Dr. Renate Dillmann
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Gesundheit im Kapitalismus
Warum Gesundheit gar nicht unser "teuerstes Gut" ist
2022 - Von Renate Dillmann
Teil 1 telepolis.de Warum-Gesundheit-gar-nicht-unser-teuerstes-Gut-ist Teil 2 telepolis.de Das-Gesundheitwesen-als-Reparaturbetrieb Teil 3 telepolis.de Krankenhaeuser-als-Profitcenter
Ob die "Ernährungs-Docs" uns "mit Super-Food" "supergesund" machen, die "geheime Kraft der Atmung", "Augen-Yoga" oder der "Darm mit Charme" auf uns warten: Gesundheits-Ratschläge boomen – in Zeitschriften, Büchern oder von alternativen Heilern aller Art. Bei denen, die Zeit dafür haben oder es sich leisten können, wird eine Welle "gesunder Ernährung" nach der anderen ausprobiert und im Freundinnen-Kreis weiter gereicht. Und nicht erst seit Corona-Zeiten ist Gesundheit das Gesprächsthema Nummer 1 (neben dem miesen Wetter). Warum ist das so? Wogegen wird da so stetig angekämpft? Und leben wir nicht in einer Gesellschaft, die über gut ausgebildete Mediziner und ein ausgezeichnetes Gesundheitssystem verfügt?
Leistungen der modernen Medizin
Die Krankheiten, an denen die Menschen heute in den westlichen Ländern leiden, sind – Corona ist da ein Ausnahmefall! – im Wesentlichen nicht mehr Seuchen bzw. lebensbedrohende Infektionskrankheiten. Und tatsächlich hat die Medizin ungeheure Fortschritte aufzuweisen.
Ärzte können inzwischen einen großen Teil der Krankheiten, an denen Menschen früher zugrunde gegangen sind bzw. lang dauernde Folgen zu ertragen hatten, relativ verlässlich behandeln: Geburten mit ihren Risiken (Kindbettfieber), Lungen- und Blinddarmentzündungen, Knochenbrüche und vieles andere mehr. Hygienemaßnahmen, Impfungen, Antibiotika und Erkenntnisse zur Ernährung haben zudem viele früher verbreitete Krankheiten irrelevant gemacht.(1)
Dazu war es nötig, dass der frühe bürgerliche Staat den medizinischen Erkenntnissen auch praktische Schritte folgen ließ: Kanalisation – hauptsächlich in den entstehenden Großstädten – noch 1892 starben in Hamburg 7.000 Menschen an der Cholera – und Versorgung mit sauberem Trinkwasser durch den Bau von Talsperren, Anordnung von Massenimpfungen usw.
Ärzte können inzwischen auch einen Teil von körperlichen Mängeln und Verschleiß, den angeborene Defekte oder das Älterwerden mit sich bringen, entscheidend verbessern: Operationen, auch pränatal, künstliche Gelenke oder Herzklappen, Transplantationen von Organen usw.
Diese Leistungen der modernen Medizin manifestieren sich in einer enorm gestiegenen Lebenserwartung und oft auch einer sehr viel besseren Lebensqualität von Menschen mit Behinderungen und von Senioren.
Um solche Fortschritte zu erreichen, haben Mediziner Wissen und Erkenntnisstand der früheren Gesellschaften grundsätzlich in Frage gestellt und deren Weisheiten vom "natürlichen" bzw. "gottgegebenen" Gang der Dinge aus dem Verkehr gezogen und durch Aufklärung, Forschung und eine zunehmend systematischere Wissenschaft vom Funktionieren des menschlichen Organismus ersetzt.
Viele der Krankheiten, mit denen Patienten aktuell von ihren Ärzten Rat und Heilung wollen, haben ihre Ursachen allerdings nicht in angeborenen körperlichen Defekten, in Unfällen, dem Altwerden oder ähnlichem, sondern ziemlich offensichtlich in der Ökonomie bzw. der Lebensweise dieser Gesellschaft.
Kapitalismus macht krank
Konsum im Kapitalismus macht krank. Weil die zum Leben notwendigen Güter, damit auch die "Lebensmittel" im engeren Sinn als Waren produziert und kalkuliert werden, sind nicht Gesundheit, Geschmack und Genuss der Konsumenten maßgeblich, sondern das Geschäft, das die Anbieter damit machen können.
Die Herstellung verträglicher und gesunder Konsumtionsmittel ist nicht der wesentliche Gesichtspunkt, wenn es darum geht, mit der Herstellung und dem Verkauf von Produkten Gewinn zu erzielen. Kosten müssen gering gehalten, die hergestellten Waren möglichst vielversprechend angeboten werden – das sind die entscheidenden Mittel des Geschäftserfolgs.
Ob Brötchen, Tomaten oder Schnitzel gut schmecken oder auch nur gesund sind, ist dem gegenüber nachrangig – und höchstens wieder als Mittel zur Steigerung des Absatzes interessant.
Bei Herstellung und Verarbeitung aller möglichen Konsummittel werden deshalb risikofreudig Stoffe eingesetzt, deren Wirkung noch gar nicht ausreichend erforscht sind: Antibiotika, Pestizide, krebserregende Herbizide, Baustoffe usw.
Als Nahrungsmittel werden in der Folge Produkte verkauft, die die Konsumenten oft eher schleichend vergiften als dass sie Lebensmittel im Sinn des Wortes darstellen.
Ab und an – dann ist mit schöner Regelmäßigkeit von einem "Skandal" die Rede – bringen sie auch akute Krankheiten mit sich: Dioxine werden in Eiern gefunden, Hormone und Antibiotika im Fleisch; Kinderspielzeug, Wohnungen und Kleidung entpuppen sich als wahre Giftschleudern.
