5 Marsforschung im Aufwind
Brandenburg-1999
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<Meiner Meinung nach ist es ein künstliches Objekt...> Wild hackte ich diese Nachricht in die Tastatur des altersschwachen Fernschreibers, den ich mir von einem Freund geliehen hatte, als Faxgeräte noch nicht verbreitet waren. Der Fernschreiber war nicht gerade das, was ich mir erhofft hatte. Er druckte nur Großbuchstaben, was jede Nachricht so aussehen ließ, als wollte sie dem Leser ins Gesicht springen, und die Kühlung war kaputt, so daß ich mir einen Behelfsventilator zusammenbasteln mußte, der mit Hilfe eines Spielzeugmotors und eines Transformators angetrieben wurde. Ich konnte nur etwa 45 Minuten lang senden und empfangen, dann überhitzte er sich, und zwar in der Regel genau in dem Moment, in dem ich eine wichtige Nachricht abschicken wollte oder erwartete. Trotzdem war ich glücklich.
Ich hatte anfangs gezögert, ob ich mich an den Marsuntersuchungen beteiligen sollte, war aber zugleich der Meinung, daß diese Arbeit die Aufmerksamkeit der Wissenschaft verdiente. Zudem hatte ich das Bild eines wahren Wissenschaftlers als Ansporn vor Augen — eines engagierten Forschers, der sich Gedanken über den Nutzen und Schaden der Wissenschaft für die Menschheit macht und das Abenteuer liebt — kurz, ein Mann wie mein Onkel William Siri.
Er war als Physiker während des Zweiten Weltkriegs am »Manhattan Project« zur Entwicklung der Atombombe beteiligt, und diese Erfahrung hatte bei ihm, wie bei vielen seiner Kollegen, das tiefe Bedürfnis geweckt, eine Wissenschaft zu betreiben, die der Menschheit diente, anstatt sie zu gefährden.
Mein Onkel war bis ans Ende der Welt gereist auf der Suche nach dieser wahren Wissenschaft. Er hatte im Schneemobil das ewige Eis der Antarktis überquert. Das Schneemobil war vorn mit Spezialpontons ausgerüstet, mit deren Hilfe Risse im Eis entdeckt werden konnten, die ansonsten das ganze Gefährt verschlungen hätten.
1963 hatte er als stellvertretender Leiter einer Expedition den Mount Everest bestiegen und fast den Gipfel erreicht. Dabei hatte er eine Zentrifuge mitgeschleppt und während des Aufstiegs physiologische Untersuchungen angestellt, die ihn beispielsweise zu der Erkenntnis brachten, daß das Blut der Bergsteiger mit zunehmender Höhe dickflüssiger wird als unter normalen Umständen, weil die Leute in dieser Höhe ständig dehydriert sind. Er brachte von dieser Expedition eine fast religiöse Bewunderung für die überwältigende Schönheit des Himalaya und ein tiefes Bewußtsein von der Verwundbarkeit der Erde mit.
as Wissen, das er auf seinen Forschungsreisen gesammelt hatte, stellte er in den Dienst anderer, indem er sich beispielsweise von 1964 bis 1967 als Vorsitzender im traditionsreichen Sierra Club engagierte, der sich weltweit dem Schutz der unberührten Natur verschrieben hat. Als Kind freute ich mich immer auf seine Besuche, denn er war bereit, zu jeder Frage geduldig Rede und Antwort zu stehen, ob es um die vereinigte Feldtheorie ging oder um die damals noch in den Kinderschuhen steckende Ökologie.
Mit diesem Vorbild vor Augen stellte ich mich also der Herausforderung des Mars, weil ich es fast als eine Pflichtverletzung empfunden hätte, dieser vielleicht bedeutenden Entdeckung in Cydonia keine Beachtung zu schenken. Es erschien mir einfach unverantwortlich, eine Entdeckung, die das menschliche Selbstverständnis und unsere Sicht des Kosmos für immer verändern könnte, nicht gebührend zu würdigen. Mein Onkel hätte genauso gedacht.
Und schon befand ich mich mitten in einem aufregenden Forschungsprojekt, kämpfte an vorderster Front für eine wichtige Sache, so, wie ich es mir immer erhofft hatte. Vom ersten Gespräch mit Vince DiPietro an fühlte ich mich als Mitglied des Teams aus Wissenschaftlern und Technologen, die sich zu einer Interessengruppe zusammengeschlossen hatten und für die es in Cydonia nicht nur um das »Gesicht« ging, sondern um die gesamte Vergangenheit des Mars. Je genauer wir das Material unter die Lupe nahmen, desto mehr Überraschungen erlebten wir. Wir hatten auf den Aufnahmen der Viking-Sonde eine weitere pyramidenförmige Struktur ausgemacht, die den Gebilden in der Elysium-Planum-Region ähnelte.
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Greg und Vince hatten hervorragende Arbeit geleistet. Wir verbrachten zwei Monate mit der Auswertung ihres soliden Datenmaterials, und in unseren ausgiebigen Diskussionen kristallisierte sich allmählich eine kühne Schlußfolgerung heraus. Unsere Aufregung wuchs. Hier ist mein Platz, dachte ich. Zur Musik des neuen Musiksenders MTV, den meine dreijährige Tochter zufällig entdeckt hatte, als sie einmal mit der Fernbedienung herumspielte, haute ich in die Tasten. Wir erforschten den Mars zu den Klängen von Eurythmics, The Police und Tommy Two-Tone.
Im Winter 1984 herrschte immer noch der Kalte Krieg. Die Vereinigten Staaten waren durch das Bombenattentat auf den Stützpunkt der Marineinfanterie in Beirut wie paralysiert und ließen sich immer tiefer in den dort tobenden Bürgerkrieg hineinziehen, weil sie fälschlicherweise glaubten, daß dieser Krieg mit seinen wechselnden und undurchschaubaren Allianzen etwas mit dem Gleichgewicht der Kräfte zwischen Ost und West und demnach auch mit dem Kalten Krieg zu tun hätte. Im Libanon wiederholte sich lediglich ein uralter Kreislauf aus Gewalt und Rache zwischen Drusen, Schiiten, Christen, Sunniten und Palästinensern, zwischen Syrern, Israelis und anderen kämpfenden Traktionen der Region, und dieser Kreislauf war sogar noch älter als die Religionen, die die Kriegsparteien wie eine Waffe vor sich hertrugen.
Und wir sahen mit Abscheu auf die Greuel von Beirut, dem einstigen »Juwel der Levante«, wahrend wir doch gleichzeitig in einen Konflikt mit den Sowjets verwickelt waren, der das Potential hatte, innerhalb von 30 Minuten sämtliche Städte zweier Kontinente in Schutt und Asche zu legen. Die Motive, die diese gefährliche Konfrontation nährten, waren kaum rationaler als das, was sich im Nahen Osten abspielte. Beirut war für mich ein Miniaturmodell der gesamten Welt.
Die Verhärtung der Fronten im Kalten Krieg hatte weltweit zu einer Kette von bewaffneten Auseinandersetzungen geführt. Es schien manchmal so, als befänden sich die Vereinigten Staaten im Kriegszustand, ohne je den Krieg erklärt zu haben. 200 US-Soldaten werden in Beirut getötet, und am nächsten Tag werden Luftlandetruppen auf Grenada abgesetzt und kämpfen gegen die Kubaner.
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3000 Kilometer weiter westlich tobt in El Salvador und Nicaragua der Bürgerkrieg. Flüchtlinge strömen in Scharen gen Norden und suchen Schutz in den Vereinigten Staaten. Die einen fliehen vor den ultrarechten Todesschwadronen in El Salvador, die anderen vor den Truppen der Sandinisten in Nicaragua.
Im Zusammenhang mit meiner Arbeit erschien mir der Kalte Krieg abstrakt, in meinem Privatleben war er eine unausweichliche Realität. In der presbyterianischen Gemeinde, zu der meine Frau und ich gehörten, waren zur Hälfte Fakultätsmitglieder der University of New Mexico vertreten, die andere Hälfte arbeitete entweder bei Sandia oder im Forschungslabor der US-Luftwaffe. Dies spaltete die Gemeinde spürbar in zwei Lager. Zugleich waren die Menschen in dieser Gegend sensibilisiert für die Not der Flüchtlinge aus Mittelamerika, die über die mexikanische Grenze ins Land strömten. Auch das Problem der illegalen mexikanischen Einwanderer, die der bitteren Armut in ihrer Heimat entkommen wollten, war nicht zu übersehen.
Für die Regierung Reagan waren alle diese Menschen »Wirtschaftsflüchtlinge«, und so wurden politisch Verfolgte und illegale Einwanderer unterschiedslos in Sammellager gesteckt und schnellstmöglich in ihre Heimat zurückgeschickt, wo sie im besten Fall ein ungewisses Schicksal, im schlimmsten Fall der Tod erwartete. Ich war kein Gegner der Regierung Reagan, aber diese Politik hielt ich für grausam und nicht zu rechtfertigen. Meine Frau begnügte sich im Gegensatz zu mir nicht damit, ihrer Mißbilligung verbal Ausdruck zu geben. Sie schloß sich der »Asylbewegung« an, die Flüchtlingen nach altem Brauch Kirchenasyl gewährte. Die Gruppe hatte es sich zur Aufgabe gemacht, mit Hilfe der Kirche und auf legalem Weg Arbeit für diese Menschen zu beschaffen, sie aus den Sammellagern herauszuholen und ihnen einen Wohnsitz zu besorgen, bis sie in Kanada politisches Asyl beantragen konnten. So kam es, daß wir bald einen Gast im Haus hatten: Roberto.
