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7. Gesetze des Lebens

Brandenburg-1999

 

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Vor 16 Millionen Jahren schickte der Mars der Erde eine Liebesbotschaft. In Stein geschrieben und in das Sternenmeer des Alls geschleudert, dauerte es Jahrmillionen, bis sie von der Gravitation erfaßt wurde und glühend durch die Erdatmosphäre stürzte. Danach lag sie 13.000 Jahre lang ungelesen in der Einsamkeit des ewigen Eises.1) Doch als man ihren Code endlich entschlüsselt und ihre Inschrift gelesen hatte, lautete seine Botschaft, daß wir Menschen nicht allein seien. »Auch ich habe Leben.«

Es dauerte einige Jahre, bis feststand, daß der Meteorit EETA79001 vom Mars stammt. Daraus konnte gefolgert werden, daß alle Meteorite der SNC-Kategorie (Shergotty, Nakhia und Chassigny) ihren Ursprung auf dem Mars haben mußten. Eines der Merkmale dieser sehr jungen Gruppe von Meteoriten war das Muster der Sauerstoffisotope, das bei allen übereinstimmte.

Würde man sie in ein Diagramm eintragen, so lägen sie alle auf derselben Linie, die man als Fraktionierungslinie bezeichnet: Jeder Meteorit, der aufgrund seiner chemischen Eigenschaften dieser Linie zuzuordnen ist, muß als vom Mars stammend angesehen werden. Erdgestein läßt sich anhand seiner Sauerstoffisotope auch auf einer solchen Fraktionierungslinie anordnen, die aber erheblich von der des Marsgesteins abweicht. Wir können also Steine von der Erde und vom Mars sowohl chemisch, anhand der Sauerstoffisotope, als auch optisch, anhand ihrer Position in einem Diagramm, klar unterscheiden.

Für die Marsforscher war vor allem die Tatsache, daß sich die SNC-Meteorite als so jung erwiesen, ein interessantes Problem, das sie als das »Altersparadoxon« bezeichnen. Der Mars war ein Planet mit einer Oberfläche, die nach der lunaren Theorie vier Milliarden Jahre oder älter sein mußte.

Das Alter der SNC-Meteoriten wurde jedoch auf eine Milliarde Jahre oder jünger datiert. Legte man die berechtigte Annahme zugrunde, daß die SNC-Meteorite von verschiedenen Stellen der Marsoberfläche stammten und von verschiedenen Einschlägen ins All katapultiert worden waren, so mußte man erwarten, daß ihr Alter ebenfalls variierte. Warum schickte uns der Mars also nur geologisch junge Gesteinsbrocken? Etwas fehlte. Wo war das alte Marsgestein?

Die Marsmeteorite boten auch in anderer Hinsicht Anlaß zum Grübeln. Sie sagten etwas aus, von dem wir uns im allgemeinen zu distanzieren versuchten, etwas, das die wissenschaftliche Welt nur ungern wahrhaben wollte: Auf dem Mars gab es organische Materie.

Die Viking-Mission hatte ja angeblich zu dem Ergebnis geführt, daß es auf dem Mars keinerlei organische Materie gäbe.2 Aber in den Kalksteinablagerungen, die im Inneren von EETA79001 eingeschlossen waren, fand sich erdrückendes Beweismaterial: organische Moleküle. In diesem Gesteinsbrocken, der den weiten Weg bis zur Erde zurückgelegt hatte, befanden sich neben Karbonaten nachweisbare Mengen organischen Materials, was die Vermutung nahelegte, daß der Mars, wie die Erde, die Heimat von Lebensformen gewesen sein könnte, die Kohlendioxid absorbierten und es im Sedimentgestein ablagerten.3 Das war eine aufsehenerregende Entdeckung! Leider brachte sie auch eine Reihe von Problemen mit sich, weshalb niemand zum Telefon griff und die Medien alarmierte.

Zunächst einmal warf der Befund eine wichtige wissenschaftliche Frage auf. Die Spuren von Leben waren im jüngsten der Marsmeteoriten entdeckt worden — EETA79001, heute der Stein von Rosette unter den Marsmeteoriten. EETA79001 ist nur 160-175 Millionen Jahre alt und stammt somit aus einer Zeit, in der auf der Erde die Dinosaurier herrschten. Diese Entdeckung bedeutete, daß es — falls man hier tatsächlich Spuren von Leben gefunden hatte — auf dem Mars nicht nur irgendwann einmal Leben gegeben haben mußte, sondern daß es nach geologischen Maßstäben nicht besonders lange her gewesen sein konnte.

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Im Gegenteil, die Spuren, die man gefunden hatte, deuteten darauf hin, daß es bis (fast) zum heutigen Tag Leben auf dem Mars gegeben haben muß, wenn nicht sogar, nun ... Wir fangen an, das Problem zu begreifen.

Interessanterweise hatte man schon lange vor der Entdeckung von EETA79001 organisches Material in Meteoriten gefunden. Manche enthielten eine Unmenge davon. Diese Meteorite, die damals noch unbekannter Herkunft waren, wurden als kohlige Chondriten bezeichnet. Es gibt verschiedene Arten davon, die man, wie die Marsmeteorite, anhand der in ihnen enthaltenen Sauerstoffisotope unterscheidet. Diejenigen mit dem höchsten Gehalt an organischer Materie nennt man CI oder C-l. Sie sind sehr selten. Die am häufigsten vorkommende Variante nennt man C-2 oder CM, und auch in ihnen wimmelt es von organischer Materie.

Die Entdeckung organischer Stoffe in Meteoriten, die 4,5 Milliarden Jahre alt waren, kam nicht ganz unerwartet. Wir vermuten, daß das Leben auf der Erde entweder durch chemische Prozesse »vor Ort« entstanden oder aus dem All auf unseren Planeten heruntergeregnet ist. Wohin die Astronomen auch blickten, überall fanden sie im All organische Materie in Form riesiger interstellarer Wolken. Konnten sich solche Wolken während der Entstehung unseres Sonnensystems nicht zu Meteoriten verdichtet haben? Eine solche Spekulation führte wieder einmal zu der bangen Frage: Sind die Menschen die Herrscher des Universums oder bloß ein Staubkorn in einem Kosmos voller Leben?

Noch beunruhigender war die Tatsache, daß die Meteorite nicht nur organische Materie enthielten, sondern direkte Hinweise darauf, daß etwas in ihrem Inneren gelebt hatte. Man fand in den CI-Meteoriten Mikrofossilien in rauhen Mengen. Es gab keine Zweifel. Selbst Robert Koch hätte dies erkennen können, hätte er sie unter seinem Mikroskop betrachtet. Es sah aus, als hätten Bakterienkolonien das Innere der Meteorite bevölkert, die bei ihrem Tod ihre sterblichen Überreste der Wissenschaft zur Verfügung gestellt hatten.

Die Mikrofossilien in den CI-Meteoriten waren in den sechziger Jahren von Bartholomew Nagy, einem Gentleman und Wissen­schaftler mit Leib und Seele, entdeckt worden.4 Er hatte seine Ergebnisse in aller Bescheidenheit veröffentlicht und geriet in die Schußlinie seiner empörten Kollegen, die zu beweisen versuchten, daß es sich bei seiner Entdeckung um Verunreinigungen irdischer Herkunft handelte.