Zum Teil kann man sich von dieser Gesundheitsschädigung freikaufen, wenn das nötige Geld zur Verfügung steht und die Bio-Branche ihre Kunden nicht ebenfalls vergiftet ... In Lebensmitteln und Textilien verwendete Stoffe lösen Allergien aus; Baumaterialien in Häusern, Büros und Schulen verursachen Krebs.
Lohnarbeit macht krank. Weil sie dem Zweck dient, fremden Reichtum zu vermehren, ist sie rücksichtslos gegenüber den Bedürfnissen von Körper und Geist der Arbeitenden, dauert sie allem technischen Fortschritt zum Trotz oft bis zur Erschöpfung und Verblödung, ist sie oft gefährlich, belastend und fast immer vereinseitigend und "stressig".
Die Arbeitskraft ist im auf Gewinn angelegten Produktionsprozess ein Kostenfaktor, aus dem möglichst viel herausgeholt werden muss. Der Einsatz von Arbeit für Gewinn kann an Arbeitsplätzen passieren, an denen die Arbeit schwer, giftig, einseitig, physisch anstrengend ist.
Aber auch wenn die Arbeitswelt des 21. Jahrhunderts weitgehend anders aussieht, die meisten Beschäftigten inzwischen nicht mehr in Gruben einfahren, Stahl kochen oder schwere Lasten bewegen, sondern "nur" in Büros sitzen, sich auf Bildschirme konzentrieren oder LKWs lenken, so dass die geforderten Anstrengungen durch Konzentration und allgemeinen "Stress" eher psychischer Natur sind, handelt es sich um den systematischen Verschleiß der menschlichen Physis und Psyche.(2)
Übrigens: Diese Argumente gelten für die vielen, sich selbstausbeutenden kleinen und manchmal auch gar nicht so kleinen "Selbständigen" genauso.
Auch die "Umwelt" – Luft, Gewässer, Böden usw. – machen zunehmend krank. Dies ist der Fall, weil sie als Rohstofflager der Produktion ausgebeutet und als kostengünstiges Endlager für die Rückstände der Profiterwirtschaftung genutzt und damit vergiftet werden.
Der ständig zunehmende Verkehr einer Arbeitsbevölkerung, die flexibel und mobil sein soll, und einer Produktion just in time sorgt für krank machenden Lärm, schlechte Luft und jede Menge Stress.
Weil das so ist, fällt auch die Freizeit entsprechend aus. Was eigentlich der immer propagierte Zweck des Gelderwerbs sein sollte – das Leben nach eigenen Interessen gestalten und genießen – gerät für die große Mehrheit zu einer Veranstaltung, die von vielen Notwendigkeiten diktiert ist.
Erstens ist alles Mögliche zu erledigen, was "das Leben" neben der Arbeit verlangt (Kinder in Kita und Schule bringen, einkaufen, die Wohnung putzen, Auto in die Inspektion, TÜV, Steuererklärung, sich über Telefonrechnungen streiten, ein Schnäppchen für die Urlaubs-Buchung finden usw.); zweitens aber wirken die Folgen der Arbeit in diese "freie Zeit" massiv hinein.
Man ist kaputt, soll aber noch Sport machen, damit das viele Sitzen kompensiert wird; man ist "gestresst" und kann nicht abschalten, obwohl man dringend Ruhe und Schlaf braucht; man will sich amüsieren, muss aber daran denken, dass es morgen früh losgeht und man fit sein muss.
Der Einsatz von Stoffen aller Art, die just in time lustig, schläfrig oder fit machen sollen, hat hier seine Gründe und steigt mit zunehmender "Belastung" der Gesellschaft – mit entsprechenden Folgen für Physis und Psyche.
Die Freizeit, von der sich alle so viel erwarten, ist insofern weitgehend bestimmt als Funktion: Erholung für die Sphäre der Notwendigkeit – eine Funktion, die sie angesichts aller widersprüchlichen Anforderungen bei aller in Ratgebern ständig gepredigten "Vernunft" meist gar nicht erbringen kann. Und wenn sich einige nicht "vernünftig" verhalten und es "mal krachen lassen", dann rächt auch das sich schon wieder.
Die Konkurrenz um Noten, Berufskarrieren und damit letztlich um Eigentum als Zugriffsmittel auf alles Wichtige und Schöne ist für die Mitglieder dieser Gesellschaft eine größtenteils lebenslange Notwendigkeit mit erheblichen Folgen für ihre psychische Gesundheit.
Was in Schule und Uni beginnt, setzt sich am Arbeitsplatz fort: Alle werden in ihren Leistungen verglichen und vergleichen sich deshalb auch selbst pausenlos mit den anderen. Das nötigt zu Anstrengungen einer besonderen Art.
Erstens zählt nichts für sich, sondern nur als Mittel dafür, sich gegen andere hervorzutun – weshalb keiner weiß, ob das Gelernte bzw. die geleistete Arbeit reichen, denn der eigene Erfolg hängt immer davon ab, wie viel die anderen "bringen" oder "nicht bringen". Ständige Unsicherheit und die Tendenz, sich selbst und diejenigen, die einem unterstellt sind, immer mehr zu fordern, sind Konsequenzen.
Zweitens ist der eigene Zweck nur zu erreichen, wenn man sich dabei gegen andere durchsetzt. Daraus resultieren u.a. Konkurrenzstrategien, die andere schlecht aussehen lassen und aus dem Rennen werfen sollen – Mobbing, Intrigen, Hetze.