Roberto war ein ungewöhnlich kluger und wohlerzogener junger Mann aus der Mittelschicht, der seine Heimat verlassen hatte, um nicht auf der Seite, der Sandinisten gegen die Contras kämpfen zu müssen. Roberto hatte genauso wenig Lust, dem Tod in einem sinnlosen Krieg ins Auge zu blicken, wie jeder andere, der die Regierung seines Landes noch nicht einmal unterstützt.
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Einer seiner Freunde war von den Sandinisten zwangsrekrutiert worden. Wenig später teilte man seiner Familie mit, er sei im Kampf gefallen, und schickte ihn im Sarg nach Hause zurück. Als die Familie aber den Sarg öffnete, enthielt er die Leiche eines anderen. Daraufhin postierte die Armee zum Entsetzen der verzweifelten Eltern einfach bewaffnete Wachen am Sarg, um sicherzustellen, daß dieser nicht noch einmal geöffnet werde, bevor man ihn vergrub.
Roberto wurde von seiner Familie außer Landes geschmuggelt. Er flüchtete durch das vom Krieg gezeichnete Gebiet Zentralamerikas, durchquerte Mexiko auf den Spuren unzähliger anderer Flüchtlinge entlang der Panamericana, bis er nach dieser gefährlichen und anstrengenden Reise endlich vor unserer Tür stand und um Schutz bat.
Roberto trank und rauchte nicht und war ein sehr angenehmer Gast. Aber seine politische Einstellung und die Tatsache, daß er sich dem Waffendienst für sein sozialistisches Heimatland entzogen hatte, stieß bei einigen unserer liberaleren Gemeindemitglieder auf heftige Kritik. So verworren waren die Ideologien zu dieser Zeit.
Ich quälte mich währenddessen mit Selbstvorwürfen, weil ich mich mit etwas so Abstraktem wie der Marsforschung beschäftigte, während die Welt um mich herum einer Katastrophe entgegensteuerte, und so beschloß ich, wenigstens in meiner kleinen Kirchengemeinde der weiteren Eskalation des Kalten Krieges entgegenzuarbeiten. Gemeinsam mit einigen anderen Gemeindemitgliedern bemühte ich mich, den Kirchenrat zur Verabschiedung einer Resolution gegen die Option des »nuklearen Erstschlags« zu bewegen.
Der erste, der einen Verzicht auf die Option des nuklearen Erstschlags vorgeschlagen hatte, war McGeorge Bundy, der als ehemaliger Berater der Regierung Präsident Johnsons immer noch hohes Ansehen genoß. »Mc Bundy«, wie er genannt wurde, wies darauf hin, daß die Erstschlagsdoktrin der Vereinigten Staaten Anfang der fünfziger Jahre unter der Regierung Eisenhower formuliert worden war, als die Sowjetunion noch über kein nennenswertes Atomwaffenarsenal verfügte. Unter den veränderten Verhältnissen von 1984 wäre ein Erstschlag jedoch nicht nur taktisch unklug, sondern strategisch Selbstmord gewesen.
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War es logisch, einen Atomkrieg zu beginnen, um Westdeutschland zu verteidigen, wenn das nicht nur die Zerstörung ganz Deutschlands, sondern auch des Rests der Welt zur Folge haben mußte? Später wurde mir allerdings klar, daß Logik und Atomwaffen zwei Begriffe sind, die einfach nicht unter einen Hut zu bringen sind. Ich widmete mich also neben meiner Arbeit im Anti-Erstschlagkommitee der Gemeinde und der Betreuung unseres Gastes weiterhin der Marsforschung, in der ich wenigstens einen Sinn erkennen konnte.
Wir waren damals jung und voller Energie, erfüllt von dem Wunsch, etwas an einer Situation zu ändern, die uns über den Kopf zu wachsen drohte, an einem furchtbaren Konflikt, dem niemand entrinnen konnte. Gleichzeitig verdiente ich mit diesem Konflikt meinen Lebensunterhalt. Tagsüber heizte ich dessen wissenschaftliche Kessel an, indem ich Elektronenbahnen erforschte, abends kehrte ich nach Hause zurück, wo ein Opfer des Kalten Krieges in seinem Zimmer am Ende des Flurs friedlich schlief.
*
Die Menschheit hat viele schwierige Probleme gelöst, die man über Jahre oder gar Jahrzehnte hinweg für unüberwindbar gehalten hatte. Aber auch wenn es keinen direkten Weg gibt — wenn man durch die Umstände gezwungen ist, tagsüber der einen Sache zu dienen und abends ihrem Gegenteil —, empfiehlt es sich, die Augen offenzuhalten und das Paradoxon als solches zu akzeptieren. Es läßt sich nun einmal nicht alles im Leben in die Kategorien »richtig« oder »falsch« einordnen. Aber wenn wir der Wahrheit ins Auge sehen, ob sie uns nun gefällt oder nicht, können wir die drängenden Probleme sicher eher lösen, als wenn wir sie einfach ignorieren.
Wir haben weiter oben davon gesprochen, daß wir Menschen buchstäblich »blind« sind gegen bestimmte Gefahren, weil sie für uns unsichtbar sind. Wir nehmen sie einfach nicht wahr. Aber neben der physischen Unfähigkeit, vorhandene Gefahren zu sehen, gibt es noch andere Formen der Blindheit. Wir Menschen haben die gefährliche Tendenz, Dinge, die uns zu bedrohlich erscheinen, einfach zu verleugnen. Wir schalten einen psychologischen Schutzmechanismus ein, der es uns erlaubt, tatsächlich Geschehenes abzustreiten.
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Wie oft hören wir von einer betrogenen Ehefrau die Klage: »Ich hätte es wissen müssen. Es ist genau vor meinen Augen passiert, aber ich war ja so blind.«
Die Menschen tun seltsame Dinge, wenn viel für sie auf dem Spiel steht. Wer mit großen emotionalen Erschütterungen, mit einer finanziellen Krise oder einer schweren Krankheit konfrontiert wird, verdrängt oft unbewußt die Signale, als könnte er sich dadurch gegen die drohende Gefahr schützen. Es ist ein raffinierter Trick der menschlichen Psyche — wir benutzen die selektiven Eigenschaften unserer Neokortex, um uns »unter Eid« selbst zu belügen. Vielleicht schafft das tatsächlich eine Art psychologisches Polster, das die Wucht der für uns unangenehmen Erkenntnis mildert. In jedem Fall ist es entweder ein angeborenes, dem menschlichen Wesen inhärentes Verhalten oder ein in der westlichen Kultur verbreitetes und angelerntes Reaktionsmuster, von dem wir uns nur selten bewußt machen, daß auch die Entscheidungsträger unserer Gesellschaft — Politiker, Wissenschaftler und Medienvertreter — davon geprägt sind.
Während den meisten von uns klar ist, daß bei persönlichen Problemen wie Fremdgehen, Drogensucht oder Alkoholmißbrauch immer der Aspekt des Selbstbetrugs im Spiel ist, praktizieren wir manchmal unbewußt eine sehr viel subtilere Art der Verleugnung. Bei dieser Form der Verdrängung streiten wir die Tatsachen nicht ab, sondern versuchen, sie möglichst weit von uns zu weisen, um uns so von den möglichen Folgen zu distanzieren.
Mit dieser »Distanzierung« schaffen wir um uns herum eine Art Schutzzone. Unbewußt bemühen wir uns, so viel Distanz zwischen uns und das Problem zu bringen, daß wir uns vermeintlich außerhalb der Gefahrenzone befinden. So können wir die Illusion aufrechterhalten, von der drohenden Gefahr nicht betroffen zu sein. Dies ist das Funktionsprinzip der Distanzierung.
»Meine Mutter ist an Brustkrebs gestorben, und auch meine Schwester ist an Brustkrebs erkrankt, aber ich persönlich neige zu der Ansicht, daß Brustkrebs eine durch Umweltfaktoren verursachte Krankheit ist. Ich ziehe es vor, meine genetische Vorbelastung zu ignorieren. Das Ironische daran ist, daß die meisten Leute die Theorie des genetischen Zusammenhangs gerade als beruhigend empfinden. Sie schützen sich damit vor der Erkenntnis, daß Umweltfaktoren bei der Entstehung von Brustkrebs zumindest teilweise eine Rolle spielen und auch eine erblich nicht vorbelastete Frau diese schreckliche Krankheit bekommen kann.«
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Jede Frau distanziert sich also auf die aus ihrer Sicht geeignete Weise von der potentiellen Gefahr, irgendwann im Leben an Brustkrebs zu erkranken. Ist sie erblich vorbelastet, so konzentriert sie sich auf die Umweltfaktoren, die als Ursache für die Krankheit in Frage kommen. Lebt sie dagegen in einem eher gesundheitsschädigenden Umfeld, so schafft sie die Distanz, indem sie die genetisch bedingte Wahrscheinlichkeit einer Erkrankung in den Vordergrund stellt. Wir haben also die Wahl, welche Faktoren wir als die »entscheidenden« betrachten.
