des Amazonasbeckens. »Dieses Gebiet hier«, sie beschrieb mit dem Zeigefinger einen weiten Bogen über den Süden Brasiliens, von der Küste bis zu den Anden, »war einmal Regenwald, aber er ist vollständig verschwunden. 13 Prozent des Amazonasgebiets sind mittler­weile abgeholzt.«

»Ich habe gehört, daß es im Amazonasgebiet Regionen gibt, die einmal Urwald waren und wo sich jetzt nur noch riesige Flächen ausgedörrter roter Erde erstrecken«, bemerkte ich und hoffte dabei insgeheim, daß es eine Übertreibung war. »Man sagt, es sähe dort aus wie auf dem Mars.«

»Ja«, entgegnete sie trocken. »Das ist hier im Süden, im Bundesstaat Rondônia.« Sie zeigte auf eine Region, deren Provinzgrenze markiert war. »Alles zerstört«, erklärte sie. »Dort gibt es nur noch Ödland; die reinste Wüste.« Wie gebannt starrte ich auf ihr fotografisches Beweismaterial, und plötzlich konnte ich mir vorstellen, wie einem Betrachter meiner eigenen Schautafeln zumute sein mußte.

»Wir arbeiten dort in der Nähe«, fuhr sie fort. »Es ist nicht ungefährlich. Das Land ist verwüstet, und den Bauern und Viehzüchtern ist alles egal. Sie haben sogar schon Leute umgebracht, nur weil sie den Kahlschlag dort untersuchen wollten. Vor einigen Monaten hörten wir, daß eine Gruppe von Reportern vorhatte, in das Gebiet zu reisen, also sind wir untergetaucht, bis sie wieder verschwunden waren.«

Ich musterte sie anerkennend. Was sie tat, erforderte großen persönlichen Mut, ein Charakterzug, den ich bewundere. »Wie haben Sie das OID-Phänomen entdeckt?« fragte sie mich. »Auf dem Mars gibt es eine Region, die Amazonien-Ebene genannt wird«, antwortete ich, »genau wie hier auf der Erde. Es ist ebenfalls eine riesige Wüste. Irgendwie eine Ironie, nicht wahr? Ich weiß, es klingt komisch, aber dort haben wir es entdeckt — das ist zumindest ein Teil der Geschichte. Glauben Sie mir, es war ein weiter Weg ...«

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 wikipedia  Entwicklung_der_Erdatmosphäre 

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Get your motor running
Head out on the highway
Looking for adventure
In whatever comes our way

<Born To Be Wild> von Mars Bonfire

 

An einem sonnigen Augustnachmittag im Jahr 1972 fuhr Michael Rose mit seiner Freundin Sherry in seinem buntbemalten VW-Bus über die kurvenreichen Straßen des Bergpanoramas von Idaho mit seinen grün-blauen, tannen- und pinienbewachsenen Hängen. Die Stimmung war entspannt, und sie genossen die Freiheit, ohne ein bestimmtes Ziel unterwegs zu sein. Wie so viele Menschen ihrer Generation suchten sie vermutlich das Abenteuer, aber sie hätten sich wohl nie träumen lassen, was sie tatsächlich erleben würden.

In dem Moment, als sie eine Bergkuppe erreichten, tauchte am südlichen Horizont eine zweite Sonne auf. Michael trat abrupt auf die Bremse und sprang aus dem Wagen. Wie gelähmt stand er neben seinem bunten Fahrzeug und wurde Zeuge eines unglaublichen Geschehens — ein riesiger, pulsierender Meteor raste genau auf sie zu.3) 

»Das Ding war echt groß«, sagte Michael, und man hörte dabei seiner Stimme deutlich an, wie sehr er sich bemühte, das Gesehene zu erklären. »Ich weiß nicht, wie groß, aber bestimmt so groß wie ein Fußballfeld, und es schien verdammt nah. Viel zu nah.«

Damit hatte er recht. Es war viel zu nah gewesen. Denn obwohl die Entfernung, in der dieser Koloß aus kosmischer Materie die Erde passiert hatte, später auf 57 Kilometer geschätzt wurde, ist das nach kosmischen Maßstäben nur ein Millimeterabstand.4 Das Geschoß war also buchstäblich um Haaresbreite an der Erde vorbei­gerast.

 en.wikipedia  1972_Great_Daylight_Fireball 

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»Zuerst dachte ich, es wäre ein Raumschiff oder etwas in der Art. Aber das konnte nicht sein, weil das Ding glühte«, bemerkte Michael weiter. »Es flog von Süden nach Norden über uns hinweg wie ein monströses Flugzeug beim Landeanflug — nur daß es ein riesiger Feuerball war. Und die Farben waren fantastisch — rot, orange, gelb, grün, blau — ein wahres Feuerwerk ständig wechselnder Farben. Außerdem zog das Ding einen orange-roten Schweif hinter sich her.«

Im Osten des Bundesstaats Montana waren die Kinder auf einem Volksfest mit Wettspielen beschäftigt, als Mrs. Davis, eine der Organisatorinnen, plötzlich über die Lautsprecheranlage eine Durchsage machte: »Seht mal da drüben, Kinder, ein Feuerball! Das ist vielleicht das erste und letzte Mal in eurem Leben, daß ihr so etwas zu sehen bekommt.« Einige Dutzend Kinder starrten auf den Meteor, der über ihnen seine Bahn am Himmel zog. Doch während die Festbesucher das Schauspiel mit ungläubigem Staunen beobachteten, waren die Astronomen weniger überrascht. Dieser Meteor, obgleich ein ungewöhnlich großes Exemplar, war Teil eines vorhergesagten, jährlich wiederkehrenden astronomischen Ereignisses. Er gehörte zum Perseiden-Meteorstrom, den Überresten eines im Jahr 1862 auseinandergebrochenen Kometen, die einmal jährlich die Erde passieren.

Vorhergesagt oder nicht, für Dempsey Johnston, einen Waldarbeiter, der in der Nähe der Forststation Spotted Bear bei Kalispell in Montana beschäftigt war, war es ein sehr persönliches Erlebnis. »Ich war gerade dabei, ein Loch zu graben. Ich wußte nicht, wie mir geschah. Es sah aus, als käme das Ding direkt auf mich zu.«6 Es kam tatsächlich auf ihn zu, aber glücklicherweise raste es direkt über ihn hinweg. Es hinterließ eine Rauchspur, die noch über eine Stunde lang zu sehen war. Wäre er auch nur ein winziges Stück näher gekommen, wäre von Johnston wahrscheinlich auch nicht viel mehr als eine Rauchspur übriggeblieben.

Bob Bagshaw, Flugkapitän der Frontier Airlines, befand sich auf einem Flug von Missoula in Montana nach Salt Lake City in Utah, als er den Meteor sah. Kapitän Bagshaw hatte im wahrsten Sinne des Wortes einen Platz in der ersten Reihe.

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»Ich habe noch nie im Leben etwas so Beeindruckendes gesehen. Es war ein großer Feuerball, der Funken sprühte und eine orange-rote Spur hinterließ. Er zog vom südlichen Horizont aus an meinem Cockpit vorbei und verschwand dann am nördlichen Horizont.«

Glücklicherweise irrte sich der Angestellte der amerikanischen Bundesluftfahrtbehörde mit seiner in den Lokalzeitungen verbreiteten Schätzung, das Objekt von der Größe eines Güterwaggons habe Missoula in einer Höhe von etwa 24 Kilometern passiert.7 Wäre er auf der Erde eingeschlagen, so hätte die beim Aufprall freigesetzte Energie in etwa dem Fünffachen der Hiroshimabombe entsprochen. Und dazu fehlte nicht viel.8 Wäre der Meteorit in einem etwas steileren Winkel in die Atmosphäre eingetreten oder etwas langsamer gewesen, so wäre er von der Anziehungskraft der Erde eingefangen worden. Manch einer mag sagen, er habe die Erde knapp verfehlt. Beinahe getroffen wäre zutreffender.

