Wahrnehmung      Start    Weiter

Teil 1   Wahrnehmung

1.1 - Wahr ist nur das Bild 

Anmerkungen in eigenem Fenster

9-25

Es ist jedesmal das gleiche. Irgendwo in Afrika. Ein Kind verhungert. Wir vor der Mattscheibe können den Hunger sehen. Und die Schwäche des Kindes, das sich den Fliegen ergibt, Hunderten der metallfarbenen Insekten, die ihm in Mund, Nase, Augen und Ohren kriechen. Sie leiden keinen Hunger, sondern trinken Tränen, Blut und Speichel des sterbenden Kindes. Das Festmahl der Fliegen kündet vom nahenden Tod.

Wenn sie über lange Zeit anhalten, lassen Unterernährung und Eiweißmangel den Körper aufquellen, die Haut wird rissig und verfärbt sich ins Graugelbe. Die funktionslos gewordene Leber schwillt und bläht den Bauch auf zu einem harten Ballon. Verhungernde Kinder sind dick, zum ersten- und zum letztenmal in ihrem Leben.

Die Mutter kann dem Kind nicht helfen. Ihre Brüste sind ausgedörrt wie das Land, in dem sie lebt. Das Vieh, so sie welches hatte, ist längst elend verdurstet. Die Früchte, die sie früher geerntet hat, hat die Sonne weggebrannt. Sie hat gegenüber ihrem Kind nur den Vorteil, erwachsen zu sein, Entbehrung länger ertragen zu können. Ihr Immunsystem ist stabiler, und so bedeuten Infektionen nicht gleich den Tod.

Ihr Kind aber hatte keine Zeit, Abwehrkräfte gegen Krankheiten aufzubauen. Der Körper frißt nach den spärlichen Fettvorräten sich selbst auf. Ist die vollständige Entkräftung, der Marasmus, eingetreten, dann hilft nichts mehr. Neben den Fliegen machen sich Viren und Bakterien, ihrer natürlichen Gegner beraubt, über den Organismus des Kindes her. Irgendeine ansteckende Krankheit macht dem Leiden dann ein gräßliches Ende.

  wikipedia  Marasmus 

Der Hungertod dauert lang und ist qualvoll. Die Menschen verlieren ihr Leben Stück um Stück, 55.000 jeden Tag, 20 Millionen im Jahr, die meisten davon sind Kinder. Schätzungen zufolge hungern heute 600 bis 800 Millionen Menschen, Ende dieses Jahrtausends wird es eine Milliarde sein.1 Der amerikanische Ernährungs­ex­perte Paul R. Ehrlich von der kalifornischen Stanford-Universität erklärte 1992, daß im vergangenen Viertel­jahrhundert 200 Millionen Menschen verhungert seien.2

Vor den Hungernden stehen die Armen auf der Skala des menschlichen Niedergangs.3 Immer am Abgrund des Lebens vegetierend, kämpfen sie tagtäglich gegen den Untergang auf dem Land oder in überquellenden Städten. Sie haben nie genug zu essen, leben in abstoßenden hygienischen Verhältnissen, werden von mangelbedingten Krankheiten heimgesucht, können nicht lesen, und sie werden immer mehr.4 

Diese Menschen sind ausgeschlossen von der Weltgesellschaft, dem <Weltdorf> mit der <Weltinnenpolitik>, jenen gefährlichen Schimären, denen manchmal auch Wohlmeinende auf den Leim gehen. 

Die Kinder der Armen haben keine Aussichten, dem Schicksal der Eltern zu entkommen. Ganz im Gegenteil. Während die OECD5, die Organisation der reichen Industriestaaten für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, manchen Entwicklungs­ländern6 in Lateinamerika und Asien gute Zeugnisse in Wirtschafts­wachstum ausstellt, findet dieses meistens nur für die Wohlhabenden statt. Wachsende Armut bei steigendem Pro-Kopf-Einkommen ist die Regel in den Ländern des Südens. Allein das zeigt, was dieser statistische Maßstab taugt, der doch einer der Eckpfeiler der Entwicklungs­politik ist.7

Bedingung für diese Entwicklung und diesen Reichtum ist die Armut von Milliarden, nicht allein, weil Reiche Arme ausbeuten, sondern nicht weniger, weil industrielles Wachstum und technische Revolution zwar einen nie dagewesenen Warenberg produzieren, aber von dessen Erzeugung und daher von der Teilnahme am Konsum immer mehr Menschen ausschließen. Sofern sie je eine Chance hatten, einen Wohlstandszipfel zu erhaschen.

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Die Kluft wird tiefer. Aber sie ist nicht unüberbrückbar, jedenfalls nicht von der Seite der Armut her. Diese nämlich kriecht nun auch dorthin, wo zuvor fast nur Reichtum geherrscht hatte. Das Wirtschaftswachstum — vielen der Unterpfand von Fortschritt und Wohlstand — gebiert Elend. Wächst der Ausstoß der Industrie­gesell­schaft nicht, nennt man dies Krise. Menschen verlieren Arbeit und dadurch Einkommen — Obdach­losigkeit und alle sonstigen Erscheinungen der Verarmung treten vermehrt auf.

