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1. Der fragwürdig gewordene Fortschritt

Closets-1970

 

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Die moderne Welt hat sich für die Naturwissenschaft entschieden. Das ist ein gefährliches Abenteuer. Weil sie den Trugbildern des Fortschritts nachgelaufen ist, erlebt die technische Zivilisation Krisen und gerät in Zweifel. Die Symptome sind eindeutig. Die Diagnose ist es nicht.

Was soll denn so schrecklich sein an diesen pfeiferauchenden Physikern mit Strubbelhaaren, diesen Biologen mit gepflegten Händen und weißen Kitteln, diesen eben von der Hochschule gekommenen jungen Forschungs­ingenieuren? Sie wirken eher harmlos vor ihren grünen Wandtafeln, über ihren schwarzen Mikroskopen, wie sie mit rührender Geduld an ihren Experimenten arbeiten. Dabei hat die Tätigkeit dieser Männer die Geschicke der Menschheit in neue Bahnen gelenkt.

Von den nach weiten Räumen und unbekannten Gefahren dürstenden Abenteurern, die in unbekannte Fernen aufbrachen, um das Unvorstellbare zu suchen - von ihnen war nichts zu befürchten. Alles zu befürchten aber ist von den friedlichen, verschwiegenen Leuten, die für uns, in unserem Namen, mit unserem Geld das Unergründliche erforschen. Und: alles zu erhoffen.

Dieser Zwiespalt zwischen Furcht und Hoffnung verstört die Menschen unserer Tage. Erst die Tätigkeit der Naturwissenschaftler erlaubt es dem Menschen, seine biologischen Grenzen zu überschreiten. Denn zunächst ist ihm, was möglich und unmöglich ist, in 23 Chromosomenpaaren vorgeschrieben. Diese in die Sprache der Chemie verschlüsselten Informationen determinieren für ihn das Sein und das Können. Sie verurteilen ihn zu einem mühsam gefristeten, stets gefährdeten Leben. Seine Angriffs- und Verteidigungsmöglichkeiten, seine Sinne, sein Gang sind völlig unzulänglich. Er ist seiner Umwelt ausgeliefert.

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   Ein nicht determiniertes Geschlecht  

Die unauffällige Verschwörung der Forschungslaboratorien weigert sich, dieses genetische Determiniertsein hinzunehmen. Sie setzt sich an die Stelle der biologischen Evolution, indem sie sich bemüht, das Menschen­geschlecht zu ändern. Sie vergrößert sein Sehvermögen bis hin zum Molekül, zum Atom, zum Teilchen und bis an die Grenzen des Weltalls. Sie vertausendfacht seine Fortbewegungsgeschwindigkeit, seine Kommunikations­fähigkeiten, seine Rechenleistung. Sie ermöglicht ihm nach und nach die Herrschaft über seinen Körper, die Kenntnis seiner Psyche. Sie unterstützt seine Leibeskräfte durch technische Sklaven, die den Bereich des Möglichen ins Unendliche ausdehnen.

In ihrem Kampf ums Überleben hat die Menschheit den einzigen Trumpf ausgespielt, den sie hatte: ihre Intelligenz. Das war ein Trumpf, der alles stach: jetzt hat sie die Macht. Wie in den klassischen Komödien, wo der Diener schließlich das Heft in die Hand nimmt, weil er klüger ist als sein Herr, hat sich der Schmarotzer die Natur Untertan gemacht. Seine Lebensbedingungen sind völlig verändert. Der Mensch ist nicht mehr der Mensch. Die Natur ist nicht mehr die Natur. Die ein für allemal gültigen Beziehungen zwischen dem Lebewesen und seiner Umwelt sind nicht mehr dieselben. Durch die Kraft der Gleichungen, Experimente, Beobachtungen und Erfindungen ist die Conditio humana in Bewegung geraten. Die Uhr tickt schneller. Die Sonne geht jeden Tag über einer etwas anders gewordenen Welt auf. Die Menschheit hat sich auf den Weg gemacht. Nicht auf einen erkundeten, vorbereiteten, ausgesteckten Touristenpfad, sondern ins Unbekannte. Ins Abenteuer. Ein neuer Marsch in ein gelobtes Land.

Und wer hat ihr dieses gelobte Land gezeigt? Der Fortschritt. Denn auch die neuen Könige folgen einem Stern. Sie gehen ins Unbekannte, aber sie wissen, daß der Weg der richtige ist, weil sie wissen, daß er in die Richtung des Fortschritts führt. Oder: daß er dem Lauf der Geschichte entspricht.