Die diensthabenden Offiziere des Nordamerikanischen Luftverteidigungssystems (NORAD) hatten eine andere Art von nuklearer Explosion, nämlich einen feindlichen Atomschlag vor Augen, als sie in ihren Stahlbetonbunkern tief im Inneren des Cheyenne Mountain in Colorado in helle Aufregung gerieten. Im Zustand ständiger Alarmbereitschaft während des Kalten Krieges wurde jedes außergewöhnliche Objekt, das sich am Himmel zeigte (mit anderen Worten alles, was sich nicht als gewöhnlicher Satellit in den bekannten Umlaufbahnen identifizieren ließ), argwöhnisch überwacht.9

Was an diesem 11. August auf den Radarschirmen zu sehen war, muß auf die diensthabenden Offiziere besonders alarmierend gewirkt haben. Exakt der Erdkrümmung folgend, raste ein Objekt auf den nordamerikanischen Luftraum zu — und zwar aus der Richtung, aus der ein atomarer Angriff am wahrscheinlichsten schien. Wurden die Vereinigten Staaten angegriffen? Offensichtlich. Aber von wem? Die Anwesenden waren wie elektrisiert angesichts der drohenden Gefahr. Luftabwehr oder Gegenschlag — es mußte schleunigst eine Entscheidung getroffen werden. Eine Fehlinterpretation der Lage konnte in jeder Hinsicht verheerende Folgen haben.

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Glücklicherweise identifizierten die Verantwortlichen der NORAD das glühende Himmelsobjekt als das, was es war, und taten genau das Richtige. Nämlich nichts. Und so verließ der Meteor über Kanada, etwa 2500 Kilometer von seiner ursprünglichen Eintrittsstelle entfernt, die Erdatmosphäre ebenso plötzlich, wie er erschienen war, ohne Schaden angerichtet zu haben, wenn man einmal vom strapazierten Nervenkostüm einiger ziviler Augenzeugen und der diensthabenden Offiziere der NORAD absieht.

Der beinahe tödliche Meteorit verursachte keinen Krieg und hinterließ auch keinen klaffenden Krater in der Erdoberfläche. Er wurde wieder von der unendlichen Dunkelheit des Alls jenseits unserer Atmosphäre verschluckt, und sein regenbogenbuntes Feuer erlosch für alle Zeiten.

Aber dieser Meteorit ließ ein 2500 Kilometer langes Warnsignal zurück. Eine warnende Erinnerung daran, daß die Erde dem Zielobjekt an einem gut besuchten Schießstand gleicht. Ob es uns bewußt ist oder nicht, wir werden jeden Tag von kosmischer Materie der unterschiedlichsten Größe, Form und Beschaffenheit bombardiert. Für gewöhnlich sind die auf uns abgefeuerten Schüsse harmlos, sie erreichen nur gelegentlich die Oberfläche unseres Planeten. Die meisten dieser Objekte verglühen in der Atmosphäre oder prallen von ihr ab wie ein flacher Stein, der über die Wasseroberfläche springt. Doch manchmal kommt es vor, daß ein Meteoriteneinschlag die Lebensbedingungen auf unserem Planeten dauerhaft verändert oder gar das Leben darauf fast vollständig auslöscht.

 

Obwohl wir gerade erst begonnen haben, unsere nähere Umgebung im All nach solchen potentiellen »Geschossen« abzusuchen, und noch nicht wissen, wie wir einen möglichen Einschlag verhindern sollen, steht uns zur Verteidigung ein Mittel zur Verfügung: die Atmosphäre. Unsere Atmosphäre ist eine Hülle aus Gasen, die unseren Planeten umgibt. Von der Erde aus betrachtet, scheint sie sich unendlich weit nach oben zu erstrecken. Und doch ist sie in der Relation zur Erde nicht dicker als die Schale zum Apfel. Aber eine dünne Haut ist immerhin besser als gar keine. Das Beispiel unseres Mondes oder des Planeten Mars zeigt uns, warum das so ist. Beide haben nicht mehr als den Hauch einer Atmosphäre, und beide zeigen deutliche Spuren des Bombardements aus dem All. Ihre von zahllosen Einschlägen vernarbte Oberfläche ist eine einzige wilde Kraterlandschaft.

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Natürlich wird auch die Erde von Meteoriten getroffen. Aber die meisten Narben sind nicht sichtbar, was zum Teil auf die Ozeane, zum Teil auf Verwitterungsprozesse zurückzuführen ist. Doch daß wir von kosmischen Katastrophen weitgehend verschont geblieben sind, verdanken wir vor allem dem Vorhandensein der Erdatmosphäre. Verglichen mit dem Vakuum des Weltraums, haben die Gase unserer Atmosphäre eine extrem hohe Dichte. Wenn Asteroiden, Kometen oder Meteore in einem relativ flachen Winkel auf die äußere Atmosphäre - die Stratosphäre - treffen, prallen sie mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ab. Ist dies nicht der Fall, so überhitzen sie sich aufgrund der Reibung mit den Gasmolekülen der Atmosphäre und verglühen meist vollständig. Deshalb bleibt uns in den meisten Fällen das Schlimmste erspart.

Die Atmosphäre schützt uns aber noch auf andere Art. Zum Beispiel besitzt sie isolierende Eigenschaften und ist in der Lage, die Wärme der Sonne zu speichern. So schützt sie uns vor der lebensfeindlichen Kälte des Alls, aber sie schützt uns auch vor der tödlichen Strahlung der Sonne. Die Streuwirkung ihrer Gase läßt nur einen geringen Teil der Strahlung passieren und reflektiert den Rest. Ein Teil der Strahlungsenergie wird von den Gasteilchen absorbiert. Durch diesen Vorgang erhält der Himmel seine wundervolle Blaufärbung. Im übrigen könnte man sagen, daß uns die Atmosphäre zumindest tagsüber vor dem sichtbaren Beweis unserer wahren Bedeutung im Universum schützt — sie verbirgt unseren Augen die Tatsache, daß wir, auf einem winzigen Planeten lebend, um einen Stern mittlerer Leuchtkraft der Spektralklasse G kreisen, der die einzige Licht- und Wärmequelle für eine durch endlose, eisige Dunkelheit rasende Welt ist.

Daß wir den kosmischen Zusammenhang unserer Existenz nicht immer vor Augen haben, zwingt uns, unsere Fantasie zu gebrauchen, wenn wir uns ein Bild von den Gegebenheiten machen und daraus Schlüsse auf zukünftige Entwicklungen ziehen wollen. Stellen Sie sich zum Beispiel folgendes vor: Ohne Atmosphäre wäre die Erde wie der Mars. Narbenübersät und kalt. Eiskalt. Und tot.

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Die Vorstellungskraft kann eine lebenswichtige Eigenschaft sein. Es reicht nicht, nur die Fakten zu sehen. Manchmal müssen wir in der Lage sein, uns ihre Auswirkungen auf die Zukunft vorzustellen, damit wir unterscheiden können, was wichtig und was unwichtig ist. Und wir sollten uns Gedanken machen, wie exakt unsere Einschätzung der Situation ist, in der wir uns befinden, wenn wir keine unangenehmen Überraschungen erleben wollen. Sonst brechen vielleicht entscheidende Erkenntnisse so plötzlich und verheerend über uns herein wie ein Meteorit, den wir erst bemerken, wenn er in unserem Vorgarten einschlägt.