Wir handeln aber nicht nur in bezug auf uns selbst so, sondern wir unterstützen auch die Menschen, die uns nahestehen, darin, Distanz zwischen sich und einer potentiellen Bedrohung zu schaffen. »Ich sagte zu meinem Mann, daß ich mir wegen der Umweltverschmutzung Sorgen machte, an Brustkrebs zu erkranken, und er wies mich darauf hin, daß bei der Entstehung der Krankheit genetische Faktoren eine große Rolle spielen.« Das Ganze hätte sich auch umgekehrt abspielen können. »Ich sagte zu meinem Mann, daß ich fürchtete, wie meine Schwester an Brustkrebs zu erkranken, und er wies mich darauf hin, daß bei der Entstehung der Krankheit Umwelteinflüsse eine große Rolle spielen.«
Beide Argumentationen haben ihre Berechtigung. Es geht nicht so sehr darum, ob etwas wahr ist oder nicht, sondern darum, ob die Fakten, auf die wir uns beziehen, die gewünschte Distanz schaffen. Wichtig ist, daß wir uns von einer möglichen Bedrohung abgrenzen, auch wenn sie uns unmittelbar betrifft. Weil wir Angst haben, uns der bitteren Wahrheit zu stellen, suchen wir sie unter allen Umständen zu widerlegen, so fragwürdig die ins Feld geführten Beweise auch sein mögen. Sind wir so süchtig danach geworden, uns gut zu fühlen, daß Ehrlichkeit und Verantwortung auf der Strecke bleiben? Empfinden wir unangenehme Gefühle als solche Bedrohung, daß wir reale Gefahren ignorieren, nur um unser inneres Gleichgewicht zu wahren?1)
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Es gibt viele Strategien der Distanzierung, aber wir machen uns nur selten bewußt, daß die motivierende Kraft hinter der Distanzierung unsere Ängste sind. Zeitliche Abgrenzung zu der Bedrohung ist eine gängige Methode der Distanzierung. »Furchtbar diese Überschwemmungen im Mittleren Westen«, sagt vielleicht einer (und drückt damit die Befürchtung aus: Wahrscheinlich wird es bei uns auch bald eine Überschwemmung geben). Unsere Antwort könnte lauten: »Wir haben Glück, bei uns gab es schon seit Ewigkeiten keine Überschwemmung mehr.« Auch die geografische Entfernung vermittelt uns ein Gefühl der Sicherheit. »Ich habe gehört, daß es noch mehr Stürme und Orkane geben soll.« (Befürchtung: Es könnte auch hier bei uns einen Orkan geben.) »Gott sei Dank gibt es so weit von der Küste entfernt keine Orkane.«
Der Hinweis auf unsere materiell privilegierte Situation ist ebenfalls geeignet. Abstand zu schaffen. »Unglaublich, wie viele Menschen in Zentralamerika durch die Katastrophe obdachlos geworden sind.« (Befürchtung: Es wäre schrecklich, obdachlos zu werden.) »Da unten wird ja auch so billig gebaut, daß es kein Wunder ist, wenn die Häuser dort reihenweise einstürzen.« Auch mit dem Hinweis auf kulturelle, ethnische oder religiöse Unterschiede kann Distanz erzeugt werden.
»Distanzieren« geht einher mit einer raschen Taxierung der Lage, mit der wir uns auf den Aspekt, den Unterschied oder die Interpretation festlegen, der oder die es uns erlaubt, uns von der Gruppe der Bedrohten abzugrenzen, und die Distanz, die wir so zwischen uns und der Bedrohung schaffen, bildet so etwas wie einen psychischen Schutzwall um uns herum. Wir reagieren ähnlich wie bei einer Grippewelle: Solange wir den Kontakt mit Erkrankten meiden, stecken wir uns nicht an. Das ist keine bewußte Reaktion, sondern ein unwillkürlicher Reflex. Wenn wir einmal um diese Angewohnheit des Menschen, sich von bedrohlichen Situationen zu distanzieren, wissen, ist es interessant zu sehen, ob wir uns selbst und andere in flagranti ertappen können.
»Distanzierung« hat gegenüber dem schlichten Leugnen eine Reihe von Vorteilen. Zum einen müssen wir nicht vollständig blind für die tatsächliche Situation sein. Wir können so tun, als ob wir rational seien und uns mit der Realität auseinandersetzen würden, was wir auch tun — allerdings nur oberflächlich und ohne uns zu fragen, welche Konsequenzen diese Realität für uns und die Welt, in der wir leben, eigentlich hat.
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Wir verhalten uns selektiv, indem wir den Teil der Wirklichkeit herauspicken, der uns von der Bedrohung trennt. Und so laufen wir mit verbundenen Augen und gebundenen Händen durch die Welt, um weniger Schmerz empfinden zu müssen, bis wir zu spät bemerken, daß wir schon mitten ins Feuer hineingelaufen sind.
Das Verleugnen und Sich-Distanzieren von Dingen, die uns bedrohlich scheinen, hat noch einen anderen wichtigen Aspekt. Zu den Dingen im Leben, bei denen Menschen sich immer wieder scheuen, der Wahrheit ins Auge zu blicken, gehört das Sterben. Die schweizerische Ärztin und Therapeutin Elisabeth Kübler-Ross hat in ihrem Buch Über den Tod und das Leben danach ausführlich diese Phase des Leugnens beschrieben, die Menschen durchlaufen, wenn sie sich mit dem nahenden Tod auseinandersetzen müssen. Es gibt sogar Menschen, die bis zum letzten Moment nicht wahrhaben wollen, daß sie unheilbar krank sind. Auch wenn die meisten ihren Tod zu irgendeinem Zeitpunkt zu akzeptieren beginnen, ist Kübler-Ross der Meinung, daß jeder das Recht habe, auf seine eigene Weise mit der Wahrheit fertig zu werden, auch wenn das manchmal bedeutet, daß die Angehörigen und Ärzte die Selbsttäuschung des Todkranken mitspielen und gegen besseres Wissen so tun müssen, als sei alles in bester Ordnung.
Für einen Sterbenden hängt das Leben nicht mehr davon ab, daß er bereit ist, der Wahrheit ins Auge sehen. Für uns Lebende aber kann das sehr gefährlich werden. Denn solange wir nicht bereit sind, uns der unangenehmen Realität zu stellen, können wir sie auch nicht verändern. Das Leugnen und Distanzieren zeugt in Wirklichkeit nur von unserer Ohnmacht, denn wir wahren damit nur einen äußeren Schein und verhindern, daß wir uns mit den Problemen auseinandersetzen und wirksame Maßnahmen zu ihrer Lösung ergreifen müssen.
Der nächste Schritt in der Evolution des menschlichen Bewußtseins setzt voraus, daß wir unangenehme Wahrheiten an uns heranlassen, auch wenn sie uns bedrohlich erscheinen, auch wenn wir im Augenblick keinen Ausweg erkennen können. So schwer uns das auch fallen und so ernüchternd es sein mag, indem wir den Problemen ins Auge sehen, tun wir den ersten Schritt zu ihrer Lösung. Wir können die Feuerwehr nur rufen, wenn wir sehen, daß unser Haus brennt.
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Wenn wir beginnen, den Tatsachen ins Auge zu sehen, setzen wir die Energien frei, die wir zuvor darauf verwendet haben, sie zu verdrängen. Wir öffnen uns für neue Möglichkeiten und kreative Lösungen, zu denen wir nicht fähig sind, solange wir die Wahrheit leugnen oder uns von ihr distanzieren. Unsere Furcht, unsere Resignation und unser Zynismus resultieren zu einem großen Teil daraus, daß wir die Ängste, die der Zustand unseres Planeten in uns auslöst, ständig unterdrücken. Wenn wir der Wahrheit ins Auge sehen, werden wir wieder fähig sein, uns unserer Verantwortung zu stellen.
Wir werden angesichts der Wahrheit vielleicht erst einmal einen Schreck bekommen wie die betrogene Ehefrau, die sich elend fühlt, wenn sie sich die Untreue ihres Mannes endlich eingesteht. Vielleicht wird sie sich fragen, was sie falsch gemacht hat, sie wird Schuldgefühle und Gewissensbisse haben, Wut und Trauer empfinden und sich um die Zukunft sorgen. Aber nachdem sie sich all dem gestellt hat, kann sie ihr Schicksal in die Hand nehmen und sich bewußt entscheiden, was sie will und was für sie selbst richtig ist. Es befähigt sie, entweder an der Beziehung zu ihrem Mann zu arbeiten oder sie zu beenden, und, was genauso wichtig ist, sie kann sich selbst weiterentwickeln.
Genauso können wir es mit der Realität unserer geschädigten Umwelt halten. Wenn wir bereit sind, das ganze Schadensausmaß zu sehen, können wir unser Verhalten ändern und Maßnahmen ergreifen, um unseren Planeten zu retten - den Planeten, der nicht nur für uns eine Heimat ist, sondern auch für alle, die wir lieben.
Der Mars nahm mich ganz in Anspruch. Ich war fasziniert von den Berichten über die wissenschaftlichen Ergebnisse der Viking-Mission. Auf der fremdartigen, mondähnlichen Oberfläche des Planeten, zwischen den Kratern und in deren Inneren, gab es ausgetrocknete Flußläufe. Und diese Flußläufe erzählten eine traurige Geschichte, die Geschichte einer unumkehrbaren Tragödie.
