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9.  Aus und vorbei  

Brandenburg-1999

 

225-258

Sie stehen stumm in den Museen: furchterregend und wuchtig, mit Zähnen so lang wie unsere Hände. Einst beherrschten sie die Erde in einem Ausmaß, das heutige Gewaltherrscher wie Waisenknaben aussehen läßt. Inzwischen sind nur noch ihre Gerippe übrig — immer noch gigantisch, erschrecken sie mit ihren leeren Augenhöhlen die Kinder; aber sie sind unwiderruflich und auf ewig tot.

Die Geschichte vom Aussterben der Dinosaurier enthüllte sich in den siebziger, achtziger und neunziger Jahren allmählich und in einer Art und Weise, die den Dinosaurier-Experten schwer zu schaffen machte. Denn ungeachtet ihrer erbitterten Bemühungen, dies zu verhindern, brachen Physiker und Chemiker in ihr Fachgebiet, die Paläontologie, ein. Und diese waren es auch, die einen ersten Anhaltspunkt für das wahre Schicksal der Dinosaurier entdeckten. Sie fanden diesen Anhaltspunkt in der erhöhten Iridiumkonzentration in einer Tonschicht, die das Ende der Kreidezeit markiert, also ungefähr den Zeitraum, in dem die Dinosaurier von der Erdoberfläche verschwanden. 

Noch ungünstiger für die konservativen Gelehrten war eine spätere Entdeckung in ähnlich alten Schichten: Lagerstätten mit verdichtetem Quarz verlaufen von einer mutmaßlichen Einschlagstelle strahlenförmig nach außen. Verdichteter Quarz entsteht nur unter Druckverhältnissen, wie sie bei Vulkaneruptionen oder beim Einschlag sehr großer Meteorite auftreten. Der strahlenförmige Verlauf deutet darauf hin, daß der verdichtete Quarz bei einem solchen Einschlag entstanden sein könnte.

1990 fanden Alan Hildebrand und seine Kollegen David Kring und Bill Boynton sozusagen die noch rauchende Pistole, nämlich den Meteoritenkrater Chicxulub, eine Vertiefung im seichten Meer vor der Halbinsel Yucatan. Diese Vertiefung hat einen Durchmesser von 180 Kilometern, und ihre Form paßt sich der halbkreis­förmigen Linie an, die von der Halbinsel Yucatan und der Südostküste Mexikos gebildet wird. Das Ausmaß der Katastrophe wurde nun offenkundig. Die Dinosaurier in Nord- und in Mittelamerika starben wahrscheinlich sehr schnell aus, und zwar infolge des Einschlags eines riesigen Meteoriten, dessen Durchmesser sechs bis zwölf Kilometer betrug.

Als er in das seichte Meer vor der mexikanischen Küste stürzte, löste dies eine unvorstellbar heftige Explosion aus. Ihre Hitze war so stark, daß Feuerstürme über den ganzen Kontinent rasten und vermutlich ausgedehnte Waldgebiete in Nordamerika in Brand setzten. Durch diese Katastrophe kamen die Dinosaurier und 90 Prozent der Meerestiere um — ein Massensterben von unvorstellbarem Ausmaß. So begann für die Dinosaurier der »Weltuntergang« mit einer Feuerwalze, die Tod und Zerstörung mit sich brachte. Der Himmel war voller Rauch und giftiger Gase, so daß das Sonnenlicht vermutlich monatelang kaum zur Erde durchdringen konnte.

Während dieses undurchdringliche Gemisch aus Rauch und Gasen den Himmel über der Erde verdunkelte, sanken die Temperaturen, und ein eiskalter Winter kam über die Kontinente, die nun monatelang in Frost und Finsternis gefangen waren. Die Natur hatte sich von der Ernährerin zur Mörderin gewandelt. Die Dinosaurier waren eine hochentwickelte und variantenreiche Lebensform, vielversprechend, wild und mit Ansätzen von Intelligenz. Sie kamen, geologisch gesehen, in einem einzigen Augenblick um, und ihr Erbe traten Aasfresser und Raubtiere an und mit ihnen die Säugetiere, aus denen schließlich wir selbst hervorgehen sollten.

Als sich die Erdatmosphäre beruhigte und allmählich durch Regengüsse gereinigt wurde, erwärmte sich die Erde bald wieder. Hierzu trug, neben der Sonne, die nach wie vor pflichtschuldig ihre wärmenden Strahlen zur Erde sandte, die gewaltige Menge an Kohlendioxid bei, das nach dem Einschlag beim Chicxulub in die Atmosphäre gelangt war und als Treibhausgas wirkte. Nach vielen Monaten also ließ die nun wieder klare Atmosphäre das Sonnenlicht bis zur Erdoberfläche durch, und die Pflanzen, die der Vernichtung entgangen waren, keimten und wuchsen.

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Während dieser Erwärmungsperiode wurden Säugetiere geboren, die nicht durch die Erinnerung an die Katastrophe belastet waren. Sie brachten neues Leben in die Welt. Als späte Nachfahren dieser Überlebenden haben auch wir das Glück, daß diese Erinnerungen nicht an uns weitergereicht wurden. Aber auch ohne die Erinnerung müssen wir bedenken — und wir müssen es wohl bedenken —, daß der Kosmos, in dem wir leben, nicht immer Warnungen erteilt. Dürfen wir es da wagen, die Warnungen zu ignorieren, die wir zum Glück erhalten haben?

 

Das durch den Chicxulub-Einschlag hervorgerufene Artensterben war kein einmaliges Ereignis auf unserem Planeten. Es war nur eine von mindestens fünf großen und vielen kleineren globalen Katastrophen, die uns bekannt sind. Von diesen wurden zwei offensichtlich durch Meteoriteneinschläge ausgelöst. Aber vor 250 Millionen Jahren wurden rund 90 Prozent des tierischen Lebens möglicherweise nach der Freisetzung riesiger Mengen von Kohlendioxid aus den Tiefen der Meere vernichtet. Eines der fünf großen Massensterben, nämlich jenes, das sich gegen Ende des Perms ereignete, unterschied sich von den anderen, die starke Übereinstimmungen mit dem später vom Chicxulub-Meteoriteneinschlag verursachten Aussterben aufweisen. 

Geologische Befunde ergaben nämlich, daß während des Perms keine Iridiumschicht entstand, was darauf hindeutet, daß das Aussterben nicht durch einen Meteoriteneinschlag verursacht wurde. Wissenschaftler folgerten kürzlich aus einigen Indizien, daß dieses Aussterben durch zwei globale »Umwälzungen« in den Meeren ausgelöst wurde, bei denen gewaltige Mengen an Kohlendioxid in die Atmosphäre gelangten. Bei einem solchen Umwälzungsvorgang geraten die normalerweise fast separaten Schichten der Meere durcheinander, so daß große Mengen im Meerwasser gelöster Gase entweichen und die Sedimente aufgerührt werden. Es ist zwar nicht klar, ob das Kohlendioxid aus der Meerestiefe wie aus warm gewordener Limonade aufstieg oder ob es in einer plötzlichen Explosion freigesetzt wurde, ähnlich wie es in den 80er Jahren in den Kraterseen von Kamerun geschah. In jedem Fall aber nehmen die Wissenschaftler an, daß die Kohlendioxidmenge, die dabei in die Atmosphäre freigesetzt wurde, so groß war, daß der daraus resultierende Treibhauseffekt das Leben auf der Erde fast vollständig auslöschte.(1,2,3) 

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Dieses Szenario vom Aussterben erinnert uns im rechten Augenblick an das tödliche Potential einer hohen Kohlen­dioxid­konzentration in den Meeren beziehungsweise in der Atmosphäre und an eine weitere gefährliche Eigenschaft dieser Substanz, nämlich ihr Verhalten, wenn sie sich in hoher Konzentration in Wasser löst. Ebenso warnt es uns davor, daß heutige Kohlendioxidsenken zu Kohlendioxidquellen von morgen werden können.

Wir Menschen leiten derzeit gewaltige Mengen an Kohlendioxid zunächst in die Atmosphäre und von dort in die Biosphäre und in die Meere ein — und das Tempo, in dem dies geschieht, nimmt exponentiell zu. Zusammen mit den Hochrechnungen für die Jahre 1998 bis 2000 haben wir nun aussagekräftige Informationen über die Mengenzunahme des seit 1751 durch menschliche Aktivität erzeugten Kohlendioxids. Der aus den Lagerstätten in der Erdkruste — Erdöl, Kohle, Erdgas und Kalkstein — innerhalb von 250 Jahren, also bis 2000, freigesetzte Kohlenstoff wird die schwindelerregende Menge von 284 Milliarden Tonnen erreichen.4 Aber nicht nur die schiere Menge des freigesetzten Kohlenstoffs, sondern auch die ständig zunehmende Geschwindigkeit der Frei­setzung gerät fast außer Kontrolle:

Von der genannten Gesamtmenge gelangten über 77 Prozent (etwa 221 Milliarden Tonnen) in den letzten 50 Jahren in die Umwelt; über 51 Prozent (etwa 145 Milliarden Tonnen) der Menge entfallen auf die letzten 25 Jahre. Und fast 25 Prozent (etwa 71 Milliarden Tonnen) wurden in den vergangenen elf Jahren in die Biosphäre emittiert. Wenn wir so rasant weitermachen, werden wir die seit 1751 freigesetzte Menge an Kohlendioxid bis zum Jahr 2030 verdoppelt und bis zum Jahre 2050 verdreifacht haben.5,6

Diese Entwicklung können wir zunächst nur bremsen, wenn wir die Volkswirtschaften weltweit aus ihrer Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen lösen. Leider machen es — auch nach den Vereinbarungen von Kyoto — der schnelle Bevölkerungsanstieg in Asien und auf der ganzen Erde sowie der berechtigte Wunsch der Entwicklungsländer, den gleichen Lebensstandard zu erlangen wie die Industrienationen, sehr unwahrscheinlich, daß sich die Geschwindigkeit der Kohlendioxidfreisetzung global bedeutend verringern wird. Statt dessen prognostiziert das Coal Institute, daß diese Länder ihren Verbrauch an Kohle noch ganz enorm steigern werden.7

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Wir sind zudem keineswegs sicher, wieviel Kohlendioxid in die verschiedenen Kohlenstoffsenken gelangt, und vor allem, wieviel dorthin gelangen kann, ohne wieder in der Atmosphäre »aufzutauchen«. Hier spricht man in der Wissenschaft von Grenzwerten, bei denen schon ein geringfügiges Überschreiten sozusagen der Tropfen sein kann, der das Faß zum Überlaufen bringt.8) Daher meinen wir, daß das unbedachte Freisetzen von immer mehr Kohlendioxid in die Luft zu einer beispiellosen atmosphärischen und ozeanischen Katastrophe führen kann. Es deutet einiges darauf hin, daß wir bereits an die Grenzen stoßen. So ist der Regenwald in manchen Regionen schon per saldo zu einem Erzeuger von Kohlendioxid geworden, anstatt es zu verbrauchen und dabei Sauerstoff zu bilden.