»Sein Problem war, daß er keine Fantasie besaß. Er war aufmerksam und hatte eine schnelle Auffassungs­gabe, aber nur für die äußeren Erscheinungen. Ihre Bedeutung erkannte er nicht.«

In Jack Londons Kurzgeschichte To Build a Fire Lost Face erfriert ein Mann am eiskalten Yukon. Das »Greenhorn« fällt seinem tödlichen Mangel an Vorstellungskraft zum Opfer. In maßloser Selbstüberschätzung macht er sich, ohne ortskundigen Führer, nur von seinem Hund begleitet, auf den Weg. Hätte er einen erfahrenen Inuit mit auf die Reise genommen, so hätte er sicher überlebt.

Wahrscheinlich hätte der Eskimo einen Blick auf den Himmel und dann auf die Kleidung und Ausrüstung des jungen Mannes geworfen und ihm gesagt: »Es ist keine gute Idee, heute aufzubrechen. Laß uns lieber hier ein Lager aufschlagen und einen Tee trinken.« Er hätte gewußt, wie verwundbar der Mensch ist und daß ein sonniger blauer Himmel ebenso schnell töten kann wie ein Schneesturm. Um genau zu sein, noch schneller, da ein klarer, wolkenloser Himmel die Wärme der Sonne nicht so gut zu speichern vermag.10) 

 

Das ist unser Dilemma: Da unsere Sonne als Fusionsreaktor unglaublich heiß, der uns umgebende Weltraum aber unvorstellbar kalt ist, beschränkt sich unser Lebensraum auf einen hauchdünnen Bereich zwischen beiden Extremen. Die geringste Veränderung der äußeren Bedingungen kann für uns dramatische Folgen haben.

Das menschliche Leben setzt Bedingungen voraus, die sehr zerbrechlich und in unserem Kosmos selten zu finden sind. Der größte Teil der Materie in unserem Universum existiert entweder in Form von Plasma (so heiß, daß sich sogar die Atome auflösen und nur noch als gasförmige, aus Elektronen und Ionen zusammen­gesetzte Masse bestehen)

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oder als staubförmige Spuren von kaum meßbarer Dichte mit einer Temperatur von unter -270 Grad Celsius — so kalt wie flüssiges Helium. Gefangen auf dem schmalen Grat des thermischen Gleichgewichts zwischen Gluthitze und Eiseskälte, können wir existieren. Vielleicht begegnen uns eines Tages Wesen, die außerhalb dieses engen Bereichs leben können, der Mensch aber kann es nicht.

 

Wir sind wie der Inuit, der durch seine Intelligenz und Vorstellungskraft befähigt ist, in einer Eiswüste ein Iglu zu bauen und darin zu leben. Man kann im Inneren ein wärmendes Feuer anzünden, muß aber darauf achten, daß es nicht zu warm wird, denn sonst würde das Iglu schmelzen. Auf der anderen Seite wäre das Iglu ohne das Feuer nur eine unbewohnbare Höhle aus Eis. Das Leben in einem Iglu erfordert also ein großes Maß an Geschick und Realitätssinn. Um zu überleben, muß man das feine Gleichgewicht zwischen der Kälte des Eises und der Hitze des Feuers zu wahren wissen. Die Inuit sind sich darüber im klaren, daß ihre Behausung, genau wie sie selbst, gewissen Bedürfnissen unterliegt. Wenn diese mißachtet werden, bricht sie zusammen, und die Menschen erfrieren. Entscheidungen müssen mit Bedacht getroffen werden. Man muß die Situation mit Fantasie und Humor nehmen, sich aber gleichzeitig bewußt sein, daß die eigene empfindliche Existenz auf Messers Schneide steht. Das Leben auf der Erde ist wie das Leben in einem Iglu. Der kleinste Fehler kann tödlich sein.

Der Begriff Gleichgewicht trifft den Nagel auf den Kopf, denn der gesamte Kosmos ist dynamischen Prozessen unterworfen, die auf einem Wechselspiel der ihm innewohnenden Kräfte basieren, vergleichbar einer Seiltänzerin, die auf einem dünnen Seil über einen Abgrund balanciert. Das thermische Gleichgewicht im Kosmos wird von der Strahlung bestimmt. Kosmische Objekte wie Planeten oder Asteroiden absorbieren Energie aus dem Licht der Sterne. Die meisten Sterne geben den größten Teil der Energie im sichtbaren Bereich des elektromagnetischen Spektrums ab. Deshalb sagen wir, die Sterne »leuchten«. Wenn andere Objekte die Strahlung der Sterne absorbieren, steigt ihre Temperatur, und auch sie geben Energie ab. 

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Da Planeten aber kälter sind als Sterne, geben sie ihre Energie nicht im sichtbaren, sondern im infraroten Spektralbereich in Form von Wärmestrahlung ab. Ab einer bestimmten Eigentemperatur beginnen diese kosmischen Objekte im infraroten Bereich des Spektrums ebensoviel Energie abzustrahlen, wie sie im sichtbaren Bereich zugleich absorbieren. Ein Gleichgewicht ist hergestellt. Die Temperatur steigt nicht weiter, sondern bleibt konstant. Wenn dies eine Oberflächentemperatur erzeugt, die über dem Gefrierpunkt- und unterhalb des Siedepunkts von Wasser liegt, dann ist Leben, wie wir es kennen, möglich. Es gibt zwar Ausnahmen — wie die Lebensformen, die im kochenden Wasser in der Umgebung der »Schwarzen Raucher« auf dem Meeres­grund existieren können —, aber der Mensch gehört nicht zu ihnen. Wir können nur in der Mitte zwischen den Extremen von Feuer und Eis leben.

Wenn wir uns unter unseren nächsten Nachbarn umschauen, erkennen wir, was unseren kosmischen Grundbesitz so attraktiv macht: der Standort. Die Venus, eingehüllt in ihre dichte Kohlendioxidatmosphäre, ist der Sonne näher als die Erde und viel zu heiß, als daß es dort Leben geben könnte. Nur 50 Minuten nach ihrer Landung verbrannte die sowjetische Sonde Venera 8 in dieser Gluthölle. Die Instrumente hatten eine Temperatur von 760 Grad Celsius gemessen, bevor sie versagten. Zusätzlich zu den extremen Temperaturen herrscht auf der Oberfläche der Venus ein atmosphärischer Druck, der 90mal größer ist als der auf Höhe unseres Meeresspiegels gemessene Druck.

Als entgegengesetztes Extrem haben wir den Mars mit seiner dünnen Atmosphäre aus Kohlendioxid. Er ist weiter von der Sonne entfernt als die Erde. Sein atmosphärischer Druck beträgt ein Hundertstel des Drucks auf der Erde. Der Mars ist zwar besser geeignet, Leben zu beherbergen, als die Venus, aber doch viel zu kalt für die meisten Lebensformen, die wir kennen.

Wie ein Baby die Muttermilch, so brauchen wir die Erde, denn nur sie bietet uns einen angemessenen Lebensraum. Obwohl Venus und Mars extrem unterschiedliche Temperaturbedingungen aufweisen, gibt es erstaunliche Übereinstimmungen in der Zusammensetzung der Atmosphäre dieser beiden Planeten, die bei beiden größtenteils aus Kohlendioxid besteht. Eine hohe Kohlendioxidkonzentration in der Atmosphäre deutet darauf hin, daß eine planetarische Katastrophe stattgefunden hat.