Nicht ganz so harte "Charaktere" halten die ewigen Gegensätze und Gemeinheiten nicht aus, ob als Opfer oder als Täter: Die Fälle von Depressionen und Burnout (mittlerweile zweithäufigste Ursache für Arbeitsunfähigkeit) nehmen massiv zu.(3)
Die so genannten Volks- oder Zivilisationskrankheiten
Die modernen "Volkskrankheiten" kommen vorwiegend dadurch zustande, dass die auf den menschlichen Organismus einwirkenden Belastungen bei Konsum und Arbeit über lange Zeiträume andauern.
Das betrifft die Entstehung einiger Allergien (dauerhafter Kontakt mit allergenen Stoffen), Teile von Diabetes Typ 2 (dauerhaft erhöhter Blutzucker bzw. -fettspiegel, auch infolge von Stress), Bluthochdruck (dauerhafte physische oder psychische Anstrengung, die erhöhte Pumpleistung des Herzens auslöst), Muskel-, Skelett- bzw. Gelenkerkrankungen (u.a. durch anhaltende Überstrapazierung, aber auch durch mangelhafte Ernährung).
Diese Krankheitsbilder ergeben sich daraus, dass die schädlichen Belastungen dauerhaft ertragen und ausgehalten werden.
Um das zu erkennen, braucht es nicht einmal ein Studium der Medizin. Aber auch die Wissenschaft weiß um den gesellschaftlichen Charakter der wesentlichen Krankheits-Gründe, wenn sie etwas schräg von "anthropogen" verursachten "Zivilisationskrankheiten" spricht; schräg insofern, als diese Krankheiten nicht den Fortschritten der menschlichen Zivilisation entspringen – wie es da fast philosophisch formuliert wird – sondern dem Zweck und den Wirkungen des Kapitalismus (also einer sehr bestimmten Form von Zivilisation).
Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebserkrankungen, chronische Atemwegserkrankungen, Diabetes Typ 2 machen 90 Prozent der Todesfälle und 84 Prozent der "Krankheitslast" in Europa aus – so eine Warnmeldung der WHO.
Zählt man noch Rückenschmerzen, Allergien, Neurodermitis und psychische Störungen hinzu, dann ist schon ein sehr großer Teil der Leiden, die die Leute heute plagen, mittelbar und unmittelbar auf die Krankheitsursache "Kapitalismus" (Produkte, Verkehrswesen, Arbeitswelt, die "Lebensweise" von modernen Konkurrenzsubjekten) zurückzuführen.
Ärzte mit Grenzen
Ebenso klar ist allerdings, dass Ärzte am Grund dieser modernen Volksseuchen nicht rütteln wollen und können: In dieser Ökonomie haben sie mit all ihren Erkenntnissen keinen Einfluss darauf, was wie produziert wird – weder im Hinblick auf die mehr oder weniger schädlichen Produkte, mit denen die Leute sich ernähren, anziehen und wohnen sollen, noch auf den Ablauf des Produktionsprozesses.
All das fällt in die freie Entscheidung der Eigentümer, die damit um ihre Marktanteile und ihren Gewinn kämpfen und deshalb stets die entsprechenden "Fortschritte" ins Werk setzen. Diese Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Produktion finden selbstverständlich ihren Niederschlag in Körper und Seele des modernen (Arbeits-)Volks – und ebenso selbstverständlich ist in dieser Gesellschaft, dass die behandelnden Ärzte daran nicht rühren.
Vernunft, Aufklärung, Wissenschaft der Medizin – hier stoßen sie unter "den herrschenden Verhältnissen" an klare Grenzen. Offensichtlich gesellschaftliche Ursachen von Krankheitsbildern gelten unter dieser Bedingung als unumstößlich, gewissermaßen natürlich.
Der Arzt, die Ärztin können weder die krankmachenden Lebensmittel aus der Welt schaffen noch ihren Patienten raten, den schädlichen Arbeitsplatz zu verlassen. Also macht er oder sie das unter den gegebenen Umständen Beste daraus, indem sie ihren Patienten dabei helfen, mit all den schädlichen "Voraussetzungen" durch das Leben zu kommen: nicht gesund zwar, sondern "chronisch" krank mit Rückenleiden, Allergien, Rheuma, Neurodermitis, Bluthochdruck, depressiven Phasen usw., aber "immerhin".
Und wenn "die Welt" mit ihrem ganzen Drum und Dran erst einmal als "leider nicht zu ändern" gesetzt ist, dann bleiben aus Sicht der Mediziner natürlich vor allem Ratschläge zu Lebenswandel und Einstellung des Patienten (Alkohol, Rauchen, mehr Sport, überhaupt auf die Gesundheit achten!) das, womit man ihm am besten helfen kann.
Die Anamnese wird zu einer Art Gewissenserforschung, bei der die Krankheitsursachen moralisiert werden und das Eigenverschulden wie die Eigenverantwortung des Patienten in den Vordergrund rückt. Darin, dass Ärzte die bei ihnen ratsuchenden Menschen im Rahmen ihrer Möglichkeiten fit machen für eine Welt, die sie systematisch krank macht – darin besteht insofern ein großer Teil ihrer praktischen Tätigkeit [5].
Patienten: robustes Verhältnis zur Gesundheit
Im Ziel, möglichst schnell gesund zu werden, um sich wieder "ins Leben" mit seinen Anforderungen und Belastungen stürzen zu können, sind sich die Patienten weitgehend einig mit ihren Docs, Psycho- und Physiotherapeuten oder sonstigen Heilern.
Eine zumindest einigermaßen intakte bzw. wiederhergestellte Gesundheit ist aus ihrer Warte einerseits die wesentliche Voraussetzung für so ziemlich alles, was sie an Interessen und Zielen verfolgen.