Dies könnte zu einer unkontrollierten weltweiten Erwärmung um mehr als ein oder zwei Grad Celsius führen, wie es viele Forscher für den Fall prognostizieren, daß die Erwärmung im selben Tempo wie bisher weitergeht. Beim UNO-Klimagipfel in Buenos Aires wies der Klimaforscher Jeff Severinghaus darauf hin, daß es auf der Erde auch früher schon Temperatursteigerungen um bis zu zehn Grad Celsius in nur zehn Jahren gab.9) Das von Meeren und Atmosphäre gebildete System verändert seine Kenngrößen nicht immer allmählich und »linear«. Manchmal, nämlich wenn ein bestimmter Grenzwert überschritten wird, vollzieht sich die Änderung abrupt und »nichtlinear«.10)

 

Ein Beispiel: Es steht fest, daß wir derzeit pro Jahr ungefähr zwei Milliarden Tonnen Kohlendioxid zusätzlich in die Weltmeere einbringen. »Zusätzlich« bedeutet, daß diese Menge zu derjenigen hinzukommt, die schon vor dem Verbrauch fossiler Brennstoffe jährlich in die Meere gelangte.11 Wenn mehr Kohlendioxid ins Meer gelangt, wird gleichzeitig eine große Menge Sauerstoff aus dem Wasser in die Atmosphäre abgegeben.12 Das kann für das Leben im Meer katastrophale Folgen haben (der Golf von Mexiko leidet derzeit schon unter periodischen »Anfällen« von Sauerstoffmangel, und im südwestlichen Indischen Ozean wird ähnliches erwartet).

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Außerdem — und das ist noch bedenklicher — blieb der Sauerstoffgehalt der Atmosphäre trotz dieser zusätz­lichen Einleitung aus den Weltmeeren bis vor kurzem relativ stabil.13 Inzwischen sinkt der Sauerstoffanteil der Atmosphäre sogar allmählich ab, obwohl die Menge an Sauerstoff, die durch die vielen Milliarden Tonnen Kohlendioxid aus den Meeren verdrängt wird, nicht geringer wird.14 Das heißt nichts anderes, als daß wir unseren Sauerstoffbedarf decken, indem wir von unserem ozeanischen Sauerstoffkonto riesige Beträge abheben. 

Noch wiegen wir uns vielleicht in Sicherheit angesichts eines scheinbar ausreichenden Sauerstoffvorrats und der nur mäßigen Zunahme des Kohlendioxidanteils in der Atmosphäre. Aber was ist, wenn die Weltmeere eines Tages enorme Mengen des in ihren Tiefen gespeicherten Kohlendioxids an die Atmosphäre zurückgeben? Dieses hypothetische Szenario wäre vergleichbar mit dem »Tod aus der Limonadenflasche«.15

In unserem Bestreben, die Früchte einer von fossilen Brennstoffen abhängigen Wirtschaft zu ernten, haben wir uns womöglich in ein gefährliches Umwelt­spiel verrannt. Wie alle Schneeballsysteme wird es einen katastrophalen Zusammenbruch erleben, wenn es nicht umgehend gestoppt wird. Das schlimmste Szenario sähe so aus, daß die Meere aus ihren Tiefen gewaltige Mengen an Kohlendioxid freisetzten und gleichzeitig den Sauerstoff »zurückverlangten«, der zuvor von diesem Kohlendioxid verdrängt worden war. Wir sind nicht sicher, daß dies geschehen wird, weil wir die genauen Bedingungen für die Kohlendioxidfreisetzung nicht kennen und auch nicht wissen, wie solch ein Ereignis im einzelnen ausgelöst werden kann. Aber wir wissen, daß es vor 250 Millionen Jahren am Ende des Perms wahrscheinlich geschah — mit den bekannten katastrophalen Folgen.

Wissenschaftler, die das Aussterben während des Perms untersuchten, sind der Meinung, daß dafür eine durch tektonische Aktivität ausgelöste Kohlen­dioxid­freisetzung oder eine gletscherbedingte Abkühlung des Oberflächenwassers der Meere verantwortlich war.16

 

Ein anderes Szenario, nach dem große Mengen von Kohlendioxid aus der Meerestiefe freigesetzt werden könnten, wurde von dem berühmten Geochemiker Wallace Broecker entworfen. Seiner Theorie zufolge kann die intensive Zufuhr von kaltem Süßwasser in den Nordatlantik, hervorgerufen durch die globale Erwärmung, das große Strömungssystem zum Erliegen bringen oder gar umkehren, durch das warmes Wasser von den Tropen in den Nordatlantik gelangt und kaltes Wasser aus der Arktis in der Tiefe Richtung Süden zurückfließt.17

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Wenn dieses große Strömungssystem zum Erliegen kommt, werden wir wahrscheinlich im günstigsten Fall für mindestens zwei Jahrhunderte einen gewaltigen Anstieg des Kohlendioxidgehalts der Atmosphäre erleben.18,19 Dabei ist es keineswegs sicher, daß die riesigen Mengen an Kohlendioxid, die sich derzeit in den Meeren befinden, auch dort bleiben.

Obwohl der »Tod aus der Limonadenflasche« den schlimmsten Fall repräsentiert, kann man dieses Szenario leider nicht ganz ausschließen, denn niemand weiß sicher, wie die Bedingungen und die Grenzwerte für die Kohlendioxidfreisetzung aus dem Meer wirklich beschaffen sind.20 Wenn außerdem bedeutende Anteile der großen derzeit in den Meeren gespeicherten Kohlendioxidmengen in die Atmosphäre entwichen, würde eine Katastrophe von unvorstellbarem Ausmaß eintreten.

 

Wenn wir von »Katastrophe« sprechen, verwenden wir den Begriff im Sinne des Modells, das der französische Mathematiker René Thom in den sechziger Jahren entwickelt hat. Die Katastrophentheorie zählt zu den Theorien der dynamischen Systeme. Sie untersucht und erklärt Phänomene, bei denen abrupte Veränderungen des Verhaltens durch geringfügige Änderungen der Bedingungen hervorgerufen werden (beispielsweise die allmähliche, aber konstante Zufuhr geringer Kohlendioxidmengen in die Atmosphäre über einen langen Zeitraum hinweg). Eine Version der Katastrophentheorie beschreibt die Vorgänge bei einer abrupten Zustandsänderung, wenn ein drastischer Übergang zwischen stationären Zuständen geschieht (die man auch als Gleichgewichtszustände bezeichnet).21 Auf unsere Hypothese angewandt, bedeutet dies: Im derzeitigen Zustand sind gewaltige Mengen von Kohlendioxid im Meer gelöst, aber in nicht allzu ferner Zukunft kann — wenn plötzlich irgendein uns unbekannter Grenzwert überschritten wird — ein großer Teil eben dieses Kohlendioxids in die Atmosphäre freigesetzt werden und einen dramatischen Treibhauseffekt bewirken.

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Dadurch würde die Erde zur Venus und dann zum Mars; sie würde zuerst aufgrund des gravierender werdenden Treibhauseffekts brütend heiß, aber anschließend würde die Wärme aus der Atmosphäre und den Ozeanen entweichen, und auf unserem Planeten würde es kälter und kälter werden.

Aber auch ohne dieses tödliche Szenario stehen uns Jahrhunderte einer fortschreitenden globalen Erwärmung bevor, die durch den steigenden Kohlendioxidanteil der Atmosphäre bewirkt wird; denn zum schon vorhandenen Kohlendioxid kommt ja ständig neues hinzu, da wir weiterhin fossile Brennstoffe verwenden und dadurch Kohlendioxid freisetzen. Beide Kohlendioxidquellen werden den bereits instabilen Kohlenstoffzyklus unseres Planeten immer weiter aus dem Gleichgewicht bringen. Noch beunruhigender sind aber die Anzeichen für eine mögliche Katastrophe. Für uns selbst begann diese Sorge, als wir untersuchten, wohin das fehlende Kohlendioxid gelangt.

Eines der großen Rätsel bei der globalen Erwärmung ist die Tatsache, daß die von Menschen verbrannten fossilen Brennstoffe derzeit jährlich über 6,3 Milliarden Tonnen Kohlendioxid in die Atmosphäre einbringen, daß davon aber nur knapp die Hälfte in der Atmosphäre verbleibt.22 Also verlassen mehrere Milliarden Tonnen Kohlendioxid jährlich die Atmosphäre und gelangen in die Biomasse und die Ozeane unseres Planeten. Nach den heutigen Modellvorstellungen werden zwei Milliarden Tonnen von den Meeren und 1,1 bis 2,2 Milliarden Tonnen von den Kontinenten absorbiert.23

Zwischen 1,1 und 2,2 Milliarden Tonnen Kohlendioxid besteht nun eine gewaltige Differenz. Bei einer neueren Untersuchung dieser Diskrepanz ergab sich, daß ein großer Teil des »fehlenden« Kohlendioxids auf geheimnisvolle Weise von Nordamerika absorbiert wird.24 Die Verfasser der betreffenden Studie meinen, daß nachwachsende Pflanzen und das Grundwasser die »fehlende Senke« ausmachen. Aber eine weitere Studie, die in Kürze veröffentlicht wird, widerspricht dieser Schlußfolgerung und kommt zum Ergebnis, daß die Menge des von Nordamerika absorbierten Kohlendioxids wahrscheinlich eher bei 600 Millionen Tonnen liegt.25

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Wir schlagen hinsichtlich der »fehlenden« Kohlendioxidsenke eine andere Hypothese vor: Wir glauben nicht, daß die fehlende Senke ausschließlich auf dem nordamerikanischen Festland zu suchen ist, sondern daß ein großer Teil des fehlenden Kohlendioxids im Nordatlantik und in der Atmosphäre über dem östlichen Nordamerika und dem Nordatlantik verschwindet. So überrascht es wohl kaum, wenn wir unsere Hypothese »Die fehlende Senke« nennen.26

Halten Sie sich zunächst einmal folgende Tatsachen vor Augen: Die Bewohner Nordamerikas (US-Amerikaner und Kanadier) produzieren etwa 25 Prozent des Kohlendioxids der ganzen Welt, und trotzdem steigt der Kohlendioxidanteil zwischen der West- und der Ostküste Nordamerikas nicht so stark an, wie man eigentlich erwarten müßte. Das ist das Rätsel der fehlenden Senke.