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Die Entfernung zur Sonne ist nur einer der Faktoren, die das thermische Gleichgewicht auf der Oberfläche eines Planeten bestimmen. Weitere Faktoren sind die Zusammensetzung der Atmosphäre und die Beschaffenheit der Planetenoberfläche. Einige Stoffe absorbieren Wärme und andere strahlen sie ab. Absorbierende Stoffe nehmen die Energie aus dem sichtbaren Teil des elektromagnetischen Spektrums auf, während die abstrahlenden Stoffe Energie im Infrarotbereich emittieren. Absorption und Emission werden oft von verschiedenen Stoffen dominiert. Wasser ist das extremste Beispiel dafür. Es wird von sichtbarem Licht problemlos durchdrungen, bleibt aber schwarz im infraroten und ultravioletten Bereich. Der Erdboden, der eine große Menge an organischer Materie enthält, absorbiert Energie aus dem sichtbaren Bereich und emittiert Wärmestrahlung. Aber die Wärme­abstrahlung der Erde ist in der Hauptsache abhängig von atmosphärischen Gasen, insbesondere vom Wasserdampf. Man könnte also sagen, daß das thermische Gleichgewicht der Erde ein fein aufeinander abgestimmtes Zusammenspiel verschiedener Faktoren voraussetzt. Eine Vielfalt von Elementen, die im Einklang miteinander agieren.

 

Die Biosphäre der Erde (und möglicherweise andere Biosphären, die noch ihrer Entdeckung harren) ist der Lebensraum für Myriaden von Organismen, die in symbiotischem Gleichgewicht zusammenleben. Auf der Erde ist die Symbiose zwischen Tieren und Pflanzen die elementarste und gleichzeitig die wichtigste. Pflanzen nehmen Kohlendioxid und Wasser auf und produzieren Zucker und Sauerstoff. Ein funktionierendes System dieser Art, wie wir es auf der Erde vorfinden, erzeugt eine sauerstoffreiche Atmosphäre und eine Ozonschicht, welche wiederum den Tieren das Leben auf dem Land und im Wasser ermöglichen. Gleichzeitig stellt dieses System den Pflanzen im Wasser und an Land genügend Kohlendioxid zum Leben zur Verfügung. So erhält sich dieser Kreislauf selbst aufrecht und garantiert den Organismen das richtige Gemisch an Gasen. Solange dieses System im Gleichgewicht ist, kann auf der Erde Leben gedeihen. Wird das Gleichgewicht des Kreislaufs gestört, so gerät auch das Leben selbst aus dem Gleichgewicht.

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Diejenigen von uns, die in den siebziger Jahren eine höhere Schule besuchten, haben vermutlich im naturwissenschaftlichen Unterricht den Begriff des ökologischen Gleichgewichts kennengelernt. Der Gedanke ist ihnen demnach vertraut. In der Zeit vor 1970 beschäftigten sich jedoch nur einige wenige Experten mit diesem Thema. Die heute 20- bis 30jährigen gehören zur ersten Generation, die in der Schule mit der schwierigen Frage unseres Verhältnisses zur Umwelt konfrontiert wurde; es war dies die erste Generation, die in dem Bewußtsein aufgewachsen ist, daß unser tägliches Leben einem Tanz auf Messers Schneide gleicht. (Natürlich wurden unzählige frühere Generationen auf schmerzhafte Weise mit dieser Erkenntnis konfrontiert, wenn beispielsweise die Jagd erfolglos war oder die Ernte vernichtet wurde.)

 

Aber Wissen bedeutet nicht immer Macht. Die Leidensgeschichte des vergangenen Vierteljahrhunderts, auf die die Natur zurückblickt, hat vielen jungen Menschen alle Zukunftserwartungen geraubt und sie zu Zynikern gemacht, denen die Kraft fehlt, für den Erhalt unserer Umwelt zu kämpfen. Sie sind überzeugt, daß der Untergang der Menschen nicht mehr abzuwenden sei. Insofern sind sie nicht besser dran als die vorherige Generation, die in der ständigen Angst vor der atomaren Vernichtung lebte. Wiederum eine Generation früher mußten die Menschen mit der harten Realität der Weltkriege und der wirtschaftlichen Katastrophen zurechtkommen. Es scheint, als ob jede Generation der nächsten ein lebensbedrohendes Problem hinterließe. Leider ist unsere heutige Generation keine Ausnahme. Wie Michael Rose und seine Freundin, die auf ihrer Vergnügungstour um ein Haar von einem Meteoriten erschlagen worden wären, sind wir alle auf der Suche nach Abenteuern. Aber nicht immer finden wir das, was wir uns erhofft hatten.

Wirklich beängstigend ist die Trägheit derer, denen die Umweltproblematik eigentlich bewußt sein müßte. Diejenigen unter uns, die nicht mit den täglichen Schreckensmeldungen über Umweltkatastrophen großgeworden sind, müssen die Gründe verstehen, warum so viele junge Menschen resignieren. Sie fühlen sich machtlos angesichts der gewaltigen Fülle von Problemen.

Ein junger Mann drückte es kürzlich so aus: »Ich weiß alles über die ökologischen Folgen des Gebrauchs von Wegwerfwindeln. Aber was soll ich dagegen tun? Ich glaube, es ist hoffnungslos. Wahr­scheinlich müssen wir auf den Mond oder auf den Mars auswandern.«

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Offensichtlich erscheint es unseren Kindern oft attraktiver, auf einen anderen Planeten auszuwandern, als die Probleme hier auf der Erde in Angriff zu nehmen. Diese Einstellung ist nicht nur unvernünftig, sie ignoriert auch völlig, daß wir in der Lage sind, uns den Herausforderungen aktiv zu stellen. Die Menschheit hat wiederholt bewiesen, daß sie fähig ist, sich von kriegsbedingten Verwüstungen und von Naturkatastrophen zu erholen. Ist unsere Situation wirklich aussichtslos? Wahrscheinlich nicht, aber wir werden es nicht erfahren, wenn wir nicht alle Anstrengungen unternehmen, unsere Lage zu verbessern. Abgesehen davon müssen wir das ökologische Gleichgewicht auf der Erde zu wahren wissen, bevor wir uns anschicken, den Weltraum zu kolonisieren. Sonst wird dieser Ausflug sehr kurz sein und tödlich enden. Um unter den gnadenlosen Bedingungen im All überleben zu können, müssen wir erst einmal lernen, mit unserer angestammten Umwelt einen gesunden Umgang zu pflegen. Erst wenn wir das beherrschen, können wir daran denken, nach den Sternen zu greifen.

Es erfordert zweifellos einigen Mut, die Augen vor dem, was auf unserem Planeten faul ist, nicht zu verschließen. Es ist eine enorme persönliche Herausforderung — auf die Bedürfnisse unseres Planeten einzugehen und dadurch die Dinge zu verändern. Doch wenn wir diese Herausforderung annehmen, werden wir feststellen, daß nicht unbedingt viele Menschen erforderlich sind, um vieles zu verändern. Die Anthropologin Margaret Mead, die auf ihren weltweiten Forschungsreisen viel über die menschliche Natur gelernt hat, sagte einmal: »Zweifeln Sie nie daran, daß eine Handvoll engagierter und überlegt handelnder Menschen die Welt verändern können. Tatsächlich wurden alle Veränderungen bisher so und nicht anders bewirkt.«

Mit dem Gedanken der Veränderung werden wir uns in diesem Buch noch viel beschäftigen. Bis dahin aber sollen Sie wissen, daß unsere Geschichte voller Ereignisse ist, die belegen, daß der Mensch durchaus in der Lage ist, sich selbst und die Welt positiv zu verändern — auch wenn diese Veränderungen zuerst nicht für möglich gehalten wurden.

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Und noch etwas sollten Sie wissen und bedenken: Die Geschichte der Erde und des Mars ist sehr komplex und mit den Belangen der Menschheit eng verbunden. Diejenigen von uns, die überleben, werden mehr als nur wissenschaftliche Fakten benötigen, damit unser Durst nach dem Leben nicht in der staubtrockenen Wüste der Fachliteratur versiegt.