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Was so aussah wie ausgetrocknete Flußbetten, wie die Arroyos, die es in Neumexiko so zahlreich gibt, bedeutete, daß hier einst Wasser geflossen war. Wasser ist eine Verbindung von Wasserstoff, dem häufigsten Element im Universum, und Sauerstoff — dem nach Helium dritthäufigsten Element. Nachdem ein Stern den größten Teil seines Wasserstoffs zu Helium verbrannt hat, beginnt er, das Helium zu verbrennen, wobei Sauerstoff entsteht. Der von den Sternen massenhaft produzierte Sauerstoff kann sich dann mit dem ebenfalls massenhaft vorhandenen Wasserstoff verbinden. Daraus folgt, daß das Wassermolekül das im Universum bei weitem am häufigsten vorkommende Molekül ist, viel häufiger als Ammoniak, Methan und Kohlendioxid (seine chemischen Vettern).
Wasser ist der einzige Stoff, von dem man annehmen kann, daß er auf dem Mars unter früheren klimatischen Bedingungen in flüssiger Form vorkam. Flüsse weisen auf erdähnliche Bedingungen hin, da das Vorhandensein von flüssigem Wasser auf der Erde eine wesentliche Grundlage für den atmosphärischen Druck und die klimatischen Bedingungen der Erde ist. Also bedeutet das Vorhandensein von Flußläufen auf dem Mars, daß der Planet der Erde einst sehr viel ähnlicher gewesen sein muß als heute.
Unter den heutigen Bedingungen würde Wasser auf dem Mars keine zehn Meter weit fließen. Es würde gefrieren und seinen eigenen Flußlauf mit Eis blockieren, so wie es manchmal in den nördlichen Tundragebieten der Erde geschieht. Auf dem Mars gab es aber einmal Flüsse, die Hunderte von Kilometern lang waren. Er unterschied sich also damals stark von seinem jetzigen Zustand. Aber wie lange ist es her, daß es auf dem Mars warm und feucht war? Seine Krater geben uns einen Hinweis darauf.
Daß erdähnliche Flüsse und mondähnliche Krater in der Marslandschaft nebeneinander existierten, deutet daraufhin, daß die Bedingungen auf der Oberfläche des Mars erdähnlich, aber von einem höheren Grad der Verkraterung gekennzeichnet waren. Krater auf der Erde werden im allgemeinen durch Trümmer aus dem Asteroidengürtel des Sonnensystems verursacht, die sich im Gegensatz zu den vorwiegend aus Eis bestehenden Kometen aus Gestein zusammensetzen. Die Umlaufbahn des Mars liegt am inneren Rand des Asteroidengürtels, so daß der Mars schon immer einem Dauerbeschuß durch kraterbildende Objekte ausgesetzt war.
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Durch die hohe Einschlagrate bildeten sich neue Krater so schnell, daß auch eine erdähnliche Erosion sie nicht beseitigen konnte. Der Mars war ständig den Naturgewalten ausgesetzt. Explosionen, gegen die unsere Atomtests harmlos aussehen würden, haben seiner Oberfläche so zugesetzt, daß sie wie mit Pockennarben überzogen wirkt.
Wüßten wir also, in welchem Zeitraum sich die Krater auf dem Mars bildeten, könnten wir die Anzahl der Krater pro Quadratkilometer in jenen Gegenden zählen, in denen sich ausgetrocknete Flußläufe befinden, und wären so in der Lage, deren Alter zu bestimmen. Aus der wissenschaftlichen Literatur ging allerdings hervor, daß über die Verkraterungsrate auf dem Mars keine zuverlässige Aussage zu machen war, so daß man das Alter der Arroyos nur vage schätzen konnte. Das war nun allerdings 'eine interessante Tatsache. Wenn wir das Alter der Flußläufe nicht bestimmen konnten, konnten wir auch nicht sagen, wann das Wasser auf dem Mars aufgehört hatte zufließen, wie lange es demnach her ist, daß der Mars der Erde glich. Obwohl wir also wußten, daß der Mars für einige Zeit der Erde geglichen hatte, konnten wir nicht mit Bestimmtheit sagen, was sich dort ereignet hatte und was nicht. Und das war, wie mir schlagartig klar wurde, auch die ganze Crux mit dem »Gesicht« auf dem Mars. Wir hatten keine Möglichkeit, eine verläßliche Aussage darüber zu machen, ob es ein künstliches Gebilde war oder nicht. Wenn man es in derselben Weise betrachtete wie die ausgetrockneten Flußbetten, ergab das »Gesicht« auf einmal einen eigenartigen Sinn. Es gab einfach keine Erklärungen, die wir von vornherein mit Sicherheit ausschließen konnten.
Nacht für Nacht diskutierten wir dieses Thema in der Gruppe, zu der neben Vince DiPietro und Greg Molenaar inzwischen der Anthropologe Randy Pozos, der Physiker Lambert Dolphin und der Autor Richard Hoagland gehörten. Schließlich begriffen wir, worauf alle Indizien hindeuteten: Eine unfaßbare Tragödie mußte sich auf dem Mars abgespielt haben. Wie anders hätte sich ein Planet, der über einen langen Zeitraum hinweg ein erdähnliches Klima gehabt hatte und auf dem es höchstwahrscheinlich auch Mikroorganismen und vielleicht sogar höheres Leben gab, sonst so plötzlich in eine karge Mondlandschaft verwandeln können? Was war auf dem Mars geschehen?
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Diese Frage empfanden wir als um so bedrückender, als um uns herum der menschliche Irrsinn seinen Lau/nahm. Wie Lambert Dolphin es ausdrückte: »Wir hatten das Gefühl, nicht den Mars zu beobachten, sondern die Erde, wie sie in ein paar Jahren aussehen würde.«
Auf dem Mars wurden neue, vielleicht sogar archäologische Fundstellen entdeckt. Cydonia glich mehr und mehr einem fremdartigen, außerirdischen Lebensraum - nicht eindeutig geologischer Natur, nicht eindeutig künstlich geschaffen. Vielleicht eine Mischung aus beidem? Wie sollten wir das wissen? Wie konnten wir sicher sein? Die Viking-Kameras lieferten aus einer Region namens Deuteronilus Mensae Bilder von einem rätselhaften Objekt: einem pyramidenartigen Gebilde, das vom Hang eines großen Kraters aufragte und einen mehr als neun Kilometer langen Schatten warf. Das Gebilde war das größte in einem Umkreis von mehreren hundert Kilometern, und es war offensichtlich geschaffen worden, nachdem sich der Krater gebildet hatte, auf dessen Rand es unversehrt stand. Konnte ein riesiger, pyramidenförmiger Berg auf dem Rand eines Kraters entstehen, nachdem dieser sich gebildet hatte? Es gab keine vergleichbare geologische Struktur auf der Erde, so daß uns dieses Objekt einiges Kopfzerbrechen bereitete. Wir konnten die Möglichkeit, daß es sich um ein künstliches Gebilde handelte, nicht von der Hand weisen. Aber das war noch nicht alles. In der Nähe des Objekts gab es einige Hügel, deren Hänge terrassenartig angelegten Reisfeldern ähnelten, und in der Landschaft südlich des »Gesichts« entdeckte man weitere eigenartige Formationen - Rampen, die offenbar zu den Plateaus hinaufführten, und andere, merkwürdig symmetrische Strukturen.
Die Mitglieder unseres Teams, das sich Unabhängige Marsforschungsgruppe nannte, untersuchten diese Anomalien genauer, und sie bedienten sich aller Kenntnisse, die sie aus ihren jeweiligen wissenschaftlichen Spezialgebieten mitbrachten, um in dem, was sie sahen, einen Sinn zu erkennen. Wir interpretierten die Fakten mit aller zu Gebote stehenden Zurückhaltung, in der Hoffnung, eine rationale Erklärung zu finden, die unsere offenen Fragen beantworten könnte. Aber der Eindruck, daß es sich um künstliche Objekte handeln konnte, löste sich im Licht unserer wissenschaftlichen Prüfung nicht in Wohlgefallen auf, sondern verstärkte sich vielmehr und nahm eine immer schwerwiegendere und beängstigendere Bedeutung an. Unsere anfängliche Neugier wich den schlimmsten Befürchtungen.
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Wir kamen uns vor wie Techniker, die man losgeschickt hat, Haarrisse in einem großen Damm zu untersuchen, und die dann herausfinden, daß es sich um riesige Bruchstellen handelt. Und im selben Augenblick wird ihnen bewußt, daß sie, während sie die Untersuchung durchführen, am Fuß des Damms stehen. Aber unsere Wirklichkeit war noch schlimmer, führte man sich die weitreichende Bedeutung dessen vor Äugen, was wir auf dem Mars beobachtet hatten. Wir Menschen waren wie die verfeindeten Bewohner eines strohtrockenen Waldes, die sich, bis an die Zähne mit Flammenwerfern bewaffnet, gegenseitig beschleichen. Und eines Tages entdecken wir von einer Anhöhe aus gleich neben unserem Wald die Spuren eines gewaltigen Flammeninfernos, das alles Leben dort vollständig und für immer ausgelöscht hat. Wir Bewohner der Erde spielen ein sehr gefährliches Spiel.
Wenn die Geruchsnerven eines Säugetieres (die des Menschen eingeschlossen) nur ein paar Rauchpartikel wahrnehmen, wird es selbst im tiefen Schlaf sofort in Alarmbereitschaft versetzt. Feuer weckt bei uns eine Urangst vor dem Tod, die bei Vögeln und Landtieren gleichermaßen einen Fluchtinstinkt aktiviert. Alles, was Flügel oder Beine hat, wird seine Bauten und Nester verlassen und fliehen, um sein Leben zu retten.