 

Hier nun einige Anhaltspunkte zur Lösung dieses Rätsels. Kohlendioxid löst sich gut in Wasser, wobei Kohlensäure entsteht. Das Lösungsbestreben ist so stark, daß der Regen infolge der Absorption von Kohlendioxid durch das Regenwasser normalerweise einen leicht sauren pH-Wert hat (zwischen 5,6 und 5,7; der pH-Wert 7 entspricht der neutralen Reaktion).27,28 Daher ist sogar unter normalen Umständen der Regen auf der Erde meist etwas sauer. Außerdem nahmen in Nordamerika bis hinauf in die Arktis die Niederschlagsmengen seit Beginn unseres Jahrhunderts drastisch zu. Wenn mehr Niederschlag fällt, ist auch die durchschnittliche Menge an Wasserdampf beziehungsweise Kohlensäure in der Atmosphäre höher.29

Somit ist ein großer Teil der fehlenden Senke vielleicht in der Luft zu finden, nämlich in den stark angestiegenen Mengen leicht sauren Dunstes oder feinster Wassertröpfchen, die sich in der Atmosphäre befinden müssen, wenn stärkere Niederschläge eintreten sollen. Eine zusätzliche Quelle verborgenen atmosphärischen Kohlenstoffs ist die riesige Menge an Kohlendioxid, das beim Kontakt mit dem — insbesondere über dem Wüstensand — ziemlich alkalischen atmosphärischen Staub neutralisiert wird. Insgesamt treten 50 Prozent des kohlenstoffhaltigen Niederschlags aus der Atmosphäre als Staubteilchen auf.30

Die verstärkte Verbrennung fossiler Treib- und Brennstoffe erhöht den Anteil an Partikeln in der Atmosphäre weiter und fördert auch die Wochenend­niederschläge und damit in der Luft eine stärkere »Senke« für das fehlende Kohlendioxid.31

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Ein interessantes Indiz dafür sind Messungen in Zentralchina. Hier wird unter anderem sehr viel Kohle verbrannt, so daß viele Kohlenstoffverbindungen in die Luft gelangen. Man ermittelte vor kurzem einen pH-Wert von 7,9, also eine alkalische Reaktion. Dieser Befund ist verblüffend, da man eigentlich »sauren Regen« erwartet hätte. Aber er wird verständlich, wenn man sich die Staubmengen vor Augen hält, die über Zentralchina sowohl von der Wüste Gobi als auch von den Gebieten mit Schwerindustrie in die Atmosphäre gelangen. Seltsamerweise können hohe Anteile an Staub das Vorhandensein von Kohlendioxid verschleiern.32 Demnach enthält die Atmosphäre wahrscheinlich zwei weitere wichtige Kohlenstoffanteile neben jenen, die man normalerweise bei den Kohlen­dioxidanalysen betrachtet.

Natürlich wird ein großer Teil des Kohlenstoffs - per definitionem über die Hälfte - letztlich seinen Schwebezustand in der Atmosphäre verlassen, also wieder auf die Erde gelangen und teilweise von Pflanzen und durch natürliche geologische Verwitterungsprozesse absorbiert werden. Der Rest gelangt zum größten Teil irgendwann in die Meere, sei es durch Absetzen von Teilchen, durch Zustrom kohlenstoffhaltigen Wassers aus Flüssen und Seen, durch Niederschläge oder dadurch, daß Wolken und schwebende Teilchen über die Meere ziehen und sich dabei Kohlendioxid und Wasser an der Meeresoberfläche vermischen.

Der Nordatlantik enthält mannigfaltige Kohlenstoffverbindungen, darunter als Konzentrat in Plankton und anderen Meereslebewesen (Flora und Fauna), als Kohlensäure, als Kohlendioxid, in Gebilden aus mineralisiertem Kohlenstoff und in Kohlenstoffsilikaten. Der wichtigste Beitrag zum Gesamtprozeß besteht darin, daß im Nordatlantik das kalte kohlenstoffhaltige Material, das ein höheres spezifisches Gewicht als Wasser hat, in allen seinen ozeanischen Formen als Teil der großen Meeresströmung dazu tendiert, abzusinken und sich am Meeresboden und in dessen Sedimenten anzureichern.

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Im Nordatlantik kommen einige Bedingungen für die bestmögliche Absorption von Kohlendioxid durch Wasser zusammen: große Mengen Süßwassers aus Eis- oder Schneeschmelze; intensive biologische Aktivität wie die von ozeanischem Phytoplankton; Temperaturen von nur wenigen Grad Celsius über dem Gefrierpunkt, so daß sich im Wasser eine ideale Kohlendioxidkonzentration bilden kann (ungefähr vier Grad Celsius sind optimal, und die Tiefenwässer des Nordatlantiks haben etwa drei Grad Celsius); viel Niederschlag und starke Verwirbelung des Oberflächenwassers, so daß ein intensiver Kontakt zwischen Kohlendioxid, Wasser und Phytoplankton möglich ist. Aus diesem Grund halten wir es für wahrscheinlich, daß die »fehlende« nordamerikanische Senke aus folgenden Komponenten besteht: aus der Absorption von kohlenstoffhaltigem Niederschlag im Kalkstein auf dem Kontinent, aus der höheren Kapazität der Atmosphäre, Kohlendioxid aufzunehmen, und aus konzentrierten Kohlenstoffverbindungen in den Tiefen der Meere.

Damit man eine Vorstellung davon bekommt, wieviel Kohlenstoff der Nordatlantik aufnehmen kann, sei folgendes gesagt: Im Nordatlantik kommen sechs große Strömungen kalten Wassers (fünf davon aus Süßwasser) zusammen: erstens die großen Mengen der arktischen Niederschläge, die in den letzten 25 Jahren um 15 bis 30 Prozent zugenommen haben33; zweitens riesige Wassermengen aus den kleinen Seen sowie den Mooren und Strömen im nordöstlichen Kanada, die sich in die Hudson Bay ergießen; drittens der Zufluß aus den fünf großen Seen in den Sankt-Lorenz-Seeweg; viertens die stark angestiegenen Treibeismengen im Nordmeer sowie Eisberge, die von den Gletschern abbrachen; und fünftens der starke Süßwasserzustrom aus den schrumpfenden Grönland-Gletschern.34 Diese fünf Quellen eiskalten Wassers aus dem Norden verstärken mit ihren vereinten Strömungen den größten »Fluß« der Welt, nämlich die gewaltige Meeresströmung, die ein unvorstellbares Ausmaß hat. Sie ist insgesamt 20mal so stark wie die aller Flüsse der Erde zusammen. Daher vermag sie enorme Mengen an Kohlendioxid aufzunehmen.35,36)

Abgesehen von der Einwirkung von Erdbeben, Meteoriteneinschlägen oder einer sehr starken Erwärmung der Arktis und der daraus resultierenden Durchmischung der tieferen Schichten des Nordmeeres können sich gewaltige Mengen von Kohlendioxid am Meeresboden sammeln, ein großer Teil davon in clicium­carbonat­haltigen Verbindungen (Calcit und Kalk, vor allem in den Exoskeletten von Meereslebewesen) und ozeanischen Mineralien.

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Aber ein gewisser Rest bleibt als Kohlensäure erhalten, wobei die Tiefenströmungen nicht tief genug reichen, um eine starke Änderung der Kohlensäurekonzentration zu bewirken.37 Man nimmt allgemein an, daß dieser Kohlenstoff am Meeresboden in stabiler Suspendierung für Dutzende bis Hunderte von Jahren aufgeschlämmt bleibt. So schreibt Paul G. Falkowski in einem Artikel des Wissenschaftsmagazins Science: »In den biogeochemischen Modellen geht man meist davon aus, daß diese biologische Kohlenstoffpumpe< über Jahrzehnte bis Jahrhunderte in einem stationären Zustand verbleibt. Eine solche Annahme führt zu der unbegründeten [Hervorhebung durch den Autor] Schlußfolgerung, daß der biologisch vermittelte Gesamtaustausch von CO2 [Kohlendioxid] zwischen dem Ozean und der Atmosphäre praktisch nicht vorhanden sei.«38 Wir meinen, daß das Aussterben während des Perms und die Dynamik in den Todesseen von Kamerun diesen »nicht vorhandenen« Austausch ernsthaft in Frage stellen, und schlagen eine noch viel beunruhigendere Alternative vor.

Wenn der Nordatlantik wirklich ein bedeutender Teil der »fehlenden Senke« Nordamerikas ist, warum erscheint uns dann der »Tod aus der Limonadenflasche« plötzlich als so unheimlich? In den dicht besiedelten Gebieten auf beiden Seiten des Atlantiks - im Osten der USA und in Europa - könnte eine gewaltige Kohlendioxidfreisetzung (die infolge einer Umwälzung im Ozean auch von der Freisetzung großer Mengen des äußerst giftigen Schwefelwasserstoffs begleitet sein könnte) viele Millionen Menschen schädigen und innerhalb weniger Monate zu einer jähen Temperaturerhöhung auf der Erde führen. Natürlich müssen wir die Stichhaltigkeit dieser Prognose prüfen, um. das vermeiden zu können, was schlimmstenfalls zu einer Wiederholung der Katastrophe an den Seen in Kamerun im globalen Maßstab führen könnte.

 

Im Jahre 1988 verschwand plötzlich der Kabeljau, ein vorzugsweise am Meeresboden lebender Fisch, fast völlig aus dem Nordatlantik. Die Wissenschaftler sind sich darin einig, daß das nicht nur auf Überfischung zurückzuführen ist.

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Zwar wurde die Region eindeutig infolge zerstörerischer industrieller Fischereimethoden überfischt. Aber in einer Studie wurde ermittelt, daß von den circa 95 Prozent der geschrumpften Kabeljaubestände 75 Prozent in einem Jahr verschwanden, in dem der Kabeljaufang gänzlich verboten war.39 Dennoch wurde die Population innerhalb von drei Jahren dermaßen dezimiert, daß praktisch der gesamte Kabeljaufang zum Erliegen kam — wovon sich die Fischereibranche erst noch wird erholen müssen. Zum Beispiel ist das Fischerdorf Port au Choix auf Neufundland, das noch vor zehn Jahren einen florierenden Hafen hatte, inzwischen fast menschenleer, weil es keinen Kabeljau mehr gibt.40

Waren die Kabeljaus die ersten Lebewesen, die von der »Limonade« probiert hatten und daran starben? Wir hoffen inständig, daß es nicht so war. Aber nachdem wir unsere Hypothese von der fehlenden nordamerikanischen Senke aufgestellt hatten, bemerkten wir, daß Sarmiento und seine Kollegen bei der Erarbeitung eines Modells für ihre Studie offenbar die Kohlen­dioxidmeßwerte der Station auf der Insel Säble in Neuschottland ausgeschlossen hatten. Diese Insel liegt nun gerade im Herzen unserer »fehlenden Senke«. Wie ein leitender Beamter der National Oceanic and Atmo-spheric Administration erklärte, wurden die auf dieser Insel gewonnenen Meßwerte nämlich verworfen, weil deren Berücksichtigung die Menge des Kohlendioxids, die angeblich vom nordamerikanischen Kontinent aufgenommen wird, um 30 Prozent reduziert hätte.41 

Mit anderen Worten: Wegen der ungewöhnlich großen Menge an Kohlendioxid, die dort gemessen wurde, nahmen die Autoren der Studie an, daß die Daten dieser Meßstation falsch seien. Auf dieser winzigen Insel, gut 300 Kilometer östlich von Halifax, Neuschottland, arbeiten vier Forscher an den Meßgeräten, die die vielfältigen, sich von Boston, New York und anderen Küstenstädten in nordöstlicher Richtung ausbreitenden Schadstoffe erfassen. Wir sind überzeugt, daß die auf der Insel Säble erfaßten Meßwerte korrekt waren und uns einen Hinweis darauf geben, wo ein Teil der fehlenden Kohlendioxidsenke zu finden sein müßte - nur einige Kilometer von dort entfernt, wo der tiefste Teil des Sankt-Lorenz-Seeweges sich vor den Great Banks in die tieferen Gewässer des Nordatlantiks entleert.