So ist jede Gefahr ausgeschlossen. Das neue Land wird fruchtbar sein, das Klima paradiesisch. Nur hinkommen muß man noch. Ein glückliches Zeitalter, das seinen Stern gefunden hat! Aber offenbar fällt es niemandem ein, erst einmal eine Spektralanalyse vorzunehmen. Was steckt in den Strahlen dieser Laterna magica?

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Der Fortschritt des Machbaren - ein Fortschritt ohne Ziel?

Fortschritt, das heißt zunächst einmal Weiterkommen in den Naturwissenschaften und vor allem in den Techniken. So gesehen müßte der Fortschritt wertfrei sein. Denn es gibt keinen Grund, der von vornherein dafür spräche, daß der wissenschaftliche Mensch, der technische Mensch glücklicher sein sollte als sein Vorfahre. Nach der heutigen Auffassung aber ist Fortschritt für die Menschheit <das Bessere>. Der Begriff hat einen Eigenwert bekommen, eine Finalität.

Mit jeder Erweiterung der Kenntnisse, jeder technologischen Verbesserung müßten demnach die Lebensumstände des Menschen automatisch besser werden. Dieses Eindrucks kann man sich nur schwer erwehren, weil er den trügerischen Anschein des Selbstverständlichen hat. Auto, Atomenergie, Relativität, elektronische Datenverarbeitung - lauter Fortschritte, lauter Siege für die Menschheit. Wer wollte das zu bestreiten wagen?

So rechtfertigt sich die Entwicklung von Wissenschaft und Technik offenbar selber. Sie braucht nicht organisiert, gesteuert und nach anderen Zielen ausgerichtet zu werden. Es genügt, den wundertätigen Prozeß einfach ablaufen zu lassen. Der Fortschritt um des Fortschritts willen führt ins Glück.

Leider widerlegen die Ergebnisse diese Vorstellung. Ein Fortschritt ist nicht der Fortschritt. Ohne auferlegte Ordnung akkumuliert, sind selbst tausend Fortschritte nicht der Fortschritt.

Die Technik ist von jeher und in alle Zukunft wertfrei. Sie liefert stets nur Mittel zum Handeln. Und an solchen Mitteln ist der Mensch jetzt reicher, als er es sich je hätte träumen lassen. Er kann das Antlitz der Erde verändern, Wohlstand für viele schaffen, die meisten Krankheiten besiegen, die Welt menschlich machen. Aber er hat nach wie vor die Ziele nicht bestimmt. Deshalb kann er auch den kollektiven Selbstmord auslösen, die Erde verwüsten, die Welt unmenschlich werden lassen, den einzelnen in die Entfremdung treiben usw. Die Dynamik der menschlichen Existenz hat keine Vorfahrtsstraßen, schon gar nicht in das Glück und die Weisheit. Der Mensch vermengt das Beste und das Schlimmste zu einem unentwirrbaren Chaos.

Unter diesen Bedingungen muß das Abenteuer Wissenschaft gefährlich sein. Nur von Zeit zu Zeit erinnert ein mahnender Ruf an diese Wahrheit. Vor einiger Zeit erklärte Sir Julian Huxley bei einem Kolloquium: »Wir leben in einer Krisenzeit. Lassen wir den Dingen ihren Lauf, so wird die Menschheit schon im Jahre 1999 mitten in der Katastrophe sein.«

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Pierre Piganiol, der ehemalige französische Generaldelegierte für wissenschaftliche Forschung, schreibt in seinem Buch Maitriser le progres: »Wir spüren heute, daß die Gefahren einer nicht beherrschten wissenschaftlichen Zivilisation sich im besten Falle als Selbstentfremdung des Menschen, im schlimmsten als seine völlige Vernichtung darstellen.«   fr.wikipedia  Pierre_Piganiol  1915-2007

Schon vor Jahren hat der britische Physiker Dennis Gabor geschrieben: »Wenn wir überleben wollen, dürfen wir die Technologie nicht unkontrolliert lassen.« Tausend bekannte und unbekannte Fakten beweisen diesen latenten Krisenzustand.

Fakten, aber keine Zivilisation

Wir verdanken es der Automatisierung, daß Produktivität und Lebensstandard steigen. Das ist gewiß etwas Gutes. Aber als die OECD 1964 in Washington die besten Fachleute für Arbeitsmarktprobleme aus der ganzen Welt versammelte, konnten selbst diese Experten nicht sagen, welche Auswirkungen die Automatisierung auf die Beschäftigungslage haben würde. Die einen meinten, die Menschheit gehe einer allgemeinen Arbeitslosigkeit entgegen, die anderen sahen das goldene Zeitalter kommen.