In einer kapitalistischen Wirtschaft ist Gesundheit allerdings andererseits noch in einem darüber hinaus gehenden Sinn existenziell wichtig: Wer körperlich oder seelisch nicht einigermaßen fit bzw. stabil ist, ist nicht in der Lage, seinen Arbeitsalltag durchzustehen.
Er und sie muss deshalb auf Dauer die Segel streichen oder wird wegen zu häufiger Fehlzeiten entlassen – laut IG-Metall droht eine "krankheitsbedingte Kündigung", wenn ein Arbeitnehmer drei Jahre lang jeweils mehr als 30 Tage ausfällt [6] – und verliert damit sein Einkommen.
Zwar gibt es für die verschiedenen Fälle Lohnersatz-Leistungen.(4) Allerdings müssen dafür die gesetzlich geregelten Voraussetzungen vorliegen – was insbesondere bei den inzwischen verbreiteten "prekären" Arbeitsverhältnissen nicht der Fall ist. Und es sind bei allen Varianten Abzüge vom Lohn hinzunehmen, die vom Gesetzgeber vorsorglich eingebaut wurden, um Arbeitnehmer zu motivieren, ihre Arbeit zügig wieder aufzunehmen bzw. sich schnell einen neuen Arbeitsplatz zu suchen.
Das funktioniert in Deutschland so gut, dass das Phänomen des "Präsentismus" beklagt wird: Arbeitnehmer:innen gehen arbeiten, obwohl sie krank sind. Mehr als die Hälfte der Befragten gab in einer 2017 veröffentlichten Studie an, mindestens einmal pro Jahr trotz Krankheit am Arbeitsplatz zu erscheinen, und das durchschnittlich an etwas mehr als sechs Tagen.(8)
Obwohl dieses Verhalten kurzfristig von gelungener Motivation zeugt, bringt es im Fall von Infektionskrankheiten neben der Ansteckung von Kollegen oder Kunden/Patienten mittelfristig noch andere kontraproduktive Folgen hervor. Denn mehr als 70 Prozent der fleißigen Arbeitnehmer:innen erkranken im Laufe des Jahres dann so gravierend, dass sie mehr als zwei Monate ausfallen.
Wenn das schon bei den noch einigermaßen gut abgesicherten "regulären" Arbeitsverhältnissen gilt, ist unschwer zu schlussfolgern, dass all diejenigen, die sich mit prekären bzw. (schein-)selbständigen Jobs durchschlagen, noch erheblich rücksichtsloser mit sich (und anderen) umgehen, wenn sie krank sind.
Und natürlich gilt das auch für den Willen zum Durchhalten im Privaten, wo man einfach nicht ausfallen kann oder will, wenn daran die Kinder mit ihrem Programm, der pflegebedürftige Vater oder auch nur der lange ersehnte Kurzurlaub hängen.
Der weitaus größte Teil des Volks pflegt unter den herrschenden Bedingungen also ein robustes Verhältnis zu seiner Gesundheit. Um mit den ziemlich "alternativlos" gegebenen Notwendigkeiten der eigenen Existenz klarzukommen, werden die Schädigungen von Körper und Psyche, die aus den zahllosen "Ratgebern" bekannt sind (!), praktisch schlicht hingenommen.
Das hat Folgen. Was den lieben langen Tag am Arbeitsplatz, im Großstadtverkehr, bei den Lebensmitteln alles auf Muskeln, Organe und Seele eindrischt, das kann durch ein bisschen gute Luft beim Spaziergang, das Fitness-Center am Feierabend oder ein entspanntes Wochenende beim besten Willen nicht gut gemacht werden.
Die Menschen dieser Gesellschaft sind deshalb längst daran gewöhnt, mit den "üblichen" Malessen zu leben – "muss ja". Sie haben "Rücken", Bluthochdruck und plagen sich mit erworbenen Allergien aller Art herum; Lebensmittelunverträglichkeiten und Neurodermitis breiten sich immer mehr aus.
Mit diesen Krankheiten zu leben, ist eine Aufgabe, die einen beträchtlichen Teil der Lebenszeit beansprucht. Die Betroffenen rennen nicht nur von einem Arzt zum nächsten in der Hoffnung, einen zu finden, der helfen kann; sie sind auch ihre eigenen Versuchskaninchen dafür, verträgliche Nahrung, Medikamente und Therapien zu finden.
Lebensmittelhersteller, Pharmakonzerne, Gastronomie etc. sind dabei mit ihren Produkten natürlich stets zur Stelle, wenn es sich rechnet, aber mit ihren Gratis-Informationen nicht sonderlich hilfreich. Warum nicht? Gehe zurück auf Los!
Harte Resultate
Die Gesundheit wird in dieser Gesellschaft weit über das Maß hinaus strapaziert, das angesichts der vorliegenden wissenschaftlichen Erkenntnisse und der erreichten Produktivität der Arbeit nötig wäre.
Entsprechend sehen die Menschen gerade in der ökonomisch erfolgreichsten europäischen Nation oft aus: blass, gehgeschädigt, relativ viele übergewichtig, verhärmt. Natürlich nicht in guten Münchner Wohngegenden, aber ziemlich durchgängig im Ruhrgebiet; und erschreckend, wenn man etwa aus der Schweiz nach Deutschland zurückkommt.
Wer das für eine bloß subjektive Wahrnehmung hält, dem sei ein Blick in diverse Statistiken empfohlen. Es ist fast ermüdend, darauf hinzuweisen, was sie seit Jahr und Tag belegen [9]: Wer ärmer ist, lebt kürzer – bei Männern geht es dabei um fast zehn Jahre, bei Frauen um fünf.