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Einen interessanten Aspekt, der diese Annahme unterstützt, erwähnte kürzlich Gerry Forbes, Direktor der Forschungseinrichtung auf der Insel Sable, in einem Interview. Darin beklagte er sich, seine Mitarbeiter müßten immer wieder rußigen Staub von ihren Instrumenten abwischen.42

Wir wissen nicht, wieviel Kohlendioxid die Meere lösen beziehungsweise speichern können, bevor sie beginnen, wieder gewaltige Mengen in die Atmosphäre freizusetzen. Daher sollten wir es nicht sorglos zulassen, daß beliebige Mengen von Kohlendioxid in die Meere gelangen. Sicherer gehen wir mit der Annahme, daß beide Kohlenstoffsenken - die auf dem Festland und die in den Meeren - im Grunde schon gefüllt sind und daß in nicht allzu ferner Zukunft das meiste von Menschenhand freigesetzte Kohlendioxid direkt in die Atmosphäre gelangen und dort verbleiben könnte. In einem neueren Bericht der American Geophysical Union heißt es: »Wegen der hohen Empfindlichkeit sozioökonomischer und biologischer Systeme gegenüber Diskontinuitäten und schnellen Klimaänderungen sind in den nächsten Jahren besonders solche wissenschaftlichen Studien von großer Bedeutung, die sich mit Grenzwerten und Nichtlinearitäten im Klima und in damit zusammenhängenden biogeochemischen Zyklen befassen.«43 Während wir diese Forschungen betreiben, müssen wir übervorsichtig sein, denn das physische und wirtschaftliche Wohl von Milliarden von Menschen ist in Gefahr.

Offensichtlich aber suchen wir Menschen lieber nach Möglichkeiten, weiteres Kohlendioxid zu deponieren, als das Verbrennen fossiler Brennstoffe einzuschränken oder gar ganz darauf zu verzichten. Die Vereinigten Staaten, Japan und Norwegen haben ein gemeinsames Forschungsprojekt initiiert, in dessen Rahmen ermittelt werden soll, in welcher Weise die Meere als dauerhafte »Lagerstätten« für Kohlendioxid dienen könnten.44 Dabei ist vorgesehen, flüssiges Kohlendioxid unter hohem Druck durch Leitungen 1000 Meter oder noch tiefer unter den Meeresspiegel zu pumpen. Dort soll es, so hofft man, ohne jedes Risiko 600 Jahre bleiben — es sei denn, der Ozean »rülpst« und schickt es uns postwendend zurück wie einen geplatzten Scheck am Ende einer Kettenbriefaktion.45,46

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Zwei wesentliche Fragen hatten sich für uns in der Marsforschung nun herauskristallisiert: Gab es einmal Leben auf dem Mars? Wenn ja, wie lange? Bald hatte ich eine neue Stellung gefunden, die diesmal noch direkter mit der Raum­fahrt­industrie zu tun hatte. Meinen neuen Kollegen gegenüber erwähnte ich das Thema Mars nicht, bis mich eines Morgens eine der Sekretärinnen in meinem Büro fragte, ob ich am Vorabend im Fernsehen zu sehen gewesen sei. Es ging um die Wiederholung einer Sendung über das »Gesicht« in der Cydonia-Region, in der ich einen kurzen Auftritt von etwa 60 Sekunden gehabt hatte. Cydonia hatte mich also wieder einmal eingeholt! Als sie von meinem Interesse an der Sache und meiner Beschäftigung damit hörten, reagierten meine Kollegen amüsiert. Doch an meinem Arbeitsplatz galt ich von da an als Experte für Marsforschung.

Ich arbeitete jetzt also in einem der Unternehmen, die an den Vorbereitungen für die US-Mission Clementine zum Mond mitwirkten, und ich war stolz darauf, daß man mir eine Rolle in diesem Abenteuer gegeben hatte. Ein besonders spannendes Erlebnis hatte ich in dieser Zeit. Daß es überhaupt möglich war, lag daran, daß der Astronom und Kometen­beobachter Gene Shoemaker an diesem Projekt mitarbeitete. Wahrend wir intensiv damit beschäftigt waren, das Raumfahrzeug und die unterstützenden Computersysteme für den Start vorzubereiten, kamen wir in den Genuß einer besonderen Lehrstunde. Genes Frau, die Astronomin Tran Shoemaker, und ihr Kollege Levy hatten eines Nachts wieder Ausschau nach Kometen gehalten und dabei ein besonders schönes Exemplar entdeckt. 

Dieser Komet war offenbar dem Jupiter zu nahe gekommen und in eine ungewöhnliche Bahn gezwungen worden, nämlich aus der Ebene der Ekliptik heraus, in der die meisten Planeten die Sonne umrunden. Als wir die Dias betrachteten, auf denen die Wanderung des Kometen im Verlauf mehrerer Tage zu sehen war, konnten wir ein immer spektakulärer werdendes Szenario beobachten. Dieses Himmelsschauspiel als einer der ersten überhaupt betrachten zu dürfen, war ein einmaliges Erlebnis für mich. Aber unser Erstaunen wurde noch größer, als Gene uns eine Woche später noch einmal zusammenrief.

Der Komet Shoemaker-Levy, wie er zu Ehren seiner beiden Entdecker genannt wurde, war inzwischen in der Gravitation des Jupiter gefangen. Er befand sich nun in einer Bahn, die ihn direkt auf den Jupiter zuführen mußte.

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Es stand also ein Aufprall bevor, so heftig, wie es im Sonnensystem seit Menschengedenken keinen gegeben hatte. Als uns das klar wurde, breitete sich fassungsloses Schweigen aus. Wir sollten - ein Jahr später - ein ganz seltenes astronomisches Ereignis »in Echtzeit« verfolgen können. Der Menschheit sollte bald. die Macht der Natur dramatisch vor Augen geführt werden.

Wahrend wir am Clementine-Projekt arbeiteten und abwarteten, was mit dem Kometen geschehen würde, zerbrach dieser in viele, zum Teil sehr große Fragmente. Damals wurde häufig darüber spekuliert, ob der zu erwartende Aufprall dadurch, daß es sich bei diesem. Kometen wahrscheinlich um einen der üblichen »schmutzigen Schneebälle« handelte, milde ausfallen würde. Erst am Tag vor dem Aufprall der Bruchstücke konnte ich zu-einer eigenen Schlußfolgerung kommen. Dies war kein Komet, jedenfalls keiner im üblichen Sinne, denn er enthielt weder Wasser noch andere flüchtige Stoffe. Im Lauf der Zeit hatte ich festgestellt, daß das eigentlich erwartete Wasser und andere gefrierende Gase in den Bruchstücken nicht nachweisbar waren. Daher mußte man meiner Ansicht nach in diesem Fall von einem Asteroiden sprechen. Ich erläuterte also am Tag vor dem ersten Aufprall meinen Kollegen, was ich mir vorstellte: Shoemaker-Levy würde wie ein Güterzug mit Dynamit in den Planeten Jupiter hineinschießen.

Leider näherten sich die Bruchstücke vom äußeren Sonnensystem her, so daß der Aufprall auf Jupiters Nachtseite erfolgen mußte und für uns nicht unmittelbar sichtbar sein würde. Erst wenn die Einschlagzone durch die schnelle Rotation des Jupiter in unser Sichtfeld kam, konnten wir erkennen, ob die Fragmente eher wie Federkissen oder wie steinerne Geschosse waren.

Wie bei einer sehnsüchtig erwarteten Theaterpremiere ging der Vorhang auf, und die Bruchstücke prasselten in rascher Folge auf den riesigen Planeten. Das Ergebnis war spektakulär und erschreckend. Als das Aufprallgebiet langsam in Sicht kam, konnten wir sehen, daß in Jupiters wolkige Atmosphäre Löcher von der Größe des ganzen Erdballs gerissen worden waren. Das Bombardement dauerte Tage, und Einschlag folgte auf Einschlag. Unsere Begeisterung über den Anblick dieses beeindruckenden Feuerwerks wich schon bald schierem Entsetzen angesichts der Zerstörung, die da entfesselt wurde. Jeder einzelne der zahlreichen Einschläge hätte den größten Teil der Erde zerstört.

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Vom Weltraum aus erscheint die Erde als ein homogenes Gebilde, eine ebenmäßige glatte Kugel von überwältigender Schönheit, eingebettet in ewige Dunkelheit. So wie wir die Einschläge des Shoemaker-Levy-Kometen auf dem Jupiter aus der Ferne betrachten konnten, gibt es auf der Erde viele Dinge, die zuerst »von außen« sichtbar werden. Das Ozonloch wurde zuerst vom Weltraum aus erkannt. Die Tatsache, daß die Sahara früher ein gewaltiger, von reißenden Flüssen durchzogener Dschungel gewesen sein muß, wurde zuerst vom Space Shuttle aus bemerkt. Mit Hilfe eines speziellen Radarverfahrens »blickte« es unter den Saharasand und enthüllte die Flußläufe, die sich dort, in den Felsboden geschnitten, verbargen.

Wie bei den ausgetrockneten Flüssen auf dem Mars konnten wir hier sehen, daß eine Wüste in einem Gebiet entstanden war, in dem bis in die geologisch jüngste Zeit hinein gewaltige Wasserströme geflossen waren. Wir sind verpflichtet, auf das, was wir sehen, zu reagieren, auch wenn wir es am liebsten gar nicht sehen würden. Schauen wir uns die Verwüstungen an, die der Chicxulub-Meteorit und Shoemaker-Levy angerichtet haben, dann muß uns klar sein, daß der Kosmos kein Mitleid mit den Unwissenden hat. Wir sind nicht nur Teil des Kosmos, sondern dieser kann in einem einzigen Augenblick Teil von uns werden. Wir können nicht länger behaupten, die kosmische Gefahr sei lediglich eine abstrakte Theorie. Es wird keinen Schutz geben, es sei denn, wir schaffen ihn uns. Es wird kein Leben mehr geben, es sei denn, wir bieten ihm Schutz.