Wächst die Wirtschaft, dann verlieren ebenfalls Menschen Arbeit, weil die Effizienz der Industrieunter­nehmen steigt und pro Kopf mehr hergestellt werden kann. Der technische Wandel entwertet berufliche Qualifikationen, der Wettbewerb erzwingt Kosten­senkungen, und am Schluß steht Wachstum durch Entlassung. Die Automobilindustrie und die EDV-Branche haben diese Methode beispielhaft vorgeführt. Arbeitsplätze würden fast nur noch in mittleren und kleinen Betrieben geschaffen, sagen Experten.

Das soziale Netz dehnt sich schon in den reichen Staaten. Was aber geschieht in jenem riesigen Teil der Erde, den Konkurrenz und Wachstum in den Weltmarkt reißen? 

Viele Staaten, die in den siebziger und achtziger Jahren kreditgefüttert in den Wachstums­zug einstiegen, sind heute schuldenüberladen und nicht mehr handlungsfähig. Aber auch dort gedeihen Industrie und Handel, wenngleich in bescheidenerem Rahmen. Fast überall schon auf der Welt können wir die gleichen Produkte kaufen. Aber es ist die Wiedergeburt des Manchester-Kapitalismus auf elektronischem Niveau. Hatte jene kohleverrußte Epoche des Industrie­zeitalters noch die Menschen in die Fabriken gelockt, getrieben und geprügelt, so spucken die High-Tech-Enterprises der Weltwirtschaft sie aus. Fabrikinspektoren britischen Musters sind belächelns­werte Fossilien. Die moderne Industrie schindet die Arbeiter nicht mehr, sie braucht sie nicht.

Aber noch halten sich Bastionen hoher Arbeitsintensität gegen den hochtechnisierten Ansturm. Der Preis ihrer Konkurrenz­fähigkeit ist die Gesundheit ihrer Arbeiter, Frauen und Kinder nicht weniger als Männer. 

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Die Klagen etwa deutscher Gewerkschafter über Hungerlöhne und die lebensbedrohlichen wie schikanösen Arbeitsbedingungen in asiatischen Textil­fabriken sind berechtigt und klingen doch falsch. Denn der Weltmarkt — und oft die Zollmauern der Reichen — zwingt die Armen, ärmlich zu produzieren. Täten sie es nicht, verlören sie selbst ihre jämmerlichen Arbeitsplätze. Deutsche Gewerkschafter sind nicht weniger auf ihre Klientel geeicht als französische, russische oder mexikanische. Man darf das nur nicht vergessen, wenn man ihnen zuhört.

Hunger und Armut finden ihre Ursache nicht im Wachstum des Reichtums allein. Kriege und Bürgerkriege, Naturkatastrophen, Wirtschafts- und Handels­krisen sind klassische Elendserzeuger. 

Hinzu gesellen sich seit einigen Jahrzehnten, aber erst kürzlich entdeckt, die Vorboten der Klimakatastrophe, die unseren Planeten verwüsten. Zuviel Wasser und zuviel Wärme überfluten und verbrennen die Acker, von denen immer mehr Menschen sich ernähren müssen. Viele arme Menschen und, tausendfach effizienter, wenige reiche Menschen fischen die Meere leer. In manchen Ländern der Erde kann die Nahrungsmittel­produktion nicht mehr mithalten mit dem Bevölkerungs­wachstum. Das US-amerikanische <World Watch Institute> etwa befürchtet, daß in den kommenden vier Jahrzehnten in Afrika, auf dem indischen Subkontinent und in der VR China die Nahrungs­mittel knapp werden, weil das Bevölkerungs­wachstum die Ernten überholt.8

 

»Betroffenheit« ist gefragt 

 

Wir stehen nicht vor der universalen Katastrophe, wie manche verharmlosen, wir stecken längst darin. Genauer gesagt: Wir haben uns verheddert in einem Geflecht von Heimsuchungen, in dem destruktive Triebkräfte auf das wirkungsvollste ineinander­greifen. Derart komplexe Ursachenknäuel treiben selbst Experten an die Grenzen des Verstehens. 

Das aber schreckt die Medien nicht davon ab, sich der ökologischen, sozialen und politischen Bedrohungen zum Zweck der Auflagen­steigerung zu bedienen. Das gilt auch für jene Zeitungen und Zeitschriften, die sich nach eigenem Bekunden der Aufklärung verschrieben haben und jeden Vergleich mit der Boulevardpresse empört von sich weisen würden.

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Die Katastrophe, die Medien und ihr Publikum haben sich zu einer eigentümlichen Symbiose verklebt. 

Wer könnte ernsthaft einem seriösen Redakteur einer seriösen Zeitschrift widersprechen, wenn dieser erklärt, sein Blatt in die sichere Pleite zu führen, wenn er der Komplexität der Wirklichkeit standhaltende Analysen abdruckte? 

Der Leser, auf den der Anspruch der Aufklärung zielt, will nicht aufgeklärt werden. Er will bestenfalls aufgeregt werden. »Betroffenheit« ist gefragt. Er braucht den Schauder und die Aufregung in einer abenteuerlos gewordenen Gesellschaft. 