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Die Schar seiner Gegner versäumte keine Zeit und bezichtigte ihn mit erstaunlicher Vehemenz, irdische Bakterien gefunden und ihnen eine kosmische Herkunft angedichtet zu haben. (Das ist auch heute noch Gegenstand von Diskussionen, obwohl sich mittlerweile die Hinweise auf biologische Aktivität in Meteoriten häufen.) Er wehrte sich standhaft gegen solche Vorwürfe und verteidigte seine Funde hartnäckig, obwohl er von Natur aus ein zurückhaltender Mensch war. Aber nach der anfänglichen Aufregung, die die Bekanntgabe seiner Entdeckung ausgelöst hatte, verloren die Medien und die wissenschaftliche Welt das Interesse an der Angelegenheit.

Die Wissenschaft ist Auseinandersetzungen schnell leid. Kontroversen führen zu Feindseligkeiten, und diese trüben den Verstand. Ein getrübter Verstand kann nicht wissenschaftlich denken, und nach einigen Jahren des heftigen Streits wenden sich alle etwas anderem zu. Nagy hatte in gewisser Weise Glück. Giordano Bruno war auf dem Scheiterhaufen der Inquisition gestorben, weil er die Möglichkeit anderer bewohnter Welten außer der Erde in Betracht gezogen hatte. Nagy veröffentlichte 1975 ein abschließendes Buch mit dem Titel Carbonaceous Meteorites über seine Funde und forschte fürderhin nur noch in altem Erdgestein nach Mikrofossilien, womit er niemandem auf die Füße trat. Der Rest seines Lebens verlief daher relativ friedlich, und seine Arbeit über die CI-Meteorite hat die damals entstehende Exobiologie maßgeblich beeinflußt.

 

Das »Altersparadoxon« des Mars faszinierte mich. Ich wußte, daß der Widerspruch zwischen dem Alter der Marsoberfläche und dem Alter der Marsmeteoriten auf eine einzige Zahl reduziert werden konnte. Diese Zahl war der entscheidende Parameter in der geologischen Geschichte des Planeten: die Geschwindigkeit, mit der Krater auf dem Mars entstanden. Wenn sich auf dem Mars neue Krater relativ schnell bildeten, dann war seine Oberfläche wie die von ihr stammenden Meteoriten jung, was die Theorie, derzufolge die SNC-Meteorite tatsächlich vom Mars stammten, stützen würde.

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Aber selbst wenn die Verkraterungsrate hoch war, sah das südliche Hochland des Mars doch immer noch genauso alt aus wie die 4,5 Milliarden Jahre alten Ebenen des Mondes. Es mußte also, ungeachtet der Tatsache, daß es durchaus Marsgestein geben konnte, das jünger war als das Mondgestein, logischerweise auch altes Marsgestein existieren. Aber wo war es?

Im Rahmen einer wissenschaftlichen Tagung stellte ich meine Hypothese vor, die davon ausging, daß die Verkraterungs­rate des Mars um das Vierfache höher sei als die des Mondes.5 Ich hatte Bedenken, daß die Tagungsteilnehmer ablehnend auf meine Hypothese reagieren würden, aber sie nahmen die Idee überraschend positiv auf. Allen war klar, daß mit der Annahme einer viermal höheren Verkraterungsrate das Altersparadoxon aufgehoben war.6 Natürlich, räumte ich ein, würde meine These erst endgültig zu bestätigen sein, wenn man tatsächlich altes Marsgestein fände. Zu diesem Zeitpunkt wußte ich noch nicht, daß man schon längst einen 4,5 Milliarden Jahre alten Marsmeteoriten gefunden hatte.

Während der Tagung hatte ich Gelegenheit, mit den Wissenschaftlern zu reden, die den Meteoriten ETA79001 untersucht und darin organische Materie gefunden hatten. Auf meine frage, warum sie ihrer Ansicht nach nur geringe Mengen entdeckt hatten, erhielt ich eine erstaunliche Antwort. Sie hatten »Angst gehabt«, mehr zu finden. Die Reaktionen auf ihren Fund waren so feindselig gewesen, daß sie einfach aufgehört hatten zu suchen. Wer nach Spuren außerirdischen Lebens sucht, fordert Ärger heraus, und davor waren sie zurückgescheut. Ihre Haltung empörte mich, und ich hielt mit dieser Meinung nicht hinterm Berg.

Auf dem Heimflug kochte ich vor Wut. Das passiert in der wissenschaftlichen Welt immer wieder: Forschungsergebnisse, die zu großartigen Entdeckungen führen könnten, werden aus Angst und Vorsicht nicht veröffentlicht, damit sie ja nicht zum Gegenstand der Kritik, werden oder sich am Ende als falsch erweisen und ihre Entdecker zum Gespött der Kollegen machen. Wolfgang Pauli, einer der bedeutendsten theoretischen Physiker unseres Jahrhunderts, stand in dem Ruf, jungen Physikern von der Veröffentlichung ihrer Arbeiten abzuraten, mit dem Ergebnis, daß kurze Zeit später dieselben Erkenntnisse von anderen publiziert wurden.

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Uhlenbeck veröffentlichte seine Entdeckung des Elektronenspins, nachdem Pauli den eigentlichen Entdecker, einen jungen Physiker namens Ralph Kronig, so eingeschüchtert hatte, daß dieser von einer Publikation Abstand nahm.7 Dasselbe passierte Stueckelberg, der das Meson entdeckte. Aber veröffentlicht wurde die Entdeckung von Yukawa.8 Die einen handelten so, weil sie Angst hatten, sich vor Pauli zu blamieren, wenn sich ihre Forschungsergebnisse als Irrtum erwiesen, andere sahen in Pauli einfach einen ungehobelten Klotz, der zufällig ein Genie war. Den Hinweisen auf die Existenz von Leben auf dem Mars gingen die Entdecker jedenfalls auch nicht nach, weil sie negative berufliche Konsequenzen fürchteten, und das ärgerte mich gewaltig. Die Entdeckung war einfach zu wichtig, und ich war entschlossen, diese »Helden der Wissenschaft« in die Öffentlichkeit zu zwingen. Abgesehen davon hatte ich meine eigene Hypothese zu verteidigen und war deshalb noch immer auf der Suche nach altem Marsgestein.

Ich hatte von Nagys Arbeit über die CI-Meteorite gelesen und beschloß, ihre Eigenschaften genauer unter die Lupe zu nehmen und zu sehen, ob sie vom Mars stammen könnten. Es bestand immerhin die Möglichkeit, denn es waren schon Meteorite über Jahre hinweg falsch klassifiziert worden. Nach Hause zurückgekehrt, las ich also alles, was mir zum Thema Marsmeteorite und ihre Merkmale in die Hände fiel. Ich fand heraus, daß das Vorhandensein von Sauerstoffisotopen das entscheidende Kriterium war. Wenn die im Gestein enthaltenen Sauerstoffisotope etwas, aber nicht viel schwerer waren als die irdischen, wurde der Meteorit als Marsgestein klassifiziert. Es gab noch eine Vielzahl anderer Tests, aber dieser war der wichtigste von allen - er war für die Zuordnung entscheidend.

Ich durchforstete die einschlägige Literatur in der Universitätsbibliothek. Eines der neueren Werke enthielt ein Diagramm, in dem die Meteorite nach dem für sie charakteristischen Gehalt an bestimmten Sauerstoffisotopen unterschiedlichen Punkten in einem Koordinatensystem zugeordnet waren. Das Erdgestein war auf einer Geraden - einer Fraktionierungslinie - angeordnet, das Marsgestein auf einer ebenfalls geraden Linie, die parallel dazu verlief. Es waren außerdem noch einige andere Meteoritentypen in dieser Grafik aufgeführt, aber wo waren die CI-Meteorite? Ich wußte, daß das Muster der Sauerstoffisotope der entscheidende Punkt war.