Wir fangen gerade erst damit an, unseren Planeten vor solchen Einschlägen zu schützen. Trotz unzureichender finanzieller Förderung haben Wissenschaftler begonnen, den Himmel nach erdnahen Objekten (NEOs, Near-Earth Objects) abzusuchen; dies ist der erste Schritt in der Bemühung um einen wirksamen Schutz der Erde. Aber bei der derzeitigen Gangart dieser Bemühungen wird es ein Jahrhundert dauern, bis auch nur 90 Prozent von dem, was da draußen herumfliegt, erfaßt und katalogisiert sein wird. Und selbst das würde die eigentliche Frage nicht beantworten: Was tun wir, wenn ein solches Objekt auf uns zurast? Auf jeden Fall müssen wir mehr tun.47

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Bald nach dem Aufprall des Kometen Shoemaker-Levy auf dem Jupiter und nach dem erfolgreichen Clementine-Flug zum Mond erhielt unser Team eine Einladung zu einer Konferenz über den Schutz der Erde vor Kometen- und Asteroideneinschlägen. Wir entschieden uns, nicht teilzunehmen, weil uns die Anreise zu dem weit entfernten Tagungsort zu teuer war.

 wikipedia  Shoemaker-Levy_9  (2021)

Mein Vorgesetzter, ein kluger Mensch, mit dem ich sehr gern zusammenarbeitete, fragte scherzhaft, warum wir uns angesichts so vieler Probleme auf der Erde um Asteroiden Sorgen machen sollten. Ich hielt ihm entgegen, daß - im Gegensatz zu Kriminalität, Drogensucht und anderen menschlichen Problemen - ein Asteroid, der auf die Erde zurast, eines der wenigen lösbaren Probleme sei.

Die Erde und ihre Biosphäre vor einem Kometen- oder Asteroiden­einschlag zu schützen, ist ein Akt gegenseitiger Hilfeleistung, zu dem die Menschen, anders als jede andere Lebensform, fähig sind. Abgesehen von der Rettung unserer Art wäre dies eine erhabene Geste, mit der wir der Erde sozusagen das entgelten könnten, was sie uns gibt.

Wenn jemand von einer Gefahr weiß und nichts dagegen tut, daß aus der Gefahr eine Tragödie wird, so nennt man das Fahrlässigkeit. Dies ist ein seit altersher bekanntes Prinzip der menschlichen Gesellschaft. Wenn Ihr Ochse die Angewohnheit hat, Menschen auf die Hörner zu nehmen, und Sie ihn nicht einsperren, und er tötet daraufhin einen Menschen, dann wäre nach den mosaischen Gesetzen Ihr eigenes Leben verwirkt.48

Nach dem Einschlag des Shoemaker-Levy-Kometen wurde mir folgendes klar: Wenn irgendwann einmal ein großer Asteroid die Erde treffen sollte, dann würden die Überlebenden jene Beamten und Politiker zur Verantwortung ziehen, die um die Gefahr gewußt und nicht gehandelt hatten. Seit dem Aufprall von Shoemaker-Levy beschäftigte mich dieser Gedanke — aus gutem Grund.

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Meine damaligen Gespräche mit den demonstrierenden Kriegsgegnern verfolgten mich nun geradezu. Ich erkannte, daß ich als Apologet für jene herhalten sollte, die behaupteten, daß natürliche Prozesse die Erwärmung der Erde und auch das Ozonloch verursachten, das inzwischen in jedem antarktischen Winter größer wird. Ich handelte gegen mein Pflichtgefühl als Wissenschaftler, um meine politischen Freunde nicht vor den Kopf zu stoßen. Ein Jahr lang lag ich im Streit mit mir selbst. Erst nach der tödlichen Hitzewelle von 1995 in Chicago gewannen meine tiefsten Überzeugungen die Oberhand.

 

Während der Hitzewelle, die am 12. Juli 1995 einsetzte, kamen innerhalb von nur fünf Tagen 808 Menschen um, und das in einer modernen nordamerikanischen Stadt, die direkt an einem kühlenden See liegt.49 Ich war entsetzt. Es wirkte so unglaublich — so etwas konnte es in einem Land, das über alle modernen Errungenschaften der Technik verfügte, einfach nicht geben! Viele Todesfälle waren die Folge eines unheilvollen Zusammenspiels von Hitze, Armut und sozialen Mißständen in der City. (Die Temperatur stieg auf über 40 Grad Celsius an, und die hohe Luftfeuchtigkeit machte den Menschen das Atmen schwer.)

Viele Menschen, vor allem Alte, kleine Kinder und Kranke, starben in ihren Wohnungen, weil sie sich wegen der hohen Kriminalität kaum auf die vergleichsweise kühlen Straßen trauten; manche wagten nicht einmal, die Fenster zu öffnen. Aber so sehr man auch die gesellschaftlichen Probleme beklagen mag: Es war die Hitze, die die Menschen tötete. Jetzt wurden mir die Realität der Klimaveränderung und deren Auswirkungen auf die menschliche Gesellschaft wirklich klar.

Ich erkannte, daß ich im Unrecht gewesen war. Als überzeugter Konservativer, zuerst als Demokrat, dann als Republikaner, hatte ich in der Umweltbewegung lediglich eine weitere Variante der Gegenkultur gesehen. Viele von Umweltschützern vorgebrachte Bedenken tat ich als routinemäßigen Protest gegen die traditionelle Fortschritts­gläubigkeit der Amerikaner ab. Obwohl ich, aufgewachsen in Oregon, die Natur liebte, fühlte ich mich nicht zur Umweltbewegung hingezogen, sondern meinte, in ihr politische und kulturelle Ansichten zu erkennen, die den meinen diametral entgegenstanden. Daß die Umweltschützer über das Schicksal von Laubfröschen und anderen vom Aussterben bedrohten Kreaturen der Erde ebenso besorgt waren wie ich, hielt ich irgendwie für einen Zufall.

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Ich reagierte auf ihre Warnungen vor einer drohenden globalen Katastrophe mit einer »wissenschaftlichen« Haltung, die ich auf anderen Gebieten selten an den Tag lege, nämlich mit arroganter Skepsis.

Nach der Hitzewelle von Chicago wurde mir jedoch klar, daß kühle wissenschaftliche Distanz und Skepsis gegenüber den globalen Umwelt­problemen allzu leicht zur Passivität verleiten. Und die Geschehnisse in Chicago hatten mich davon überzeugt, daß Passivität in diesen Dingen die Menschen ebenso gezielt töten kann wie Pistolenkugeln.

Skepsis gehört zu den Dingen, die in wissenschaftlichen Kreisen am häufigsten falsch verstanden werden. Anders als die Neugier oder der Wunsch nach Exaktheit ist die Skepsis die Haltung, in die sich Wissenschaftler oft flüchten, wenn sie die Wahrheit fürchten. Skepsis kann bei quantitativen Experimenten, die in abgeschlossenen Systemen stattfinden, durchaus angebracht sein. Aber wenn das Versuchslabor unsere Erde ist und wenn eine der zu ermittelnden Variablen der Verlust von Menschenleben ist, dann macht uns die klassische Skepsis blind für die Realität von Tod und Leid. Also muß an ihre Stelle eine klarsichtige Einschätzung der Gefahren treten.

Um Umweltrisiken bewerten zu können, müssen wir in der Lage sein, bedrohliche Entwicklungen wie die Ausdünnung der Ozonschicht und die globale Erwärmung rechtzeitig zu erkennen und dann der Frage nachzugehen, ob menschliches Verhalten an dieser Entwicklung mit schuld sein kann. Dann können wir ausrechnen, welchen Preis die Menschen, ob am Geldwert oder an Menschenleben gemessen, für die Folgen ihres Verhaltens werden zahlen müssen. Die drei Chemie-Nobel­preisträger Sherry Rowland, Mario Molina und Paul Crutzen hatten sich sehr eingehend mit den chemischen Reaktionen des Ozons mit den Fluorchlorkohlen­wasserstoffen (FCKW) beschäftigt. Ihre Resultate machten deutlich, daß ein Zusammenhang zwischen diesen Schadstoffen und der Zerstörung der Ozonschicht besteht. Nun erfordert es keinen besonderen Scharfsinn zu erkennen, daß bei dem hohen Preis, den wir für die Ozonausdünnung werden zahlen müssen, schon der Verdacht eines Zusammenhangs die Einschränkung der FCKW-Produktion und -Verwendung rechtfertigt. 

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Mit Blick auf die Umweltgefahren kann man Entscheidungen treffen, auch wenn noch nicht alle Informationen zusammengetragen sind. Wenn es unsere Umwelt betrifft, können wir — wie in vielen anderen Bereichen, in denen es um Leben oder Tod geht — nicht immer warten, bis uns auch die allerletzte Information vorliegt, denn dann ist es oft schon zu spät. Man muß die Feuerwehr rufen, sobald man das Feuer entdeckt, damit es noch etwas zu retten gibt, wenn sie schließlich am Brandort eintrifft.

Als Konservativer möchte ich Risiken nur dann eingehen, wenn sie sich nicht vermeiden lassen. Nach der Hitzewelle von Chicago verabschiedete ich mich von meiner skeptischen Haltung und begann statt dessen, über die Gefahren nachzudenken. Aus dieser Perspektive ergibt sich ganz selbstverständlich die Frage: Wenn wir durch bestimmte Verhaltensweisen unserer Umwelt zunehmenden Schaden zufügen, warum ändern wir dann nicht unser Verhalten und verringern so die Gefahren? 

Bewahrung und Erhaltung gehören zu den wesentlichen Prinzipien des Konservatismus. Das konservative Bestreben, Risiken gering zu halten, sollte nicht nur der Wirtschaft, sondern auch unserer Umwelt zugute kommen, denn beide bilden sehr real eine untrennbare Einheit. Um das zu erkennen, müssen wir aber umdenken und uns klarmachen, daß manche Methoden, das Sichtbare zu bewerten, angemessener sind als andere.

 

Wenn wir zum Beispiel an einen Stuhl denken, können wir dies auf verschiedene Weise tun. Die meisten denken zuerst an seine Funktion, also an einen nützlichen Gegenstand, auf dem wir sitzen können. Aber wir können den Stuhl auch auf eine Art und Weise beschreiben, in der die Tatsache, daß wir uns auf ihm niederlassen können, gar keine Rolle spielt. Wir könnten den Stuhl als ein dreidimensionales Gebilde ansehen, als eine Skulptur. Wir könnten ihn sogar auf rein mathematisch-topologische Weise wie eine schematische Abbildung beschreiben, also als Anordnung verschiedener, miteinander verbundener Körper im Raum. Wir könnten den Stuhl in einem historischen Zusammenhang sehen und uns überlegen, wie der vor uns stehende Stuhl in die Geschichte der Sitzmöbel einzuordnen sei. Wir könnten ihn aber auch als Ware betrachten und Produktionskosten, Wert und Kaufpreis abschätzen. Schließlich könnten wir den Stuhl einfach als physikalisches Objekt ansehen, das aus Molekülen, Atomen und subatomaren Teilchen besteht.50

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Erkennen wir, daß alle diese Betrachtungsweisen (und es gibt selbstverständlich noch viele andere) ihre Berechtigung haben? Obwohl alle Beschreibungen geeignet sind, ein zutreffendes Bild von dem Stuhl zu vermitteln, tun sie dies doch auf verblüffend unterschiedliche Weise. Aber jede dieser Beschreibungen ist »angemessen«, wenn wir berücksichtigen, in welchem Zusammenhang sie steht. Deshalb können wir sagen, der Stuhl existiere in mehreren Aspekten oder »Dimensionen« physikalischer, medizinischer, ökonomischer oder anderer Art.