Nicht Dummheit und Borniertheit sind ihm vorzuwerfen, vielmehr beruht das Bedürfnis nach Sensation auf tief in der Stammesgeschichte des Menschen liegenden Wurzeln. Es ist der Mangel an Abenteuern, direkter Bedrohung und Rätselhaftigkeit der Umwelt, der den Drang nach nerven­anspannender Kompensation auslöst.

Selbst die aus besten aufklärerischen Motiven gespeiste Katastrophitis hat verhängnisvolle Wirkungen. Der auf den Medien lastende wirtschaftliche Zwang, aus dem Ursachengewirr publikumsadäquate Stränge heraus­zuziehen, vernebelt die Realität und verzerrt die Wahrnehmung. 

Und so endet der in bester Absicht unter­nommene Versuch, die Leser aufzurütteln, meist im Desaster greller Oberflächlichkeit. Oft wird gar das Gegenteil von dem erreicht, was beabsichtigt war.

Ein klassisches Beispiel, aber nur eines unter vielen, ist eine große Reportage in der Illustrierten STERN vom Frühjahr 1994.(9)  

Das ist ein glänzend gemachtes Potpourri aus Grafik und Text, nicht eine Anzeige stört dieses vierzehnseitige farbige Gesamt­kunstwerk mit dem Titel »Zeitbombe Mensch«. Gleich auf der ersten Seite eine beeindruckende bildhafte Verwandlung der Erdkugel in eine Bombe, deren Zündschnur und Sprengstoff eine ununterbrochene und nur durch den Bildrand begrenzte mehrreihige Menschenkette ist, die sich ungebremst in die Kugel hineindrängt, bis diese platzt. Darunter Klartext: »Wenn die Bevölkerungs­explosion nicht sofort gestoppt wird, drohen apokalyptische Zustände: unregierbare Monster-Städte, Hunger-Weltkriege und irreparable Zerstörung der Umwelt.« 

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Es folgen Seite auf Seite erschlagende Tatsachen, in Schaubildern und Grafiken beeindruckend montiert, eine Dokumentation auch dessen, daß unsere Spezies die Fähigkeit zur Selbstregulation der Fortpflanzung verloren hat, dem menschlichen Gehirn die Vorstellung exponentiellen Wachstums fremd ist und es auch daher die daraus drohenden Gefahren nicht oder nicht ausreichend erkennt.

Ich werde in einem späteren Kapitel das Bevölkerungswachstum diskutieren. Hier, wo es um die verhängnis­voll­en Folgen öffentlicher Berichterstattung geht, nur soviel: Das publikumswirksame Heraus­greifen eines Gefahr­en­moments aus einem Gesamt­komplex verwandelt ein vielseitiges Phänomen nicht nur in ein Klischee, sondern verharmlost und entschuldet auch.

Das Bevölkerungswachstum hat in einigen armen Regionen der Erde die Grenze des Verträglichen überschritten, in anderen noch nicht. Es kann nicht bezweifelt werden, daß mehr Menschen mehr essen und mehr Wasser verbrauchen und nicht zuletzt durch ihre Wirtschafts­tätigkeit die Umwelt stärker belasten. Es ist aber nicht weniger wahr, daß die heutige Zerstörung und Vergiftung von Mensch und Natur fast vollständig auf das Konto der reichen Industriestaaten des Nordens geht, wo sich mancher Demograph und nicht wenige Politiker um den Bevölkerungs­schwund sorgen.

Der Rückschlag des Wachstumswahns auf die Industrienationen und die Dritte Welt gefährdet das Überleben der Gattung Mensch. 

Was uns daran hindert, diese Bedrohung wahrzunehmen, ist nicht nur einer bestaunens­werten Verdrängungsleistung geschuldet, sondern nicht minder einem Konstruktionsfehler in unserem Hirn: Wir nehmen Katastrophen nicht wahr, wenn sie sich facettenreich heranschleichen und allmählich aus­wachsen, wenn ihr Erscheinungsbild und ihre Ursachen über viele Kettenglieder und keineswegs geradlinig miteinander verbunden sind. Es handelt sich hier nicht um jenen Kometenhagel, der die Erde verfinstern ließ und den Sauriern die Nahrung raubte, sondern um einen selbst eingeleiteten Vernichtungsprozeß im Kriechgang und ohne Knalleffekt.

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Weitere Generationen werden in ihn hinein­geboren werden und seine Ausgangssituation nur aus den Geschichtsbüchern kennen. Nur wer einmal im Fluß gebadet hat, kann wirklich den Verlust ermessen, der durch die Wasservergiftung entstanden ist.

Praktisch und erfolgverheißend an der verdrängenden Ursachenfindung ist der Umstand, daß der Norden für das Bevölkerungs­wachstum sowenig direkt verantwortlich ist wie für das Abholzen der Regenwälder. Jeder Chef­redakteur, der es bleiben will, ist gut beraten, Artikel oder Fernsehbeiträge über unattraktive und sensations­arme Themen wie etwa den Nettokapital­transfer von Süd nach Nord abzuwimmeln. Anklagen an die eigene Adresse akzeptiert der durchschnittliche Zeitungsleser günstigstenfalls in höchst abstrakter, unver­bindlicher Fassung, auflagenträchtig oder quotentreibend sind sie nie. Politik, Wirtschaftsverbänden und Gewerk­schaften wäre es ein Greuel, die eigene Verantwortung den Folgen ihres Handelns oder Nichthandelns anzupassen. Sie preisen sich statt dessen als ökologische Musterknaben, rufen die Länder der Dritten Welt zur Mäßigung beim Gebären auf, spendieren Entwicklungs­hilfe­gelder für Naturparks und verzichten auf den Import der harten Hölzer aus den Tropen.