Männer leben allgemein fünf Jahre weniger als Frauen – hier machen sich im Wesentlichen die immer noch längere bzw. häufigere Berufstätigkeit und die damit verbundenen Belastungen der Männer geltend.5
Und die Todesstatistiken weisen aus: Von den etwa eine Million Toten in Deutschland sterben jährlich fast 600.000 Menschen an Herz-Kreislauf-Versagen, Krebs und Atemwegserkrankungen.
Ziehen wir davon alle wirklich altersschwachen Menschen ab – irgendwann und an irgendetwas stirbt man ja – dann wird man auch da in vielen Fällen sagen können, dass deutlich vor der Zeit gestorben wurde.
Nicht erst seit Corona und den "Querdenkern" gehen die Mitglieder dieser Gesellschaft hart mit ihrer Gesundheit und der anderer um. Sie buchen all das, was Körper und Seele attackiert, offensichtlich als (zumindest für sie nicht zu ändernde) Notwendigkeiten ab – ganz so, als sei diese Gesellschaft mit all ihren Rechnungen und Zwängen natürlich oder schicksalhaft gegeben. Und das ist auch so. Jedenfalls, wenn und weil sie das zulassen.
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Fußnoten
1 Dies gilt zumindest für die sog. "entwickelten" Länder. In Ländern der Dritten Welt grassieren auch heute noch die hierzulande weitgehend überwundenen, eingedämmten und gut behandelbaren Krankheiten wie Cholera, Masern, Malaria oder Aids als tödliche Seuchen – allesamt "Armutskrankheiten". Und: Alle fünf Sekunden erblindet ein Mensch, 90 Prozent davon in "Entwicklungsländern". (…) Dabei wären 75 Prozent der Erblindungen weltweit vermeidbar." "Vermeidbar" wären diese Krankheiten allerdings nur unter der Voraussetzung, dass die Gesetze des kapitalistischen Weltmarkts nicht mehr gelten würden. Denn in ihnen liegt der Grund dafür, dass diese Länder für ihre Bevölkerungen immer weniger an Lebensgrundlagen bereitstellen und weder den Zweck haben noch in der Lage dazu sind, eine Gesundheitsversorgung zu entwickeln. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang das sozialistische Kuba – das einzige Land der Dritten Welt mit einem funktionierenden Gesundheitssystem!
2 Das gilt auch für Arbeitsplätze, die im Interesse einer nachhaltigen Benutzung ihrer Arbeitskräfte moderne arbeitswissenschaftliche Erkenntnisse berücksichtigen. Wenn die Investition sinnvoll erscheint, richten Unternehmen diese durchaus nach den Erkenntnissen der Arbeitsergonomie ein – mit dem Ziel, dass Leistungen stetig erbracht werden können, ohne dass der Arbeitsablauf permanent durch Fehlzeiten oder nötig werdende Neubesetzungen gestört wird (Schreibtischstühle, Lärmschutz etc.).
3 Vgl. Suitbert Cechura, Unsere Gesellschaft macht krank. Baden-Baden 2018
4 Lohnfortzahlung im Krankheitsfall bei länger andauernden Ausfällen, Krankengeld bzw. bei länger anhaltenden Krankheiten der Übergang zur Verrentung, Arbeitslosengeld I bzw. II nach Entlassungen
5 Das wurde anhand der sogenannten "Klosterstudie" nachgewiesen: Bei Mönchen und Nonnen schrumpft der weibliche Vorsprung in der Lebenserwartung auf nur ein Jahr.
Links in diesem Artikel:
[5] Es gibt selbstverständlich Mediziner, die über diesen Widerspruch ihrer Tätigkeit nicht so lässig hinwegsehen oder -gehen wollen, wie z.B. den VDÄÄ (Verein Demokratischer Ärztinnen und Ärzte).
[6] https://www.igmetall.de/service/ratgeber/kuendigung-aufgrund-und-waehrend-krankheit
[8] https://www.iab-forum.de/krank-zur-arbeit-praesentismus-ist-in-deutschland-weit-verbreitet/
[9] https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/lebenserwartung-arm-leben-heisst-frueher-sterben-1.3654958
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2021 zuerst 2009
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Das Gesundheitwesen als Reparaturbetrieb
12. Februar 2022 Renate Dillmann
Medizinische Vorsorge zwischen staatlichem Auftrag und Profitstreben
(Teil 2)
Es gibt etliche Beschwerden über das deutsche Gesundheitssystem. Die einen beklagen zu wenig Krankenhäuser, die anderen zu viele; die einen schimpfen darüber, dass sie als Kassenpatienten zu lange auf Facharzt-Termine warten müssen, die anderen über die deutsche Überversorgung; die Wirtschaftsliberalen sehen in der Gesundheitspolitik übelsten Sozialismus am Werk, die Linken reden von Staatsversagen.
Einfach nur die übliche Nörgelei? Oder gibt es Gründe dafür, warum es das Gesundheitssystem in dieser Gesellschaft keinem recht machen kann?
Während der Coronapandemie wurden die Klagen über die Lage der Krankenhäuser, der Intensiv-Stationen und die schlechten Bedingungen des Pflegepersonals immer lauter. Vielfach wurde verlangt, die "neoliberale Privatisierungs-Strategie" rückgängig zu machen.
Das unterstellt, dass mit staatlichen bzw. kommunalen Betreibern alles besser würde. Auch wenn das in einigen Punkten zutreffen mag, greifen Problem-Diagnose wie Lösungsvorschlag eindeutig zu kurz. Denn eine Entgegensetzung Staat contra Privat trifft den Kern der Sache nicht – zur Begründung im Folgenden einige grundsätzliche Gedanken zum deutschen Gesundheitssystem.