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Ich zitterte fast vor Aufregung, während ich die Grafik eingehend prüfte. Wenn die CI-Meteorite vom Mars stammten, konnte die Frage, ob es auf dem Mars in irgendeiner frühgeschichtlichen Phase Leben gegeben hatte, innerhalb eines Tages geklärt werden. Falls es sich bei ihnen um Marsgestein handelte, mußten sie in der Grafik auf der Marslinie auftauchen, aber ich konnte die Cl-Meteoriten dort nicht finden. Ich blätterte weiter. Auf der nächsten Seite gab es ein größeres Diagramm, und hier fand ich endlich die CI-Meteorite. Mein Herz schlug bis zum Hals, als ich feststellte, daß sie auf einer Geraden knapp oberhalb der Fraktionierungslinie des Erdgesteins angeordnet waren! Sie befanden sich auf der Marslinie! Eureka, frohlockte ich! Ich hatte es gefunden: Die CI-Meteorite stammten vom Mars! Sie waren 4,5 Milliarden Jahre alt und voller Mikrofossilien! Sie bestanden außerdem aus dehydriertem Ton, als stammten sie vom Grund eines alten, ausgetrockneten Sees.

Es hatte wirklich Leben auf dem Mars gegeben, und ich hatte den Beweis gefunden. Ich rannte zwar nicht gerade wie Archimedes nackt durch die Stadt, aber ich war vermutlich nicht weniger glücklich als er damals. Nur hatte ich eben eine andere, weniger auffällige Art, es auszudrücken.

Bei vielen wissenschaftlichen Entdeckungen führt die Beschäftigung mit einer bestimmten Sache auf die Spur eines anderen interessanten Phänomens. Während ich die Verkraterungsrate des Mars untersuchte, stellte ich etwas Ungewöhnliches fest. Ich bemerkte, daß sich die wasserbedingte Erosion auf dem Mars zwischen der späten Hesperianischen Periode vor schätzungsweise einer Milliarde Jahren und der frühen Amazonischen Periode vor etwa 300 Millionen Jahren um den Faktor 30 verringert hatte. Marsepochen sind nach wichtigen Regionen der betreffenden Zeit benannt. Hesperia ist eine ausgedehnte, von zahlreichen ausgetrockneten Wasserläufen durchzogene Ebene im Süden des Mars. Die Eiswüste der Amazonien-Ebene erstreckt sich von Elysium bis zum Olympus Mons. Sie ist sehr flach und fast frei von alten Wasserläufen. Was war in der Zeit des Übergangs von der Hesperianischen zur Amazonischen Periode geschehen? Warum war Hesperia von Wasserläufen gezeichnet und die Landschaft der Amazonien-Ebene nicht?

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Wir sollten es bald herausfinden. Ein riesiger Krater war in der frühen Amazonischen Periode au/dem Mars entstanden, und dieser Krater ist nicht nur der letzte große Krater überhaupt, sondern zugleich der größte, der sich seit der Zeit der schweren Meteoriteneinschläge auf dem Mars gebildet hatte. Dieser Krater tragt den aus dem Französischen entlehnten Namen Lyot. Er hat einen Durchmesser von 200 Kilometern und liegt 500 Kilometer südlich von Cy-donia.9 Man stelle sich vor, der Mars hatte den größten Teil seiner Geschichte ohne größere Einschläge überstanden, seine turbulente Zeit war lange vorbei, und plötzlich: RRRUMMS. Der Einschlag war ebenso gewaltig wie der Einschlag von Chicxulub auf der Halbinsel Yucatan, der, wie allgemein angenommen wird, der Ära der Dinosaurier auf der Erde ein Ende bereitete.

 

Man fragt sich, wie der Lebenszyklus von Marsmikroben wohl ausgesehen haben könnte. Fristeten sie ihr Dasein in einer Art Winterschlaf und warteten geduldig auf die wenigen Tage mit Temperaturen über dem Gefrierpunkt, um in dieser Zeit in hektisches mikrobisches Treiben zu verfallen? Oder verarbeiteten sie in einer Art Zeitlupen-Photosynthese das wenige Sonnenlicht, das sie erreichte?

Gil Levin, den wir bereits als den Erfinder eines der Viking-Experimente, das Spuren von Leben nachgewiesen hatte, kennengelernt haben, gehört weltweit zu den führenden Vertretern der Exobiologie (einer interdisziplinären Wissenschaft, die Astronomie und Biologie miteinander verbindet). Er hat sich diesen Ruf im Laufe der 20 Jahre redlich verdient, in denen er hartnäckig gegen die Anfeindungen seiner Gegner und das Leugnen der positiven, auf biologische Aktivitäten hindeutenden Resultate seines Experiments angekämpft hatte.10 Levin ist es tatsächlich gelungen, alle ernstzunehmenden Zweifel an seinen Befunden zu entkräften. Und er hat in diesem Zusammenhang begonnen, die biologischen Prozesse auf dem Mars methodisch, präzise und wissenschaftlich zuverlässig zu erklären. Seine umfangreiche Arbeit auf diesem Gebiet, welche die Annahme biologischer Aktivität auf dem Mars unterstützt, ist Gegenstand des Buches Mars, The Living Planet.11)  

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Gil Levin erzählt den Leuten, wohin er auch kommt, daß sein Test zumindest eine mimmale biologische Aktivität auf dem Mars bewiesen habe. Und obwohl so manch einer alles daran gesetzt hat, ihn zu widerlegen, hat dies bis zum heutigen Tag niemand geschafft. Wenn der Nachweis gelang, daß die Marsmeteoriten Mikrofossilien enthielten, konnte das die Glaubwürdigkeit seiner These nur stützen.

Auf der Erde leben Mikroben normalerweise symbiotisch; Mikroben und andere Lebensformen bilden also »Lebens­gemeinschaften«, die auf gegenseitiger Abhängigkeit und wechselseitigem Nutzen basieren. Die wechselseitige Abhängigkeit der Spezies kann einfache oder komplexe Strukturen haben und für beide Seiten von Nutzen sein. Es kann aber auch nur eine Seite auf Kosten der anderen vom Zusammenleben profitieren.

 

Es gibt vier fundamentale Formen der Symbiose. Die ersten beiden, Kommensalismus und Amensalismus, sind Beziehungen, in denen die verschiedenen Arten in nächster Nachbarschaft miteinander leben; sie essen sozusagen vom »selben Tisch«. Beim Kommensalismus bleibt einer der beiden Teile unberührt von der Symbiose, während der andere davon profitiert. Beim Amensalismus leidet ein Teil unter dem Zusammenleben, wohingegen der andere unberührt bleibt.