Bäume können nicht fliehen. Bäume und Pflanzen bleiben fest verwurzelt stehen, während die Flammen näherkommen, während ihre Nachbarn sterben. Sie bleiben stehen, bis ihre Rinde sich erwärmt und dann zu knistern beginnt, bis Flammen an ihnen emporschießen und in ihre Kronen fahren, bis sie in einem Inferno verschlungen werden, an dessen Ende sie ihre Materie an den Kohlenstoffzyklus zurückgeben.
Bei einem Waldbrand stirbt ein Baum ganz plötzlich. In der einen Sekunde ist er noch ein lebendiges, wachsendes Geschöpf, und in der nächsten verwandelt er sich in einen glutheißen Feuerball, in ein schwarzes Negativ seiner selbst, in eine dürre Silhouette vor dem Hintergrund der alles verzehrenden Flammen — silbrig weiß im Innern, nach außen in wechselnden Farben von Kobalt über Orange bis Gelb leuchtend — eine im tragischen Untergang strahlende Fackel.
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Am nächsten Tag ist nichts mehr von dem Baum übrig außer einiger Schaufeln noch glimmender oder schon erkalteter Kohlen und eine dicke Schicht Asche auf dem Boden, die Nährstoffe für die nächste Generation von Pflanzen enthält. Der Rest hat sich in Form von Rauchpartikeln und Kohlendioxid mit der Luft vermengt und trägt so — eine effektive Beigabe zu den vom Menschen verursachten Problemen — zum Treibhauseffekt bei. Die globale Klimaveränderung hat einen weiteren Etappensieg errungen.
Daß die tropischen Regenwälder der Erde bedroht sind, ist weithin bekannt, daß aber auch die borealen Nadelwälder gefährdet sind, die man in Rußland, Kanada, den Vereinigten Staaten, Skandinavien, Teilen der Koreanischen Halbinsel, in China, der Mongolei und Japan findet, und was für eine wichtige Rolle sie im Kohlenstoffzyklus spielen, wissen die wenigsten.2 Sie sind um so mehr in ihrer Existenz bedroht, als sie nur in einem sehr begrenzten Klimagürtel existieren können.
Die borealen Nadelwälder der nördlichen Hemisphäre leben seit Zehntausenden von Jahren in harmonischem Einklang mit der Erde. Wenn man die letzten 18.000 Jahre im Zeitraffer betrachten würde (also die Zeit, die vergangen ist, seit die letzte Eiszeit abzuklingen begann), könnte man beobachten, daß sich Wälder an die Bewegung der Gletscher und die Veränderungen des Weltklimas anpassen und langsam »wandern«. Aber die Wälder verkraften nur sehr langsame Veränderungen. Mit dem Tempo der Klimaveränderungen, die derzeit stattfinden, können sie nicht Schritt halten.
Wie alle Pflanzen verbrauchen die Tannen, Pinien, Lärchen und Fichten der borealen Nadelwälder bei der Photosynthese Kohlendioxid. Pflanzen nehmen Wasser und Kohlendioxid auf und produzieren daraus in Verbindung mit dem Sonnenlicht Sauerstoff und Nahrung. Während ihres Wachstums verbrauchen Pflanzen deutlich mehr Kohlendioxid, als sie abgeben; sie tragen somit wesentlich dazu bei, daß der Kohlendioxidgehalt der Luft reduziert wird.
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Wenn Pflanzen verrotten oder verbrennen, gelangt der in ihren Zellen enthaltene Kohlenstoff wieder in die Erde oder in die Luft.
Die Fähigkeit von Pflanzen und Bäumen, Kohlendioxid zu verarbeiten, ist von mehreren Faktoren abhängig — verfügbares Wasser, Sonnenlicht, Alter der Pflanze und Umgebungstemperatur. Eine Pflanze, die voll entwickelt ist, zu wenig Wasser erhält oder zu großer Hitze ausgesetzt ist, verarbeitet weniger Kohlendioxid als eine im Wachstum begriffene und gesunde Pflanze.
Etwa ein Fünftel der borealen Nadelwälder der nördlichen Hemisphäre wächst in der Nähe von Seen oder Sumpfgebieten. Diese Feuchtgebiete sind von einer tiefen Schicht verrottender organischer Materie bedeckte Torfmoore, die ebenfalls eine große Menge Kohlendioxid verbrauchen. Die natürlichen Bedingungen in diesen Mooren — tiefe Torfschichten, umgewandelt durch Zeit, Hitze und Druck — haben zur Bildung von Kohle und Öl geführt. Der größte Teil der fossilen Brennstoffe, die wir heute verbrauchen, entstand irgendwann zwischen der späten Kreidezeit, vor etwa 70 Millionen Jahren, und dem Tertiär, vor etwa zehn Millionen Jahren.3 Die Kohle, die wir heute verbrennen, ist also Ergebnis eines Prozesses, für den die Erde zwischen zehn und 60 Millionen Jahren brauchte.
Es gab eine Zeit, in der die Erdatmosphäre so viel Kohlendioxid enthielt, daß ein Mensch nicht hätte überleben können. Die heutigen Säugetiere benötigen zum Atmen ebenfalls eine sauerstoffreiche und gleichzeitig kohlendioxidarme Luft. Die Veränderung der Atmosphäre vollzog sich über viele Millionen Jahre hinweg. Pflanzen und Bäume, die zur Zeit der frühen Säugetiere existierten, erzeugten die atmosphärische Zusammensetzung, in der wir heute leben können, indem sie der Luft Kohlendioxid entzogen und gleichzeitig eine große Menge Sauerstoff produzierten. So schufen sie die perfekte Mischung atmosphärischer Gase, auf die Säugetiere und mit ihnen der Mensch angewiesen sind.
Das Ganze vollzog sich folgendermaßen: Während über abermillionen Jahre hinweg die Pflanzen wuchsen und starben, fielen totes Holz und Laub auf die Erde, wo sie mit Hilfe von Wasser verrotteten. Die Torfschichten, die sich beim Zersetzungsprozeß der pflanzlichen Materie bildeten, enthielten nun den Kohlenstoff aus den einst lebenden Pflanzen.
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Mit der Zeit bildeten sich über dem Torf Erdschichten, und der Kohlenstoff wurde tief in der Erde »eingelagert« und dort unter dem Einfluß von Wärme und Druck in Kohle und Öl verwandelt. Es war also ein Prozeß von vielen Millionen Jahren, bis genügend Kohlenstoff aus der Atmosphäre entfernt und im Boden eingebunden war, so daß schließlich das heutige atmosphärische Gleichgewicht entstand.
Die Menschen entdeckten die im Boden versteckte Kohle und das Öl, und sie stellten fest, daß es hervorragende Energielieferanten waren. Indem wir aber Kohle und Öl verbrennen, führen wir, ohne uns dessen bewußt zu sein, der Atmosphäre jenen Kohlenstoff wieder zu, den die Flora der Erde in 60 Millionen Jahren aus der Luft gefiltert und im Boden eingelagert hat. Und wir produzieren den Kohlenstoff so schnell, daß die Pflanzen mit der Verarbeitung nicht nachkommen. Wir haben arglos und unüberlegt einen Prozeß in Gang gesetzt, den wir am Ende nicht überleben können: die unkontrollierte Abgabe von Kohlendioxid an die Atmosphäre durch Verbrennung fossiler Brennstoffe. Wir kehren einen Prozeß um, für den die Natur Jahrmillionen gebraucht hat, und wir tun dies in einem so rasanten Tempo, daß wir dadurch das Klima unseres Planeten verändern. Die Erwärmung des Planeten mag zwar für kurze Zeit das Wachstum der Pflanzen fördern, aber am Ende wird sie die Wälder und Grünzonen zerstören, die der Luft das schädliche Kohlendioxid wieder entziehen könnten.4
Waldbrände gehören zu den Gefahren, die diesen lebenden Wäldern drohen. Sie gehören zwar seit jeher zu den natürlichen Erscheinungen im Ökosystem der Wälder, traten früher aber im Durchschnitt nur alle 100 bis 300 Jahre auf. Heutzutage ist die Lage wesentlich ernster.
In den vergangenen Jahren haben verheerende Brände in den borealen Nadelwäldern gewütet. Zwischen 1980 und 1989 wurden 56 Millionen Hektar Wald vernichtet, ein Gebiet also, das größer ist als Frankreich.5 Die in Kanada seit 1976 durch Feuer zerstörten Waldflächen überstiegen die im Jahrhundertdurchschnitt gemessenen Verluste um das Sechsfache. In den gemäßigten Klimazonen und in den Hochgebirgswäldern im Westen der Vereinigten Staaten waren die Zerstörungen sogar neunmal so hoch.6
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Russische Forscher haben seit 1985 einen starken Anstieg der Waldbrände festgestellt.7
1989 wurden der Westen Kanadas und die Region im Osten der James Bay in Quebec von den schlimmsten Waldbränden in der Geschichte des Landes heimgesucht. Seit 1975 werden in Alaska immer häufiger Brände registriert, und auch in Schweden wurde in den letzten Jahrzehnten ein Anstieg verzeichnet. Seit 1980 liegt für Schweden allerdings kein statistisches Zahlenmaterial mehr vor. Nur in Finnland waren die Zahl der Waldbrände und die Ausdehnung der betroffenen Waldflächen rückläufig.8,9
Wenn ein Baum verbrennt, ist das ein doppelter Verlust. Nicht nur gelangt dabei Kohlenstoff in die Atmosphäre, sondern es wird auch ein lebender Organismus vernichtet, der in der Lage war, der Luft Kohlendioxid zu entziehen.