Das war 1964. Die Techniken begannen sich erst auszubreiten und ihren Beschleunigungseffekt auszuüben. Wenige Jahre später waren alle Industriezweige betroffen. Aber die Sachverständigen waren und sind nach wie vor nicht in der Lage, die Automatisierung in die Gesellschaft zu integrieren.

Als die ersten Atomexplosionen in der Atmosphäre ausgelöst wurden, glaubte man, die radioaktiven Niederschläge würden örtlich eng begrenzt sein. Nach den Explosionen zog das radioaktive Strontium um den ganzen Erdball. Entgegen den Voraussagen der Fachleute, die von Amts wegen um ihre Stellungnahme gebeten worden waren, hatten die verschiedenen Luftschichten nicht wie ein Schutzschild gewirkt.

Die Lektion war offenbar nicht deutlich genug. In den sechziger Jahren beschloß die Regierung der Vereinigten Staaten, einen atomaren Sprengsatz in großer Höhe zu zünden. Im Oktober 1961 richtete die Internationale Astronomische Union einen Aufruf an alle Länder, sie sollten solche Experimente unterlassen. Dennoch fand im April 1962 die Explosion >Starfish< statt. Sie beschädigte zwei in dieser Himmelsgegend fliegende Satelliten und schuf Strahlengürtel, die noch etwa dreißig Jahre bestehen bleiben werden.

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Eine Düsenmaschine benötigt für den Flug von Paris nach Rom zwei Stunden. Die Technik hat die Entfernung besiegt. Aber der Fluggast, der in Orly am Vormittag landet, braucht mindestens eine Stunde, um nach Paris hineinzukommen. Der Fortschritt bietet ihm Autos an, deren Tacho über 200 Stundenkilometer hinausgeht, aber der Stadtverkehr ist im Zeitalter des Kraftwagens langsamer als mit der Pferdedroschke vor hundert Jahren.

Auch das Überschallflugzeug ist durchaus nicht problemlos. Mit der Concorde oder der Tu-144 werden die Fluggäste die Schallmauer durchbrechen. Die wenigen Vielreisenden, die jeden Monat einmal den Atlantik überqueren, freuen sich über den Zeitgewinn von maximal vier Stunden. Aber gleichzeitig müssen die Pendler und die Städter Tag für Tag unbequeme öffentliche Verkehrsmittel benutzen. Und die Amerikanische Akademie der Wissenschaften hat sogar in einem Bericht die Ansicht vertreten, der Überschall-Knallteppich dieser Flugzeuge werde das Überfliegen bewohnter Gebiete mit mehr als 1 Mach unmöglich zulassen. Der Fortschritt der Technologie wird zum Wettlauf um Macht und eindrucksvolle Leistung. 1966 war ein Jahr, das in der Geschichte der Medizin einen Ehrenplatz verdient. Die Bilharziose, diese furchtbare Krankheit, an der 250 Millionen Menschen leiden, wurde durch ein neues Heilmittel besiegt. Wer wollte sich über eine solche Entdeckung nicht freuen?

Die Bevölkerungsstatistiker allerdings blickten auf ihre Kurven. Um wieviel würde der Wegfall dieser Menschheitsgeißel den Bevölkerungszuwachs erhöhen? Was nützt die Medizin, wenn es offenbar unmöglich ist, sich zusammenzutun für den Kampf gegen die einfachste und heilbarste aller Krankheiten: den Hunger.

Die Großmächte haben ihre ganze Kraft an die Eroberung des Weltraums gesetzt. In einem Jahrzehnt haben sie viele Milliarden Dollar und Rubel daran gewendet. Schon ist die eigentliche Raumfahrt mit Stationen auf Umlaufbahnen, mit Mondstützpunkten und Reisen zum Mars in den Bereich des Möglichen gerückt. Das ganze Sonnensystem steht dem Menschen offen.

Weil die USA das große Weltraumabenteuer nicht rechtzeitig vorhergesehen haben, mußten sie der Eroberung des Mondes den Vorrang geben. Seit dem 20. Juli 1969 steht das Sternenbanner über dem Mare Tranquillitatis.