In den beiden anderen Formen der Symbiose, Mutualismus und Parasitismus, ist einer der beiden Teile voll­kommen abhängig vom anderen - dem Wirt -, der ihm Nahrung und Lebensraum liefert und andere Lebens­funktionen für ihn übernimmt. Beim Mutualismus profitieren beide Seiten von der Wechsel­beziehung. Beim Parasitismus profitiert der Parasit, während dem Wirt Schaden zugefügt wird.12

Die Symbiose ist zumindest eine brauchbare Metapher für die Beziehung der Menschen zur Erde. Die Symbiose ist zwar ein rein biologisches Konzept, aber es fällt uns nicht schwer, uns die Erde und ihre Biosphäre als einen einzelnen, lebenden Organismus vorzustellen. Wir Menschen sind keine Mikroben, aber wir sind insofern Symbioten, als unser Überleben vollkommen von der Erde und ihrer Biosphäre abhängt. Damit wir überleben können, muß unser Wirt uns mit Lebensraum, Nahrung, Wasser, Obdach, Wärme und den Gasen, die wir zum Atmen benötigen, versorgen.

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Wir unterhalten also eine symbiotische Beziehung zur Erde und sind in dieser Beziehung eindeutig die abhängigen Partner. Nun gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder gestalten wir die Wechselbeziehung mutualistisch, so daß sowohl die Erde als auch wir selbst von ihr profitieren; oder wir verhalten uns parasitär und führen unser Leben auf Kosten der Erde.

Sehen wir uns die Sache einmal an ... Wenn man die Erde von einem anderen Planeten aus betrachten würde, zum Beispiel vom Mars, und man sollte die Beziehung der Menschen zu ihrem Wirt beurteilen, wie würde dieses Urteil wohl ausfallen? Profitiert die Erde von ihrer Beziehung zu den Menschen ebenso wie diese von ihr? Wenn ja, auf welche Weise profitiert sie davon? Oder läuft unser Leben auf lange Sicht lediglich auf eine Ausbeutung der irdischen Biosphäre hinaus? Zu welchem Schluß kommt man, wenn man die Auswirkungen des menschlichen Treibens auf die Luft untersucht? Oder auf das Wasser? Auf die Tierwelt? Auf Pflanzen?

In einer parasitären Beziehung beraubt der Parasit seinen Wirt der Lebensgrundlage und tötet ihn damit in letzter Konsequenz. Die Parasiten müssen einen neuen Wirt finden und ihn besiedeln, bevor der alte stirbt, denn sonst sterben sie selbst; falls es sich um eine Einzelpopulation handelt, sogar ihre ganze Spezies.

Peter Price, der Autor von Evolutionary Biology of Parasites, weist darauf hin, daß wir in eine evolutionäre Sackgasse geraten, wenn wir fortfahren, in einer parasitären Wechselbeziehung zur Erde zu leben. »Parasitäre Lebensformen sind der sichere Beweis, daß die Evolution zwangsläufig immer einmal wieder in eine Sackgasse führt.«13 Die Entscheidung für eine solche parasitäre Lebensweise könnte letzten Endes der gesamten Entwicklung der Menschheit ein Ende setzen und zu ihrem Aussterben führen. Von der Evolution der Parasiten nimmt man im allgemeinen an, daß sie langsam vonstatten geht und daß die parasitäre Spezies das Ende einer Stammesgeschichte repräsentiert." Wir Menschen dagegen entwickeln uns rasant zu geradezu beispielhaften Parasiten, was bedeutet, daß wir entweder schleunigst den Mars kolonialisieren oder unsere Strategie ändern müssen, da wir sonst in ebenso rasantem Tempo dem Ende entgegensteuern.

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Diese Beobachtung wirft einige interessante Fragen auf. Haben wir schon immer so parasitär wie heute gelebt? Ist der Parasitismus gar ein charakteristisches Merkmal unserer Spezies? Betreiben wir diese Form der Symbiose nur »versuchsweise« und haben erst jetzt festgestellt, daß sie zum Scheitern verurteilt ist? Haben wir die Wahl, Mutualisten zu werden? Wissen wir überhaupt, was es heißen würde, für die Erde von Nutzen zu sein? Schon der Gedanke erscheint uns fremd. Können wir von einer symbiotischen Strategie zu einer anderen wechseln? Können wir unsere Gewohnheiten ändern, bevor wir unseren Lebensraum auf der Erde zerstören? Können wir sie ändern, bevor wir uns selbst auslöschen?

Der Menschheit steht kein alternativer Wirt zur Verfügung. Ist es möglich, daß unsere intensiven Bemühungen, den Weltraum zu erforschen, dem genetisch verankerten Impuls entspringen, einen neuen Wirt zu finden und zu besiedeln, bevor der alte stirbt? Wir müssen unsere unbewußten Strategien betrachten und einen Langzeitplan auf der Grundlage bewußter Entscheidungen entwerfen. Denn sofern wir uns nicht vom Parasitismus abwenden, sind wir dem Untergang geweiht.

Selbst der Mars könnte uns nicht mit den Dingen versorgen, die wir zum Erhalt unserer Spezies benötigen — jedenfalls nicht innerhalb der nächsten zigtausend Jahre — und so, wie wir der Erde immer nachhaltigere Schäden zufügen, werden wir es vermutlich nicht einmal bis zum Ende des 21. Jahrhunderts schaffen.

Wir können nur überleben, wenn wir unsere Beziehung zur Erde grundlegend ändern. Wir müssen unsere Überlebensstrategien von Grund auf neu gestalten. Am schwersten wird uns das bei den Dingen fallen, an denen wir besonderen Gefallen gefunden haben, die wir als »moderne Lösungen« betrachten oder die sich unserer bewußten Wahrnehmung entziehen. Es erfordert zweifellos enorme Kreativität und Erfindungsgabe, eine mutualistische Zukunft für die Menschheit zu entwerfen. Eine solche Zukunft muß fast neu erfunden werden, denn zur Zeit können selbst unsere »effektivsten« Lösungen kaum verhindern, daß wir unseren Planeten immer schneller in die Katastrophe treiben.

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Die Weltraumforschung könnte uns eine Chance bieten. Aus der Ferne, wie es in einem von Bette Midlers Liedern heißt, erkennt man die Schönheit und die Zerbrechlichkeit der Natur viel besser. Aus der Ferne erkennt man die Erde als das einzige lebende Mitglied einer Familie toter Planeten, als einen leuchtenden Punkt in einem gewaltigen schwarzen Ozean. Sie besitzt eine einzige Biosphäre, einen zusammenhängenden Ozean und einen Himmel, unter dem wir alle leben. Diese Betrachtungsweise könnte die Menschheit retten. Sowohl das Ozonloch als auch die Zerstörung des Regenwaldes im Amazonasgebiet wurden aus dem All erkannt.

Von »dort draußen« sehen wir die Erde als eine Oase inmitten der vielen Planeten, die nicht in der Lage sind, uns mit dem Lebensnotwendigen zu versorgen. Wir bewohnen einen lebendigen, atmenden Himmelskörper in einem gewaltigen Ödland; eine planetare Arche in einem kalten, abweisenden Ozean. Die Umweltbewegung entstand angeblich, nachdem die Menschen die wunderschönen Aufnahmen von der über dem Mondhorizont aufgehenden Erde gesehen hatten, die während der Apollo-Mission entstanden. Nur vom Weltall aus kann man sehen, wie begrenzt die Erde ist, wie klein und zerbrechlich. Von einem Aussichtspunkt im All können wir viel besser verstehen, wie bedrohlich unsere Lage ist. Der Mars ist uns ein warnendes Beispiel im planetaren Maßstab, daß es im Kosmos weder »Netz noch doppelten Boden« gibt; daß die schlimmste Katastrophe, die wir uns vorstellen können, nämlich der Tod ganzer Welten, eintreten kann und schon eingetreten ist. Heute, da wir über dieses Wissen verfügen, müssen wir verantwortlich handeln und uns angemessen verhalten. Die Schädigung der Erde geht längst über örtliche Umweltprobleme wie verschmutzte Flüsse und Smog in den Großstädten hinaus. Wir sind an einem Punkt angelangt, an dem wir uns eingestehen müssen, daß die Folgen globale Ausmaße annehmen.