Gesundheit als Staatsaufgabe
Die Behandlung von Krankheiten kostet in einer Marktwirtschaft Geld, weil mit Diagnose und Heilung ein Geschäft gemacht werden kann (und soll). Normale Beschäftigte und ihre Angehörigen könnten die Kosten für die Behandlung ihrer Leiden – Arztbesuche, Medikamente, Krankenhausaufenthalte, Prothesen und Rollstühle – aus ihrem Einkommen nicht aufbringen bzw. sie können nicht die nötigen Rücklagen bilden – darauf sind ihre Löhne nicht berechnet.
Diese Feststellung ist ebenso banal, wie ihre Wirkung praktisch katastrophal ist. Denn so sehr alle auf ihre Gesundheit angewiesen sind, so schwer ist diese in einer Gesellschaft zu haben, in der aus ökonomischen Rechnungen heraus alle ziemlich rücksichtslos mit ihr umgehen.
Der moderne Staat hat sich dieses Notfalls aus seinen Gründen angenommen. Wie auch immer die historischen Anfänge der staatlichen Gesundheitspolitik beschaffen waren (als Umgang mit Armutskrankheiten, Seuchen und minimaler Versorgung der Lohnabhängigen, die deren Familienangehörige zunächst einmal nicht einbezogen hat) – heute behandelt er Gesundheit als eine notwendige Grundvoraussetzung zur umfangreichen Indienstnahme seiner Bevölkerung, die jedem seiner Bürger und in der Regel auch rechtlich anerkannten Ausländern im Bundesgebiet zusteht.
Über die früheren engen Nützlichkeitsvorstellungen – bis weit ins 20. Jahrhundert war es ein wichtiger Gesichtspunkt, dass ein Volk im Falle eines Kriegs größere Strapazen durchstehen sollte – ist die moderne Gesundheitspolitik damit hinaus. Sie sichert allen, auch ökonomisch nicht "nützlichen" Bürgern, wie der älteren Generation und Menschen mit schweren Behinderungen, die nötigen medizinischen Leistungen zu – als Bedingung dafür, dass sie leben und an der bürgerlichen Konkurrenzgesellschaft teilnehmen können.
Dafür organisiert der Sozialstaat ein umfassendes Gesundheitswesen: Hygiene, Krankenhäuser, medizinische Forschung und Ausbildung, Seuchenbekämpfung. Gegenüber der mittelalterlichen Vorzeit, in der das medizinische Wissen nicht systematisch entwickelt war und die Heilkunst mehr oder weniger zufällig von Menschen ausgeübt wurde, die sich und ihre Kenntnisse bzw. ihre Fähigkeiten für geeignet hielten (Barbiere, Kräuterweiblein, Schamanen), stellt er die Medizin unter seine Aufsicht: Entwicklung der Medizin zur Wissenschaft, staatliche Regelung der Gesundheitsberufe (Zulassung, Standesordnung), Hygienevorschriften.
Zur Finanzierung der nötigen Leistungen hat der deutsche Sozialstaat die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) eingerichtet. Sie ist die älteste Sozialversicherung in Deutschland – 1883 gegründet, stellt sie bis heute die gesundheitliche Reproduktion der lohnabhängigen Klasse sicher, die mit Lohn und Leistung im Produktionsprozess so systematisch untergraben wird.
Eine Finanzierung aus Steuermitteln lehnte das damalige Kaiserreich wegen der zu hohen Belastungen des staatlichen Haushalts ab. Dabei ist es bis heute geblieben. Im Unterschied zu anderen kapitalistischen Staaten, die ihr Gesundheitssystem über Steuern finanzieren und damit auch die vermögenden Bürger belasten (Großbritannien, Schweiz), halst der deutsche Sozialstaat diese sozialpolitische Kost in erster Linie der Gesamtheit der lohnabhängig Beschäftigten und ihrer "Solidarität" auf.
Auf Basis der durch die Mitgliedsbeiträge hergestellten Zahlungsfähigkeit – rund 90 Prozent der deutschen Bevölkerung sind gesetzlich krankenversichert [2] – konnte die deutsche Medizinbranche zu dem werden, was sie heute ist. Medizintechnik, Pharmakologie, flächendeckend vorhandene Krankenhäuser, spezialisierte Ärzte sowie die abgeleiteten Berufe wie Physiotherapeuten, Logopäden etc., beeindruckende Fortschritte in Diagnostik und Behandlung bis hin zu Pharmakonzernen und Orthopädieherstellern, die auf dem Weltmarkt führend sind – all das gibt es inzwischen, weil der Staat die Mittel dafür fast 140 Jahre lang zentralisiert hat durch Verpflichtung seiner Lohnabhängigen, in die Gesundheitskassen einzuzahlen.
Medizinische Versorgung als Geschäft
Die Behandlung der Krankheiten, die medizinische Versorgung, die die Gesundheitsbranche – Ärzte, Pharmafirmen, Hersteller medizinischer Geräte und Heilmittel – für die Patienten erbringt, ist in Deutschland insofern ein Geschäft. Das gilt inzwischen auch für Krankenhäuser.
Das erkennt der soziale Staat an, das will er – ein erster Hinweis darauf, dass der oft behauptete Gegensatz "guter, fürsorglicher Staat" contra "private Profitorientierung" nicht ganz zutrifft. Damit hat er allerdings auch in der Gesundheitssphäre den harten Gegensatz etabliert, der in seiner Marktwirtschaft üblich ist: Das, was der eine als Patient bekommt – in diesem Fall an Diagnose, Heilmitteln, Pflege –, ist für den anderen, d.h. medizinischen Leistungserbringer, Mittel seiner Bereicherung.