Der Raubbau der Holzindustrie bleibt im nördlichen Waldgürtel ebenfalls nicht ohne Folgen. In den Wäldern Sibiriens werden jährlich schätzungsweise vier Millionen Hektar Wald abgeholzt (zum großen Teil illegal) und eine Million Hektar durch Waldbrände zerstört. Berechnungen haben ergeben, daß die sibirischen Wälder bis zu zehn Prozent des Kohlendioxids absorbieren, das wir produzieren, und diese Wälder sind nun bedroht.10 Darüber hinaus sind durch die Waldbrände bis zu 50 Millionen Tonnen Kohlendioxid und Kohlenmonoxid in die Atmosphäre gelangt.11 Die Klimaerwärmung wird sich unausweichlich rapide beschleunigen, wenn wir nicht bald Maßnahmen ergreifen, um diese Entwicklung aufzuhalten und den Prozeß umzukehren.
Menschen und andere Säugetiere können vielleicht vor einem Waldbrand fliehen und die Bäume ihrem Schicksal überlassen, aber wenn das Gleichgewicht des Kohlenstoffkreislaufs aus den Fugen gerät, können auch wir den Folgen nicht mehr entgehen. Dann sind wir genauso gefangen wie der Baum in einem Waldbrand. Es gibt keinen Ort, an dem wir Zuflucht suchen könnten, wenn das Ökosystem unseres Planeten versagt. Nicht mal auf dem Mars.
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Am blauen Morgenhimmel donnerten die startenden Jets der in New Mexico stationierten Elitepiloten der Nationalgarde über die Dächer des Sandia-Komplexes. Es sah aus wie ein Computerspiel auf dem Bildschirm, und wir erwarteten fast, daß früher oder später eine der Maschinen auf unserem Parkplatz zerschellen würde. Der Lärm der abfliegenden Jets dröhnte durch die Gänge unseres Hauptgebäudes, das die Mitarbeiter des Unternehmens aus naheliegenden Gründen nur als »Hangar« bezeichneten. Ich war auf der Suche nach John McDonnell oder »John Mack«, wie er von seinen Kollegen liebevoll genannt wurde. John hatte ursprünglich Geologie studiert, arbeitete jetzt aber als Ingenieur in der Kernforschungsabteilung unserer Firma, die für ihre Versuche einen Partikelstrahl-Fusionsapparat (PBFA = Particie Beam Fusion Apparatus) einsetzte. Die beteiligten Wissenschaftler bereiteten gerade einen »Stoß« vor, und ich wußte, daß John sehr beschäftigt sein würde. Ich stand auf dem Gang, während im Hauptexperimentallabor helle Aufregung und ein hektisches Kommen und Gehen herrschte. Im Inneren des Labors befand sich der überdimensionale Fusionsapparat, der aus drei konzentrischen Ringen bestand, von denen der äußere einen Durchmesser von gut 30 Metern hatte.
Dieser äußere Ring war der Ölring, in dem riesige Plattenkondensatoren (Speichereinheiten für elektrische Ladung) zu schrankgroßen Einheiten zusammengefaßt und mit je 50.000 Volt geladen waren. Sie wurden nach ihrem Erfinder Marx-Generatoren genannt. Die Spannung war so hoch, daß die einzelnen Einheiten in voneinander getrennten, bis zu fünf Metern mit Öl gefüllten Bottichen versenkt werden mußten, damit ein Überspringen verhindert wurde. Die Energie jedes einzelnen Marx-Generators entsprach dem energetischen Äquivalent von mehreren Stangen Dynamit, und wenn man sie auslöste, setzten sie diese in wenigen Milliardstel Sekunden frei. Jede der zwanzig Marx-Generatoren übertrug ihre Energie auf den nächstinneren Ring, einen Ring aus Wasser.
In dem kristallklaren, drei Meter tiefen destillierten Wasser befanden sich Röhren und Kugeln aus Aluminium, die so groß waren, daß ein Mensch darin stehen konnte. Es schwammen auch wirklich Männer in ihnen herum, um sie zu inspizieren und Luftblasen zu entfernen, die den Elektrizitätsfluß hätten stören können. Die Taucher waren eine harte Truppe mit klassischen Schwimmerfiguren.
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Im Winter fiel die Temperatur des Wassers, das außerhalb des Experimentallabors in Tanks aufbewahrt wurde, bis nahe an den Gefrierpunkt, aber den Tauchern schien das nichts auszumachen. Vor und nach jedem Stoß stiegen sie in ihren Thermoanzügen in das eisige Wasser, atmeten durch Luftschläuche, überprüften Elektroden und jagten Luftbläschen.
Der Ring aus Wasser empfing und hielt die elektrische Ladung nur für einige Milliardstel Sekunden. Rund um die Aluminiumelektroden wurde das Wasser polarisiert, und für diesen einen kurzen Moment war der Ring ein perfekter Hochspannungsisolator. Die Energie wurde in dem Wasserring nochmals verdichtet und konzentriert, bevor sie in den inneren, engsten Ring weitergeleitet wurde.
Dieser kleinste Ring war der Ring aus Stahl und Vakuum, in dem die Elektrizität sich im Inneren von mehreren doppelschaligen, konzentrischen Rohren auf das Zentrum zubewegte wie in den Speichen eines gigantischen Fahrrades. Die Elektrizität schoß als dünne Schicht aus purer Energie an den Innenwänden der inneren Röhren auf das Zentrum des Rings zu. Die Spannung war nun gewaltig - mehrere Millionen Volt -, so hoch, daß kein bekanntes Material sie hatte isolieren können. So hoch, daß sie in der Leere des Vakuums Elektronen schuf. Was die Elektrizität auf ihrer Bahn in der inneren Röhre hielt und sie daran hinderte, auf die äußere Röhre überzuspringen, war der gewaltige Druck ihres eigenen Magnetismus, der sich wie ein Kabel auf einer Spule um sie herumwand.
Diese Methode der magnetischen Isolierung ist ein Paradebeispiel dafür, wie sich sowjetischer Erfindergeist im wissenschaftlichen tortschritt der Vereinigten Staaten niederschlug. Die Ingenieure bei Sandia hatten das von den Sowjets entdeckte Konzept der magnetischen Isolation, das entwickelt wurde, um Energie zu bündeln und zu konzentrieren, auf geniale und aufwendige Weise umgesetzt. Der Gedanke hinter diesem Konzept war, die Energie so zu verdichten, daß sich ihr eigenes Kraftfeld wie ein Netz um sie legte und die Elektronen am Entkommen hinderte.
Diese technische Leistung hatte man vollbracht, damit die 20 Marx-Generatoren ihre Energie ins Innere des Rings schießen konnten, wo sie immer weiter verdichtet wurde, um am Ende im Zentrum des innersten Rings des Fusionsreaktors vereinigt zu werden. Dort trafen sich die fokussierten Energiebündel in einem einzigen Punkt wie Lichtstrahlen im Brennpunkt einer Lupe, vom äußeren Ölring kommend, über den Wasserring, bis in den luftleeren Ring im Inneren.
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Stellen Sie sich die Energie einer Tonne explodierenden Dynamits vor, erst auf einen Radius von 15 Metern verteilt, dann auf sechs, dann auf drei und schließlich auf ein nur wenige Millimeter großes Feld, bis sie am Ende in einer Implosion mit der Energiedichte einer Supernova ihre gespeicherte Energie auf einige Atome überträgt die, wenn alles gutgeht, superverdichtet und überhitzt werden, um in einem Sekundenbruchteil, im Moment der Kernschmelze, noch mehr Energie freizusetzen, als man zuvor auf sie abgefeuert hat.
Draußen, im Gang vor dem Labor, standen oder saßen wir herum und warteten gespannt ab. John Mack trat als letzter aus dem nun verdunkelten Eingang des Reaktorraums. Er griff sich eines der Mikrophone von der Wand und rief: »Die Abteilung ist geräumt!« Die Lichter erloschen, und an ihrer Stelle wurde Rotlicht eingeschaltet, wahrend die Tür zur Experimentalkammer verriegelt wurde. »20.000... 30.000 ... 40.000 ...«, verkündete eine Stimme, während die Gesamtspannung der Kondensatoren stieg. Alle warteten mit angehaltenem Atem, hielten sich die Ohren zu und suchten Halt an einer Wand. Ich folgte ihrem Beispiel. »50.000 Volt, laden ...fünf, vier, drei, zwei, eins, NULL!«
Ein gewaltiger Knall erschütterte das Gebäude, der Betonboden bebte. Durch die haarfeinen Ritzen der Tür zur Experimentalkammer drang einen Augenblick lang ein gleißendes blauweißes Licht. Einige Augenblicke später riß John Mack die Tür auf und stürmte mit entschlossener Miene beherzt in die Kammer. Er war immer der erste, der nach einem Stoß wieder hineinging.
Im Gang breitete sich eine Welle der Erleichterung aus. »Hörte sich gut an. Schön präzise«, sagte einer der Taucher. »Ja, nicht so ein müdes Grollen wie bei einem Fehlstoß«, bemerkte ein anderer. Ich schickte ein Dankgebet zum Himmel. Ich wünschte mir so sehr, daß dem Projekt Erfolg beschieden sei, auch wenn ich nicht persönlich daran beteiligt war. Die PBFA-Experimente waren Teil der wissenschaftlichen Bemühungen unseres Landes, die kontrollierte Kernfusion und damit die sicherste Form der Kernenergie nutzbar zu machen. Aber es war ein steiniger Weg.