Wäre die Erde ein Organismus, den wir an einen Überwachungsmonitor angeschlossen hätten, so würden wir feststellen, daß ihre Lebensfunktionen erlöschen. Alle Lebenszeichen — Artenvielfalt, die Qualität des ozeanischen Lebensraums, das Weltklima, das Gleichgewicht der atmosphärischen Gase — werden schwächer.

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Nicht nur nimmt der Kohlendioxidgehalt der Luft jährlich um 1,5 Teile pro Million zu, der Sauerstoffgehalt nimmt im selben Zeitraum auch um fast 3,8 Teile ab.15 Aber nicht alle biologischen Schäden erkennt man aus dem Weltraum. Manchen stehen wir hier auf der Erde Auge in Auge gegenüber.

 

»Er stand wie versteinert da und schlug die Hände vors Gesicht. Er rief laut den Himmel an, diesen Alptraum zu beenden oder ihm begreiflich zu machen, was geschah. Das Ufer der Insel war übersät mit verstümmelten Fröschen.«

Perelandra-Trilogie, C. S. Lewis

 

Amphibien leben da, wo Luft und Wasser aufeinandertreffen, und die Haut mancher Arten ist so porös, daß sie den größten Teil der Atmung übernimmt. Amphibien beginnen ihren Lebenszyklus als Eier, die nahe an der Wasseroberfläche treiben und somit allen Stoffen ausgesetzt sind, die sich im Wasser oder in der Luft befinden. Darum sind sie besonders gefährdet durch die vom Menschen erzeugten Umweltgifte, vor allem durch die Pestizide. Ihr Bestand geht stark zurück, und in letzter Zeit sind — wie in einem billigen Science-fiction-Film — in den Vereinigten Staaten in weiten Teilen des Mittleren Westens mutierte Frösche aufgetaucht.16 Da es sich bei den Fundorten um ländliche Gebiete handelt, kann man davon ausgehen, daß die Mutationen durch ein Pestizid oder durch erhöhte UV-B-Strahlung als Folge des Ozonlochs ausgelöst wurden, vielleicht aber auch durch ein fatales Zusammenspiel beider Faktoren. Die Deformationen, zusätzliche Beine oder Augen, die uns blind anstarren, sind bisher noch nie beobachtet worden, und sie verkünden uns unüberhörbar, daß etwas faul ist in der Natur.

Natürlich wird es Wissenschaftler geben, die behaupten, die Ursache sei eine bisher unbekannte Pilzinfektion und das Problem werde sich, wenn wir es nur ignorieren, von selbst in Wohlgefallen auflösen. Die das behaupten, gehören zu den pathologischen Skeptikern, aber in diesem Fall kann die Skepsis tödliche Folgen haben. Die Überzeugung, daß Skepsis keine Risiken berge, ist der Trugschluß einer in den USA als »Brownlash« bezeichneten organisierten Bewegung, die sich alle Mühe gibt, die negativen Folgen der globalen Veränderungen herunterzuspielen.17

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Jede Haltung, ob sie nun aktives Handeln oder Untätigkeit propagiert, birgt in Wirklichkeit ein Risiko, und dieses Risiko läßt sich nicht abschätzen, da man gezwungen ist, Entscheidungen zu treffen, ohne über genügend Informationen zu verfügen.

Es ist keine Zeit mehr, nach Sicherheiten zu rufen, sondern wir müssen jetzt die Risiken abwägen — wir müssen die Wahrscheinlichkeit einer menschlichen Mitschuld an der weltweiten Klimaveränderung in Erwägung ziehen und mit dem Schaden multiplizieren, den wir verursachen, wenn wir unser Verhalten nicht ändern. Da der potentielle Schaden furchtbar ist, sollte uns selbst eine geringe Wahrscheinlichkeit bewegen, bestimmten Dingen ein Ende zu setzen. Es gibt Wissenschaftler, die hartnäckig behaupten, Phänomene wie verkrüppelte Frösche, Ozonlöcher und sogar die weltweiten Klimaveränderungen durch Treibhausgase in der Atmosphäre seien Produkte unserer lebhaften Fantasie oder falsch interpretierte natürliche Prozesse. Wie sicher können sie sich dessen sein? Sollten wir angesichts der drohenden Konsequenzen nicht lieber das Risiko eines Irrtums in Kauf nehmen und auf Nummer Sicher gehen? Wäre es, nachdem wir einen möglichen Zusammenhang zwischen diesen Phänomenen und gewissen menschlichen Aktivitäten festgestellt haben, nicht ratsamer, diese Aktivitäten drastisch einzuschränken?

Wenn wir vorsichtig — selbst übervorsichtig — wären, würde uns kein großer Schaden drohen, lediglich der wirtschaftliche Fortschritt würde gebremst werden. Aber wenn wir nicht im Sinne einer Lebenserhaltung auf der Erde handeln, könnten uns wirtschaftliche Verluste entstehen, die die gesamte Weltwirtschaft in die Knie zwingen. Der britische Umweltminister Michael Meacher fordert, daß »die Menschen endlich erkennen, welchen Preis sie für die zerstörerischen Klimaveränderungen zahlen«. Er weist darauf hin, daß die Kosten, die durch das Ansteigen des Meeresspiegels, durch Orkane, Überschwemmungen und Hitzewellen auf uns zukommen werden, die »Kosten für präventive Maßnahmen bei weitem in den Schatten stellen«.18)  

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Die Frage, wie man Probleme wie die Klimaveränderung bekämpfen kann, ohne gerade die Armen ökonom­isch allzu sehr zu belasten, ist berechtigt, denn wirtschaftliche Not ist für die Betroffenen so tödlich wie eine ökologische Katastrophe. Aber leider ist davon auszugehen, daß die Armen dieser Welt die Hauptlast treffen wird, auch wenn wir alle die Kosten für die Sanierung unserer Umwelt tragen müssen. Die wirtschaftlichen Konsequenzen müssen allerdings nicht ausschließlich negativ sein. Beispielsweise können Organisationen und Unternehmen von der Entwicklung alternativer Energien profitieren, wie Amory Lovins vom Aspen Institut mit Nachdruck unterstreicht. Wie dem auch sei - die Furcht vor wirtschaftlichen Nachteilen kann keine Entschuldigung dafür sein, daß wir die Lösung des Kohlendioxidproblems hinauszögern. Wenn wir wirklich an einer gesunden Weltwirtschaft interessiert sind, sollten wir alles daransetzen, eine billige Energiequelle zu finden, die nicht auf fossile Brennstoffe angewiesen ist, und diese allen Menschen verfügbar zu machen.

Wir haben bereits über den symbiotischen Prozeß gesprochen, der beim Austausch von Sauerstoff und Kohlendioxid bei Pflanzen und Tieren stattfindet. Das ist natürlich nur ein Aspekt des perfekten Zusammenspiels zwischen Pflanzen, Tieren und Elementen auf unserem Planeten. Eine der beeindruckendsten Beispiele dieses Zusammenspiels ist die Beziehung, die zwischen der Atmosphäre und dem Ozean besteht. Vereint in ewiger Umarmung, schmiegen sich Himmel und Meer aneinander und gehen ineinander auf in einem Spiel der Gezeiten und der chemischen Vorgänge, aus dem sie sich niemals lösen können. Was dem einen widerfährt, trifft mittelbar und unmittelbar auch den anderen.