Dass es um Geld geht, ist für alle, die in der Gesundheitsbranche tätig sind, ein objektiv gemachter Maßstab – ganz gleichgültig, wie sozial engagiert, fürsorglich, humanistisch oder aber geldgierig ihre Einstellung im Einzelnen ist.
Der in dieser Beziehung enthaltene Gegensatz wird auch nicht geringer dadurch, dass ihn die Beteiligten gar nicht kennen oder geflissentlich ignorieren; eher im Gegenteil. Und er gilt von der kleinen Physiotherapeutin über die Krankenhäuser bis hin zum global agierenden Pharmakonzern.
Gutverdienende Halbgötter
Ärzte behandeln ihre Patienten mit einem doppelten Zweck: Sie wollen deren Leiden lindern, im Idealfall beseitigen (siehe: "Warum Gesundheit gar nicht unser "teuerstes" Gut ist [3]") und sie wollen damit Geld verdienen. Niedergelassene Ärzte sind mit hoheitlichen Funktionen ausgestattete Freiberufler.
Der Gesetzgeber ermächtigt sie zu harten Entscheidungen über ihre Patienten: Welche Diagnose- und Therapiemöglichkeiten sie ihnen verordnen, bewirkt Wesentliches in deren Leben und ist zugleich eine Kostenentscheidung. Und das Attest eines Arztes eröffnet lohnabhängigen Patienten die Möglichkeit, ihre Krankheit auszukurieren, ohne auf Lohn verzichten zu müssen – vom Standpunkt der Beschäftigten eine der seltenen Gelegenheiten in dieser Gesellschaft, ohne eigene Leistung an Geld zu kommen, vom Standpunkt der Arbeitgeber aus eine überaus lästige Verpflichtung zur Zahlung von Geld, für das sie nichts bekommen.
Auf seine Ärzte und ihren verantwortlichen Umgang mit diesen Fragen möchte sich der soziale Staat deshalb verlassen können. Er regelt detailliert ihre Ausbildung wie die dazu gehörenden Prüfungen und überwacht ihre Zulassung (Approbationsordnung für Ärzte). Auf dieser Basis üben Mediziner ihre Tätigkeit frei aus und dürfen mit Diagnostik und den daraus folgenden ärztlichen Maßnahmen außerordentlich gut verdienen.
Die 470.000 Ärzte in Deutschland gehören regelmäßig zu den Spitzenverdienern [4]; durchschnittlich erbringt eine allgemeinmedizinische Praxis 227.000 Euro pro Jahr [5], fachärztliche erheblich mehr.
Ihr Geld erhalten Ärzte von den Krankenkassen, mit denen sie den bei ihren Patienten erbrachten Aufwand "abrechnen". Diese Rechnung funktioniert inzwischen in Form pauschalisierter Posten; berechnet wird nicht der jeweils individuelle Aufwand, mit dem ein Arzt einen Patienten behandelt hat.
Stattdessen haben Ärzte und Krankenkassen Kennziffern vereinbart, die Krankheitsbilder, ihre Diagnose- und Behandlungsschritte mit einem dafür "angemessenen", durchschnittlichen Honorar verknüpfen und zudem eine "Budgetdeckelung", eine Obergrenze für die Behandlungskosten eines Kassenpatienten pro Quartal, beinhalten.
Darin drücken sich die Bemühungen der Kassen aus, auch auf Seiten der Ärzte und ihrer Rechnungen "Kosten zu dämpfen". Mit individuell zu zahlenden medizinischen Leistungen (Igel [6]) wurden eine ganze Reihe sinnvoller Vorsorge-Untersuchungen (Messung des Augeninnendrucks oder der Knochendichte) auf die Patienten abgewälzt (2012 waren das bereits Leistungen im Umfang von 1,5 M [7]illiarden Euro).
Wenn sie ihre Patienten behandeln, haben Ärzte und deren finanzielle Berater dieses System von Abrechnung, mit dem sie ihr Einkommen erzielen, selbstverständlich stets vor Augen – mit interessanten Konsequenzen. Einerseits folgt daraus nämlich die Praxis, am Patienten zu sparen, bspw. nicht die teureren, aber besser verträglichen Antibiotika zu verschreiben – Konsequenzen, die klar nicht aus dem medizinischen Wissen stammen, sondern aus den zur Routine gewordenen Abrechnungserfahrungen des Arztes.
Andererseits entspringt daraus aber auch die genau umgekehrte Variante, nämlich am Patienten alles Mögliche durchzuziehen, was medizinisch nicht unbedingt, dafür aber abrechnungsmäßig sinnvoll ist – seien es doppelt und dreifach durchgeführte Blutuntersuchungen, EKGs oder Röntgenbilder, die nicht angeordnet werden, weil es nötig ist, sondern eher, weil es ja sozusagen nicht schaden kann, aber die gerade angeschafften Geräte einer Praxis besser auslastet.
Für den Patienten hat die Tatsache, dass Gesundheit in dieser Gesellschaft ein Geschäft ist, insofern vor allem die beunruhigende Konsequenz, dass er seinen Ärzten nicht vertrauen kann – obwohl er das als Laie in den Fragen, mit denen er zu ihnen kommt, gerade muss.