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Aber in Ermangelung eines zusammenhängenden Programms in der Startphase sieht es ganz so aus, als würden die Jahre nach dem Sieg enttäuschend werden. Die Vereinigten Staaten werden ihre aufwendige Mondfahrt­technik abschreiben und Raumstationen bauen müssen, die billiger und rentabler sind als Stützpunkte auf dem Mond. Wenn Menschen längere Zeit auf dem Mond leben und arbeiten sollen, so bedarf es dazu der Zusammenarbeit vieler Nationen. Aber leider ist die Menschheit entzweiter denn je, und es ist durchaus möglich, daß sie die Sache gerade in dem Augenblick aufgibt, da sie sich an die eigentlichen Aufgaben machen könnte.

In einigen Jahren wird die Sendeleistung der Fernmeldesatelliten so groß geworden sein, daß ganz normale Fernsehgeräte mit der üblichen Antenne die Signale empfangen können. Leider werden die Geräte häufig nicht >verstehen<, was sie da hereinholen. Denn das Fernsehen hat sich in völliger Anarchie entwickelt. Jedes Land hat sich unabhängig für ein System entschieden. Zahl der Bilder je Sekunde, Zahl der Zeilen, Modulationssystem, Farbfernsehverfahren - jeder hat seine Lösung gesucht. Noch heute weiß niemand, ob es jemals gelingen wird, Ordnung in dieses Chaos zu bringen und ein echtes weltweites Fernsehen zu schaffen. Von dem Frequenzensalat, der für die achtziger Jahre zu erwarten ist, ganz zu schweigen.

Fusionen von Firmen sind an der Tagesordnung. Nach und nach geraten die Industriestaaten unvermeidlich auf den Weg in die Monopolwirtschaft mit wenigen Riesenbetrieben. Die Regierungen greifen immer nachdrücklicher in die Privatindustrie ein, und die Unternehmen selber bemühen sich, international zu werden.

Keine Theorie des vorigen Jahrhunderts hat ein solches System empfohlen, das die Nachteile von Kapitalismus und Kommunismus in sich zu vereinigen scheint. Ob Gewerkschaften oder Arbeitgeberverbände, Rechtsparteien oder Linksparteien: keiner findet darin die Bestätigung seiner Ideologie. Und dennoch ist diese Evolution in allen Industriestaaten im Gange. Offenbar wird sie von der Entwicklung der Techniken erzwungen. Von Krise zu Krise konzentrieren und internationalisieren sich die Unternehmen ein wenig mehr, und der Staat greift ein wenig mehr ein. Aber niemand scheint die gesellschaftspolitischen Folgen einer solchen tiefgreifenden Veränderung voraussehen zu können.

Der Fortschritt hat das alte Industriesystem gemordet, und es entsteht ein neues, das niemand so recht begreift. Moderne 100.000- bis 500.000-Tonnen-Tanker haben die Frachtraten spektakulär gedrückt. Das ist ein Fortschritt - der im Falle des Schiffbruchs zu echten Katastrophen führen kann.

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Aber das bekümmerte niemanden bis zu jenem 18. März 1967, als die >Torrey Canyon< vor der Küste von Cornwall in Seenot geriet und 100.000 Tonnen Erdöl sich in den Ärmelkanal ergossen.

 wikipedia  Torrey_Canyon

Die Ingenieure hatten von immer größeren Schiffseinheiten geträumt, und die Tankreedereien wollten am liebsten sogar den Skandal des Ölablassens auf hoher See vertuschen. Als die Katastrophe dann da war, gab es keine wirksamen Methoden zur Bekämpfung der Ölpest. Der massive Einsatz von Detergentien, das zeigte sich sehr schnell, hatte schlimmere Auswirkungen als die bekämpfte Gefahr. Seither sind Dutzende von Verfahren erprobt worden - ohne überzeugenden Erfolg.

War es denn wirklich so schwierig, die Folgen eines solchen Schiffbruchs vorauszusehen, als man sich damit beschäftigte, diese Riesentanker zu bauen? Aber es gibt kein Gesetz, keine Koordination für die Weltmeere, und es ist des Streits kein Ende unter den Rechtsgelehrten, ob das Meer nun allen oder niemandem gehört. Unterdessen werden die Wale ausgerottet, und die Tanker lassen Tausende von Tonnen Erdöl ins Wasser laufen. - Überall, in Landwirtschaft, Verkehrswesen, Hygiene, Städtebau, Industrie und Medizin - die gleichen Widersprüche.