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Nachdem John Mack signalisiert hatte, daß alles klar sei, strömten die Beteiligten zurück in die Kammer. Er kam, nach Ozon riechend, aus der Tür und lächelte, als ich ihm zuwinkte. Ich hatte ihn gebeten, zwei Artikel über den Mars durchzusehen und mir zu sagen, was er als Geologe davon hielt. Er setzte sich neben mich auf eine Bank und teilte mir seine Einschätzung mit: »Ich habe die beiden Artikel, die du mir gegeben hast, gelesen. Dein sogenanntes >Gesicht< befindet sich in einem Gebiet auf dem Mars, das Cydonia genannt wird.« (Es war das erste Mal, daß ich das Wort »Cydonia« hörte.) »Ich habe einen Marsatlas zu Hause, aus dem hervorgeht, daß es sich dabei um eine Region handelt, in der es sehr viele Plateaus gibt und in der das Hochland in flache Ebenen übergeht«, fuhr er fort. »Der Artikel über die Bodenproben des Viking-Landemoduls war wirklich interessant. Die Zusammensetzung des Bodens entspricht einem rötlichen Tonmineral namens Montmorillonit, wie es auch in Sedimenten des Atlantiks reichlich vorkommt.«
»Wirklich? Warum ist es rot?« fragte ich, und mir wurde plötzlich klar, daß ich die uralte Frage stellte: »Warum ist der Mars rot?« (Der Mars hat tatsächlich im Vergleich zu anderen Planeten aus der Feme betrachtet einen leicht rötlichen Farbton.)
»Es ist rot, weil es sehr viel oxidiertes Eisen enthält«, erklärte John Mack. »Eisen in seinem Urzustand ist schwarz. Es sieht dann aus wie schwarzes Lavagestein. Dann verwittert es zu Ton und wird rötlich, weil es in Verbindung mit dem Sauerstoff der Luft oxidiert. Deshalb ist die Wüste hier in der Umgebung von Albuquerque rot.«
»Du meinst also, die Marsatmosphäre könnte in der Vergangenheit Sauerstoff enthalten haben, so wie die Erdatmosphäre?« spekulierte ich.
John Mack sah mich an, als hätte ich ihm eine Fangfrage gestellt. Er war ein vorsichtiger Mensch und neigte nicht zu vorschnellen Schlußfolgerungen. »Es wäre möglich«, sagte er grinsend. In diesem Moment kam einer unserer Vorgesetzten auf ihn zu, um ein technisches Problem mit ihm zu erörtern, also klopfte ich ihm dankend auf die Schulter und ging davon. Aber während ich ging, dachte ich über seine Worte nach. Diese einfache neue Erkenntnis ließ mich die Oberfläche des Mars, auch die exponierten Schichten in der Valles-Marineris-Region, in einem ganz neuen Licht sehen. Der Boden dort ist aufgrund des darin enthaltenen oxidierten Eisens rot, dachte ich — und obwohl es wahrscheinlich nur Ozon war, das nach dem Experiment noch in der Luft hing, hatte ich das Gefühl, einen Hauch von Sauerstoff zu riechen.
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In Saint Louis bekam Christy Booker einen neuen Apparat, der ihr das Atmen erleichtern sollte, ohne sie ständig aufzuputschen. Die medizinische Forschung hatte Inhalatoren entwickelt, mit deren Hilfe Medikamente direkt in die Bronchien eines Asthmatikers gelangen konnten. Ein solches Gerät hatte Christy bekommen. Es war zwar nach heutigen Maßstäben primitiv, aber ein großer Fortschritt gegenüber dem Adrenalin, das ihr der Arzt verabreichen mußte, oder dem Theophyllin mit seinen quälenden Nebenwirkungen. Mit der Einführung von Inhalatoren verbesserte sich die Lebensqualität asthmakranker Kinder erheblich.
Eine mit einem Pulver gefüllte Gelatinekapsel wurde im Inneren des Geräts geöffnet, und beim Einatmen gelangte das Pulver so direkt in die Bronchien. Es schmeckte bitter, half aber in der Regel sehr schnell, und die Überstimulation, die infolge des Medikaments auftrat, hielt meist nicht länger als 20 Minuten an.
Während die Erfindung des Inhalators für Christy persönlich ein großer Fortschritt war, zeichnete sich weltweit ein alarmierender Trend ab. Die Zahl der Asthmaerkrankungen bei Kindern nahm stetig zu. Jahr für Jahr waren mehr Kinder betroffen. Die Notaufnahmen der Krankenhäuser füllten sich mit kleinen Patienten, die unter akuten Asthmaanfällen litten. Die Todesfälle häuften sich, besonders in städtischen Gebieten. Niemand wußte genau, warum, aber daß die Luftqualität etwas damit zu tun hatte, war für jeden vernünftig denkenden Menschen klar. Die Zunahme der Asthmaerkrankungen hat sich bis heute ungebrochen fortgesetzt.
Diese Zunahme der Asthmaerkrankungen bei Kindern ist eine der Tatsachen, denen wir ungern ins Auge sehen. Wir distanzieren uns davon, obwohl fast jeder irgendeinen Betroffenen kennt. Wir distanzieren uns, indem wir auf genetische Zusammenhänge hinweisen (die eine Rolle spielen können), indem wir Allergien die Schuld geben (die tatsächlich bei asthmatischen Kindern sehr häufig auftreten) oder indem wir ärmliche Lebensumstände, eine großstädtische Umgebung oder die afroamerikanische Herkunft für die Erkrankung verantwortlich machen (alle diese Argumente enthalten einen Funken Wahrheit).
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Das sollte uns aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß Stoffe in unserer Umwelt als Auslöser für Asthmaerkrankungen eine ganz wesentliche Rolle spielen. Die immer schlechter werdende Luftqualität ist und bleibt die Hauptursache des Problems. Vielleicht reagieren die betroffenen Kinder aus vielerlei Gründen ähnlich sensibel wie die Kanarienvögel der Bergarbeiter, aber sie teilen uns durch ihre Erkrankung in jedem Fall mit, daß sich etwas sehr Schädliches in der Luft befindet. Und ob wir es wollen oder nicht, wir müssen uns der Tatsache stellen, daß unsere Lungen dieselbe Luft atmen wie sie. Wenn wir uns in einem Bergwerksstollen befänden, würden wir unsere Kinder nehmen und mit ihnen die Flucht ergreifen. Aber wohin sollen wir fliehen? Über uns ist nur der Himmel, und wir atmen die einzige Luft, die uns zur Verfügung steht.
Wir hätten nicht aufgeregter sein können, wenn wir tatsächlich zum Mars geflogen wären. Ich traf Vince DiPietro in der Ankunftshalle des Flughafens von Denver, und wir bestiegen ein Mietauto. Es war nur ein Auto, aber wir fühlten uns, als würden wir nach Boulder in Colorado fliegen, wo die Marstagung stattfand, auf der wir unsere neuesten Erkenntnisse vortragen wollten. Ich hatte für diesen Vortrag die Ergebnisse unserer Arbeit zusammengefaßt, und die Veranstalter hatten der Präsentation unseres Materials nach sorgfältiger Prüfung zugestimmt. Obwohl ich nicht zum ersten Mal einen wissenschaftlichen Vortrag auf einer solchen Tagung hielt, war ich in diesem Fall besonders aufgeregt. Die Marsforschung an sich war für mich schon eine aufregende Sache, um so mehr, nachdem wir diese spektakulären Erkenntnisse gewonnen hatten und angesichts der Tatsache, daß mir die Konferenz Gelegenheit gab, Vince endlich persönlich kennenzulernen. Aber die Tagung in Boulder sollte mein ganzes Leben verändern.
Es war für mich eine besondere Herausforderung, die Arbeitsergebnisse unserer Unabhängigen Marsforschungsgruppe zu erläutern. In der Gruppe gab es zwei Betrachtungsweisen der Eigenarten Cydonias, die sich aber nicht unbedingt widersprachen.