Wir werden dafür sorgen, daß Sie hier mehr finden als verstaubtes Wissen, denn ohne eine Geschichte, welche die Zusammen­hänge deutlich macht, kann man weder das Innere eines Sterns erforschen noch über die Zukunft der menschlichen Evolution nachdenken noch auch nur die Bedeutung einer wissenschaftlichen Tatsache verstehen. So ist es vielleicht das Beste, mit der Geschichte eines jungen Mannes zu beginnen, der die Schwelle zum Erwachsensein in den turbulenten Zeiten zu Beginn der siebziger Jahre überschritt.

 

Ich möchte Ihnen erzählen, wie ich zum ersten Mal »die Welt« sah. Ich war Student, als meine Großmutter Edith starb. Sie vermachte mir bei ihrem Tod ein sehr großzügiges und ungewöhnliches Erbe. Sie hinterließ jedem Mitglied der Familie eine Summe Geldes, verknüpft mit der Bedingung, daß dieses Geld für Reisen zu verwenden sei. Dieses Geschenk eröffnete mir die willkommene Chance, etwas anderes von der Welt zu sehen als Medford in Oregon, mein Heimatstädtchen, das sich rund um die dort angesiedelte Holzindustrie entwickelt hatte. So wurden wir Brandenburgs in den Jahren nach dem Tod meiner Großmutter auf kuriose Weise zu einer Familie von Weltreisenden. Jeder von uns hatte sein eigenes Ziel vor Augen, und so schwärmten wir in alle Himmelsrichtungen aus. Meine Eltern, John T. und Muriel Brandenburg, besuchten als gläubige Christen Israel und Griechenland und waren begeistert, als sie all die Orte, die ihnen aus der Bibel so vertraut waren, endlich mit eigenen Augen sehen durften. Meinen Bruder, der sich besonders für Kultur interessierte, zog es wie so viele junge Amerikaner in dieser Zeit nach Europa. Ich entschloß mich, gegen den Strom zu schwimmen. Getrieben von der unbändigen Neugier, die mich oft dazu veranlaßt hat, von den eingetretenen Pfaden abzuweichen, widerstand ich al-

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len Verlockungen der westeuropäischen Metropolen und verwendete meinen Erbteil dafür, einen Vorstoß in feindliches Territorium zu wagen. Teils argwöhnischer Kundschafter, teils hoffnungsvoller Pionier, beschloß ich, in die Sowjetunion zu reisen.

Und so bestieg ich an einem warmen Sommertag, auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges, eine Maschine der Alaska Airlines, die mich nach Sibirien bringen sollte. Es war eine Art selbst auferlegter Mission, die mir dazu dienen sollte, den »Feind« auszukundschaften — diesen mächtigen Gegner meines Heimatlandes einmal aus erster Hand kennenzulernen — und Erfahrung und Wissen zu sammeln für den Fall, daß ich, wovon ich damals überzeugt war, mein Land eines Tages gegen diesen Feind würde verteidigen müssen.

Diese Überzeugung nährte sich aus der Geschichte meiner Familie. Mein Großonkel hatte im Ersten Weltkrieg gekämpft, mein Vater und die drei Brüder meiner Mutter im Zweiten. Der Dienst an der Waffe schien auch für mich unausweichlich - und ich akzeptierte den Gedanken, weil das damals für einen guten Bürger als Selbst­verständlichkeit galt. Ich lebte ja in einer Zeit des Krieges - des Vietnamkriegs -, und ich hatte den Einberufungsbefehl mit einer durch Los bestimmten Nummer - 55 - bereits in der Tasche. Ich mochte die Lotterie. Sie schien mir einfach und gerecht.

Zu dieser Zeit wurden gesunde junge Männer in die US-Armee einberufen, erhielten eine Grundausbildung und wurden dann nach Südostasien geschickt, um dort zu kämpfen und — nur allzu oft — zu sterben. Als ich nach Sibirien reiste, ging ich davon aus, daß ich mit meiner niedrigen Losnummer in jedem Fall einberufen werden würde. Auch wenn mein Schritt nicht geeignet war, die großen Konflikte der Welt zu lösen, erschien er mir immerhin der beste Weg, um am Leben zu bleiben. Und so empfand ich es als die vernünftigste Sache der Welt, ein Flugzeug zu besteigen und nach Sibirien (und Moskau) zufliegen, um dort meine Sommerferien zu verbringen.

Meine erste Station, die Stadt Chabarowsk an der geschichtsträchtigen Mündung des Ussuri in den Amur, unweit der chinesisch-sowjetischen Grenze, lag in einem 9,6 Millionen Quadratkilometer großen Gebiet, das den größten Teil Nordrußlands ausmacht. Sibirien ist so groß, daß ganz Westeuropa darin Platz fände. Die Landschaft besteht aus Bergland, Hochplateaus und Tiefebenen, und

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die gemäßigten bis subpolaren Klimazonen haben ihre Entsprechung in Vegetationszonen, die in Tundra, Taiga, Waldsteppe und Steppe gegliedert sind. Eines der charakteristischsten Merkmale Sibiriens sind die großflächigen Waldgebiete aus Lärchen und Nadelbäumen, die man die Taiga nennt. Die Taiga ist Teil einer unterhalb der Arktis gelegenen Klimazone, die stark bewaldet ist. Diese boreale Nadelwaldzone ist der Ursprung unzähliger Sagen und Märchen, in denen Wölfe in den Wäldern heulen, die Schneekönigin das Land regiert und Schneefüchse im weißen Winterfell anmutig über die Schneewehen tänzeln. Dies war auch der Ort, an dem sich unter einem eisblauen Himmel die beiden größten Armeen der Welt, die Heere Chinas und Rußlands, in weißer Tarnuniform mit aufgepflanzten Bajonetten und entschlossenem Blick gegenüberstanden.

Meine erste Lektion über die Sowjetunion erhielt ich vom Fenster des Flugzeugs aus. Dort draußen neben der Landebahn stand wie eine Mammutherde eine Gruppe monströser Traktoren, deren Reifen größer waren als ein ausgewachsener Mensch. Es herrschten sommerliche Temperaturen, aber die gigantischen Plüge vor den Traktoren erzählten eine andere Geschichte. Die Geschichte eines erbitterten Kampfes gegen Schnee und Eis. Obwohl ich aus einer Gegend kam, in der man weiß, was ein kalter Winter ist, hatte ich noch nie eine landwirtschaftliche Maschine von dieser Größe gesehen. Es mußte bitterkalt sein in Sibirien. Tatsächlich gibt es dort im Winter lange Frostperioden mit Temperaturen bis minus 40 Grad Celsius. Und ich sah auch die Spuren eines anderen Kampfes. Chabarowsk schien ein einziges, großes Militärlager zu sein.

Keine 30 Kilometer von Chabarowsk entfernt hatten sich im Sommer und Herbst 1969 chinesische und russische Einheiten drei blutigem Gefechte geliefert. Mittelpunkt der heftigen Auseinandersetzungen war eine jämmerliche Sandbank im Amur, die fast das ganze Jahr überflutet war. Die Russen nannten sie Damanskij, die Chinesen Chen Pao. In der Folge der Kämpfe dort und in anderen sibirischen Grenzgebieten verlegten die Sowjets riesige Truppenkontingente und gewaltige Mengen an Waffen und Ausrüstung in dieses Gebiet, um sie gegebenenfalls gegen die ehemaligen kommunistischen Verbündeten zum Einsatz zu bringen. Ich traf dort ein, als Chaborowsk im Begriff war, sich in eine Festung zu verwandeln.