 

Die angepaßte Menschheit

Ja, die Dinge sind nicht, wie sie sein sollten. Aber sie sind es nie gewesen. Warum sollte man sich ausgerechnet heute darüber aufregen? Eben weil der Fortschritt da ist. Weil >die Dinge« vom Menschen gemacht werden und er an seiner eigenen Unzufriedenheit schuld ist. Er hat die Mittel. Entsprechen die Ergebnisse nicht seinen Erwartungen, so kann er nicht mehr das unbarmherzige Schicksal anklagen. Solange die Menschheit machtlos war, hatte sie ein Recht auf Nachsicht. Die Menschheit, die ihr Schicksal beherrscht, darf mit aller Strenge beurteilt werden. Weil die Welt von heute die Natur bezwungen hat, aber den Fortschritt nicht bezwingt, hat sie, um Malraux zu zitieren, »die erste Zivilisation, die mit sich selber uneins ist«, hervorgebracht.

Aber ist die Behauptung nicht stark übertrieben, die Welt von heute habe sich ohne Ziele, ohne Organisation, ohne Kontrolle der Wissenschaft und der Technik einfach ausgeliefert? In allen Ländern beruht die Gesellschaft auf einer Ideologie und auf Institutionen, die von sich behaupten, sie zwängen den Fortschritt in die gewünschte Richtung.

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Wir wissen, wie es in der Praxis aussieht: der Fortschritt wird nicht kontrolliert und die Ideologien durchaus nicht von allen anerkannt. Überall spricht man von einer <schmerzlichen Neubesinnung> und versucht die alten Ideen den neuen Fakten anzupassen. Und überall reden die Konservativen vom Verrat an der reinen Lehre, überall fordern die Progressiven eine raschere Entwicklung. Durch die Dynamik der Wissenschaft geraten alle statischen Ideologien zwischen die Stühle. Veränderung auf der einen, Unbeweglichkeit auf der anderen Seite. Schon ist die Krise da.

Wissenschaft und Technik liefern durchaus nicht die Erklärung für alle Krisen unserer Zeit. Hitler war nicht das Produkt einer wissenschaftlichen Erfindung, Stalin und MaoTse-tung ebensowenig. Es kommen jeweils viele andere Phänomene hinzu. Aber das widerstrebende Zurückbleiben der Ideologien gegenüber der Eigendynamik des Fortschritts ist der gemeinsame Nenner aller Krisen. Das wird besonders deutlich, wenn man sich in jenen längst vergangenen Zustand zurückversetzt, der durch Jahrtausende unverändert geblieben war. Die Menschheit hatte sich ihrer Umwelt angepaßt. Nolens volens. Sie hatte sich »natürliche Ordnungen< geschaffen, die den Zwang der Umwelt in anderer Form an den einzelnen weitergaben. Denn die Lebensbedingungen waren aufgezwungen, und die individuelle Bewegungsfreiheit gering. Die Gesellschaft organisierte sich so, wie es für das Oberleben nötig war, auf statischen Grundlagen. Sie konnte die Forderungen der einzelnen nach Freiheit oder individuellem Glück nicht berücksichtigen. Als ein organisches Ganzes bot sie ihm ein prädeterminiertes Los in einem starren sittlichen, religiösen und politischen Rahmen.

Der Mensch lebte von der Natur als mehr oder minder erfolgreicher Schmarotzer. Er war vollkommen von den Naturerscheinungen, von Bodenschätzen, Klima, Seuchen usw. abhängig, und im Grunde konnte er Wohnsitz, Religion, Beruf und Privatleben nicht selber bestimmen. Über den Organismus der Gesellschaft erfuhr er den Druck einer Umwelt, auf die er keinen Einfluß hatte. So pendelte sich ein gewisses Gleichgewicht ein zwischen dem einzelnen, der Gesellschaft und der Natur ringsum, ein globales Gleichgewicht, in dem Zwänge und Widersprüche durchaus nicht immer als solche empfunden wurden. Dieses System wurde so gut wie nie angezweifelt oder abgelehnt, und es blieb unverändert von Generation zu Generation.

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Wissenschaft = Veränderung

Die Naturwissenschaft ist gekommen und hat den Menschen verwandelt in seinem Denken, in seinem Verhalten. Ihr folgte die Technik und veränderte die Umwelt. Wissenschaft = Veränderung: das ist die Grundformel des Abenteuers der Moderne. Wie geschieht diese Veränderung? Innerhalb einzelner Bereiche und schubweise. Ganz unverkennbar. Motorflug, Antibiotika, Kernenergie, Pestizide, Datenverarbeitung ... Lauter Einzelgefechte und Teilsiege. Eine aufeinanderfolgende Mutation der einzelnen Organe. Die Biologen wissen, daß sie selten günstig ist. Meistens kommen dabei mißgestaltete Wesen heraus. Nichts ist schwieriger, als ein Ganzes Teil um Teil zu verändern, ohne daß dabei die Harmonie irgendwann zerstört wird. Es bedarf dazu eines strikten, vorher festgelegten Planes. Nimmt man begrenzte Veränderungen aufs Geratewohl vor, läuft man Gefahr, daß einem die alte Ordnung unter den Händen zu Bruch geht, ohne daß man sie durch eine neue ersetzen kann.