Weder kann er sich sicher sein, dass bei der Behandlung seines Leidens nicht gerade die Sparvorgaben einer Kasse bzw. die Abrechnungskalkulationen seines Arztes so zum Tragen kommen, dass er nicht an die therapeutisch möglichen Dinge kommt, die er braucht; noch kann er sicher sein, dass ihm nicht gerade Diagnose- und Therapiemöglichkeiten aufgenötigt werden, die er eigentlich nicht braucht. Nicht er und die Wiederherstellung seiner Gesundheit auf Basis des Stands der Wissenschaft sind das schlichte Kriterium der ärztlichen Behandlungen, sondern ein seltsames Konglomerat voneinander widersprechenden Interessen.
Deutsche Pharma – Weltspitze!
Pharmafirmen konkurrieren mit ihren Medikamenten; allerdings nicht um Heilung. Zweck ihres Geschäfts ist die Erzielung von Gewinn; das Mittel dafür sind Produktion und Verkauf von Pillen, mit denen Blutdruck gesenkt, eine Schilddrüsenunterfunktion ausgeglichen oder eine Schwangerschaft verhindert werden soll.
Ihr Zweck geht in besonderer Weise auf, wenn sie es schaffen, als Erste mit einem neuen Produkt auf den Markt zu kommen, das einen zusätzlichen Nutzen in Bezug auf Heilung verspricht. Dann können sie für eine gewisse Zeit Monopolpreise verlangen, über die sie später mit den Krankenkassen bezüglich Abschlägen verhandeln müssen, die ihnen aber in jedem Fall einen stattlichen Gewinn versprechen.1 [8]
Der ist umso größer, je mehr Kranke dieses Medikament benötigen, weswegen für Krankheiten, die selten sind, Medikamente eher selten entwickelt werden. Umgekehrt: eine Pandemie und die Aussicht, relevante Teile der Weltbevölkerung zu behandeln oder zu impfen, wenn es gut läuft, bringen den finanzgetriebenen Forschergeist ordentlich in Schwung.
Mit ihrem neuen Produkt werben die Pharmafirmen bei denen, die über die Vergabe entscheiden – bei den Ärzten und Apothekern. Weil das beste Argument für die Verordnung der neuen Pillen aus materiellen Anreizen besteht, übersteigt der Aufwand für Werbung samt luxuriösen Ärztekongressen den für Forschung [9].
Kein Wunder, dass die Firmen deshalb überall sonst sparen müssen. Die aufwendige Forschungsphase beispielsweise wollen sie möglichst verkürzen, die vorgeschriebenen Testreihen, Zulassungsvorschriften etc. sind für sie lästige Pflichten – mit denen sie entsprechend geschickt (Korruption, gefälschte Studien, Bestechung der Ärzte) und ruppig (Kauf von Testpersonen, zum Teil in der Dritten Welt [10], risikoreiche Tests mit ungewissem Ausgang) umgehen.
Kein Wunder auch, dass Pharmakonzerne keineswegs bereit sind, ihre teuer entwickelten Produkte Patienten aus armen Ländern zur Verfügung zu stellen, die zwar krank, aber nicht entsprechend zahlungsfähig sind. Das Massensterben der Menschen in der 3. Welt an Krankheiten, die für ein paar Dollar mit Medikamenten westlicher Konzerne heilbar wären, kennzeichnet den im Wortsinne "eigentümlichen" Charakter des "medizinischen Fortschritts" im Kapitalismus.
Und zwar lange, bevor all das im Fall Corona nochmal jedem, der es begreifen will, aufs Butterbrot geschmiert wird: ein deutsches Pharma-Kapital, das schnell einen Impfstoff entwickelt hat und nun "an der Goldgrube" seine Gewinne einstreicht, während die deutsche Politik schützend ihre Hand über das Impfstoff-Patent [11] hält – gegen Südafrika (Omikron lässt grüßen!) Indien und weitere 100 Staaten (selbst die USA) sowie sämtliche wichtigen NGO’s, den Papst und einen ganzen Haufen Nobelpreisträger, auf die man sich ansonsten ja fürchterlich gerne bezieht (wenn es passt) ...
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Links in diesem Artikel:
[1] https://www.heise.de/tp/features/Warum-Gesundheit-gar-nicht-unser-teuerstes-Gut-ist-6335701.html
[2] https://www.vdek.com/gesetzliche_krankenversicherung.html
[3] https://www.heise.de/tp/features/Warum-Gesundheit-gar-nicht-unser-teuerstes-Gut-ist-6335701.html
[4] https://www.deutsche-apotheker-zeitung.de/news/artikel/2016/02/02/arzte-sind-die-spitzenverdiener
[5] https://www.praktischarzt.de/arzt/gehalt-arzt/
[6] https://www.krankenkassen.de/gesetzliche-krankenkassen/leistungen-gesetzliche-krankenkassen/gesetzlich-vorgeschriebene-leistungen/neue-leistungen/igel-leistungen/
[7] https://www.gesundheitswirtschaft-rhein-main.de/files/gwrm/media/download/GWRM-Studie-2014-Zweiter_Gesundheitsmarkt.pdf
[8] https://www.heise.de/tp/features/Das-Gesundheitwesen-als-Reparaturbetrieb-6446476.html?view=fussnoten#f_1
[9] https://tageswoche.ch/politik/die-pharmabranche-gibt-mehr-geld-fuers-marketing-aus-als-fuer-die-forschung/index.html
[10] https://www.deutschlandfunkkultur.de/medikamententests-versuchslabor-afrika-100.html
[11] https://www.euractiv.de/section/eu-aussenpolitik/news/reiche-laender-blockieren-patent-freigabe-fuer-impfstoffe-weiterhin/[12] https://www.heise.de/tp/features/Krankenhaeuser-als-Profitcenter-6446484.html
[13] https://www.amazon.de/soziale-Staat-Verwaltung.....