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Eine weitere Lektion erhielt ich vom Fenster eines zweiten Flugzeugs aus. Als wir uns von Osten her Moskau näherten, war die Stadt in einen so dichten Dunstschleier gehüllt, daß man kaum etwas von ihr sehen konnte. Die beiden Frauen, die mich als Fremdenführerinnen auf meiner Reise durch das Land begleiteten, erzählten mir eine interessante Geschichte von den Schwelbränden, die sich durch die Torffelder rund um Moskau fraßen und allen bisherigen Bemühungen, sie unter Kontrolle zu bringen, widerstanden hatten. Offensichtlich handelte es sich um ein dauerhaftes Problem, das allgemein bekannt war, denn der Rauch beeinträchtigte sichtbar die Luftqualität im gesamten Stadtgebiet.

Später schlössen sich uns zwei weitere Reiseführer an, die sich in Moskau bestens auskannten. An diesem Tag herrschte besonders starker Dunst, unsere Augen brannten, und jeder Atemzug tat in der Lunge weh. Als sich ein Mitglied unserer Reisegruppe über den beißenden Rauch beklagte, kam eine wahrhaft verblüffende Reaktion. »Welcher Rauch?« war die Antwort. »Hier gibt es keinen Rauch.« Diese eigenartige Behauptung verhallte im dichten Rauch des Offensichtlichen.

Abgesehen von dieser Blindheit, mit der einige sowjetische Bürger offensichtlich infolge des Rauchs geschlagen waren, schienen mir die Menschen dort nicht anders zu sein als die in Oregon. Es waren warmherzige, intelligente Menschen, die ihre Familie und ihr Land liebten. Auch ihre Sorgen waren die gleichen: Arbeit, Geld und ein Dach über dem Kopf waren die Dinge, über die sie sich Gedanken machten. Anders jedoch als zu Hause in Medford, wo die Menschen auf den Straßen fröhliche Gesichter hatten, machten die Leute hier einen ernsten, fast mürrischen Eindruck auf mich.

In der Stadt Leningrad (die heute ja wieder St. Petersburg heißt) hatte ich ein Erlebnis, das mir zu denken gab. Während eines Spaziergangs durch die Stadt kam mir ein Mann mit ausgezehrten Gesichtszügen entgegen. Seine Miene drückte das blanke Entsetzen aus. Er rannte in vollem Lauf an mir vorbei und blickte dabei gehetzt über seine Schulter zurück, als wollte er sich vergewissern, daß ihm niemand auf den Fersen war. Aus irgendeinem mir unbegreiflichen Impuls heraus setzte ich, nachdem er an mir vorbei war, meinen Weg mit unbeteiligter Miene fort, als hätte ich ihn überhaupt nicht bemerkt.

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Wenige Sekunden später hielt ganz in der Nähe mit quietschenden Reißen ein schwerer Lkw. Mehrere Männer in Zivil, aber mit roten Armbinden und Schlagstöcken ausgerüstet, sprangen von der Ladefläche und begannen die Gegend abzusuchen. Obwohl ich nur vermuten konnte, was sich hier abspielte, bekam ich in diesem Augenblick doch eine Vorstellung von der Angst, in der die Menschen in einem totalitären Regime leben müssen. Und plötzlich wußte ich auch, daß ich um dieser Erfahrung willen diese weite Reise angetreten hatte.

 

Es gibt Gefahren, die für jeden sichtbar und unmittelbar sind, und solche, die man mit den Augen nicht sehen kann. Mal verfolgen sie dich lärmend und knüppelschwingend, mal kommen sie leise und unbewaffnet daher, sind aber deshalb nicht weniger tödlich. Getarnt als Freunde versprechen sie dir das Blaue vom Himmel herunter, und dann, ehe du dich versiehst, findest du dich in einer Wolke aus giftigem Qualm wieder, die aber gar nicht existiert, weil es sie nicht geben darf. Wie in den Straßen von Moskau. Wir fürchten den Totalitarismus als unseren Feind, aber ein anderer Feind ist nicht weniger gefährlich. Ein Feind, der überall auf der Erde lauert, der keine Grenzen, keine Nationalitäten und keine Staatsregierung kennt, der uns bis in den Schutz unseres behaglichen Hauses, jeden Hauses, verfolgt, auch wenn wir uns im Herzen einer blühenden Demokratie in Sicherheit wiegen. Dieser Feind ist ökologischer Natur.

 

Man braucht nur Christy Ann Booker zu fragen.
    Irgendwann, als Christy zwei Jahre alt war, begann sie beim Atmen seltsam zu keuchen. Ihre Mutter, die in ihrem Heim in St. Louis, Missouri, mit dem Haushalt beschäftigt war, wurde stutzig, als sie Christys angestrengtes Atmen hörte, und bekam es mit der Angst zu tun. Das Geräusch zeigte an, daß die Bronchien des Kindes im Begriff waren, sich zu schließen, es war ein Zeichen für die ungeheure Anstrengung, die es die Lungen kostete, durch die sich verengenden Bronchien Luft aufzunehmen. Bei Christy drohte die wichtigste aller Lebensfunktionen zu versagen: Das Kind bekam kaum noch Luft.

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Bis zu diesem Zeitpunkt war Christys Leben bemerkenswert normal verlaufen. Sie war am 8. Juni 1970 zur Welt gekommen. Es war eine normale Geburt gewesen. Ihr Geburtsgewicht hatte gesunde 3400 Gramm betragen. Kurz nach der Geburt wurde Christy aus dem Krankenhaus in eine Welt entlassen, die an der Schwelle zum dritten Jahrtausend stand. Zum Zeitpunkt ihrer Geburt lebten 3.697.141.000 Menschen auf der Erde, über eine Milliarde mehr als 20 Jahre zuvor eine wahre Bevölkerungsexplosion.

Christys Mutter beschrieb ihre Tochter als unkompliziertes Baby. Sie hatte Christy sechs Monate lang gestillt, alle vorgeschriebenen Impfungen und Vorsorgeuntersuchungen durchführen lassen, kurz, sie hatte alles Menschenmögliche für die Gesundheit und das Wohlergehen ihres Kindes getan. Aber Christys Keuchen zeigte, daß sie von einer modernen Geißel heimgesucht worden war, die zum ungebetenen Mittelpunkt ihres Lebens werden sollte: Sie hatte Asthma.

Nach der Definition der Amerikanischen Gesellschaft für Lungenkrankheiten ist Asthma eine chronische, entzündliche Erkrankung der Atemwege, die eine besondere Empfindlichkeit gegenüber bestimmten Stoffen, den sogenannten Asthmaauslösern, zur Folge hat. Asthmaanfälle machen sich durch Keuchen, Husten, Atemnot und das Gefühl eines schweren Drucks auf der Brust bemerkbar. Die Stärke eines Anfalls reicht von leicht bis lebensbedrohlich.

Asthma ist eine Krankheit, die es erst seit Beginn des Industriezeitalters gibt. In dem Maß, in dem sich unser Verbrauch an fossilen Brennstoffen gesteigert hat, häufen sich auch die Krankheitsfälle. Zum Zeitpunkt von Christys Geburt wurden bei etwa drei bis vier Prozent der europäischen und US-amerikanischen Bevölkerung asthmatische Erkrankungen diagnostiziert. Nach den Angaben der Amerikanischen Gesellschaft für Lungenkrankheiten ist Asthma die häufigste chronische Erkrankung bei Kindern. Schätzungsweise 33 Prozent aller Asthmapatienten sind jünger als 18 Jahre. Die Erkrankungen und die Todesfälle durch Asthma in den Vereinigten Staaten und anderen Industrieländern haben seit den frühen siebziger Jahren ständig zugenommen.11 In England

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und Wales hat sich die Zahl der stationären Asthmabehandlungen bei Kindern seit Mitte der sechziger Jahre versechsfacht.12 Die Gesundheitszentren der USA stellten zwischen 1985 und 1995 einen Anstieg der Erkrankungen um 61 Prozent fest. Asthma ist eine moderne Geißel der Menschheit.