Der Fortschritt aber entwickelt sich ohne festen Plan. Er folgt einem gänzlich unvorhersehbaren Weg. Der Wissenschaftler, der im Unbekannten forscht, kann nicht im voraus sagen, was er finden wird. So haben die Menschen den Laser, mit dem sie nichts besonders Nützliches anfangen können, aber sie haben nach wie vor keinen Krebsimpfstoff.

Die alte, statische, >natürliche< Ordnung muß unter solchen unablässigen Angriffen von allen Seiten zusammenbrechen. Das Bild verändert sich jeweils nur um eine Nuance. Es wird nicht plötzlich ein anderes, nur die Farben stimmen an allen Ecken und Enden nicht mehr zusammen. Der unkontrollierte Fortschritt führt ins ungewollte Chaos. Es liegt kein Grund für die Annahme vor, daß die auf Wissenschaft und Technik aufgebaute Veränderung von selber ein neues Gleichgewicht ergeben muß.

Die Notwendigkeiten des Fortschritts

Die wissenschaftlich-technische Entwicklung hat also offenbar zwei Grundzüge. Als Anbieterin neuer Mittel kann sie allen Zwecken dienstbar gemacht werden: nützlichen und schädlichen. Als eine Kraft, die unsere Welt jeweils nur in Teilbereichen und ohne Plan verändert, ersetzt sie die alte Ordnung durch eine neue Unordnung. Man kann diese Entwicklung nicht als etwas Segensreiches oder aus sich selber Gerechtfertigtes betrachten. Im Gegenteil. Es handelt sich um einen gefährlichen Prozeß, der sowohl das Beste wie das Schlimmste bringen kann.

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Gibt es nicht wenigstens ein paar Regeln und Grundsätze, an die man sich halten könnte, um eine sinnvolle Verwendung des Fortschritts sicherzustellen? Das ist die Frage, mit der wir uns hier beschäftigen wollen. Zunächst in allgemeiner Form, dann durch den Versuch, Ansätze zu solchen möglichen Regeln an ausgewählten Beispielen zu suchen. Die Ergebnisse dieser Reflexion werden auf manchen Leser enttäuschend wirken: es sind eher vernünftige Feststellungen und recht naheliegende Erkenntnisse. Um so überraschender, daß die meisten Zeitgenossen nichts davon wissen. Schon das rechtfertigt eine solche Bemühung.

Zunächst wäre noch einmal der Einfluß der wissenschaftlich-technischen Faktoren auf die Gesellschaftsordnung in den modernen Staaten zu überdenken. Dieser Einfluß ist ein umfassender. Er beschränkt sich nicht auf einen einzelnen Aspekt des Lebens, sondern ergreift die Person jedes Staatsbürgers ganz. Arbeit, Gesundheit, Privatsphäre, Moral, Politik ... Es gibt kein Gebiet, das seinem Zugriff entzogen wäre. Diese Grundtatsache lassen wir vorerst dahingestellt sein. Wir werden ihr auf jeder Seite begegnen, sobald wir zu den konkreten Beispielen kommen.

Ferner ist davon auszugehen, daß die Folgen einer Erfindung oder Entdeckung immer weit über den engen Rahmen der eigentlichen Anwendungen hinausgehen. Das Fernsehen stellt das ganze Unterrichtswesen in Frage, die Medizin nimmt den herkömmlichen Auffassungen von Leben und Tod ihre Eindeutigkeit, das Auto gibt unseren Städten ein völlig neues Gepräge, die Psychoanalyse zwingt zu anderen Vorstellungen von der Sexualität...

Deshalb muß die Veränderung, die der Fortschritt in den Möglichkeiten und in den Kenntnissen bringt, mit einer entsprechenden Veränderung der Gesellschaftsstrukturen und des individuellen Verhaltens einhergehen. Das ist ein allgemeingültiges Erfordernis. Nur so kann in der Veränderung das Gleichgewicht erhalten bleiben. Diese unerläßliche Anpassung ist nur auf der Grundlage einer kollektiven Organisation möglich. Der Fortschritt selber kann auf Teilbereichen und aus der Initiative bestimmter Gruppen entstehen. Ein einzelner Industriezweig kann eine Innovation hervorbringen, die das Leben aller verändert. Aber er kann nicht die Mechanismen schaffen und durchsetzen, um diese Innovation in die Gesellschaft einzufügen.