Den meisten Menschen ist bewußt, daß die Wälder der Erde, besonders die Regenwälder, zu den wichtigsten »Senken« für Kohlendioxid zählen. (Als Senke bezeichnen wir in diesem Zusammenhang einen Ort, an dem eine Substanz von einer anderen absorbiert, eingelagert, verarbeitet oder umgewandelt wird.) Neben den Wäldern zählt auch der Ozean zu den wichtigsten Kohlendioxidsenken. »Das Meer ist die größte >Senke< für das vom Menschen produzierte Kohlendioxid, und auf lange Sicht werden dort 90 Prozent dieses Kohlendioxids deponiert«, erklärt Jorge L. Sarmiento vom Fluid Dynamics Laboratory der Universität Princeton.19)  

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Ein wichtiger Wissenschaftszweig unserer Zeit ist die Erforschung des globalen Kohlenstoffkreislaufs, und dazu gehören auch die Standorte und Aufnahmekapazitäten der Senken. Die verschiedenen Senken werden lokalisiert, ihre Kapazitäten ermittelt, und man versucht zu berechnen, welche Prozesse eine Veränderung dieser Kapazitäten auslösen könnte. Dafür werden Proben im arktischen Eis, in der oberen Atmosphäre und in den tropischen Regenwäldern gesammelt.

Darüber hinaus wird an der Entwicklung eines Computermodells gearbeitet, das die Wechselwirkungen zwischen Kohlendioxid, Pflanzen, Land, Wasser und der Atmosphäre simulieren soll. Ein solches Modell zu schaffen, das die natürlichen Prozesse unter Berücksichtigung von Meeresströmungen, Wolkenbildung und jahreszeitlichen Bedingungen realistisch wiedergibt, ist eine schwierige Aufgabe und eine große Herausforderung. Es ist zu hoffen, daß es uns damit gelingen wird, verschiedene Szenarien durchzuspielen, die uns zeigen, wie sich der zunehmende Kohlendioxidgehalt der Luft auf unser Klima auswirkt und wie der Planet sonst noch auf diese Entwicklung reagiert. Ein lohnendes Ziel! Nur werden wir vermutlich erleben, daß wissenschaftliche Debatten über die Vor- und Nachteile verschiedener Modelle den Fortschritt der Arbeit hemmen oder, schlimmer noch, daß die Klimaveränderung als voreilige Schlußfolgerung aus den Informationen noch nicht ausgereifter Modelle abgetan wird. Das wäre ein schwerwiegender Fehler. Um die Auswirkungen der Klimaveränderung zu registrieren, müssen wir bestimmt nicht warten, bis ein Computermodell perfektioniert ist. Sie sind überall um uns herum festzustellen. Aber weil die Klimaveränderung und auch das Kohlendioxid unsichtbar sind, neigen wir dazu, sie als abstrakte Größe und nicht als greifbare Realität zu betrachten. Wir brauchen also ein wissenschaftliches Modell, das unsere tatsächliche Situation präzise abbildet.

Der entscheidende Punkt ist so einfach, daß man ihn angesichts der vielen komplizierten Gedankenmodelle leicht übersehen kann: Unser Planet befindet sich in einem Zustand der Überlastung, weil wir mehr Kohlendioxid produzieren, als alle Senken zusammengenommen verarbeiten oder absorbieren können.

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Wir können davon ausgehen, daß die Produktion von Kohlendioxid die Kapazität aller Senken übersteigt, denn der Kohlendioxidgehalt der Luft nimmt seit mindestens 250 Jahren stetig zu. Dies läßt den Schluß zu, daß die Senken zur Zeit vollständig ausgelastet sind. Selbst wenn die Gesamtkapazität im Laufe der Jahre zugenommen hat, kann die Atmosphäre mit der Menge des produzierten Kohlendioxids nicht Schritt halten.

Derzeit liegt die Zunahme bei etwa 1,5 Teilchen pro Million und Jahr. Vor 20 Jahren betrug die Rate etwa 0,8 Teilchen. Die Frage ist also nicht, ob die Menge an Kohlendioxid zunimmt, sondern um wieviel das Fassungsvermögen aller Senken auf dem Festland und im Meer überstiegen wird. Zur Zeit beträgt dieses Kapazitätsdefizit aller verfügbaren Senken in der Biosphäre der Erde demnach etwa 1,5 Teilchen pro Million und Jahr (ppm); 1998 waren es genau 2,88 ppm. Daraus folgt, daß alle Senken voll ausgelastet sind, solange die produzierte Menge an atmosphärischem Kohlendioxid ansteigt. Es sind keine weiteren Lagerstätten für Kohlendioxid verfügbar, oder wenn es sie gäbe, wissen wir weder, wie wir sie nutzbar machen können, noch wieviel sie absorbieren können. Die Atmosphäre bleibt somit gezwungenermaßen das »Überlaufbecken« des Kohlendioxids.

Es ist so, als würde das Wasser schneller aus dem Hahn laufen, als es abfließen kann. Wenn das Spülbecken voll ist, läuft das Wasser über und überschwemmt die Küche. Man kann den Stöpsel nicht aus dem Abfluß ziehen, denn der ist bereits offen. Schneller kann das Wasser nicht abfließen.

Betrachtet man die Küche als »Modell« unserer Umwelt, dann würden wir uns folgendermaßen verhalten: Wenn wir bis zu den Knien im Wasser stünden, würden wir in das Becken schauen und sehen, daß dort ein paar Schwämme treiben. Da wir wissen, daß Schwämme Wasser absorbieren, würden wir eine Forschungsgruppe zusammenstellen, die die Aufgabe hätte, die Schwämme zu untersuchen.

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Wir würden eine »Rettet-die-Schwämme«-Initiative gründen, die sich dem hehren Ziel verschreibt, dafür zu sorgen, daß uns immer die richtigen Schwämme zur Verfügung stehen. Ein besonders rühriges Forscherteam würde feststellen, daß weder die Kapazität des Beckens noch die der Schwämme oder des Abflusses bekannt seien und wir darüber hinaus nicht einmal wissen, woher das Wasser kommt, bevor es aus dem Hahn fließt. Daraus würden diese klugen Forscher folgern, daß wir auch nicht sicher sein können, ob tatsächlich mehr Wasser in das Becken fließt, als abfließen kann. Man ruft nach neuen Messungen, ein neues Forschungs­projekt wird ins Leben gerufen, eine neue Gruppe beobachtet die Wassermenge, die auf den Boden fließt.

Unterdessen versucht man, anhand von Computermodellen die Vorgänge in der Küche abzubilden, sieht sich aber allgemeinem Spott ausgesetzt, weil man die Gezeitenwirkung des Mondes außer acht gelassen habe. Die Hersteller von Spülmitteln wiederum, besorgt um ihre künftigen Einnahmen, veröffentlichen die Ergebnisse einer hausinternen Studie, die zu dem Schluß kommt, daß die Feuchtigkeit auf dem Küchenboden durch den natürlichen Wechsel von einer Trocken- zu einer Feuchtperiode entstanden sein könnte. Das Wasser könnte sogar helfen, den Boden sauber zu halten!