Wissenschaftliche Studien haben bewiesen, daß Ozon und Schwefeldioxid Faktoren sind, die für Häufigkeit und Schwere der Erkrankungen mitverantwortlich gemacht werden müssen. Beide werden als Nebenprodukte bei der Verbrennung fossiler Brennstoffe freigesetzt. Diese beiden Gase sind zwar für jeden Menschen gesundheitsschädigend, aber für Asthmatiker können erhöhte Konzentrationen tödlich sein, denn sie bewirken, daß deren gesamter Atmungsapparat versagt.

Vielleicht liegt es daran, daß noch zu wenige Menschen an Asthma erkrankt sind, jedenfalls haben wir uns bisher keine große Mühe gegeben, unseren Verbrauch an fossilen Brennstoffen zu drosseln. Sicher, wir bemühen uns, beim Verbrennen von Kohle und Öl weniger Schadstoffe zu produzieren, aber diese halbherzigen Versuche reichen nicht, wenn wir die Gefahr wirklich bannen wollen. Nebenbei spielen wir, mit nicht weniger fatalen Folgen, ein bißchen mit der Atomenergie herum. Wasserkraft und Solarenergie sind auch nicht uneingeschränkt nutzbar, und so sind wir noch immer auf der Suche nach einer Energiequelle, die als brauchbare Alternative gelten könnte. (Wasserstoff, Brennstoffzellen und Photovoltaik wären da im Augenblick wohl als die vielversprechendsten Kandidaten zu nennen.)

Eigentlich kann man uns ja keinen Vorwurf daraus machen, daß wir von den fossilen Brennstoffen so begeistert sind. Massenhaft verfügbar, zuverlässig, hoch konzentriert und billig, ermöglichen uns Kohle und Öl einen Lebensstandard, den wir nur ungern missen möchten. Seit über 100 Jahren spenden sie uns Wärme, sind die Energiequelle unserer Industrie, versorgen unser Heim mit Elektrizität und treiben alle Arten von Fortbewegungsmitteln an, von der guten alten Dampflok bis zu den abermillionen Automobilen, die sich heutzutage auf den Straßen unseres Planeten drängen. Öl lieferte darüber hinaus die Basis für unzählige neue Produkte — Kunststoffe, Arzneimittel und Asphalt, um nur einige zu nennen.

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Das Haus, in dem Christy lebte, wurde mit fossilen Brennstoffen geheizt, die Elektrizität wurde mit Kohle erzeugt, das Auto, mit dem sie zum Arzt fuhr, wurde mit Benzin angetrieben. Selbst bei der Herstellung ihrer Fläschchen, der meisten ihrer Spielsachen und ihrer Windeln waren fossile Brennstoffe im Spiel. Und obwohl sie zu ihren Atembeschwerden beitrugen, waren Kohle und Öl somit ein fester Bestandteil ihres Alltags, und es würde uns heute sicher schwerfallen, uns ein Leben ohne fossile Brennstoffe auch nur vorzustellen.

Aber eines Tages werden wir eine Alternative zum Öl finden müssen. Vor Beginn der siebziger Jahre dachten die meisten von uns, daß die Ölvorräte unerschöpflich seien. Es war uns nicht bewußt, daß Öl ein Rohstoff ist, von dem es auf der Erde nur eine begrenzte Menge gibt. In den 140 Jahren, die seit den ersten Ölbohrungen 1859 vergangen sind, haben wir gewaltige Mengen verbrannt. Man schätzt, daß die vorhandenen Ölvorkommen noch bis zur Mitte des nächsten Jahrhunderts reichen.13 Die Schätzungen können sich natürlich als Irrtum erweisen, wenn neue Ölvorkommen entdeckt werden, wie es kürzlich vor der aserbaidschanischen Küste im Kaspischen Meer der Fall war, oder wenn sich das Konsumverhalten der Menschen ändert.14)

Der Ölverbrauch ist ständigen Schwankungen unterworfen, er steigt in Zeiten des wirtschaftlichen Aufschwungs, bei einer Zunahme der Weltbevölkerung, durch neue Öl-Fördermethoden und durch Ereignisse, die nur schwer vorhersehbar sind. Unter solchen Voraussetzungen müssen wir uns eingestehen, daß wir nicht wissen, wann uns die Öl-Vorräte ausgehen. Daß dies eines Tages geschehen wird, wissen wir allerdings mit Sicherheit. Vielleicht vergessen wir bei all diesen Überlegungen aber eine wichtige Frage: Dürften wir uns mit Rücksicht auf unsere Umwelt der Ölvorkommen, selbst wenn sie unerschöpflich wären, wirklich uneingeschränkt bedienen?

Bis zu den Tagen der Ölkrise war uns im Grunde nicht bewußt, wie untrennbar unsere Art zu leben — und zu sterben — mit der Benutzung fossiler Brennstoffe verbunden ist. Im April 1974 führte die Medizinische Fakultät der Universität Wisconsin in 18 US-Städten eine Studie durch, in der nachgewiesen wurde, daß das Blut von Stadtbewohnern einen zweieinhalb- bis siebenmal höheren Gehalt an Kohlenmonoxid aufweist als das der ländlichen Bevölkerung.

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Bei einer um das Siebenfache erhöhten Kohlenmonoxidkonzentration im Blut stellen sich die ersten Vergiftungserscheinungen ein. Die durch das Ölembargo der OPEC ausgelöste Ölkrise im Frühwinter 1974 hatte einen unerwarteten Nebeneffekt: Die Sterberate in zwei kalifornischen Bezirken ging merklich zurück. Am deutlichsten zeigte sich diese Entwicklung bei Herz- und chronischen Lungenerkrankungen. Allein die Lungenerkrankungen gingen im Bereich San Francisco um 33, im Bezirk Alameda gar um 38 Prozent zurück.15) Als die Ölkrise vorbei war, erreichte die Todesrate wieder ihre »Normalwerte«.

Erst als der endlose Ölfluß einmal zu versiegen drohte, wurde uns bewußt, wie abhängig wir in ökonomischer, gesellschaftlicher und physischer Hinsicht vom Ölkonsum geworden sind. Wenn uns mitten im Winter das Öl ausgeht, kommt das in weiten Teilen der Welt einer Katastrophe gleich. In Großbritannien mußte im Januar 1972 nach nur einmonatigem Streik der Bergarbeiter der Notstand ausgerufen werden. Es war das erste Mal, daß über eine Million Briten arbeitslos waren. Nur einmal zuvor, während einer Energiekrise im Jahr 1947, waren die Arbeitslosenzahlen so drastisch in die Höhe geschnellt. Selbst diejenigen, die noch Arbeit hatten, mußten sich mit der auf drei Wochentage beschränkten Kurzarbeit abfinden. Am Ende waren 1,6 Millionen Bürger ohne Arbeit, und der Arbeitsmarkt erholte sich erst wieder, als der Stromverbrauch durch eine Rationierungsmaßnahme um 50 Prozent zurückgeschraubt wurde. Daß man die Rationierung beschönigend als »gestaffelte Stromabschaltung« bezeichnete, machte es für die Briten nicht einfacher, mitten im Winter neun Stunden täglich ohne Strom auskommen zu müssen. Aber ihre Situation hätte auch noch schlimmer sein können. Einige der bewohnten Regionen unserer Erde wären ohne Öl oder Kohle kalt und lebensfeindlich wie der Mars.

In China, dem Land, das zu den weltweit größten Umweltzerstörern gehört, sind 25 Prozent aller Todesfälle mittelbar oder unmittelbar auf die Luftverschmutzung zurückzuführen, die durch die Kohlen­verbrennung verursacht wird (jeder vierte stirbt an Lungenkrebs, wobei sicher auch die Rauchgewohnheiten eine nicht unwesentliche Rolle spielen).16) 

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Die in China verbrannte Kohle und die daraus resultierende Luftver­schmutzung ist ohne Zweifel auch mitverantwortlich für Erkrankungen und Todesfälle in anderen Ländern. Die Luft kennt keine Landesgrenzen. Was in China geschieht, wirkt sich auch auf die Luft aus, die wir im Westen oder sonstwo auf der Erde atmen.