Noch interessanter wird es, wenn wir Verknüpfungen und Wechselbeziehungen zwischen den »Dimensionen« herstellen können, in denen der Stuhl existiert. Wenn der Stuhl zum Beispiel kunsthistorisch gesehen eine gewisse Bedeutung hat, wird er als Antiquität einen höheren Wert haben als nur den gewöhnlichen ökonomischen Wert, der unter anderem auf den Produktionskosten basiert. Wollte man die Form des Stuhls ändern, etwa indem man zwei seiner Beine absägte, so würde ihm sein praktischer Nutzen als Sitzgelegenheit genommen. Und wenn man anfinge, seine chemische Zusammensetzung zu verändern, indem man ihn intensiver radioaktiver Strahlung aussetzte, so lägen in der physikalisch-chemischen Dimension plötzlich ganz andere Strukturen und subatomare Teilchen vor. (Es wäre in diesem Fall auch ziemlich gefährlich, auf ihm zu sitzen, weil vielleicht sogar eine nukleare Kettenreaktion ausgelöst werden könnte!)

Dann hätte der Stuhl als Sitzgelegenheit keinen Nutzen mehr, und der ökonomische Wert hätte sich geändert (wir könnten dies der Versicherung in der Schadensmeldung sicher sehr eindrucksvoll schildern). Alles, was übrigbliebe, wären eine Vorstellung, eine Erinnerung und etwas Rauch. Wir sollten dabei stets bedenken: Obwohl sich diese Arten, den Stuhl zu beschreiben, auf jeweils andere »Dimensionen« beziehen, geht es stets um denselben physikalischen Gegenstand: den Stuhl.

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Im übrigen ist es interessant, festzustellen, daß die meisten der zahlreichen »Dimensionen«, in denen der Stuhl beschrieben werden kann, menschliche Erfindungen sind. Das Holz des Stuhls ist nicht von Menschenhand geschaffen, aber fast jeder andere Aspekt ist mit einer menschlichen Bemühung oder Erfindung verbunden. Wenn wir nun neue »Wissenschaften« erfänden, erhielte der Stuhl wahrscheinlich noch weitere »Dimensionen«. Beispielsweise ist es noch ganz neu, den Stuhl mit Hilfe digitalisierter Daten zu beschreiben. So stellt das dreidimensionale Drahtgebilde, das sich auf Ihrem Computerbildschirm dreht, eine neue »Dimension« dar. Noch seltsamer ist es, einen Stuhl in nur einer räumlichen Dimension anzusehen. Dann scheinen die anderen im großen und ganzen irrelevant zu sein, fast so, als existierten sie gar nicht.

Wir sehen hier, wie komplex ein Stuhl im Grunde ist, wenn wir ihn in seinen sämtlichen »Dimensionen« betrachten, die alle nebeneinander existieren. Keine dieser Dimensionen reicht hingegen aus, den Stuhl vollständig zu beschreiben. Wenn wir den Stuhl in einer Dimension verändern, kann sich diese Variation auch in den anderen Dimensionen auswirken.

Es ist hilfreich, zu verstehen, was es mit der Koexistenz von »Dimensionen« auf sich hat, denn eines der weltweit größten Probleme liegt darin begründet, daß dieses Prinzip mißverstanden wird. Es erfordert einige Übung, sich die Koexistenz von Dimensionen vorzustellen. Man muß bereit sein, eine Vielzahl von Bedeutungen zu akzeptieren, auch diejenigen, die auf den ersten Blick paradox zu sein scheinen oder mit unserem momentanen Standpunkt nicht vereinbar sind. Es gibt viele legitime Arten, ein Ding oder einen Sachverhalt zu betrachten, und es kann vorkommen, daß andere unsere Betrachtungsweise nicht verstehen oder daß wir umgekehrt die der anderen nicht nachvollziehen können. Um die geeignetste Perspektive zu finden, müssen wir bereit sein, uns viele Dimensionen anzusehen.

»Umwelt« und »Ökonomie« sind für uns im allgemeinen zwei verschiedene Bereiche, die in einer Wechselbeziehung zueinander stehen. Die »Umwelt« steht für Bäume und Gras, Meere und Kontinente, Menschen und Tiere. Die »Ökonomie« steht für Geld und Werte, Produktion, Waren und Handel. Die beiden Bereiche sind in unseren Augen miteinander verknüpft, aber eben nicht das gleiche. Wir könnten die Beziehung zwischen ihnen etwa so beschreiben:

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Rohstoffe aus der Umwelt werden zu Waren verarbeitet, oder: Die Nahrungsmittelindustrie entnimmt der Umwelt ihre natürlichen Ressourcen und verkauft sie. Oft sehen wir die beiden Bereiche als Konkurrenten. Das könnte sich etwa so ausdrücken: Wir können die Umwelt nicht auf Kosten von Arbeitsplätzen schützen, oder: Die Kosten für den Umweltschutz sind der Preis, den wir für eine blühende Wirtschaft zahlen. Wenn wir »Umwelt« und »Ökonomie« als Konkurrenten betrachten, müssen wir fast zwangsläufig für einen von beiden und gegen den anderen Partei ergreifen. Das ist in vielen Bereichen so, in denen wir uns zu Interessengemeinschaften zusammenschließen: Wir neigen dazu, uns in zwei Lager aufzuspalten. So gibt es diejenigen, die vehement die Rechte der Wirtschaft verteidigen, und diejenigen, die sich dem Schutz der Umwelt verschrieben haben.

So kommt es, daß wir immer wieder in die Situation geraten, uns zwischen dem Wohl der Umwelt und dem wirtschaftlichen Nutzen entscheiden zu müssen. Nicht selten gereicht eine Entscheidung, die der Umwelt einen nützt, der Ökonomie zum Schaden. Zum Beispiel kann in einer Kommune eine heftige Debatte darüber ausbrechen, ob die Arbeitsplätze wichtiger sind, die durch den Bau einer Fabrik geschaffen werden, oder ob man den Bedenken wegen der Umweltschäden, die im Zusammenhang mit der dort geplanten Produktion zu erwarten sind, Vorrang gibt. Oder wir machen uns Gedanken darüber, ob wir lieber ein billiges oder ein teureres, dafür aber schadstoffarmes Auto kaufen. Vor solchen Entscheidungen stehen wir im Berufsleben wie im Alltag immer wieder. Unsere Regierungen müssen ähnliche Entscheidungen treffen. Welchen Weg wählen wir also, wenn bei jeder Entscheidung das ökologische und das ökonomische Argument gegeneinander in die Waagschale geworfen werden?

Es gibt Menschen, die ihren Standpunkt als Hüter der »Umwelt« beziehungsweise als Fürsprecher der »Wirtschaft« bis aufs Messer verteidigen. Sogar die Gemäßigten in beiden Lagern üben wenig Toleranz, wenn es um die Überzeugungen der anderen geht. Es herrscht also ein latenter kalter Krieg zwischen jenen, die ökonomische Interessen vertreten, und jenen, die unsere Umwelt schützen möchten.

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Das ist um so bedauerlicher, als solcherart verhärtete Fronten völlig überflüssig sind. Sie rühren vor allem daher, daß wir das Prinzip der Koexistenz der Dimensionen nicht richtig verstehen. Wie wäre es also, wenn wir Umwelt und Ökonomie einfach nicht mehr als zwei zwar miteinander verbundene, aber dennoch verschiedene Dinge betrachten, sondern anerkennen, daß es richtig heißen muß: Die Umwelt ist die Ökonomie?

Es gibt in Wirklichkeit keine Trennung zwischen Umwelt und Ökonomie. Sie sind ein und dasselbe.

Die Ökonomie macht eine der vielen Dimensionen der Umwelt aus. »Umwelt« ist der Begriff, den wir verwenden, um die physische Realität zu beschreiben. Wie der Stuhl in unserem Beispiel ist die »Umwelt« faßbar, aber wir können die Umwelt in ihre einzelnen Aspekte aufspalten, indem wir sie durch die Brille der Geologie, der Ökologie, der Meteorologie, der Biologie oder der Ozeanographie betrachten. Jedes dieser Fachgebiete bietet uns spannende und aufschlußreiche Wege, eine spezielle »Dimension« dessen, was wir »Umwelt« nennen, anzusehen. Auch die »Ökonomie« ist ein Begriff, mit dem wir eine spezielle Dimension der »Umwelt« beschreiben. Die Ökonomie ist eine der nebeneinander existierenden Dimensionen der Umwelt; sie beschreibt die Interaktion der Menschen mit dieser und den Tauschhandel, den wir mit ihren Schätzen treiben.51 

Jede Dimension hat ihren eigenen Wortschatz, ihre eigenen Einsichten, jede Wissenschaft ihre spezifische Methode, die Umwelt zu sehen und mit ihr in Wechselwirkung zu treten. Auch die Wirtschaftswissenschaftler haben einen Katalog von Begriffen entwickelt, mit denen sie die Umwelt beschreiben — Begriffe wie allgemeine Unkosten, Warenpreise, Konsumgüter, Rohstoffe, Grundstückspreise, Wertpapiere und Geld.

Ökonomien waren der symbolische Überbegriff, unter dem der Tauschhandel mit aus der Natur gewonnenen Waren wie Muscheln oder Gold gegen Getreide stattfand. Aber auch heute noch ist der Wert und die Stabilität der Wirtschaft eines jeden Landes, gleichgültig, mit welcher Währung dort bezahlt wird, untrennbar mit den Rohstoffen verbunden, die uns die Umwelt liefert. Die Ökonomie ist ein komplexes, abstraktes System, mit dessen Hilfe wir eine Dimension der Umwelt auf eine mathematische und verfahrenstechnische Weise »nachbilden«.

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Dennoch bleibt es nichts weiter als eine Dimension, die wir mit der Einigung auf das entsprechende Darstellungssystem geschaffen haben. Im Lauf der Zeit entwickelten wir ein solches Geschick beim Modellieren, daß dabei fast eine »eigene, von der Umwelt unabhängige Welt« herauskam. Die Welt, die wir so schufen, war dermaßen überzeugend, daß sie in Konkurrenz zu der eigentlichen Welt trat, die sie doch nur abbilden sollte. Aber gleichgültig, wie weit wir der Illusion von der Wirtschaft als unabhängiger Welt erlegen sind, der Makler, der uns das abstrakte Konzept dieses »Abkömmlings« verkauft hat, darf hoffen, die Gewinne aus dieser Transaktion nach Belieben gegen die Waren dieser Welt — als da seien Häuser, Autos und andere Güter — eintauschen zu können, als seien sie genauso viel wert wie die Produkte der Natur, die er dafür veräußert hat, und dabei nach Belieben zu verfahren, als wären sie tatsächlich gleichwertig. Was ihm oder ihr oder uns dabei entgeht, ist das schmutzige Defizit.