Es geht hier nicht um bösen Willen (den gibt es natürlich auch). Es geht hier nicht um Parteibuch-»Journalisten« und Quoten­fetischisten, denen ethische Tabus unbekannt sind und dies auch noch als »cool«, »professionell« oder »abgebrüht« feiern. Es geht vielmehr um jene Menschen in den Medien, die ihren Beruf ernst nehmen und ihn verantwortlich ausüben wollen. Ähnelt ihre Lage nicht jener des von Karl Marx beschriebenen Kapitalisten, der sogar als überzeugter Humanist den Gesetzen der Ökonomie folgen muß, wenn er überleben will? So kann selbst ein engagierter Bericht eines seriösen Journalisten über das Leiden der Menschen auf dem größeren Teil des Erdballs Vorurteile verfestigen.

Aber nicht einmal die übelsten Boulevardzeitungsreporter könnten eine auch nur annähernd so verheerende Wirkung erzielen wie das Fernsehen und die von ihm bestimmte Kultur und Politik. 

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Wir sehen die nahe und die ferne Welt durch die Augen der Massenmedien, deren elektronischer Teil im letzten Jahrzehnt nun auch in Deutschland einer bis heute währenden Revolution unterliegt durch die Explosion der Kanäle. 

Das Vier-zu-drei- und bald Sechzehn-zu-neun-Rechteck des Fernsehgeräts bestimmt in wachsendem Maß auch die Strukturen im Zeit­schriften­markt: Kurz, knapp und bunt bebildert bis grell geben sich die Artikel. Ohne Fotos keine Wahrheit — oder das, was die Medienmacher dafür halten. Das Rezept hat Erfolg, Information ist Unterhaltung. 

Der amerikanische Medienkritiker Neil Postman, dessen Heimat sich längst zum abschreck­enden Vor-Bild einer TV-Gesellschaft ausgewachsen hat, beklagt zu Recht, daß aus mündigen Bürgern Zuschauer werden. Wenn das kulturelle Leben sich darstelle als gigantischer Amüsierbetrieb, das Volk sich von Trivialitäten ablenken lasse und der öffentliche Diskurs zu einem unterschiedslosen Geplapper herunterkomme, dann sei die Nation in Gefahr.(10)

 

  Die »Guckguck«-Welt  

 

Politik verwandelt sich von einem vornehmlich von Gruppeninteressen geprägten Konfliktfeld zum Spektakel. Der Haupt­unter­schied zwischen den großen Volksparteien rührt aus ihrer Organisations­geschichte, ihrer historischen Verwurzelung. Es ist ein später Sieg Eduard Bernsteins, den aber dieser so wohl nie gewollt hätte, daß von Parteizielen inzwischen kaum mehr die Rede ist. Sie werden sogar zunehmend versteckt hinter einer Mischung aus populistischer Ansprache und verbleibenden rudimentären Einblendungen aus der Wirklichkeit, die von den Politstrategen jedoch als Reibungsverluste denunziert werden. 

Viel Mut brauchen jene kritischen Geister in den Parteien, die den Maßstab der Politik nicht verkürzen auf den kommenden Wahlsieg. Sie werden weggebissen und mit ihnen Intellektualität. Das Mittelmaß diktiert die Politik. Entscheidend ist weniger der Inhalt der Aussagen, sondern das Wie. Nicht: Was steht in der Rede? Sondern: Wie wird es gesagt? Wie läßt sich ein Politiker »verkaufen«?  

 Die Guckguckwelt bei Postman 

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Wie lassen sich die Machterhaltungs- und Machtgewinnungsinteressen in Bildern und Symbolen artikulieren? Den Zusammenbruch des Bonner Schürmann­baus als Sinnbild des Regierungszustands zu prägen, wäre jeder parlamentarischen Opposition als notwendig erschienen. Nur, bauen die Minister selbst? Und vor allem: Gibt es nichts Wichtigeres?

Die Imageberater und Public-Relations-Profis haben das Sagen. Nicht die Qualifikation der Politik ist ausschlaggebend, sondern ihre Darstellung. So nimmt es nicht wunder, daß einstige Macher des bekanntesten deutschen Verdummungsblatts Kommando­zentralen in Politik und Medien erobern konnten. Was könnte den Verfall der politischen Moral seit den Endsechziger Jahren drastischer personifizieren als Peter Boenisch in Bonn?