Die Luft überwindet große Distanzen. Während es uns wenig verwundert, daß 22 bis 24 Prozent des Schwefeldioxidgehalts in der Luft über Korea aus China stammen, ist vielen Menschen nicht bewußt, daß Staub und giftige Partikel ganze Ozeane überwinden können.17 Nicht nur meßbare Mengen von Kohlenmonoxid und Rußpartikeln sind in der Lage, die 8000 Kilometer von China bis zu den Vereinigten Staaten in nur vier Tagen zurückzulegen, auch große Sandstürme in China haben schon ausreichende Mengen an Staub in die Lüfte befördert, um den Himmel über weiten Teilen des US-amerikanischen Westens buchstäblich weiß zu färben.18 Kalifornier atmen die verschmutzte Luft aus Ostasien ein, Europäer die aus dem Osten der Vereinigten Staaten.

In China wird seit dem zwölften Jahrhundert Kohle verbrannt, und die Entscheidung dafür fällt leicht. In Liaoning, einem Gebiet mit einer Arbeitslosenquote von 30 Prozent und bitterkalten Wintern, drückt es Chen Qi, ein hoher Beamter der Umweltbehörde, so aus: »Eine hohe Luftverschmutzung kann Sie in 100 Tagen töten, ohne ausreichend Wärme und Nahrung sterben Sie in drei Tagen.«19

Unsere Abhängigkeit von den fossilen Brennstoffen birgt noch eine weitere Gefahr, die wir gern vergessen. Menschen sind bereit, Kriege zu führen, wenn sie das Gefühl haben, man würde sie dessen berauben, was sie als ihre Lebensgrundlagen betrachten: Wasser, Land, Nahrung und Energiequellen. Das hat sich in der Vergangenheit immer wieder gezeigt, und die folgende Geschichte macht deutlich, daß der Kampf um das Öl genügend Zündstoff bietet. Es wird auch in der Zukunft vermutlich zu solchen Konflikten kommen — und dann wird es um andere, um ökologische Dinge gehen —, wenn es uns nicht gelingt, das Problem der mit dem Treibhauseffekt verbundenen globalen Erwärmung zu lösen.

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Die Helligkeit des rostrot leuchtenden Mars überstrahlte sogar den Morgenstern. Im Oktober 1973 stieg der Mars, Vorbote eines kommenden Krieges, bei Sonnenuntergang zusammen mit den Plejaden am Hammel auf. Am sechsten Tag dieses Monats, während des jüdischen Festtags Jom Kippur, der für die orthodoxen Juden das Ende der zehntägigen Bußzeit einläutet, brach die Gewalt los und beendete jäh den ohnehin ständig gefährdeten Frieden im Nahen Osten. Es schien, als ob unter dem Einfluß des Mars ein archaischer Fluch über diese Wiege unserer Kultur hereingebrochen wäre. Die Land- und Luftstreitkräfte Israels, Ägyptens und Syriens lieferten sich erbitterte Gefechte, während im Mittelmeer die Flotten der Sowjetunion und der Vereinigten Staaten aufzogen und ihre Manöver abhielten. Alle fürchteten, daß sich der Krieg vom kulturellen Herzen der westlichen Zivilisation aus weiter ausbreiten würde.

Ich studierte zu dieser Zeit Physik an einer Universität in der Nähe meiner Heimatstadt Medford. Im Jahr zuvor war ich bei der Musterung als wehrdiensttauglich ohne Einschränkungen eingestuft worden, was bedeutete, daß ich bei der Verteilung der Lotterienummern ganz vorne mit dabei war. Der Krieg, der jetzt im Gelobten Land um sich griff, tobte jedoch so heftig und unkontrollierbar, daß es uns gleichgültig schien, welche Losnummer wir zogen. Als junge Studenten redeten wir nicht darüber. Wie gelähmt registrierten wir die Proklamation der Verteidigungsstufe 3 durch die US-Regierung, was bedeutete, daß unser Land nur noch einen Schritt vom Eintritt in den Krieg entfernt war. Wir hatten uns bis an den äußersten Rand des Abgrunds gewagt für die Religion, für die Geschichte und für das Öl.

Dann kam der Winter, und die Organisation der erdölexportierenden Länder (OPEC) drehte uns den Ölhahn ab. In unserer Stadt wechselten die Tarnfarben auf dem Stützpunkt der Nationalgarde über Nacht von Dschungelgrün zu Sandfarben. Die Regierung erlaubte den Ölgesellschaften, ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse der Bevölkerung soviel Öl zu horten, wie sie für richtig hielten, um sicherzustellen, daß die strategischen Ölvorräte für einen möglichen Krieg ausreichten. Die Preise stiegen in astronomische Höhen. Wie wir später herausfanden, taten das auch die Profite.

In Oregon brach der kälteste Winter seit Menschengedenken über uns herein. Eine mörderische Kälte aus der kanadischen Tundra war über die Rocky Mountains zu uns gezogen und hielt uns fest in ihrem eisigen Griff. Es schien, als ob die Natur angesichts des menschlichen Irrsinns selbst den Verstand verloren hätte. Die Menschen, die den müden, feuchten Winterwind der nördlichen Pazifikküste gewohnt waren, empfanden die arktische Kälte als eine wahre Katastrophe. Jede Nacht riß die Wolkendecke auf, und das letzte bißchen Wärme verflog in den Tiefen des Alls. Im gefrorenen Boden starben unzählige Tiere, die ihre Höhlen nicht tief genug gegraben hatten, im Winterschlaf. Die Bäume in ganzen Waldstrichen erfroren, und die Straßen waren gesäumt von sterbenden Bäumen. Einige Leute zündeten bei dem verzweifelten Versuch, gefrorene Leitungen mit offenem Feuer aufzutauen, ihre eigenen Häuser an. Die Wochen der tödlichen Kälte, in denen Heizöl und Treibstoff rationiert waren, forderten ihren Tribut. Die Sorglosen erfroren in ihren Autos, die Armen und die Alten in ihren Häusern.

Während wir bei Eiseskälte in der kilometerlangen Schlange von Autos standen, deren Fahrer hofften, ein paar Liter Benzin zu ergattern, hielten meine Freundin Faye und ich uns eng umschlungen, um uns gegenseitig zu wärmen. In diesem Augenblick wurde mir bewußt, daß das Leben meiner Stadt, meines Landes, ja, daß mein eigenes Leben vom Öl abhängig war. Und es brachte uns um. Menschen erfroren und führten Kriege wegen des Öls. Während ich Faye erzählte, was mir gerade durch den Kopf gegangen war, schwor ich mir, daß ich die Menschheit eines Tages aus ihrer Abhängigkeit von diesem todbringenden schwarzen Fluch, den wir aus der Erde pumpen, erlösen würde. Ich hatte dem Öl den Kampf angesagt. Dort standen wir, Stoßstange an Stoßstange, im kältesten Winter des Kalten Krieges, während über uns der Mars langsam zu verblassen begann.

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So beginnt unsere Geschichte vom Mars und von der Erde, die Geschichte vom Leben und Tod zweier Planeten, der eine tot, der andere sterbend. Was vor uns liegt, ist so lebenswichtig wie der Atem selbst, so erstaunlich wie ein Besucher aus einer anderen Galaxie und so beängstigend wie ein brennendes Haus, besonders wenn es das eigene ist. Willkommen zum Leben im Kosmos.

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