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Nur die Gesellschaft, die als solche tätig wird, kann die nötige Anpassung vornehmen. Ein privatwirtschaftliches Unternehmen baut Computer, ein pharmazeutisches Werk produziert ein neues Empfängnis­verhütungs­mittel, ein Forscher entdeckt ein noch wirksameres Pestizid. Alle diese Neuerungen lassen sich ohne Zuhilfenahme öffentlicher Institutionen einführen. Aber die Firmen, die solche Veränderungen bewirken, sind nicht in der Lage, die Freiheitsrechte des einzelnen im Hinblick auf die Datenverarbeitung neu zu definieren, die Sexualmoral der Empfängnisverhütung anzupassen oder dafür zu sorgen, daß die Landwirtschaft mit neuen Erzeugnissen richtig umgeht. Die Wirkung ist viel größer als die Ursache, und es muß von außen eingegriffen werden, wenn eine Kontrolle gewährleistet werden soll.

So führt der Fortschritt unvermeidlich zu einer größeren Verantwortung der Gemeinschaft. Diese Entwicklung tritt in jedem Falle ein, ganz gleich, ob sie in klarer Erkenntnis des jeweiligen Sachverhalts akzeptiert und wahrgenommen oder nicht begriffen und bloß hingenommen wird. Man braucht sich nur die Zunahme des Bundeshaushalts, der Behörden und der Vorschriften in den USA anzusehen. Das Vaterland der Liberalität hat das immer stärkere Eingreifen des Staates ganz gewiß nicht mit Begeisterung betrieben. Die Vereinigten Staaten müssen im Widerspruch zu ihrer Ideologie handeln. Ein Gesundheitsministerium war in den Zeiten der empirischen Medizin nicht notwendig. Als das Pferd das einzige Fortbewegungsmittel war, brauchte man keine Straßenverkehrsordnung.

Eine NASA war überflüssig, solange es die Rakete noch nicht gab. Jedesmal, wenn der Mensch seine Macht um eine neue Möglichkeit vergrößert, muß die Gesellschaft organisierend eingreifen. Ob ihr das nun gut oder schiecht gelingt - sie hat Strukturen zu schaffen. Eine solche kollektive Organisation muß auf die Zukunft ausgerichtet sein. Will man dem Fortschritt gewachsen sein, so muß man ihm zuvorkommen, also seine Folgen im voraus abschätzen, anstatt sich zu bemühen, die Krisen zu beheben, die er hervorgerufen hat. Natürlich ist es nicht immer leicht, Voraussagen zu treffen. Es ist sogar unmöglich im Stadium der wissenschaftlichen Erstentdeckung, weil sich zum Beispiel heute niemand vorstellen kann, wie die physikalische Theorie aussehen könnte, die Relativität und Quantenphysik eines Tages zusammenführt.

Wenn sich aber auf dem immerhin beträchtlichen Wege von der ersten Entdeckung bis zur verwertbaren Neuerung das Bild deutlicher abzeichnet, muß dieser Zeitraum, in

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dem man die Dinge >kommen sieht<, genutzt werden, um die Folgen abzuschätzen und entsprechende Maßnahmen vorzubereiten.

Dann gilt es zu handeln. Man darf also nicht warten, bis es in Frankreich 15.000 Computer gibt, bevor man ein Datenverarbeitungsrecht schafft oder bis kein Fisch mehr in den Flüssen lebt, bevor man wirklich etwas gegen die Gewässerverschmutzung tut.

Organisation und Prognosen müssen davon ausgehen, daß der Fortschritt eine spezifische Eigentümlichkeit hat: Er ist immer weltweit, was seine tiefe Ursache darin hat, daß die Kräfte, welche die Menschheit vorantreiben, überall die gleichen sind. Diese Kräfte haben eine gemeinsame Sprache: die Mathematik. Ein gemeinsames geistiges Werkzeug: die naturwissenschaftliche Methode. Eine gemeinsame Art des Handelns: die Technik. Und sie haben es mit den gleichen Realitäten zu tun, überall: mit der Natur, dem Leben, dem Menschen. Bei gleichen Verfahrensweisen und gleichen Gegenständen des Forschens bringt der Fortschritt notwendigerweise Ergebnisse von universaler Anwendbarkeit. Er ist kein Einiger, aber ein Gleichmacher. Mit jedem Tag werden die Grenzen durchlässiger. Durchlässiger für Gedanken, Bilder, Informationen, Menschen und Waren. Die Fortschritte im Fernmelde- und Verkehrswesen haben die Entfernungen zu etwas Unwesentlichem gemacht. Alles ist überall. Die Phänomene haben immer eine Komponente der Universalität.