Wenn wir Ökonomie und Umwelt voneinander trennen und dem wirtschaftlichen Erfolg Priorität einräumen — wenn die Aktien eines Unternehmens um 15 Prozent an Wert verlieren, weil die Gewinnerwartungen »nur« erfüllt, nicht aber übertroffen wurden —, dann wird um jeden Preis alles vermieden, was dem gesteckten Ziel im Weg steht. Und nur allzu oft gehen die Gewinne unmittelbar an die Substanz der Umwelt und verursachen dort massive »Defizite«, die niemand ausgleichen will. Solche ökologischen Defizite werden paradoxerweise oft gerade von denen verursacht und toleriert, die todsicher in Hämisch geraten, wenn in ihren eigenen Bilanzen Defizite auftauchen, die eine Fremdfirma zu verantworten hat. Wir haben zu viele Lobbys, die im Interesse der Industrie Umweltgefahren leugnen und verharmlosen, um unbehelligt Produktionsmethoden beibehalten zu können, die den Konzernen enorme Profite sichern. Was wäre wohl, wenn wir ebenso leidenschaftlich für unsere Umwelt eintreten würden wie für unsere Profite?

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Was wir unbedingt verdrängen wollen, ist folgende Tatsache: Jedesmal, wenn wir das »schmutzige Defizit« ignorieren, jedesmal, wenn wir Abfall nicht entsorgen oder wenn wir einen Wald abholzen, ohne durch Nachpflanzung für Ersatz zu sorgen, jedesmal, wenn wir giftiges Abwasser in einen Fluß leiten, nehmen wir unserem Planeten ein wenig von seinem Potential, uns zu ernähren und unsere ökonomische Zukunft zu sichern. Im Namen eines verborgenen Defizits, das in der Maske des Profits auftritt, in Namen einer Wirtschaft, die daherkommt, als wäre sie die einzig relevante Dimension der Umwelt, schälen wir unseren Planeten wie eine Orange.

Wir reißen ein Stück Leben nach dem anderen von seiner Oberfläche herunter und hinterlassen jedesmal eine offene Wunde, die nicht heilt, so daß uns die Erde nicht mehr ernähren kann. Die Tagebaugebiete in Indonesien reißen riesige Löcher in den Regenwald. Die Besatzungen der Fischtrawler ziehen ihre Netze über den Meeresboden und schöpfen das Ökosystem der Ozeane von deren Böden ab; sie betreiben Raubbau am Fischbestand, sie nehmen wahllos alles und zerstören so die Grundlagen des Fischereigewerbes für spätere Generationen. 

In Nordamerika zeigt sich der Raubbau an der Natur von einer anderen Seite. Wir Amerikaner halten uns für vernünftig und umweltbewußt, und doch erzeugen die USA und Kanada zusammen ein Viertel des gesamten Kohlendioxids weltweit, berauben die Atmosphäre ihres Sauerstoffs und fördern damit auch die Wirbelstürme, die im Gefolge der zunehmenden globalen Erwärmung immer häufiger auftreten.

Janet Yellen, die den Wirtschaftsberaterstab im Weißen Haus leitet, beschreibt das »schmutzige Defizit« folgendermaßen: 

»Die Erdoberfläche heizt sich offenbar durch die Akkumulation von Treibhausgasen aus unzähligen Quellen weltweit auf. Keiner der Verursacher dieser Emissionen erstattet derzeit den anderen die Kosten für die negativen Folgen der Erwärmung — für die Wirtschaftswissenschaft ein klassischer Fall von Kostenabwälzung. Dieses Mißverhältnis ermutigt die Verursacher geradezu, ihre Produktionsanstrengungen zu steigern; in der Folge werden die globalen Klimastörungen rasant zunehmen und — sofern wir dem nicht entgegenwirken — enorme wirtschaftliche und ökologische Schäden nach sich ziehen.«52

 wikipedia  Janet_Yellen *1946 in NYC

Die Umwelt ist die Ökonomie. Und wir sagen voraus, daß die Umwelt der Faktor sein wird, der die Weltwirtschaft in den nächsten 50 Jahren am stärksten beeinflußt.

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Die Ökonomie ist eine integrale »Dimension« der Umwelt, und sie wird genau so lange existieren wie die Menschen und keinen Tag länger. Wir müssen uns von der Illusion verabschieden, daß sie ein eigenes, in Konkurrenz zur Umwelt stehendes Dasein hat. Das hat sie nicht. Ohne Umwelt keine Ökonomie. Die Wirtschaft ist ein von Menschen geschaffenes Konzept, das sie in ihrer Beziehung zur Natur unabhängiger machte. Und nun sind wir bei der Beschaffung von Nahrungsmitteln, Wohnraum und allen materiellen Gütern von der »Ökonomie« ebenso abhängig wie von der Natur. Aber die Ökonomie existiert nicht für sich allein. Sie ist eine Dimension der Umwelt und existiert nur in Verbindung mit dieser. Umwelt und Ökonomie definieren auf unterschiedliche Weise denselben Prozeß der Lebenserhaltung, wobei die Ökonomie mißt und festlegt, in welchem Maße und auf welche Weise wir uns der Natur bedienen. Wenn aber die Menschen die Messungen bewußt manipulieren und keine Verantwortung übernehmen für die bedrohlichen Schäden, die sie der Biosphäre durch ihre wirtschaftlichen Aktivitäten zufügen, dann stehlen sie Leben, und das ist ein ebenso verabscheuungswürdiges Verbrechen wie jede andere Form des Diebstahls.

Wenn uns aber die Vorstellung verschiedener nebeneinander und miteinander existierender Dimensionen eines Gegenstands oder eines Sachverhalts einleuchtet, werden wir verstehen, daß wir Probleme in der Umwelt nicht lösen werden, solange wir die Wirtschaft nicht als eine ihrer Facetten anerkennen. Umweltschützer, die sich gegen »wirtschaftliche Interessen« stark machen, verkennen das Wesentliche ebenso wie Interessenvertreter der Industrie, die gegen den Umweltschutz wettern. Denn in einer Welt, in der die Menschen so sehr unter Armut, Kälte und Hunger leiden, daß ihnen alles gleichgültig ist, wird die Umwelt keinen Schutz genießen, und umgekehrt kann die Wirtschaft nicht gedeihen, wenn der Brunnen, der sie speist, versiegt.

Eine zeitgemäße Wirtschaftswissenschaft muß ein neues Prinzip formulieren:

Alles, was für die Umwelt negative Folgen hat, wird sich auch ungünstig auf die Wirtschaft auswirken, denn wenn sich die Konsequenzen unseres zerstörerischen Umgangs mit der Natur auch möglicherweise nicht auf der Stelle bemerkbar machen, werden sie auf lange Sicht doch ganz sicher nicht ausbleiben. Ein Schneeballspiel mit den Ressourcen der Natur führt ebenso unweigerlich zum ökonomischen wie zum ökologischen Kollaps.

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Wir beginnen gerade erst uns einzugestehen, welche Folgen die globale Erwärmung für die Weltwirtschaft hat. Kürzlich publizierte die US-Notenbank eine Studie unter dem Titel »El Nino und die Weltmarktpreise für die wichtigsten Rohstoffe: warmes Wasser oder warme Luft?«. Darin heißt es: »In den vergangenen Jahren gingen offensichtlich mehr als 20 Prozent der Inflationsrate bei den Rohstoffpreisen auf das Konto von El Nino. Das Phänomen El Nino erklärt auch die weltweite Inflation der Verbraucherpreise sowie die weltwirtschaftlichen Aktivitäten, die für etwa zehn bis 15 Prozent der Veränderungen jener Variablen verantwortlich sind.«53 El Nino ist ein zyklisch wiederkehrendes Klimaphänomen, das bei globaler Erwärmung häufiger (beinahe jedes zweite Jahr) auftritt. Es hängt so eng mit dieser zusammen, daß man El Nino inzwischen mit einigem Recht als einen Aspekt der globalen Erwärmung betrachten kann.

Es überrascht nicht, daß die Versicherungsbranche einer der ersten Wirtschaftszweige war, die erkannten, wie ernst die Bedrohung der Weltwirtschaft durch die globale Erwärmung ist. Gerade in dieser Branche, die ihr Geld ja auch mit Versicherungen gegen Unwetterschäden verdient, ist es eine Frage des wirtschaftlichen Überlebens, daß Umweltprozesse möglichst exakt modelliert und prognostiziert werden. Wenn ein Versicherer falsch kalkuliert und die Kundenprämien zu niedrig ansetzt, dann wird ihn die erste größere Wetterkatastrophe in den Ruin treiben. Das erlebten acht amerikanische Versicherungs­gesellschaften, als 1992 die beiden Wirbelstürme »Andrew« über Florida und »Iniki« über Hawaii hinwegtobten. Den Versicherern entstanden Verluste von über 19,5 Milliarden Dollar.54

 

Angesichts dieser erschreckenden Verluste und der daraus resultierenden Unternehmenskonkurse begannen die Versicherungen erstmals die tatsächlichen und potentiellen wirtschaftlichen Folgen der globalen Erwärmung zu untersuchen. Anläßlich einer Tagung zum Thema »Klimaveränderung und das Versicherungs­wesen« tat der Präsident des amerikanischen Verbandes der Rück-Versicherer, Frank Nutter, 1993 eine geradezu prophetische Äußerung:

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»Wir Versicherer meinen, daß unsere ökonomischen Interessen sehr eng mit der Umwelt und dem Klima zusammenhängen. Die Bedrohung durch Naturkatastrophen erzeugt eine Nachfrage nach Sachversicherungen. Und uns allen ist klar, daß Klimaveränderungen unsere Branche ruinieren könnten.«

Versicherungen spielen in vielen Industriezweigen eine große Rolle, da durch sie das ökonomische Risiko und Haftungsschäden begrenzt werden können. Bei jedem Neubau und auch bei Wohnhäusern, die über Kredite finanziert werden, ist ein Versicherungsschutz obligatorisch. Ohne Versicherungsschutz würden viele Industriezweige ein enorm hohes Risiko tragen oder wären praktisch handlungsunfähig. Eugene Lecompte, Präsident des amerikanischen Verbandes der Sachversicherer, äußerte dazu: »Die Versicherungswirtschaft könnte durchaus das erste Opfer der Klimaveränderung werden. Das würde sich auch auf die Aktienkurse auswirken. Viele von uns fürchten ein solches Szenario, bei dem infolge der Klimaveränderung die Versicherungswirtschaft und damit die gesamte Wirtschaft in Mitleidenschaft gezogen wird.«55

Schon 1993, als Nutter und Lecompte ihrer Besorgnis über die globale Erwärmung Ausdruck gaben, machte die »Siebte Naturkatastrophe mit Milliardenschäden innerhalb von drei Jahren« Schlagzeilen.56 Bis zum Oktober 1987 hatte es in einem Zeitraum von 20 Jahren keine einzige Katastrophe gegeben, in deren Folge die Versicherungen mehr als eine Milliarde Dollar zahlen mußten (nach dem Geldwert von 1992). Als sich dann innerhalb von drei Jahren sieben Wetterkatastrophen ereigneten, die jeweils Kosten von deutlich über einer Milliarde Dollar verursachten, war dies eine beängstigende Entwicklung, die unter den Versicherern für Unruhe sorgte.57

Und doch war es nur die Spitze des Eisberges. Die weltweit größte Rückversicherungsgesellschaft, die »Aachener und Münchener Versicherung« mit Sitz in Frankfurt/Main, setzte in einer gemeinsam mit dem Worldwatch Institute durchgeführten Jahresendschätzung die Verluste durch wetterbedingte Katastrophen für die ersten elf Monate des Jahres 1998 um 48 Prozent über der Rekordsumme des Jahres 1996 von 60 Milliarden Dollar an. Die Verluste von 1998 wurden auf 89,7 Milliarden Dollar beziffert.