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Die einen konzentrierten sich darauf, Übereinstimmungen zwischen den verschiedenen Objekten zu suchen und die Trage zu beantworten, ob diese nach Himmelskörpern ausgerichtet waren wie Stonehenge oder die Pyramiden. Ich vertrat die andere Richtung. Mich interessierte die frage, ob unter den früheren klimatischen Bedingungen des Mars intelligentes Leben möglich gewesen sein könnte. Gab es in der Vergangenheit des Mars jemals eine Periode - eine Zeitspanne von ausreichender Dauer -, in der die klimatischen Voraussetzungen für die Entwicklung intelligenten Lebens gegeben waren? Andere Mitglieder unserer Gruppe wollten auch die Möglichkeit nicht ausschließen, daß sich einmal Bewohner von außerhalb dort angesiedelt haben könnten. Wir mußten also einen Kompromiß finden und die Präsentation so gestalten, daß sie unsere Arbeit im allgemeinen, aber auch die Meinung jedes einzelnen repräsentierte.12
Die Tagung im Juli 1984 stand unter dem Motto »Case for Mars« (Plädoyer für den Mars). Sie war die zweite Konferenz ihrer Art, initiiert von einer Gruppe von Studenten und Beschäftigten der Raumfahrtindustrie, die sich »Marsuntergrund« nannte und für die Förderung bemannter Raumflüge zum Mars eintrat. Unter den Teilnehmern dieser Konferenz herrschte ein grundsätzlicher Konsens:
Der durch die Viking-Mission gewonnene enorme Erkenntnisfortschritt ließ den Schluß zu, daß der rote Planet alles besaß, was zur Erhaltung menschlichen Lebens notwendig war. Der Mars war keine grundsätzlich lebensfeindliche Umgebung für den Menschen. Mit etwas Geschick war es möglich, ihm das Notwendige zu entlocken: Luft, Wasser, Behausungen und Nahrung. Der Mars konnte das meiste davon bieten - vielleicht sogar alles -, aber die Menschen könnten seine Möglichkeiten nur nutzen, wenn sie die wahre Bedeutung der Erschließung dieses Planeten durch die bemannte Raumfahrt erkannten. Was die Viking-Mission sowohl mit ihren Orbitern als auch mit ihren Landemodulen an Informationen hatte liefern können, war ermutigend. Die nördliche Polarkappe schien mehrere Kilometer dick zu sein und fast vollständig aus Wassereis zu bestehen, genug Wasser, um die gesamte Planetenoberfläche mehrere Meter tief unter Wasser zu setzen. In Verbindung mit dem Kohlendioxid und dem Stickstoff aus der dünnen Atmosphäre konnte das Wasser genutzt werden,
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um in geeigneten Schutzräumen Pflanzen zu züchten. Auf dem Mars gab es offenbar die gleichen Mineralien wie auf der Erde. Daher schien es möglich, dort eine den Polarstationen auf der Erde vergleichbare menschliche Kolonie zu errichten, sofern man über eine geeignete Energiequelle verfügte. Es war ein kühnes und verlockendes Abenteuer.
Dieses futuristische Abenteuer in erreichbare Nähe zu rücken - mit diesem Ziel waren hier Wissenschaftler aller Gebiete, Ingenieure und Philosophen zusammengekommen, und wir befanden uns mitten unter ihnen. Man konnte unser Konzept von Cydonia als Teil der Gesamtanstrengungen betrachten, den Blick auf die Welt zu erweitern, aus der Pattsituation des Kalten Krieges auszubrechen, indem man gemeinsam ein bedeutenderes Ziel anstrebte. Cydonia war vielleicht das Argument, das den bemannten Raumflug zum Mars um Jahrzehnte beschleunigen konnte. Die Organisatoren der Konferenz hatten also guten Grund, der Präsentation unseres Materials zuzustimmen, auch wenn sie der Meinung waren, daß ein gewisses Risiko für sie damit verbunden sei.
Geschlossen marschierten wir in die Ausstellungshalle - bereit, für unsere Erkenntnisse einzutreten.13 Sie sollten neben anderen Arbeiten auf Schautafeln vorgestellt und erläutert werden. Das mag wie eine sehr bescheidene Art der Präsentation erscheinen, aber wenn man damit Aufsehen erregt und Menschen zu fruchtbaren Diskussionen animiert, gibt es keinen effektiveren und persönlicheren Weg, die eigenen Ideen publik zu machen.
Dank Vinces außergewöhnlichem Organisationstalent war unsere Schautafel als eine der ersten fertig, und es war eine optisch sehr gelungene Präsentation14. Sie zeigte neben ausführlichen Erläuterungen unserer Arbeit Bilder der Marsoberfläche, die auf die Existenz von Wasser, einen Urozean eingeschlossen, hindeuteten; außerdem Nahaufnahmen des »Gesichts« und eine Reihe von Vergrößerungen von Objekten wie der »Pyramide« und der »Festung«, wie wir die beiden ungewöhnlichen Objekte getauft hatten.
Rasch hatte sich eine Gruppe von Tagungsbesuchern um unseren Stand versammelt, unter ihnen zwei ranghohe Wissenschaftler. Der eine der beiden war ein etwas zerknittert aussehender Mensch mit langen braunen Haaren, der breit grinste, während er unsere Schau-
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tafel betrachtete, der andere war ein aristokratisch wirkender Herr mit wilder Silbermähne, der mich feindselig fixierte.
Auf meine Frage hin erfuhr ich, daß dieser Mann ein Beamter der NASA war, der als Hauptbefürworter des NASA-Raumstationsprojektes galt. Einschüchterung schien seine besondere Taktik zu sein. Da ich aber die Ehre hatte, der Hauptredner unserer Gruppe zu sein, und da mir offensichtlich allgemeines Interesse entgegengebracht wurde, fuhr ich ungerührt mit meinen Erklärungen fort, um diesem Menschen zu zeigen, daß wir uns nicht so leicht einschüchtern ließen.
Aber der NASA-Funktionär war nicht der einzige, der mir meine Aufgabe erschwerte. Der Redner am Nachbarstand schien sich darüber zu ärgern, daß unsere Präsentation größere Aufmerksamkeit erregte als sein Vortrag. Er redete so laut, daß ich den Eindruck hatte, er wolle mich übertönen, damit mich meine Zuhörer nicht mehr verstehen konnten. Nach meinem Vortrag fragte ich Vince: »Wer ist dieser reizbare Kerl?« Vince antwortete: »Ein Typ namens Malin, der eine superschicke Marskamera entworfen hat.« Damals wußte ich noch nicht, daß sich unsere Wege nicht nur kreuzen würden, sondern daß wir uns auf direktem Kollisionskurs befanden. 15)
Als wir im Anschluß an meinen Vortrag mit interessierten Zuhörern diskutierten, wurde uns bewußt, daß wir tatsächlich ein ungewöhnlich hohes Maß an Aufmerksamkeit genossen, denn die Leute opferten sogar ihre Mittagspause, um mehr über unsere Arbeit zu erfahren. Einer der Umstehenden, ein Wissenschaftler namens Steve Squyres, forderte mich zu einer Art Rededuell heraus. Er war jedoch keineswegs feindselig, sondern auf eine skeptische Art neugierig, was ich als sehr produktives wissenschaftliches Verhalten empfinde. Neugier ohne Skepsis ist unklug, aber Skepsis ohne ein Quentchen Neugier ist überheblich, und es entbehrt des wahren Geistes der Wissenschaft.
Steve Squyres sagte zu mir: »Carl Sagan und sein Kollege Fox haben auf den Aufnahmen von Mariner 9 bereits nach Spuren einer Zivilisation auf dem Mars gesucht und keine gefunden. Sie haben ihre Ergebnisse veröffentlicht.«16 Ich wurde hellhörig. Das hieß ja, daß andere ernstzunehmende Wissenschaftler auf dieselbe Idee gekommen waren wie wir. Die Suche nach einer untergegangenen Zivilisation auf dem Mars war demnach doch ein legitimes Anliegen. »Sie sollten sich einmal mit Carl unterhalten«, schlug mein Gegenüber vor.17
Ich rief also in Carl Sagans Büro in der Cornell University an, um mich nach dem Material zu erkundigen, das seine Suche nach einer Zivilisation auf dem Mars dokumentierte. Ich hatte die Absicht, auf der Basis unserer in Boulder präsentierten Arbeit einen wissenschaftlichen Beitrag für eine Zeitschrift zu schreiben, und ich hielt es aus wissenschaftlichen wie aus diplomatischen Erwägungen für geboten, dabei auf seine Forschungsergebnisse einzugehen. Zu meiner großen Überraschung meldete sich Carl Sagan persönlich am Telefon.
Er war ausgesprochen höflich und distinguiert und wollte wissen, warum ich so ein Aufsehen um Cydonia machte. Ich berichtete ihm von unseren Erkenntnissen und von den Objekten, die wie künstlich angelegte Gebilde aussahen. Dann fragte ich ihn, warum er sich die Mühe gemacht habe, die Bilder vom Mars nach Spuren einer Zivilisation abzusuchen, wenn er die Idee für so abwegig hielt. Er lachte und meinte, das JPL hätte ziemlich dumm dagestanden, wenn man später einmal solche Spuren finden würde und die Leute von der NASA sie übersehen hätten. Dann unterhielten wir uns über das Rätsel des früheren Marsklimas und die Schwierigkeiten der Altersbestimmung anhand von Verkraterungen. Ich empfand es als große Ehre, mit diesem renommierten Wissenschaftler diskutieren zu können, und er brachte viele wichtige Punkte in das Gespräch ein, die in unsere spätere Arbeit einflossen.
Kurz nach der Tagung in Boulder hielt der Astronom Hai Masursky, ein NASA-Mitarbeiter, der an den Vorbereitungen der Viking-Mission mitgewirkt hatte, einen Vortrag vor den Sandia-Beschäftigten. Ich war ihm ihn Boulder begegnet, und er erinnerte sich an mich und lud mich ein, mit ihm zu Mittag zu essen. Während des Mittagessens bemerkte er mit einem Lächeln: »Wir wußten nicht, was wir von Ihren Bildern halten sollten, aber Ihr Ozean hat uns wirklich gefallen.« Er schlug mir vor, die Theorie von der Existenz eines Urozeans auf dem Mars zu veröffentlichen, eine Empfehlung, der ich, ermutigt durch seine Unterstützung, bereitwillig folgte.18
In diesem Augenblick wurde mir klar, daß ich — in wissenschaftlichem Sinne — den Fuß auf einen anderen Planeten gesetzt und mich, unter den gegebenen Umständen mindestens ebenso bemerkenswert, vom Landeplatz entfernt hatte.
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