 Der Herausgeber, Chefredakteur der Bildzeitung wurde Regierungssprecher bei H.Kohl    wikipedia  Peter Boenisch  (1927-2005)

In weiten Regionen der Medienlandschaft ist die Kluft zwischen Presse und Politik längst eingerissen. Viele Medien kontrollieren die Politik nicht, sie machen Politik, haben sich mit politischen Lagern verwoben zu Machtkomplexen. Der Erfolg des Mediums ist der Erfolg der Politik und der Erfolg der Politik der Erfolg des Mediums. Die Ära Kohl steht nicht allein für den Ersatz der Politik durch (oft noch pathetische) Symbolik, sondern auch für das Ende der medienpolitischen Scham. Unentwirrbar eng verflochten sind Parteiführung, Kanzleramt und die Kirch- und Springer-Imperien, während sich auf der anderen Seite, zwar locker noch, aber sichtbar, das eher zur Sozialdemokratie neigende Lager formiert und im Bertelsmann-Konzern eine wichtige Stütze gefunden hat. 

Es ist schon grotesk: Die Machtzusammenballung der Kontrahenten wächst in post-orwellsche Dimensionen, aber das, was sie an Programmatik trennt, war, bei allem Theaterdonner, noch nie so gering. Daß ein Medien­gigant die ganze Macht ergreifen will, von der er einen Batzen ja immer schon besitzt, mag eine italienische Episode bleiben. Aber die Information ist schon längst keine Ware mehr, deren Gebrauchs- und Tauschwert mit der Nähe zur Wahrheit steigt. Sie ist statt dessen zur schlagkräftigsten Waffe riesiger Wirtschafts-/Politik-Komplexe geworden.

Gewiß, es gibt auch im Fernsehen noch aufklärerische Impulse. Aber sie richten sich, stets bedroht vom Quoten­tod, an eine intellektuelle Minderheit.  

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Ist es nicht ein an Deutlichkeit unüberbietbares Signal, daß selbst die Aufklärung sich dem Diktat der bunten Bilder unterwirft? Die Form bestimmt den Inhalt. Das Medium diktiert die Information. Wahr ist nur das Bild. Was nicht abbildbar ist, existiert nicht. Analyse ist nicht bildgemäß, also nicht »vermittelbar«. Diskurs ist langweilig, Getöse über Läppisch­themen dagegen werbespot­kompatibel. Mölle­mann am Fallschirm überlebt als Bild, was Möllemann sagt, weiß morgen schon keiner mehr.

 

Fernsehen ist Theater. Helden und Bösewichter sind gefragt, Zwischentöne sind Krampf im Quotenkampf, Ausgewogenheit langweilig.11 Für den größten Teil der Öffentlichkeit hat sich die Politik in eine Sparte der ununterbrochenen Unterhaltungsshow verwandelt. Postman spricht von einer »Guckguck-Welt«12 und einer »Und-jetzt-Kultur«13, in der sich die Bilder beliebig abwechseln. Der Münchener Philosoph Peter Sloterdijk bemerkt über die heutigen Medien, daß sie alles umfaßten, weil sie nichts erfaßten, daß sie alles zur Sprache brächten und über alles nichts sagten. Die Medienküche serviere täglich einen Realitäts­eintopf mit unzählig vielen Zutaten, die doch jeden Tag gleich schmeckten.14

Wir stumpfen ab angesichts der wahllosen Aufeinanderfolge von Unglücken und Unfällen. Wobei wir und unsere Medien uns am meisten über die kleinen Katastrophen in der Nachbarschaft erregen, die großen überschreiten unser Begriffsvermögen, zumal sie längst in Serie medial über uns hereinbrechen. Das ist schon ein seltsames gesellschaftliches Gefühlsleben, in der eine Vergewaltigung die Gemüter weitaus stärker erhitzt als das tagtägliche Krepieren Hunderttausender. Ein TV-Berichterstatter in den USA fand Mitleid für die Politiker in Washington, die über Monate an die Wand gedrückt würden durch den Prozeß gegen O. J. Simpson, einen einstigen Footballstar, dem vorgeworfen wird, seine Frau und deren Liebhaber ermordet zu haben.

Der Konstanzer Verhaltensphysiologe Hubert Markl hält es geradezu für »furchterregend, daß uns vor über­großem Elend nichts so naheliegt, als es zu ignorieren«.15 Oder, wenn der psychische Druck, den die Bilder uns auflasten, zu stark wird, es wegzudrücken, indem wir spenden. 

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Ist es noch niemandem aufgefallen, daß mit der Steigerung des weltweiten Elends und der offenkundigen, aber unausgesprochenen Unfähigkeit, es mit unseren Instrumenten wenigstens abzumildern, auch manche Medien sich zunehmend beim Spendensammeln engagieren? Wohltätigkeit statt Kritik der politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse, die den unaufhörlichen Wahnsinn hervorbringen. Wohltätigkeit als symbolische Handlung und Verzicht auf Politik sind ein tödliches Paar. Sie verhindern nicht allein, daß die Strukturen verändert werden, die die Not erzeugen, sie verfestigen nicht nur die Abhängigkeit der Dritten von der Ersten Welt, sie erzeugen auch mehr Hunger und mehr Elend. (Wir werden die mörderischen Folgen der Nahrungs­mittelhilfe an anderer Stelle eingehend betrachten.)

In einer solchen Welt gibt es kaum Zusammenhänge und Bedeutung. Hier konkurriert Politik um die Aufmerk­sam­keit des Bürgers mit dem Geschrei und der Blendwirkung der täglich neu gefundenen und erfundenen Sensationen.