Selbst inflationsbereinigt waren sie höher als die gesamten Verluste in dem Jahrzehnt ab 1980.

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Das menschliche Leid, das diese Katastrophen verursachten, kommt in diesen Zahlen nicht zum Ausdruck. Im Jahr 1998 wurden 300 Millionen Menschen, mehr als ein Zwanzigstel der Weltbevölkerung, durch Wetterkatastrophen obdachlos, und mehr als 50.000 Menschen verloren das Leben.58 Die wirtschaftlichen Verluste zeichnen sich erst allmählich ab, denn wir erleben den Beginn einer Entwicklung, die immer dramatischere Ausmaße annehmen wird, solange wir nichts gegen die Ursachen tun.59

Wenn wir einsehen, daß Umwelt und Ökonomie nicht voneinander zu trennen sind, werden wir Schritte unternehmen können, die beiden zugute kommen. Unsere gewohnte Denkweise verleitet uns, in Umwelt und Ökonomie zwei grundverschiedene Dinge zu sehen. Um diese Denkweise zu überwinden, wäre folgende Schlüsselfrage zu beantworten: Welche Möglichkeiten haben wir, die Bedürfnisse der Umwelt wie auch der Wirtschaft zu erfüllen?

Und auch: Wenn wir die Erde nicht schützen, auf welchem Planeten wollen wir dann unsere Wirtschaft betreiben? Wenn wir wirklich etwas für unsere Umwelt und für unsere Wirtschaft tun wollen, müssen wir uns auf der Stelle zusammensetzen und eine gemeinsame Front bilden - wir müssen in konzertierter Aktion zum Schutz der Umwelt und der Wirtschaft schreiten. Wenn wir die Trennung zwischen beiden als das erkennen, was sie ist - eine Illusion -, wird uns das ein gutes Stück vorwärtsbringen. Wir müssen über unsere Umwelt wachen wie über den Tresorraum einer Bank, denn in ihr liegen alle Schätze, die wir je besitzen werden.

 

Mit dem Projekt Clementine hatte man sich das revolutionäre Ziel gesetzt, eine Sonde für den ferneren Weltraum zu bauen. Sie sollte zum Mond fliegen und dann einen Asteroiden passieren. Ihre Entwicklung sollte »schneller, billiger und besser« sein als alles je Dagewesene, und dazu bediente man sich der neuen Mikrotechnologien, die im Rahmen des SDI-Programms entwickelt worden waren, sowie der modernsten Daten­verarbeitungs­systeme an Bord. Der Bau der Sonde und die Boden­kontroll­einrichtungen unterlagen einem modernen Management­system.

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Und noch etwas sprach für das Clementine-Projekt: Es wurde im Naval Research Laboratory (NRL) durchgeführt, dem Raumforschungs­zentrum, in dem die besten Raumfahrtspezialisten der Vereinigten Staaten beschäftigt waren. Viele von ihnen waren jung, begeistert und von bedingungslosem Ehrgeiz getrieben.

Während die Vorbereitungen für den Start zum Mond in vollem Gange waren, verfolgten Vince DiPietro und ich mit wachsender Spannung den Flug des Mars Observer (MO), der sich zehn Monate nach seinem Start nun dem Mars näherte. Für uns beide war dies der Augenblick: der Wahrheit. Wir hatten der Öffentlichkeit unsere Cydonia-Hypothese vorgestellt, und nun hofften wir, die Fotos zu erhalten, die unsere Theorie entweder bestätigen oder widerlegen würden. Vince war allerdings sehr pessimistisch:

»Ich glaube, es wird nichts, John. Ich glaube, irgend etwas wird passieren, und sie werden die Fotos nicht machen«, jammerte Vince. Wir hatten beide das ungute Gefühl, daß irgend jemand Cydonia, wenn es das war, als das es erschien, für zu wichtig halten würde, um nur ein Foto davon zu machen. Es war dieses schon bekannte Gefühl, daß Cydonia irgendwie ein »verbotener Ort« sei.

Ich kämpfte gegen das Gefühl an. Was konnte einfacher sein? Wir machen ein Foto und warten ab, was darauf zu sehen ist, redete ich mir ein. Als der Mars Observer in die Marsumlaufbahn einschwenkte, wuchs meine Spannung ins Unerträgliche. Der Mars Observer auf dem Mars, Clementine auf dem Mond - für das Clementine-Team war 1993 eindeutig das Jahr der Weltraumforschung. Der Mars Observer schaltete seine Sender ab, um sie vor den Erschütterungen der Landetriebwerke zu schützen — danach hat man nie wieder etwas von ihm gehört. Er verschwand einfach von der Bildfläche. Der Mars hatte ihn verschluckt. Selbst Vince mit seinen fatalistischen Befürchtungen war genauso schockiert wie ich. Das spurlose Verschwinden des Mars Observer und die Tatsache, daß die Leute im JPL vollkommen hilflos darauf zu reagieren schienen, bestärkte uns tief im Innern in unserem Gefühl, daß Cydonia irgendwie verboten war.

Ich versuchte, meine Nervosität in den Griff zu bekommen, indem ich mich in die Arbeit am Clementine-Projekt stürzte und ein paar längst fällige Berichte zu einem früheren Erdumrundungsprojekt fertigstellte. Während ich an diesen Berichten arbeitete, kam einer der Leiter des Clementine-Projekts in mein Büro.

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»Was machen Sie gerade, Brandenburg?« fragte er.

»Ich schreibe meinen Bericht über das letzte Projekt«, entgegnete ich ein wenig verwundert.

»Sitzen Sie nicht hier herum. Wir fliegen zum Mars, und Sie sind der Marsexperte! Also kommen Sie schon! Wir brauchen Sie im Planungsteam.«

Einigermaßen perplex stand ich auf und folgte ihm. In den Planungsbüros herrschte helle Aufregung. Die NASA hatte Entwürfe für eine Marsmission angefordert; die Sonde sollte in einem Jahr starten und die Aufgaben des Mars Observer übernehmen. Ich stürzte mich sofort in die Arbeit. Plötzlich machte sich meine intensive Beschäftigung mit dem Mars bezahlt: alle Dokumente, Bücher, Diskussionen und Konferenzen.

Wir erarbeiteten auf der Basis einer modifizierten Clementine-Sonde wirklich erstklassige Pläne für eine Marsmission. Etwa eine Woche lang sah es so aus, als würde alles nach Wunsch gehen. Aber der Mars ist (natürlich nach der Erde) das politisch heikelste Objekt im Sonnensystem, ein eifersüchtig gehüteter roter Fels. Das JPL setzte, unterstützt durch seine Fürsprecher im Kongreß, hinter den Kulissen alles daran, eine Clementine-Mission zum Mars zu verhindern. 

Uns sank der Mut, als wir feststellten, daß sich die Kommission, die über das Projekt entscheiden sollte, fast ausschließlich aus gegenwärtigen und früheren Mitarbeitern des JPL zusammensetzte. Wir durften unsere Pläne nicht einmal selbst vorstellen, auch das sollten Leute vom JPL übernehmen. Die Entscheidung, zu der die Kommission kam, war so absurd, wie wir es erwartet hatten: Ein Duplikat des Mars Observer sollte gebaut und zum Mars geschickt werden. Die Raumsonde Clementine wurde für ungeeignet befunden, die richtigen »Fragen« an den Mars zu stellen. Ihre Sensoren seien »unzulänglich«, vor allem ihre hochauflösende Kamera, eben jene, von der wir gehofft hatten, sie konnte uns schärfere Bilder von Cydonia liefern als die Viking-Sonde.

So nah waren wir dran, und doch war das Ziel sofern. Die Verantwortlichen des JPL schienen jedenfalls fest entschlossen, nichts, was nicht ihrer Kontrolle unterstand, auch nur in die Nähe des Mars zu lassen. Die Erforschung des Mars ist ein Nullsummenspiel. Im Rückblick wird das verständlich. Ein solcher Rückschlag hätte, besonders nach dem Debakel mit dem Mars Observer, einen gewaltigen Prestigeverlust für das JPL bedeutet. Er hätte Hunderte von Entlassungen nach sich gezogen und so mancher beruflichen Laufbahn ein vorzeitiges Ende bereitet. Wir fügten uns also in das Unvermeidliche, widmeten uns mit noch größerer Entschlossenheit unserer Clementine-Mission und gaben uns damit zufrieden, den Triumph statt dessen beim Mond zu finden.

Unsere Mondmission war ein sensationeller Erfolg. Wir dokumentierten die Mondoberfläche mit Aufnahmen von unerhört hoher Auflösung und spektraler Präzision und bewiesen damit, was die Philosophie des »Schneller, Billiger, Besser« wert war. Wir machten auch ein paar wichtige Entdeckungen, darunter vor allem die Feststellung, daß die Pole des Mondes mit Milliarden Tonnen gefrorenen Wassers überzogen sind. Dieser Befund wurde durch eine spätere Sonde, den Lunar Prospector, bestätigt und präzisiert.

Wir bemühten uns auch um den Asteroiden, aber leider stürzte der Bordcomputer dieses Wunderwerk, dem die Leistungsfähigkeit der Clementine-Sonde vor allem zu verdanken war ab wie ein ganz normaler PC. Unter Umgehung von drei separaten Sicherheitssystemen sandte er ein falsches Kommando an die Steuerdüsen, so daß das Raumfahrzeug wie ein Kreisel ins Trudeln kam und den Brennstoff für die Steuerdüsen verbrauchte. Es gelang uns, die Sonde wieder weitgehend zu stabilisieren, aber der Asteroid war bereits außer Sicht. Die Schwerkraft des Mondes katapultierte die Sonde schließlich auf eine Bahn, auf der sie zwischen Erde und Mars die Sonne umrundete. Hier wurde sie ein Jahr später entdeckt, ohne Treibstoff, aber ansonsten voll funktionsfähig — zwar nicht mehr verschwunden, aber für immer unserem Einfluß entzogen.

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