Die Wischmophersteller wiederum stimmen den Spülmittelfabrikanten zu, daß es sich bei dem Phänomen um einen natürlichen Übergang von einer Trocken- zu einer Feuchtperiode handele, und schlagen vor, alle ein bis zwei Monate einen neuen Wischmop zu kaufen. Das würde Arbeitsplätze sichern und die Wischmoppreise stabil halten, und ein neu eingeführter, von der Branche hochgelobter »Maxi-Mop« würde bei der Bekämpfung des Problems mit dem feuchten Boden helfen.

Das Nachrichtenmagazin, um Objektivität der Berichterstattung bemüht, zeigt einen Beitrag über Sie, den Hauseigentümer, der hilflos zusehen muß, während die Küchenmöbel und Schwämme um ihn herumtreiben, während ein Mitarbeiter des Spülmittelforschungslabors erklärt, daß eigentlich keine Gefahr besteht, solange Sie einen neuen Mop kaufen...

Man sehe uns dieses überzogene »Modell« nach, das uns die mißliche Lage, in der wir uns befinden, verdeutlichen soll. Manchmal tut eine solche Übertreibung not, damit wir begreifen, wie dramatisch die Lage in Wirklichkeit ist.

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Die Sorge um die Kohlenstoffsenken ist sehr real. Der Biogeochemiker Richard Houghton vom. Forschungs­zentrum Woods Holde in Massachusetts sagt: »Wenn uns der Mechanismus klar wäre, könnten wir wesentlich zuverlässigere Aussagen darüber machen, wie sich eine Senke zukünftig verhalten wird.«20

Ein Kommentar in der Fachzeitschrift Science pflichtet dem bei: »Was auch geschieht, die Wissenschaftler sind bemüht, es herauszufinden, bevor eine oder mehrere dieser rätselhaften Senken versagen.«21 Das besagt deutlich, daß wir im Grunde nicht wissen, was wir tun — und das tut nicht gut!

 

Wenn wir einen Sektkorken knallen hören, wissen wir, daß in diesem Moment unter Umständen ein schäumender Schwall des prickelnden Getränks aus der Flasche schießt. Nur einem geübten Kellner, der es versteht, das verdichtete Kohlendioxid langsam entweichen zu lassen, wird ein solches Mißgeschick nie passieren. Kindern bereitet es ein diebisches Vergnügen, wenn sie entdecken, daß sie die Erwachsenen wunderbar ärgern können, indem sie eine Limonadenflasche vor dem Öffnen ordentlich durchschütteln.

Kohlendioxid wird von Wasser problemlos absorbiert und wird dann zur Kohlensäure, die dem Getränk einen herben Beigeschmack verleiht. Genauso leicht läßt sich das Kohlendioxid aber auch wieder der Luft zuführen. Wie die Beispiele der Sektflasche und Limonadenflasche verdeutlichen, ist unter Druck stehendes, gelöstes Kohlendioxid nur allzu gern bereit, sich aus dieser Verbindung zu lösen und wieder mit der Luft zu vereinigen, wobei es ein Gutteil der Flüssigkeit im Getränkebehälter mit sich reißt. Unter Druck hält sich Kohlendioxid in gelöstem Zustand in hoher Konzentration in Flüssigkeiten, aber eine solche Verbindung ist instabil. Man werfe die Getränkedose auf den Boden und sie wird zu einer Bombe. Ein Glas mit einem kohlensäurehaltigen Getränk, in dem unter bestimmten Bedingungen harmlose kleine Bläschen aufsteigen, kann sich ganz anders verhalten, wenn andere Bedingungen herrschen.

Der zehnjährigen Tochter einer Freundin hat es einmal teuflisches Vergnügen bereitet, ihre Mutter zu erschrecken, indem sie eine Getränkedose schüttelte und drohte, alle Anwesenden mit Limo zu bespritzen.

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Während ihre Mutter sie wütend aufforderte, diesen Unsinn zu unterlassen, öffnete die Zehnjährige mit einem diabolischen Lächeln die Dose, und siehe da, es war nichts als das übliche, seichte Zischen von Luft zu hören. »Wie hat sie das gemacht?« fragten wir uns erstaunt und nicht wenig erleichtert, daß uns die klebrige Dusche erspart geblieben war. »Ganz einfach«, behauptete sie, während sie eine weitere Dose schüttelte. »Seht her.« Kurz bevor sie die Dose öffnete, tippte sie mehrere Male energisch mit dem Zeigefinger auf den Deckel (sie behauptete, man könne es hören, wenn es im Doseninnern still wird), und als sie gleich darauf die Dose öffnete, erlebten wir dasselbe Wunder: nichts passierte.

Kohlendioxid ist offensichtlich ebenso löslich, wie es flüchtig ist. Im einen Moment erwarten wir, daß es explosionsartig in die Atmosphäre entweicht, um im nächsten zu erleben, wie es durch ein leichtes Klopfen wieder in der Flüssigkeit gelöst wird. Und wenn dann alles wieder friedlich zu sein scheint, genügt dasselbe leichte Klopfen, und schon bricht sich das Kohlendioxid wieder mit furioser Macht Bahn. Anders als bei diesem harmlosen kleinen Beispiel, können die Folgen jedoch unter unglücklicheren Bedingungen verheerend sein:

In einem abgelegenen Dorf in Westafrika begab sich inmitten einer großen Tragödie ein kleines Wunder. Am Morgen des 22. August 1986 fanden Rettungskräfte ein weinendes Neugeborenes zwischen den Beinen seiner Mutter, die in der Nacht gestorben war, während sie das Kind gebar. Die arme Frau war nicht das einzige Todesopfer der vorangegangenen Nacht. Als die Retter endlich in der entlegenen Gegend eintrafen, waren fast alle Dorfbewohner tot. Insgesamt starben in dieser Nacht 1700 Menschen und 19.000 Tiere. Sie waren erstickt durch ein tödliches Gift, das sie eingeatmet hatten. Die Ärzte, die den Säugling behandelten, können sich bis heute nicht erklären, warum das Kind die Katastrophe überlebte.22

Die Tragödie hätte verhindert werden können, wenn man einige Jahre zuvor einem warnenden Ereignis mehr Beachtung geschenkt hätte. Es war, wie es bei Warnungen durch die Natur üblich ist, eine bescheidene Mahnung. Nur 37 Menschen kamen bei jenem Ereignis ums Leben, was nach planetarischen Maßstäben eine Kleinigkeit ist, obwohl natürlich das Leid der Betroffenen und ihrer Angehörigen groß war.

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Am 15. August 1984 entwich nämlich aus dem Monoun-See im westafrikanischen Kamerun eine große Menge Kohlendioxids, die zuvor still in einer verdichteten Schicht in den Tiefen - direkt über dem Boden - des Sees getrieben war. Das freiwerdende Gas bildete eine Wolke, die langsam und lautlos auf das Dorf zutrieb und dort mit einem Schlag alles Leben auslöschte. Niemand verstand genau, wie es passiert war, und als zwei Wissenschaftler ihr Interesse anmeldeten, der Sache auf den Grund zu gehen, wurden ihnen die notwendigen Forschungsgelder verweigert.23 Wie so viele menschliche Tragödien war auch diese im Begriff, zu einer Fußnote in den Geologiebüchern zu werden — als ein ungewöhnlicher Vorgang, in dem Kohlendioxid eine Rolle gespielt hatte, nichts weiter.24

Der Monoun-See gehört zu einer Gruppe von Seen, die in diesem Dschungelgebiet an der Atlantikküste Äquatorialafrikas liegen. Die Seen, viele von ihnen in eine herrliche Felsenlandschaft zwischen rauschenden Wasserfällen gebettet, sind der Mittelpunkt eines beschaulichen ländlichen Lebens. Am Ufer des Nyos-Sees zum Beispiel sind sieben Dörfer angesiedelt. Die Bewohner der Gegend bezeichneten den Nyos-See als den »guten See«, und das Gemeinschaftsleben dort gestaltete sich friedlich und angenehm. Die Ackerbauern und Viehzüchter der Gegend lebten in ihren Rundhütten aus Lehm im Schütze des natürlichen Tals, in das der See eingebettet war, in harmonischer Eintracht miteinander.