Nichts ist unwirklicher und wirklichkeits­feindlicher als »Reality TV« und die anderen unsäglichen Fernseh­verrenkungen, die sich die Mattscheibe erobert haben. Mit ihren aufklärerischen Ursprüngen haben sie nur noch das Bildschirm­format gemein, sonst verdanken sie ihre Existenz­berechtigung einem effekthascherischen Appell an niedrigste Instinkte, der die Einschaltquoten für die Werbung hochhält. Sie ist die wahre Wirklichkeit der Privat-TV-Macher, die Sendungen dazwischen längst reines Lockmaterial, das bei Verschleiß beliebig ersetzt wird. Ein erfolgreicher Kahlschlag dessen, was als Annäherung an Facetten der unseren Augen auf ewig verborgen bleibenden Wirklichkeit sorgfältig behandelt werden sollte.

Eine Kritik an unserem Wirtschafts- und Gesellschaftssystem findet besonders in den privaten TV-Anstalten nicht statt. 

Sie sind ein genuiner Sproß der spät­kapitalistischen Gesellschaft. Sie hängen am Tropf der wirtschaft­lich Mächtigen. Werbefinanzierung führt zu »struktureller Zensur« — so hat der Schweizer Publizist Jürg Frischknecht die Sachlage in eine so knappe wie treffende Formel gepreßt.16

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Das englische Prinzenpaar, Charles und Diana, wurde auf einer Australienreise im Frühjahr 1983 von sechzig Journalisten begleitet. Rund ein Dutzend Reporter beschäftigt sich tagtäglich mit nichts anderem als dem englischen Königshaus.17 Die angeblichen sexuellen Verfehlungen des Popstars Michael Jackson füllen die Seiten und Bildschirme nicht weniger als eine »Babypause« des Tennisidols Boris Becker.

Das Massenelend im Großteil dieser Erde dagegen hat meist nur dann eine Chance auf Erwähnung, wenn strategische Interessen berührt, Touristen gefährdet sind oder die Not Rekordmargen überschreitet. Das Entsetzen ist vermarktungsfähig als »realer« Gruselschocker, Leichenberge erzeugen Schauderwellen auf dem Rücken. Als »Abgründe mit Halbwilden« erscheint dem sozialdemokratischen »Vorwärts« das von den Medien wiedergegebene Bild vom Elend in der Dritten Welt. Abgesehen von brasilianischer Fußballkultur, Safari-Idylle und Copa Cabana gibt es Afrika, Lateinamerika und Asien kaum im Wahrnehmungs­raster des wohlgenährten Bewohners der nördlichen Hemisphäre unseres Planeten. Der Münchener Journalist Reymer Klüver, Autor zahlreicher brillanter Analysen des Nord-Süd-Konflikts, spricht zu Recht von einem Autismus, der die Politik der Industrieländer gegenüber der Dritten Welt präge. (18)

Ein seltsames Dorf, diese Welt, in dem die erdrückende Mehrheit der Bewohner bestenfalls am Rand vorkommt. Der Politologe Eugen Lemberg, einer der Pioniere der modernen Ideologiekritik, spricht von einem »anthropozentrischen Weltbild«, in dem sich der Mensch im Mittelpunkt der Welt sieht und alles andere »kreisförmig« als Umwelt um sich herum ordne. Diesem Weltbild entspreche im kleinen Maßstab die überhöhte Bedeutung, die der Mensch dem eigenen Lebenskreis beimesse, während räumlich und zeitlich Entferntes nur allgemein, undeutlich und verschwommen erscheine.19

Der spanische Schriftsteller Juan Goytisolo hat diesen Knick in unserer Optik im Hinblick auf die Länder Arabiens so beschrieben: »Orientalisch sind die Länder, in denen jeder Krieg, jeder Völkermord eine rein lokale Angelegenheit bleibt; westlich sind die Länder, in denen schon das kleinste Blutver­gießen zu einer Tragödie von weltweiter Tragweite gemacht wird.«20

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Nur wenn das Normalmaß des Elends überschritten wird, kommt meist sorgsam gepflegte Betroffenheit auf. Dann machen die Hilfsorganisationen mobil, dann eilen die Reporter in die Notstandsgebiete, dann fühlen sich die Politiker unter dem Druck der Bilder und der Öffentlichkeit zu Äußerungen und Hilfs­leistungen veranlaßt. Oft sind es nicht zuletzt innenpolitische Gründe, die humanitäre Einsätze beflügeln. Als die USA und ihre Verbündeten 1993 versuchten, den somalischen Bürgerkrieg und das durch ihn verursachte Leid zu beenden, ging es dem scheidenden US-Präsidenten George Bush auch um einen spektakulären Abgang. Als Bundes­wehrsoldaten in diesem afrikanischen Land waren und der Bundesverteidigungsminister regelmäßig auf Stippvisite weilte, waren die Medien täglich voll von den Berichten über Somalia. Seit die Soldaten und die Hilfsorganisationen abgezogen sind, findet Somalia nicht mehr statt. Der Bürgerkrieg aber geht weiter. Die sterbenden Kinder sehen noch genauso elend aus. Es sind nur keine Kameras mehr da in diesem Bezirk des »Weltdorfes«.