Die Ansteckung ist unvermeidlich.

Weil er verändert, schafft der Fortschritt Spannungen und ruft Widerstände hervor. Traditionen, Gewohnheiten, Institutionen, Überzeugungen wehren sich dagegen, von ihm in Frage gestellt zu werden. Wenn solche Spannungen vermieden werden sollen, muß die Gesellschaft selber in Bewegung geraten. In einer Übergangszeit verschärft jede autoritäre oder starre Form des Vorgehens die Widerstände. Eine moderne Gesellschaft muß also darauf verzichten und statt dessen flexiblere Methoden anwenden, die den Dialog, die Konzertation, das Delegieren von Verantwortung zulassen. Die Staaten sind gezwungen, auf zentralistische Verwaltungsstrukturen zu verzichten zugunsten anderer, die empirischer, anpassungsfähiger, vielfältiger sind. Unter dem Druck des Fortschritts werden alle Nationen ihre statische durch eine dynamische Organisation ersetzen müssen. Auch das ist eine Grundregel. Es werden uns noch viele einleuchtende Beispiele begegnen, wo sie angewendet werden muß.

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Die Sünden wider den Fortschritt

So zeichnen sich, zunächst einmal ganz theoretisch, bestimmte Regeln für das richtige <Leben mit dem Fortschritt> ab.

Anpassung der Gesellschaft, vorbeugendes Eingreifen, kollektive Organisation, Veränderung der Strukturen des Staates - diese Grundsätze gelten für alle Bereiche des wissenschaftlich-technischen Fortschritts und demzufolge für die ganze Gesellschaft, und zwar in jedem Land. Aus diesen Grundsätzen ergeben sich konkrete und präzise Erfordernisse für jede einzelne Situation. Will man sie nicht wahrhaben, so begeht man in der Tat eine <Sünde wider den Fortschritt>.

Die Sünde ist nach der herkömmlichen Definition ein Verstoß gegen subjektive Normen. Sie kann aber auch begangen werden, indem man objektiven Notwendigkeiten zuwiderhandelt. Die Ordnung, die sie dann stört, ist nicht die überkommene Moral, sondern eine technisch-wissenschaftliche Entwicklung, zu der ein bestimmter Gleichgewichtszustand gehört. Jede Änderung, die Unordnung schafft, ist gegen diese im Entstehen begriffene wissenschaftliche Zivilisation gerichtet.

Solche Regeln gilt es nicht erst zu entdecken. Seit etlichen Jahren schon wird ihre Bedeutung von klugen Männern wie Louis Armand immer wieder betont. Sie lassen sich aber stets nur unter Schwierigkeiten einhalten. Deshalb will man sie lieber gar nicht erst zur Kenntnis nehmen. Und genau das ist der Grund, warum das Anwachsen von Wissenschaft und Technologie ein gleichzeitiges Anwachsen des Unbehagens und der Spannungen bewirkt.     wikipedia  Louis_Armand  

Ja, das Abenteuer Wissenschaft ist gefährlich und unerquicklich. Es geht darum, im eigentlichen Sinne des Wortes eine Utopie zu schaffen. Künstlich einen neuen Raum für die Menschen zu bauen.

Wie gewaltig diese Herausforderung ist, hat man nicht von Anfang an erkannt.

Alles will neu erfunden sein: Gesellschaft, Natur, Familie, Arbeit, Moral... - alles, was Wissenschaft und Technik zerstören, ohne selber etwas anderes an die Stelle zu setzen.

In wenigen Jahrzehnten gilt es die Welt menschlich zu machen, indem man dem Künstlichen ein System gibt.

Die Technologie wird sich stets schneller entwickeln als der Mensch. Die rasche und ständige Verwandlung seiner Umwelt macht ihm seine Sonderstellung bewußt, aber sein Verhalten beweist, daß er im langsamen Gang der biologischen Evolution gefangen ist. Jede Herausforderung in einem Teilbereich läßt ihn immer wieder mit dem gleichen Mechanismus, mit der gleichen beharrenden Trägheit reagieren. Solange die Bedingungen für seine Mutation nicht gegeben sind, wird der einzelne gespalten bleiben - eher Erbe der Vergangenheit denn Zeitgenosse der Zukunft.

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I. KAPITEL  Der fragwürdig gewordene Fortschritt