Der Nyos-See hat einen Durchmesser von etwa 1800 Metern und bildet ein Maar (eine mit Wasser gefüllte kraterförmige Senke, entstanden durch den gewaltsamen Ausstoß vulkanischen Kohlendioxids), das in einer Höhe von gut 3000 Metern gelegen ist. Das Maar des Nyos-Sees ist vermutlich vor 400 Jahren entstanden, und es hatte in der jüngeren Vergangenheit nie Probleme mit vulkanischen Aktivitäten gegeben, was eine Bodenanalyse des Sees bestätigte.25 Es gab aber in diesem Gebiet Quellen, die durch ihren natürlichen Kohlensäuregehalt so sprudelten, daß es aussah, als würden sie kochen.

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Lange nach Einbruch der Dunkelheit an jenem besagten 21. August 1986, als sich fast alle Bewohner der umliegenden Dörfer bereits schlafen gelegt hatten, stieg mit rasender Geschwindigkeit eine große Menge Kohlendioxids vom dunklen Boden des Sees auf, wo es sich wahrscheinlich über Jahre hinweg angesammelt hatte. Es trat mit einer solchen Wucht an die Oberfläche, daß das Wasser des Sees über die Ufer trat. Dann bildete sich eine Kohlendioxidwolke, die zwischen 200 und 300 Millionen Kubikmeter des Gases enthielt, das den Schätzungen der Wissenschaftler zufolge in einer Tiefe von etwa 200 Metern am Grund des Sees geruht hatte.26 Der gasförmige Todesengel, der dort über dem Wasser Gestalt annahm und seinen giftigen Mantel ausbreitete, drang als schleichender Tod in die Behausungen der Menschen ein. Als die Wolke langsam über das Ufer trieb, schloß sie das dort gelegene Dorf Subum vollständig ein.

Kohlendioxid ist schwerer als Luft; es hält sich daher in Bodennähe und verbreitet sich kriechend in den tiefergelegenen Regionen eines Gebiets. Die Wolke machte nicht am Rande des Kraters halt, sondern schob sich mit einer Geschwindigkeit von etwa 20 Metern pro Sekunde über ihn hinweg und den Hang hinunter in ein Flußtal. Auf ihrem 25 Kilometer langen Weg dorthin ließ sie eine Spur der Vernichtung zurück und tötete alles, was lebte und atmete.27 Als es vorbei war, hatten 1700 Menschen ihr Leben verloren, 1000 Personen mußten in Krankenhäusern behandelt und 20.000 Bewohner der Region umgesiedelt werden.

Man kann nur hoffen, daß Maßnahmen ergriffen wurden, damit sich am Nyos-See eine solche Katastrophe nicht wiederholt. Aber wir alle dürfen die Warnung, die uns dieses Unglück erteilt, nicht auf die leichte Schulter nehmen. Natürlich können wir leicht Distanz schaffen und uns damit beruhigen, daß es in der Gegend, in der wir leben, weder Vulkanseen noch kohlensäurehaltige brodelnde Quellen gäbe. Aber wir müssen die Zusammenhänge begreifen, damit wir zum gegebenen Zeitpunkt in der Lage sind, die Gefahr einer ähnlichen Katastrophe von viel größerem Ausmaß abzuwägen.

Es steht zwar nicht zweifelsfrei fest, aber man nimmt an, daß das Kohlendioxid über das Grundwasser in den Nyos-See gelangte und sich dort über einen langen Zeitraum hinweg in den Tiefengewässern angereichert hat.

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Ein vulkanischer Ursprung wurde als Ursache ausgeschlossen, da keine der üblichen Begleiterscheinungen vulkanischer Gasaktivität zu beobachten war. Ein biogener Ursprung konnte mit Hilfe von Radiokarbon­messungen ebenfalls ausgeschlossen werden, das Kohlendioxid war also auch kein Produkt pflanzlicher Organismen. Indem man nach und nach eine Möglichkeit nach der anderen prüfte und ausschloß, kam man schließlich zu dem Ergebnis, daß die Ursache der Katastrophe bei zahlreichen kohlensäurehaltigen Quellen dieser Gegend zu finden sei.

Das kohlensäurehaltige Wasser gelangte in den See und bildete in den Tiefenwässern eine homogene Schicht, anstatt sich über das gesamte Wasservolumen zu verteilen. Das lag zum einen sicher an den Temperaturunterschieden, zum anderen aber auch an der unterschiedlichen chemischen Zusammensetzung der kohlensäurehaltigen Wasserschicht einerseits und des nicht kohlensäurehaltigen Wassers über ihr andererseits. Die kältere, dichtere, gesättigtere und deshalb auch schwerere Wasserschicht blieb am Grund des Sees. Das wärmere Wasser darüber wirkte wie ein Flaschenverschluß und übte Druck auf die am Grund des Sees angesammelte kohlensäurehaltige Schicht aus. Dieser Zustand verhielt sich unter Umständen über einen längeren Zeitraum stabil, so daß sich in der unteren Schicht langsam Druck aufbauen konnte.

An irgendeinem Punkt wurde die gesättigte untere Schicht dann instabil. Es ist schwer zu sagen, was die Freisetzung des Kohlendioxids im Nyos-See letztendlich bewirkte; angesichts der dort herrschenden Bedingungen könnte es so gut wie alles gewesen sein. Beispielsweise hätte jede Art von Störung, durch die das Wasser der tiefergelegenen Schicht bis in eine Höhe aufsteigen konnte, in der die Voraussetzungen für eine Übersättigung gegeben waren, diese Freisetzung in Gang setzen können.28  

Der Auslöser könnte ein harmloser Wind gewesen sein, durch den die Seeoberfläche in Bewegung geriet, so daß sich zuvor homogene Wasserschichten vermischten, was wiederum die Freisetzung des Kohlendioxids zur Folge gehabt hätte. Eine solche »Umwälzung«, bei der die unteren Wasserschichten an die Oberfläche gelangen und umgekehrt die oberen zum Grund sinken, findet ab und zu selbst in sehr großen Binnengewässern wie den Great Lakes im Norden der Vereinigten Staaten statt.

Sobald die Freisetzung des Kohlendioxids ausgelöst worden war, hätte jeder, der schon einmal eine Flasche Sekt oder eine zuvor geschüttelte Limonaden­flasche geöffnet hat, das Resultat wiedererkannt: Eine 200-Millionen-Kubikmeter-Dose war gerade geöffnet worden, und ihr Inhalt schoß zischend in die Lüfte. Nur verstieß der Inhalt dieser Dose gegen ein elementares Gesetz des Lebens: Der Mensch braucht Sauerstoff zum Atmen. Und so brachte die Limonaden­flasche den Tod — den Tod durch Kohlensäure.

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