In vielen Staaten sind Berichterstatter nur dann gern gesehen, wenn die meist korrupten und diktatorischen Regierungen sie brauchen können. Ohnehin kennen viele Reporter den Gegenstand ihrer Berichterstattung meist allein durch Staatsbesuche oder Einladungen regierungsnaher Institutionen — so das Urteil Herbert Riehl-Heyses, einer der wenigen Journalisten, der den eigenen Berufsstand kritisch durchleuchtet.21 Wer dagegen die verheerende Wirkung der Entwicklungshilfe beschreibt und den Dritte-Welt-Aktionismus angreift, findet auch in Deutschland kaum Gehör.22

Ohne Bilder der Not keine Hilfe. Diese Lektion haben die Bürgerkriegsparteien nicht nur in Somalia gelernt, wo sie Hilfs­organisationen erpreßten, sie zu unterstützen. Dafür servierten die Kriegsherren der inter­nation­alen Presse einen blutigen Cocktail, was sie in die Schlagzeilen und den Hilfsorganisationen Spenden brachte, von denen die Soldateska wiederum einen Teil in die eigenen Taschen umleitete.23  Es ist eine gefährliche Botschaft für die Zukunft, wenn Hilfe sich abhängig macht von Gewalt.

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   Ohne Bilder keine Katastrophe  

 

Weltgegenden, deren Bewohner das Pech haben, daß kein Fotograf und keine Kamera ihr Elend doku­ment­ieren, existieren nicht für uns. Und dort, wo die Reporter sind, erfahren wir Abgründiges der menschlichen Seele. In der Zeitschrift »Die Woche«24 finden wir das wohl abscheulichste Bild der letzten Jahre, das treffender als jedes andere die Medienrealität beschreibt: auf dem Boden ein von Hunger entkräftetes ruandisches Mädchen, auf ihm knieend, es tretend und übersehend, ein Fotograf mit der Kamera am Auge. Der Wettbewerb um Schreckensbilder entbrannte, als die Fotos aus Ruanda einen Markt im Norden gefunden hatten. Dieser Fotoreporter wußte genau, warum er in Ruanda war. Nicht, um zu helfen, sondern weil seine Redaktion im Kampf um die Leser die besten Bilder vom Elend brauchte. Ein echter Profi.

Gewiß, es gibt viele Gründe, eine <Weltinnenpolitik> zu fordern. Die globalen Abhängigkeiten haben sich verstärkt, die ökologischen Gefahren kennen keine Grenzen, die Weltwirtschaft erreicht die letzten unberührten Winkel der Erde, und die Bedrohung durch Massen­vernichtungs­mittel ist allgegenwärtig geworden, auch wenn die politisch Verantwortlichen den Eindruck erwecken wollen, sie hätten auch das letzte Gramm vagabundierenden Plutoniums am Ende doch im Griff. Aber gleichzeitig zerfällt die Erde in Fragmente. Afrika südlich der Sahara, fast ein ganzer Kontinent, versinkt im Elend, ohne daß auch nur ein Funke Hoffnung begründbar wäre. Das Sozialprodukt aller Staaten dieser Region war 1989 mit 161,8 Milliarden US-Dollar um ein Drittel niedriger als das der Niederlande.25

Buchstäblich neben den Feldern der »grünen Revolution« in Asien, die die ungebrochen wachsende Menschheit nach Aussagen ihrer Initiatoren satt machen soll, hungern Millionen in Elendsbaracken. Die letzten Naturvölker, in ihrer Zahl schon dezimiert, haben keine Chance zu überleben — die paar Quadrat­kilometer Lebensraum haben wir nicht übrig für sie.

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Mit der gleichen ethnozentrischen Arroganz, mit der wir den »Primitiven« unsere Lebensweise aufdrängen, um sie nach der Zerstörung ihrer Kultur mit den Abfällen der unseren vollends zu entwurzeln, mit dieser gleichen Arroganz schauen wir auf den großen »Rest« der Menschheit herab, auf jene Milliarden, die nicht so leben wie wir und dies nie tun werden, obwohl es ihnen nach wie vor vorgegaukelt wird. Denn nur unser Leben ist Leben.

Auch in den seriösen Nachrichtensendungen und Auslandsberichten herrscht »suggestiver Fetzen­journal­is­mus«, wie der Münchener Publizist Hans Heigert treffend kritisiert. 

Die Realität serviert als ein Büfett möglichst würziger Appetithäppchen, gefügt zu einer verwirrenden Abfolge zusammenhangs­loser Bilder; Wolfgang Schneider, Leiter der Hamburger Journalisten­schule, ergänzt seine Charakterisierung des Medienbetriebs durch die Frage, ob die heutige Überschwemmung des Individuums mit Informationen nicht nur das Pendant ist zur Ignoranz der Massen vergangener Zeiten — »mit dem bösen Unterschied, daß jetzt auch noch die Illusion umfassenden Wissens erweckt wird«.26

In der Tat, der Verfall der auf Druck­erzeugnissen beruhenden Kultur und der Siegeszug der Mattscheibe lassen uns in einer Bilderflut ertrinken, die uns von Minute zu Minute dümmer werden läßt.(27) Zum einen, weil das Bilderrauschen in unserem Gedächtnis strukturierte Informationen nicht hinterläßt. Zum anderen, weil sich die Darstellung komplexer Zusammenhänge dem Medium Fernsehen grund­sätzlich entzieht.

Fatal wird das Ganze, wenn man hinzuzieht, daß 70 von 100 Informationen in den Medien lanciert sind von Interessen­gruppen. Nach einer anderen Untersuchung beruhen gerade mal acht bis elf Prozent der in Massenmedien verbreiteten Informationen auf eigenen Recherchen.28

Das bedeutet nicht, daß der Rest falsch ist, denn auch Pressestellen von Parteien, Verbänden und Unternehmen verbreiten nicht pausenlos Lügen. Aber gezielt verbreitete Informationen geben im günstigsten Fall den erwünschten Teil der Wahrheit wieder.

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So lassen sich Zweifel an der Wirklichkeitstreue der Berichterstattung schon hinsichtlich heimischer Ereignisse formulieren. Unübertrefflich aber wird die hohle Heiligkeit des Scheins, das »Infotainment«, wenn es darum geht, das Leben in Ländern der Dritten Welt darzustellen. Oft genug wird unsere ja gar nicht so heftige Neugier auf Berichte aus fernen Ländern von jenen Reporterprofis befriedigt, die sich spezialisiert haben auf die »Vier-K-Berichterstattung«: Kinder, Krankheiten, Katastrophen und Kriege.29

Da rasen sie über die Kontinente, wissen nichts und doch alles, wenn sie aus dem Flugzeug steigen und gleich ihren ersten Bericht zusammenstricken. »Horrormeldungen aus der Amateurliga des Weltgeschehens«30 — kein Tagesschau-Beitrag länger als neunzig Sekunden, dann kommt schon das nächste Drama. Eine Information verdrängt die andere, Entsetzen wird abgelöst durch Erheiterung, Grusel durch Empörung und so weiter, ohne Ende und Übergang. 

Peter Sloterdijk vermerkt richtig, kein Bewußtsein könne ohne jahrelanges Elastizitäts- und Abstumpfungs­training mit der »uferlosen Empirie der Medien« zurechtkommen. Anscheinend verliere unsere Zivilisation die Kontrolle über unsere Neugier. Wir lebten in einer Welt von falschen Gleichwertigkeiten und unterschieden nicht mehr zwischen wichtig und unwichtig: Folterungen zwischen Sektreklame.31 Wo bleibt der Deinhard?

 wikipedia  Deinhard - Sekt aus Koblenz 

Postman berichtet von beeindruckenden Ergebnissen wissenschaftlicher Untersuchungen über die Wahrnehmung von TV-Informationen. Danach erinnern sich 51 Prozent der Zuschauer schon wenige Minuten nach einer Nachrichtensendung an keine Meldung mehr. Ein durchschnittlicher Fernsehzuschauer behalte gerade 20 Prozent der in einem fiktiven TV-Nachrichten­bericht enthaltenen Informationen. Bei gedruckten Informationen dagegen scheint die menschliche Aufnahme­fähigkeit bedeutend höher zu sein.(32)

Zwei Drittel des weltweiten Nachrichtenbergs stammen aus New York, zwei Drittel der bei den großen Nach­richten­agenturen beschäftigten Journalisten sind Amerikaner und Europäer. Vier Nachrichten­agenturen beherrschen drei Viertel des Nachrichtenmarkts. 

Anders gesagt: Was uns berichtet wird, wird durch unsere Augen gesehen.(33) Die Macht des bewegten Bildes verwandelt die Wirklichkeit in ein fragmentiertes Gespensterwesen.(34)

Wirklichkeit ist ein gesellschaftliches Konstrukt, so die Einsicht der Philosophen Peter L. Berger und Thomas Luckmann in ihrem Schlüsselwerk der Wissenssoziologie.(35)

Wirklichkeit ist heute vor allem ein mediales Konstrukt. Selbst die Kritik an der so konstituierten Realität ist gespenstisch, ist sie doch darauf angewiesen, sich der gegebenen Muster zu bedienen, wenn sie sich Gehör verschaffen will.

Haben wir nicht längst die Freiheit des Denkens verloren, dieses »konstitutive Merkmal wahren Menschentums«, von dem der große Biologe Konrad Lorenz sprach? Wir identifizieren uns statt dessen mit falschen Idealen und spüren die Zwangsjacke nicht. Es bestärkt uns, daß Hunderte von Millionen Menschen genauso denken und genauso handeln.36 Auch diese massenhafte Selbstbestätigung ist ein Sieg der modernen Massenmedien. Grund genug für uns, alle anderen, die noch nicht um unser goldenes Kalb tanzen, zum Mittanzen zu verurteilen. 

Daß andere anders sind und besser auch anders bleiben, will uns nicht in den Kopf. Daß Vielfalt Reichtum ist und Einfalt Armut, werden wir erst begriffen haben, wenn die Pluralität vernichtet sein wird, wenn der »homo coca-colens« — so der afrikanische Historiker Joseph Ki-Zerbo(37) — seinen Sieges­zug beendet hat. 

Wir haben nicht verstanden, daß unsere Wahrheiten über das Elend im Süden nichts sind als das Produkt unserer ethnozentrischen Ignoranz.

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Von Christian von Ditfurth 1995